âAbendsternâ
Seufzend trat Lily Potter in ihrem kleinen Heim in Godric's Hollow ans Fenster und blickte hinaus in den klaren Nachthimmel. Die Sterne funkelten hell wie blitzende Edelsteine auf schwarzem Samt. Schwarz wie seine Augen...
Erschöpft und aufgewĂŒhlt vergrub sie das Gesicht in den HĂ€nden. Die EnthĂŒllungen des vergangenen Tages hatten sie stĂ€rker mitgenommen und ihr mehr zugesetzt als sie es sich hatte anmerken lassen. Nicht genug damit, dass es jetzt sicher war, dass Voldemort hinter ihnen und ihrem Sohn her war, und sie sich verstecken mussten!
Nein, es gab da etwas, das sie im Moment sogar noch stĂ€rker beschĂ€ftigte: Albus Dumbledore hatte ihr vertraulich unter vier Augen eröffnet, dass es ausgerechnet ihr alter freund aus Kindertagen gewesen war, der die verhĂ€ngnisvolle Prophezeiung belauscht und Voldemort ĂŒbermittelt hatte. Doch noch ehe die junge Frau sich von diesem Schock erholt hatte, hatte der alte Zauberer hinzugefĂŒgt, dass besagter Todesser diesen Schritt aus tiefster Seele bereue. Als ein unglĂ€ubiges Schnauben und mĂŒhsam unterdrĂŒckte TrĂ€nen der Wut die einzige Antwort gewesen waren, hatte Dumbledore darauf bestanden, Lily eine ganz bestimmte Erinnerung zu zeigen.
Und wĂ€hrend sie zusah, wie Severus Dumbledore vollkommen verzweifelt und aufgelöst bat, sie zu schĂŒtzen, wurden Lilys GesichtszĂŒge nach und nach immer weicher und die TrĂ€nen, die sie zuvor zurĂŒckgehalten hatte, tropften nun ungehindert auf ihre zitternden HĂ€nde, ohne dass sie es bemerkte, wĂ€hrend sie gerĂŒhrt in das schmerzverzerrte Antlitz blickte und dem Wortwechsel lauschte: âUnd was werden Sie mir dafĂŒr geben, Severus?â
âDafĂŒr - geben? ... Alles.â
Und die Worte, die Albus Dumbledore anschlieĂend an sie richtete, waren dieselben, die ihr auch ihr Herz zuflĂŒsterte: âEr liebt Sie, Lily. Er liebt sie wirklich.â
Und wÀhrend diese Worte in ihr nachhallten, hob Lily langsam den Kopf und blickte erneut hinaus in die laue Sommernacht. Ja, es schien so, als wÀre dies die schlichte Wahrheit: Er liebte sie. Und trotzdem war er jetzt irgendwo ganz allein und wusste gar nicht, dass sie ihm verziehen hatte, dass sie ihn noch immer mochte, vielleicht sogar ebenfalls liebte - nur eben auf eine andere Art...
Ob er jetzt gerade an sie dachte? Bestimmt, nach allem, was sie heute gesehen und gehört hatte! âOh, Severusâ, wisperte sie kaum hörbar. Hoffentlich spĂŒrte er, dass sie in Gedanken bei ihm war!
Eine Weile stand Lily Potter reglos am Fenster, dann öffnete sie den Mund und begann leise zu singen.
âImmer wenn du abends an mich denkst,
Du nicht einschlafen kannst,
Wenn du am Fenster lehnst
Und dich so sehr nach mir sehnst,
Wenn du dich vergessen wÀhnst,
Dann geht am Firmament
Ein heller Schein auf,
Der fĂŒr dich brennt.
Ich bin dein Abendstern,
komm und schein fĂŒr dich.
Ich begleite deine TrÀume
Durch die Nacht.
Egal wie weit ich bin,
Siehst du doch mein Licht.
Ich lÀchle dir zu,
Bis ein neuer Tag erwacht.â
Monate spÀter stand Lily Potter wieder an genau demselben Fleck. Wieder schaute sie hinaus in den dunklen Schleier der Nacht und lieà ihre Gedanken schweifen.
Seit sie sich vor Lord Voldemort versteckt halten und unter dem Schutz des Fidelius-Zaubers leben mussten, empfand sie die Tage, die so unendlich langsam verstrichen, oft als einsam und eintönig. Wieder kehrten Lilys Gedanken zu ihrem alten Freund zurĂŒck, der mittlerweile als Spion fĂŒr den Orden des Phönix tĂ€tig war, und wieder wĂŒnschte sie sich, mit ihm sprechen zu können.
Und da dies nicht möglich war, begnĂŒgte sie sich stattdessen damit, wieder ihr Lied in die nĂ€chtliche Landschaft zu hauchen und es auf die Reise zu schicken zu den silbrig-weiĂ blinkenden Sternen, die an kostbare Diamanten und an blitzende TrĂ€nen gleichermaĂen erinnerten.
âEinsam zieh ich nachts die alten Bahnen,
Ein Knopf im Mantel der Nacht,
Durch ferne Galaxien.
Vorbei an Venus und Mars ziehen
MilchstraĂenphantasien.
Und leise fÀllt mein Licht
Auf die Erde herab
Und trifft auch dich.
Ich bin dein Abendstern,
Komm und schein fĂŒr dich.
Ich begleite deine TrÀume
Durch die Nacht.
Egal wie weit ich bin,
Siehst du doch mein Licht.
Ich lÀchle dir zu,
Bis ein neuer Tag erwacht.â
Sie beugte sich aus dem Fenster und das dichte dunkelrote Haar fiel ihr ins Gesicht. Mit geschlossenen Augen sang sie die letzten Zeilen. Und sie sang sie mit so viel Hingabe als hinge ihr Leben davon ab.
âSiehst du dort den Stern?
Er scheint dir so fern.
Er ist nicht nah,
Auch nicht greifbar.
Doch er schaut zu dir.
Er ist bei dir,
Wie ich...â
Zur selben Zeit stand in jener Nacht noch eine weitere Gestalt schlaflos am Fenster, viele Meilen entfernt.
Die blassen HĂ€nde des Mannes klammerten sich an das Fensterbrett wie die eines Ertrinkenden um den Rettungsring. Sein strĂ€hniges, schwarzes Haar fiel ihm in die Stirn und umrahmte sein fahles Gesicht wie zwei VorhĂ€nge. Die tiefschwarzen Augen des Mannes waren unverwandt auf einen fernen, leuchtend hellen Stern gerichtet und auf seinem bleichen Antlitz lag ein wehmĂŒtiger, sehnsuchtsvoller Ausdruck.
Bis fast zum Morgengrauen verharrte er so am Fenster. Dann wandte Severus Snape sich abrupt ab und verschwand im Inneren des Hauses. Dabei löste sich eine einzelne TrÀne aus seinen pechschwarzen Augen und fiel glitzernd wie ein winziges Sternchen zu Boden.
***
Song: âAbendsternâ (Yvonne Catterfeld)
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