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Fanfiction

Future Imperfect - Erkenntnisse

von Xaveria

...Wir leben in einer Welt, in der die Geschichte durch ihre Kriege bestimmt ist. Menschen beschreiben sie in Büchern, heroisieren die Gefallenen, verbannen die Tyrannen und gedenken den Opfern. Es liegt in ihrer Natur die Geschichte zu preisen, zu lehren. Und dennoch wird es passieren, dass die Geschichte, die Kriege, die einst die Welt zerstörten, aus deren Trümmern sie wieder neu erschaffen wurde, irgendwann in Vergessenheit gerät. Denn niemand macht sich die Mühe die Fehler der anderen nachzulesen, aus ihnen zu lernen und so ist es unausweichlich, dass schon bald dieselben Kriege aus denselben Gründen geführt werden. Denn auch das ist ein Makel der menschlichen Natur...

++++++

Abrupt fuhr ihr Oberkörper nach Luft schnappend in eine aufrechte Position. Ihre Augen waren weit aufgerissen, der Blick wild. Haarsträhnen klebten wirr an ihrer schweißnassen Stirn, während sie versuchte sich im hereinfallenden Mondlicht zu orientieren.

An ihrer Seite rührte sich jemand und neben ihrem schweren Atem, war ein leises Murmeln zu hören. „Alles in Ordnung?“

„Ja“, hauchte sie dünn. Sie atmete ein paar Mal tief durch und ihr Herzrasen versiegte, das pochende Blut in ihren Ohren verschwand. „Ein Traum.“

„Schon wieder?“

„Ja.“ Mit beiden Händen strich sie sich ihre langen, lockigen Haare aus dem Gesicht und blickte hinaus durch das Fenster. Und während der volle Mond das kleine Zimmer mit weißem Licht erfüllte, konnte sie nicht genau erklären, warum bei diesem Anblick ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief. Es war Vollmond und es beunruhigte sie. „Nur ein Traum, nichts weiter“, flüsterte sie, tief ein und aus atmend. Wen sie beruhigen wollte, da war sie sich nicht sicher.

Doch neben ihr erklangen nur die gleichmäßigen Atemzüge einer schlafenden Person. Langsam legte sie sich wieder zurück, ihr Blick starr auf den vollen weißen Himmelskörper gerichtet.

Und während langsam die Bilder und Stimmen schwanden, sich ihr Herzschlag regulierte und sie versuchte ihre Gedanken zu fassen, verblieb eine kalte, unbekannte und doch vertraute Angst.

Als der Morgen kam, war sie noch immer hellwach.


++++++

„Entgegen manchen Glaubens fand die Hexenverfolgung nicht im sogenannten 'Dunklen Zeitalter' statt, sondern in der Neuzeit. Ohne Zweifel, die Taten während der Verfolgungen standen denen während der 'Finsteren Zeit' in nichts nach. Allein in Europa starben über 50 Millionen Menschen auf dem Scheiterhaufen, beschuldigt etwas zu sein, von dem wir heute wissen, dass es nicht existierte.“ Ihre Stimme hallte leise und dennoch fesselnd durch den Raum. Es war eine Kunst von einem Haufen von hormongesteuerten Kindern alleine dadurch die volle Aufmerksamkeit zu bekommen, indem man nichts anderes tat als zu reden. Ihre Pause war nur kurz, kaum bemerkt von den Schülern. „Die Kirche hatte – in all ihrer Weisheit – den Verdacht geäußert, dass Männer und Frauen einen Packt mit dem Teufel geschlossen hatten. Heute wissen wir um diesen Irrsinn, aber damals war alles, was man nicht erklären konnte, ein Werk Satans… oder eine göttliche Fügung – je nachdem, was gerade von Vorteil war. Die Wissenschaft gab es damals nicht, obwohl die Menschen schon seit jeher danach strebten rationale Erklärungen zu suchen. Die Kirche war ihr einziger Anker, die einzigen, die eine Erklärung lieferten. Sie wussten sich damals selbst nicht zu helfen – gar keine Frage – und selbst wenn wir heute keine Menschen mehr öffentlich auf einem Scheiterhaufen verbrennen, spielt die Religion im Leben vieler eine zentrale Rolle. Kriege wurden aus dubioseren Gründen geführt, aber keiner von ihnen wurde so häufig missbraucht, wie die, die im Namen Gottes ausgetragen wurden.“

Sie hielt in ihrer Bewegung inne, drehte sich abrupt zu den jungen Gesichtern um. „50 Millionen Menschen“, wiederholte sie, „angeklagt den Dunklen Künsten zu unterliegen; Hexen, Hexer, Hexenmeister zu sein.“

Eine zögernde Hand erhob sich in die Luft. „Ms. Barkley?“, unterbrach eine Mädchenstimme sie.

„Ja, Mrs Cunninghan?“

„Was ist mit Werwölfen?“

„Werwölfe?“ rief Bratley Thompson fassungslos von der anderen Seite der Klasse aus. „Machst du Witze, Kim? Das sind doch nur Märchen.“

„Ach, wirklich?“, entgegnete sie spitz. „Texte beschreiben ihn als 'Mannwolf' – Männer in Tiergestalt. Die altenglische Silbe 'Wer' bedeutet 'Mann', also 'Mannwolf'. Die Beschreibung des Werwolfes ist in verschiedenen Epochen zu finden. Von der Antike, wo man ihn als Lykanthropos – der sogenannte 'Waldmensch' betitelt hat, bis hin zum nordischen Werwolf, dem Werwolf aus dem Mittelalter und selbst heute in der Moderne wird er beschrieben. Hättest du dich auf den heutigen Unterricht vorbereitet, wüsstest du, dass der Text auch Werwölfe beschreibt. Und nur, weil du noch keinen gesehen hast, heißt das nicht, das Texte aus tausenden von Jahren lügen.“

Bratley lachte und stieß seinen Nachbarn an. „Ja, sicher. Jetzt habe ich wirklich Angst.“ Es dauerte nicht lange und der Rest der Klasse schloss sich ihm an – alle bis auf Kim, die lediglich mit einem finsteren Blick die Arme verschränkte.

„An Ihrer Stelle, Mr. Thompson würde ich auf Ihre Wortwahl achten“, durchbrach die Stimme von Ms. Barkley die Auseinandersetzung. Sie hatte ihrer Klasse halb den Rücken zugewandt, ihr Blick lag irgendwo fern auf den Horizont gerichtet. Etwas hatte sich in ihr gerührt, als das Wort Lykanthropos gefallen war. Bilder eines Mannes schossen ihr durch den Kopf, sein Gesicht von Schmerzen verzerrt, als er sich in ein anderes Wesen zu verwandeln schien. Seinen Kopf hatte er heulend nach hinten geworfen und dann war da dieser Blick – wild, wahnsinnig, nicht menschlich – und diese Kreatur hatte ihr geradewegs in die Augen gesehen. Sie schüttelte kurz den Kopf, schüttelte diesen Gedanken ab. „Und Mrs. Cunninghan, wenn ich das nächste Mal eine Rezension des Buchtextes möchte, sage ich vorher Bescheid.“

Ein belustigtes Glucksen war aus der hinteren Reihe zu hören, aber sie ignorierte es.

„Ob es nun wirklich Werwölfe oder sonstige magische Wesen gab, sei dahin gestellt. Fakt ist, dass alles, was nicht in den Augen der damaligen Gesellschaft normal war, eine Gefahr darstellte. Der heutige Beruf der Hebamme war damals ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite wurden die Frauen gerufen, um den werdenden Müttern beizustehen, ihnen mit ihren fachkundigen Wissen die Geburt zu erleichtern, auf der anderen Seite wurden sie von der Kirche beschuldigt mit dem Teufel im Bunde zu stehen, denn die Schmerzen, die eine Frau aushalten musste, seien die Strafe dafür, dass Eva im Paradies Gottes Gebot missachtet hatte. Deshalb kann ich Sie beruhigen, Mr. Thompson, selbst Missbildungen, die eventuell zu solchen Annahmen geführt haben könnten, dass es Werwölfe gegeben hätte, waren schon Grund genug auf dem Scheiterhaufen zu landen.“

Sie hielt inne und ihr Blick huschte flink und akribisch über die vielen Köpfe vor ihr. Es war nicht ihre Art eine Diskussion zu unterbrechen. Sie hielt es sogar für pädagogisch wertvoll, wenn die Schüler eigenständig zu diskutieren begannen, wenn sie sich ihre eigenen Gedanken machten, wenn sie lernten die Informationen selbstständig auszuwerten, aber etwas hatte sie gestoppt. Etwas Kaltes hatte sie wie eine eisige Hand an dem Grund ihrer Wirbelsäule gepackt und aufgehalten. Sie fragte sich, ob es wohlmöglich Angst gewesen sein könnte.

Bevor sie den Unterricht wieder aufnehmen konnte, ertönte das vertraute Läuten der Schelle, dennoch blieben alle Schüler auf ihrem Platz sitzen. Ihre Mundwinkel zuckten leicht. Seit ihrer ersten Unterrichtsstunde hatte sich kein Schüler getraut aufzustehen, ohne dass sie von ihr entlassen wurden. Eine Fähigkeit, wie sie bemerkt hatte, die von keinen anderen ihrer Kollegen beherrscht wurde. Mit einem knappen Nicken, ging sie hinüber zum Pult und während ihr Blick auf ihre Hände gerichtet war, die Blätter sortierten, durchbrach ihre Stimme die Stille. „Eine Ausarbeitung von 2 Seiten über den Einfluss der damaligen Autoritäten und wie es Ihrer Meinung nach noch heute unser Leben beeinflussen.“

Das Rascheln und das Kratzen der Stuhlbeine, gemischt mit den ausgelassenen Stimmen der Schüler war zu hören, als diese aufstanden, um den Klassenraum zu verlassen. Sie blickte nicht auf, als die Schüler an ihrem Pult vorbeigingen, sie blickte auch dann nicht auf, als sie hörte, wie Bratley und seine Freunde sich weiterhin über Kimberly lustig machten.

Erst als Stille eingekehrt war, wagte sie es ihren Kopf zu heben, ihre Hände zu Fäusten geballt, lagen angespannt auf der Schreibtischoberfläche. Ihr flaches Atmen war das einzige Geräusch, welches in der Stille zu hören war. Sie versuchte sich daran zu erinnern, ob ihre Schulzeit genauso gewesen war, genauso gespickt mit Gehässigkeiten, aber da war nichts. So sehr sie es auch versuchte, sie konnte sich einfach nicht erinnern.


++++


Durch ein leises Klopfen wurde sie aus ihren Überlegungen gerissen. Überrascht wandte sie ihren Blick von dem Fenster zu dem Geräusch, welches sie gestört hatte. Der Anfang eines Knurrens zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, in der Vermutung, dass es nur ein weiterer Schüler sein würde, der dringend ihre ungeteilte Aufmerksamkeit benötigte. „Sollten Sie nicht das ungewöhnliche Glück und eine Freistunde haben, weiß ich nicht, was Sie hier zu suchen haben“, schnitt ihre Stimme durch die Luft.

Es folgte ein Schweigen und dann ein leises Lachen. „Na, da bin ich ja froh, dass ich die Ausnahme der Regel bin“, antwortete eine fröhliche Stimme. Eine junge Frau streckte ihren Kopf durch den Türspalt und lächelte. Ihre grünen Augen leuchteten neckisch, als sie die Resignation auf dem Gesicht ihrer Kollegin erkannte.

„Ihrin“, murmelte sie.

Ihr Gegenüber grinste, ihr leicht gebräuntes Gesicht wurde von langen schwarzen, glatten Haaren umrahmt, die zum Teil in einzelnen Strähnen nach hinten gebunden hatte. Ihre schlanke Gestalt wurde von einem weiten weißen Leinenrock und einer braunen passenden Bluse umhüllt. Während sie ihren Kopf leicht bewegte, klimperten die zahlreichen Ketten, die um ihren Hals hingen. Auch wenn Ihrin oftmals ihre rumänischen Züge versuchte zu verstecken, so kam Jane nicht drum herum zu bemerken, dass sie gerade diese in ihrem Umgang auslebte.„Jane, wirklich, ich habe dich überall gesucht. Wenn ich mich recht entsinne, wollten wir doch heute Mittag zusammen in der Kantine essen.“

„Oh“, fluchte Jane mit einem Stöhnen und vergrub den Kopf in ihren Händen. „Tut mir wirklich leid. Ich habe es vergessen.“

„Offensichtlich.“

Jane blickte entschuldigend auf und beobachtete Ihrin dabei, wie sie hinter der Tür hervortrat und gezielt auf ihrem Pult zuging. Ihre Schritte waren energisch und ihre dunklen, schon fast schwarz schimmernden Haare wippten rhythmisch in ihrer Bewegung, während die hereinfallenden Sonnenstrahlen einen matten Glanz herbeizauberten. Nicht zum ersten Mal verfluchte Jane ihre gekräuselte Haarpracht – ungebändigt und wild.

Ihrin ließ sich auf die Kante des Tisches nieder und schlug ihre Beine übereinander. „Also, was bedrückt dich so, dass du mich versetzt hast?“

„Ich habe dich nicht-“, begann Jane automatisch, aber eine hochgezogene Augenbraue, begleitet von einem belustigenden Schnauben, ließ sie verstummen. „Gott, du hast recht“, murmelte sie. Seufzend massierte sie kurz ihren Nasenrücken und schloss die Augen.

„Also?“

Langsam öffnete sie wieder ihre Augen und betrachtete ihre Kollegin und Freundin vor sich. Ihrin lächelte sie mitfühlend an und aus irgendeinem Grund machte es Jane nervös. Normalerweise wusste sie, konnte sie Ihrin alles erzählen, so absurd es auch sein mochte, sie wusste einfach, dass sie ihr nicht geradewegs ins Gesicht lachen würde. Aber das hier… sie wusste selbst noch nicht einmal wo sie anfangen sollte, wie sollte sie da etwas in Worte fassen, was bereits in ihrem Kopf vollkommen absurd klang? Und eine rationale Stimme in ihr sagte, dass es nichts weiter als das Resultat aus Stress und Schlafmangel war.

„Ich…“, begann sie und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus ihrer Haarspange gelöst hatte. „Ich weiß auch nicht, aber ich schlafe in letzter Zeit nicht besonders gut.“

Ihrin nickte nur und schwieg, ermutigte Jane dadurch weiter zu sprechen.

„Da sind diese Träume“, sagte sie langsam in einem Flüstern.

„Träume?“

Jane schüttelte den Kopf. „Sie sind absolut absurd und vollkommen verrückt, aber jedes Mal, wenn ich aufwache… da fühlen sie sich so… so…“ Sie suchte nach dem passenden Wort, aber konnte es nicht formulieren. Frustriert begann sie auf ihrer Unterlippe zu kauen.

„Real an?“, half Ihrin ihr behutsam weiter.

Unwillkürlich schoss Janes Kopf in ihre Richtung, ihre Augen weit aufgerissen. „Ja“, hauchte sie.

„Na ja“, begann Ihrin und streckte kurz ihre Beine. „Rein psychologisch betrachtet verarbeitet unser Unterbewusstsein durch Träume den Alltag, Situationen, die uns beschäftigen, Kleinigkeiten, die wir gar nicht wahrnehmen. Und manchmal passiert es, dass all diese unwichtigen Kleinigkeiten etwas durcheinander geschüttelt werden und in Ereignisse eingebaut werden, die wirklich passiert sind.“

Aber Jane schüttelte nur mit dem Kopf. „Nein, Ihrin, glaube mir, solche Träume können nicht der Wirklichkeit entsprungen sein.“

„Fein“, antwortete die Schulpsychologin ruhig. „Was sind es für Träume?“

Janes Blick glitt hinunter zu ihren Händen, die sie verschlungen hatte und bereits weiß anliefen. Unbehaglich atmete sie tief durch. Sie spürte deutlich Ihrins abwartenden Blick auf sich und sie hatte das Gefühl, dass ihr Herz gleich aus der Brust springen würde. Das Pochen pulsierte wie ein Presslufthammer durch ihre Ohren. Es war nur ein Traum. Eine manifestierte Fantasie.

„Es ist wirklich lächerlich. Du würdest mich auslachen.“

„Oh“, lächelte die Rumänin zweideutig. „Diese Art von Träume.“

„Nein!“, rief Jane. „Nein“, wiederholte sie etwas ruhiger. „Ganz bestimmt nicht diese Art von Träumen.“ Errötet starrte sie ihre Freundin fassungslos an, welche amüsiert schmunzelte.

„Ehrlich, Jane, ich weiß nicht, warum es dir so peinlich ist. Jeder hat diese Träume. Das ist vollkommen normal.“ Jane setzte zum Protest an. „Selbst verheiratete Frauen. Letzte Woche noch, da habe ich geträumt, dass Coach Stevens in nichts weiter als-“

„Ernsthaft, Ihrin, ich will das wirklich nicht hören.“ Ihr Gesicht verzogen zu einer Grimasse, kniff sie ihre Augen zusammen in dem Versuch sämtliche ungebetenen Bilder von Coach Stevens aus ihrem Kopf zu verbannen. Sie wusste, dass Ihrin in ihrem Singeldasein einen Hang für den Coach hatte und, wenn man nicht gerade blind durch den Tag lief, war diese zögerliche Zuneigung nicht unbedingt einseitig, aber die beiden hielten es für angebrachter sich jedes mal mit Blick auszuziehen, anstatt ihren Hormonpegel zu senken. Gott alleine wusste warum.

„Na ja“, grinste Ihrin, „jedenfalls war es sehr…“ Sie tippte kurz mit ihrem Zeigefinger gegen ihre Lippen, ihre Augen ein einziges schalkhaftes Leuchten, „…aufschlussreich.“

„Ich kann’s mir vorstellen“, schnaubte Jane mit einem Kopfschütteln. Und es schien, dass sie zum ersten Mal seit der Nacht ihren Traum vergessen hatte. Eine Erleichterung, die nicht lange währen sollte.

„Aber das ist nicht das Thema, oder?“, fragte Ihrin jetzt mit ernster Stimme und jegliche Belustigung war aus ihrem Blick verschwunden, als sie ihre Freundin anblickte. „Ein erotischer Traum ist nicht der Grund, warum du mit Augenringen herumläufst, die so groß sind, dass der ganze Schreibtisch darin Platz finden würde.“

Etwas zog sich zusammen, etwas wollte, dass sie flüchtete. Dass sie davon rennen sollte. Unweigerlich flog ihr Blick in Richtung Tür. „Ich…ich sagte doch schon, dass es lächerlich ist.“

Aber Ihrin schüttelte nur mit dem Kopf, als sie langsam aufstand und zur Tür ging, welche sie behutsam verschloss. „Ich weiß, dass jetzt vermutlich nicht der richtige Zeitpunkt ist, du hast gleich wieder Unterricht, aber wenn du über deine Träume reden willst, dann komm einfach zu mir. Egal wann, ich bin immer da.“

Jane nickte langsam. „Danke.“

„Weiß Jonas von den Träumen?“

„Ja.. nein, nein, nicht wirklich. Er weiß, dass ich Träume habe, aber nicht worum es geht.“

„Verstehe.“

Wirklich? Das war gut, denn sie selbst hatte nicht den blassesten Schimmer was sie bedeuteten. Außer, dass sie ihr Angst machten.

„Hast du versucht mit ihm darüber zu reden?“

„Ich-“, begann sie, unterbrach sich dann aber selbst mit einem Kopfschütteln.

„Okay.“ Ihrin nickte. „Vielleicht ist das sogar von Vorteil. Vielleicht fühlst du dich besser, wenn du das Ganze eher von einer professionellen Ebene betrachtest. Wenn du nicht das Gefühl hast für deine Träume verurteilt oder beurteilt zu werden?“

„Ich denke, dass mir das lieber wäre“, antwortete Jane vorsichtig mit einem Nicken.

Ihrin lächelte. „Gut.“

Professionell, das konnte sie. Analysen, Daten, Fakten, Auswertungen, das konnte sie. Vielleicht würde eine gewisse Distanz ihr dabei helfen das Chaos zu ordnen. Vielleicht würde es ja dann endlich einen Sinn ergeben.
„Also“, begann Ihrin bereits auf den Weg zur Tür. „Denk mal darüber nach, entscheide was du willst und wenn du dir sicher bist, komm einfach zu mir. Und wie bereits gesagt, jederzeit. Wäre ja nicht so, als ob du irgendwas Spannendes unterbrechen würdest. Wie wir beide sehr wohl wissen, lässt mein Privateben doch sehr zu wünschen übrig.“ Ihrin verzog leicht das Gesicht, aber dennoch war es ersichtlich, dass ihr dieser Umstand nicht allzu viel ausmachte. Aus Erfahrung wusste Jane, dass Ihrin alles andere als der Bindungstyp war. Sie liebte ihre Eigenständigkeit und es gab vermutlich nicht viel auf dieser Welt – Jane bezweifelte sogar, dass es überhaupt etwas gab – was Ihrin davon absehen ließ.

„Danke“, nickte Jane, dankbar, dass sie von ihrer Freundin ernst genommen wurde. Selbst wenn sie ihr noch nicht von dem Inhalt ihrer Träume erzählt hatte, erweckte diese Geste einen Akt der Normalität. Ein Problem, welches gelöst werden konnte. Es nahm dem Ganzen seinen Schrecken, das Unbekannte, das Unerklärbare. Plötzlich erschien es ihr recht simpel, als hätte sich der Nebel gelichtet und ein klarer Weg lag vor ihr. Sie seufzte erleichtert.

„Aber heute Abend bleibt es dabei? Ich, Jonas, du und nichts weiter als eine schöne Partie Poker, vielleicht noch ein vernünftiger Masseto aus der Toskana, Jahrgang 2001“, zwinkerte sie und Jane erkannte den sehnsüchtigen Ausdruck in ihren Augen. Sie wusste, wie sehr Ihrin diesen speziellen Wein liebte.

„Aber natürlich“, nickte Jane mit einem antworteten Lächeln.

„Perfekt“, nickte sie, bevor sie die Tür öffnete. „Heute Abend um acht?“ Ein Nicken war ihre Antwort und Ihrin schritt hinaus auf den Korridor.


++++

Selbst als Jane die Worte vernahm klangen sie hohl, leer, ja schon fast belanglos. Es waren Worte, denen sie lauschen sollte, so verlangte es die Höflichkeit. Man lud keinen Gast ein und ignorierte ihn dann, aber ein flüchtiger Blick auf den Mann neben sich sagte ihr, dass ihr Schweigen nicht weiter beachtet wurde. Und so saß sie einfach nur da, verfolgte mit ihren Augen die Diskussion, ihr Verstand speicherte die Unterhaltung ab und wenn man sie später fragen würde, um was es gegangen war, so könnte sie es wiedergeben, aber ihre Gedanken, ihre Gedanken waren nicht die ihren. Sie waren fern, drangen in Tiefen vor, die dunkel und trostlos vor ihr lagen. Sie konnte nichts erkennen, wie eine Mauer, die ihre Sicht versperrte und doch spürte sie, dass dahinter mehr lag.

Doch sie konnte sich nicht erinnern.

Seit nun mehr als fünf Jahren lebte sie in der Gegenwart und Zukunft. Niemals sprach jemand in ihrer Anwesenheit über die Vergangenheit, aus Scham, Mitleid, Bedauern oder Angst, das konnte sie nicht sagen. Oh, sie kannte die Vergangenheit – die geschriebene Historie, all dies hatte sie sich neu erarbeitet, aus Büchern, dem Fernsehen und dem Internet, aber ihre Vergangenheit lag im Dunkeln. Seit jenem Tag im Krankenhaus, konnte sie sich an das Davor nicht erinnern. Sie war mit einer erdrückenden Leere erwacht, ohne zu wissen wo sie war, was geschehen war und nach einiger Zeit des Verstehens, wer sie war.

„Miss, können Sie mich hören?“, hallten die Worte des Arztes durch ihren Kopf. „Können Sie mir sagen, welcher Tag heute ist?“

Ihr Mund hatte sich geöffnet. Eine lächerlich einfache Frage, aber als sie zum Sprechen ansetzte, kam kein Ton heraus. Sie konnte es nicht sagen.

„Sie hatten einen Unfall gehabt. Sie hatten Glück gehabt, keine körperlichen schwerwiegenden Verletzungen, so wohl innerlich als auch äußerlich.“

„Was ist passiert?“ Ihre Stimme klang rau, heiser, als ob sie sie eine lange Zeit nicht benutzt hatte.

„Das hätten wir gerne von Ihnen gewusst.“ Der Arzt hatte sie angelächelt, aber dennoch hatte sie eine gewisse Ernsthaftigkeit in seinen Blick erkannt, der ihr sagte, dass etwas nicht stimmte.

„Ich… ich weiß es nicht“, flüsterte sie. „Wo bin ich?“ Sie sah sich um, aber mehr als die sterile Einrichtung eines Zimmers hatte sie nicht erkennen können.

„Sie befinden sich im St. Marys Hospital.“ Seine Stimme war ruhig und bestimmt. „Sie haben seit fast drei Wochen im Koma gelegen.“

„Koma?“, wiederholte sie tonlos.

Der Arzt hatte genickt. „Ihren Namen? Wissen Sie Ihren Namen?“

Was soll das? Irritiert sah sie den Mann vor sich an. Und auch hier griffen die Fäden ihres Verständnisses ins Leere. Sie konnte keine passende Antwort auf die Frage finden. Panik breitete sich in ihr aus, umklammerte sie eiskalt, schnürte ihr regelrecht die Kehle zu. Wild riss sie ihre Augen auf. „Ich…ich…“ Ein hoffnungsloses Kopfschütteln, Tränen stachen in ihren Augen und drohten auszubrechen. Um Hilfe bettelnd starrte sie den Arzt mit einem Blick an, der schrie: Helfen Sie mir!

„Ich… ich kann mich nicht erinnern.“


Seit diesem Tag an war sie Jane gewesen. Erst Jane Doe, dann einfach nur Jane und schließlich Jane Barkley. Sie hatte niemanden, keine Familie hatte sich gemeldet, niemand, der sie vermisst hätte. Sie war vollkommen allein gewesen, ohne zu wissen, wer sie war, woher sie kam und was mit ihr passiert war. Die Ärzte und Schwestern hatten sich um sie gekümmert, hatten versucht es ihr so einfach wie möglich zu machen, aber sie hatten keine Antworten, zumindest nicht auf die Fragen, die wirklich wichtig waren. Die Ärzte hatten ihr gesagt, dass es durchaus normal sei, dass nach einer Weile im Koma, das Gehirn einen Neustart bräuchte, dass viele Menschen unter Amnesie leiden würden. Zunächst waren sie zuversichtlich, dass es nach einiger Zeit verschwinden würde, die Erinnerungen Stück für Stück zurückkehren würden, aber das war nicht Fall gewesen. Sie hatte nach drei Wochen Aufenthalt noch dieselbe Leere in sich gespürt, wie an dem Tag an dem sie aufgewacht war.
Damals hatte sie Jonas kennengelernt. Er war der erste gewesen, der sie nicht mit Mitleid und Bedauern angesehen hatte, sondern mit einer befremdenden Neugierde. Mit einem schiefen Lächeln hatte er ihr von seinem kleinen Arbeitsunfall erzählt und zum ersten Mal seit Wochen hatte sie gelacht. Er war mit Ihrin dort gewesen. Sie hatte ihn hergebracht, als er sich verletzt hatte. Selbst nach seiner Entlassung hatte er sie weiterhin besucht und ihr geholfen. Er war ihr erster Kontakt zu einer Welt gewesen von der sie nichts wusste, in der sie sich nicht zurechtgefunden hatte. Eine Verbindung in ein Leben und sie hatte sie mit jeder Faser ihres Körpers ergriffen.

Trotz ihrer Dankbarkeit wieder einen Platz im Leben gefunden zu haben, verstummte die Stimme in ihrem Inneren nicht, die danach verlangte zu wissen, was vorher gewesen war. All die Jahre hatte sie sie ignorieren können, hatte es als eine Nachwirkung des Unfalls ausgemacht. Aber jetzt waren sie stärker, fordernder und mit ihr kamen die Bilder, die Träume… dunkel, verwirrend, störend.

Und eine Seite in ihr wollte dem nachgeben, wollte endlich Antworten auf all die Fragen in ihrem Kopf haben, während sich eine ganz andere Seite in ihr vor dem Unbekannten fürchtete. Bisher hatte die Angst gesiegt.

„… und ich sage dir, diese Frau ist eine absolute Wichtigtuerin. Wie sie sich jedes Mal in meine Arbeit einmischt ist zum Verzweifeln“, erzählte Jonas Ihrin mit einer wilden Gestik.

Janes Kopf fuhr ruckartig in seine Richtung.

„Ich kann mich nicht erinnern, Sie gebeten zu haben, hier die Wichtigtuerin zu spielen.“

Glasklar ertönten die Worte in ihrem Kopf. Ohne Grund und Vorwand waren sie aufgetaucht, an die Oberfläche geprescht mit einem enormen Gefühl des Schams und der Wut im Gepäck. Und sie konnte sie nicht erklären. „Was hast du gesagt?“, unterbrach sie ihren Mann, der abrupt inne hielt.

„Was?“, fragte er verwirrt.

„Was hast du gerade gesagt?“

„Ich habe Ihrin nur von Allison erzählt und wie sie sich ständig in meine Arbeit einmischt, gerade jetzt vor der Ausstellung im Museum.“

Ungeduldig schüttelte Jane mit dem Kopf. „Wie hast du sie genannt?“

„Wen?“ Besorgt tauschte er einen Blick mit Ihrin aus, die jetzt ebenfalls die Stirn in Falten gelegt hatte und Jane eindringlich beobachtete.

„Allison. Wie hast du sie gerade genannt?“ In ihrer Stimme klang ein Hauch von Ungeduld mit.

„Wichtigtuerin“, antwortete Jonas perplex. „Und das ist sie auch. Du solltest sie mal sehen.“ Ein nervöses Lachen folgte, welches aber augenblicklich wieder abebbte, als niemand mit einstimmte. „Jane, ist alles in Ordnung mit dir?“

„Ja, ich bin nur…“ Sie schüttelten ihren Kopf. Diese Stimme, diese Worte… sie klangen eigenartig vertraut.
„Mir, mir ist gerade was eingefallen.“ Abrupt stand sie auf und flüchtete geradezu aus dem warmen Wohnzimmer in die Dunkelheit, die sich über den Rest des Hauses gelegt hatte. Noch während sie die Schwelle überschritt meinte sie Jonas gemurmelte Worte vernommen zu haben.

„Ich weiß nicht, was ich mit ihr machen soll…“


++++++

Zwei besorgte Augenpaare verfolgten ihr Verschwinden. Mit einem leisen, schweren Seufzen, schüttelte Jonas den Kopf. „Ich weiß nicht, was ich mit ihr machen soll, Ihrin. Sie hat sich verändert.“

Nachdenklich nickte Ihrin, während abwesend ein Zeigefinger gegen ihre Unterlippe klopfte, eine Angewohnheit, die die meisten Menschen in ihrem Umfeld zur Verzweiflung treibte. „Ja“, stimmte sie ihm nach einem kurzen Schweigen zu. Man musste kein Genie oder Sigmund Freud sein, um diese Veränderung zu bemerken. Sie hätte sich auch gleich ein blinkendes Schild um den Hals hängen können, an dem stand, dass sie gerade eine Persönlichkeitsveränderung durchlief. „Hat sie dir irgendwas gesagt?“ Insgeheim hatte Ihrin bereits eine Vermutung, aber sie wollte es von Jonas hören, wollte wissen, wie offen sie mit ihm reden konnte.

Eine Hand fuhr durch seine Haare und ließ einige Strähnen in alle Himmelsrichtungen abstehen. „Sie denkt, dass ich es nicht mitbekomme, aber seit ungefähr zwei Wochen…“ Er verstummte mit einem erneuten Kopfschütteln. „…Ihrin, sie hat diese Träume. Und sie machen mir Angst.“

Überrascht sah sie ihn an. Das war neu. „Angst?“, fragte sie nach. „Hat sie dir von ihren Träumen erzählt?“

Seiner Antwort ging ein enttäuschtes Lachen voraus. „Himmel noch mal, nein. Aber ich bin nicht blind. Ich bin ihr Mann.“

„Was genau ist es dann, was dir Angst macht?“

„Sie schläft keine Nacht mehr durch. Sie wälzt sich hin und her und manchmal spricht sie im Schlaf. Ich kann die Worte nicht ausmachen, es ist nur ein Murmeln, aber, Ihrin, ich schwöre dir, was immer es ist, es sind keine angenehmen Träume.“

Nickend stand Ihrin von ihrem Ohrensessel auf, den sie den Abend über eingenommen hatte, und ging zu Jonas hinüber auf die Couch. „Eine Amnesie muss nicht immer von Dauer sein. Es kann von heute auf morgen passieren, dass sich das, was sich all die Zeit im Unterbewusstsein befunden hat, an die Oberfläche drängt. Es gibt verschiedene Auslöser, ein Beispiel dafür hast du gerade eben gesehen. Als Jane das Wort ‚Wichtigtuerin‘ gehört hat, muss das irgendwas in ihrem Unterbewusstsein angeregt haben. Sie hat zu irgendwas eine Verbindung hergestellt. Es ist vollkommen normal, dass durch solche Schlüsselreize der Mensch anfängt sich zu erinnern. Das kann manchmal, so wie in Janes Fall, auch erst nach Jahren auftreten.“

Als Jonas sie ansah, war sein Blick ernst, unterlegt von Sorge. „Ich bin mir aber nicht sicher, ob ich will, dass sie sich daran erinnert.“

„Was?“ Verwirrt sah sie ihn an. „Jonas, das ist ein natürlicher Prozess. Du kannst ihn nicht einfach dadurch aufhalten, nur weil du beschlossen hast, dass du es nicht willst.“ Sie schüttelte ihren Kopf. „Außerdem ist es wichtig für Jane, dass sie sich damit auseinandersetzt.“

„Aber du bekommst es nicht mit. Diese Träume, die sie hat, Ihrin, das sind Albträume, das sind keine angenehmen Träume. Sie hat Schmerzen. Manchmal beobachte ich sie dabei, wie sie im Schlaf – vollkommen unbewusst – mit ihren Händen über ihre Narben am Körper fährt, wie sie die Stellen umklammert, so als ob sie gerade die Momente durchlebt, in denen diese Male entstanden sind.“ Er sah sie eindringlich an. „Wenn das Erinnerungen aus ihrem früheren Leben sind, dann bin ich mir nicht sicher, ob es gut für sie wäre, wenn sie sich daran erinnert.“

Ihrin nickte leicht. „Das mag sein und persönlich stimme ich dir da zu, aber dennoch kannst du es nicht aufhalten. Was Jane jetzt braucht ist nicht unsere Konfrontation, sondern Unterstützung. Ich glaube, sie am allerwenigsten, versteht im Moment, was in ihrem Kopf vor sich geht.“

Ein leises Schnauben war zu hören. „Und wie sollen wir hier helfen? Einfach dabei zusehen, wie sie sich weiter quält? Das kann ich nicht. Ich will einfach nicht, dass meine Frau diese Erfahrung machen muss.“

Mit einem warmen, schon fast traurigen Lächeln sah sie ihn an. „Ich denke, wenn wir einfach nur für sie da sind, ist es das Beste, was wir tun können.“ Jonas öffnete seinen Mund, um etwas zu erwidern, aber mit einer gehobenen Hand unterbrach sie ihn. „Ich weiß, dass du sie liebst und dass du sie am liebsten vor allen Gefahren auf dieser Erde beschützen willst, aber das ist etwas, was außerhalb deiner Macht liegt.“

„Und was soll ich dann tun?“ Hilflos sah er sie an. „Sie will noch nicht einmal mit mir darüber reden.“

„Lass ihr Zeit. Sie wird darüber reden. Irgendwann. Und wenn sie der Meinung ist, dass sie bereit ist, es dir zu sagen, wird sie auf dich zukommen.“

Sein Blick fuhr hinüber zur Tür, durch die seine Frau verschwunden war und Ihrin konnte das Verlangen darin sehen aufzuspringen und zu ihr zu gehen. „Sie hat sich verändert, Ihrin. Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll. Ich habe Angst sie zu verlieren.“

„Ich weiß.“ Vorsichtig streckte sie ihre Hand aus und drückte leicht die seine. Er schien es kaum zu registrieren. „Aber wir schaffen das. Was immer es ist, was immer noch kommen mag, wir schaffen das.“

„Ich möchte es glauben.“ Es war nur ein Flüstern, ein letzter Hoffnungsschimmer, der ; so vermutete Ihrin, als sie in die sterbenden Flammen sah und ihrem letzten Tanz beobachtete, wie das Feuer vor ihr auch bald erloschen sein würde.

Ihrin nickte stumm. Ich auch.


++++++++++

Jane rührte sich nicht, als sie das leise Knarren der sich öffnenden Tür hörte. Es war dunkel im Raum, lediglich eine kleine Lampe auf dem Schreibtisch spendete Licht. Ihrin blickte sich um. Im Halbdunkeln kam ihr das Arbeitszimmer viel größer und noch bedrückender vor. Direkt vor ihr stand ein großer Schreibtisch, überladen mit Büchern, die, wenn sie auch einen unkoordinierten Eindruck machten, sie dennoch geordnet, gestapelt lagen. Ihr Blick flog kurz über die Bücherregale, die die beiden umschließenden Wände säumten. Eine Ansammlung von Jonas und ihrer Leidenschaft. Doch als sie ihre Aufmerksamkeit auf die Person vor sich richtete, bemerkte sie erst, wie der Lichtschimmer ihre Silhouette an der Fensterfront umgab. Wenn sie es nicht anders wüsste, würde sie es als Aura bezeichnen. Sie schüttelte kurz den Kopf, aber der Zauber war nicht verflogen.

„Jane“, begann sie, doch die Person vor ihr reagierte nicht. Ihren Rücken Ihrin zugewandt starrte Jane mit verschränkten Armen hinaus in die Nacht, hinauf in den silbernen Vollmond. „Wir machen uns Sorgen.“

„Hast du dir jemals Gedanken darüber gemacht, welche eine Macht der Mond auf uns Menschen ausübt?“, fragte Jane, als ob sie ihre Freundin nicht gehört hätte.

Verwirrt runzelte Ihrin die Stirn und schritt am Schreibtisch vorbei, ihr Blick starr auf die zierliche Gestalt gerichtet. „Jane, ich-“

„Die Menschen sagen, dass er magisch sei, eine Faszination. Viele Sagen kursieren um den Mond, seine Entstehung, seine Bedeutung. Besonders in der damaligen Zeit. Wusstest du, dass er damals als eine zentrale Gottheit dargestellt wurde? Isis, Diana, Luna, Artemis, Hekate… nur um einige zu nennen.“ Sie verstummte und als sie merkte, dass Ihrin neben ihr stehenblieb, ebenfalls hinaus schaute, drehte sie leicht ihr Gesicht in ihre Richtung. „Faszination… Ich fühle etwas, Ihrin, aber ich weiß nicht was es ist. Es ist kein schönes Gefühl. Ich habe es vergessen.“

„Und es hat etwas mit dem Mond zu tun?“

Jane zuckte die Schultern. „Ich weiß es nicht.“

Unsicher fuhr Ihrins Zunge über ihre Lippen. „Jane, es ist nicht selten, dass bei einer Amnesie nicht nur die Erinnerungen gelöscht werden, sondern auch Emotionen.“ Vorsichtig betrachtete sie ihre Freundin, aber Jane nickte nur. Mit klinischen Fakten konnte Jane mehr anfangen als Mitleid oder Gefühle, die sie nicht verstand. Fakten waren Logik, sie musste man einfach nur verstehen. Bereits in ihrem Grundstudium hatte Ihrin gelernt, dass Emotionen mit Ereignissen verbunden wurden. Man lernt zu fühlen. Es ist ein jahrelanger Prozess, ein Abschnitt den Jane verloren hatte. Sie müsste wieder ganz von vorne anfangen, wie ein Baby das Krabbeln und Laufen lernt, müsste Jane wieder anfangen zu fühlen und diese Gefühle richtig zu deuten. Und jetzt mit den Träumen… Ihrin konnte nur erahnen, welche Emotionen dabei mit an die Oberfläche gespült werden mussten. Eine Überflutung der Sinne, der Reize.

„Ich denke Dinge zu fühlen, aber ich verstehe sie nicht“, flüsterte Jane. „Ich weiß nicht wie es sich anfühlt zu lieben oder Zuneigung zu entwickeln, glücklich zu sein. Und jetzt, mit den Träumen, den Bildern… ich wünschte, ich wüsste, was es bedeutet.“

Ihrin nickte. „Du musst lernen sie zu verstehen. Und du wirst es auch irgendwann, aber es braucht Zeit. In der Therapie ist es üblich, dass die Betroffenen Dinge aufschreiben, sie versuchen zu definieren, ihren Gefühlen einen Namen zu geben.“

Janes Blick glitt kurz zu dem Schreibtisch, es war nur eine Sekunde nicht mehr, aber Ihrin hatte es bemerkt. Und da sah sie sie. Blätter lagen verteilt auf der Oberfläche. Es müssen mindestens zehn an der Zahl sein. Neugierig ging Ihrin zu ihnen, nahm eines nach dem anderen auf und fragte sich, wie sie sie hätte übersehen können. Doch was sie in den Händen hielt waren keine Schriftstücke, keine Niederschrift irgendwelcher Gedanken, sondern Bilder. Sie hatte keine Ahnung gehabt, keinen Schimmer, dass Jane die Gabe besaß die Bilder in ihrem Kopf nicht mit Worten, sondern gezeichneten Strichen festzuhalten.

„Die sind…mir fehlen die Worte.“ Sie drehte sich erstaunt zu Jane um, die Bilder noch immer in der Hand haltend. „Unglaublich.“ Schnell überflog sie die Zeichnungen, eine fantastischer als die vorige.

„Ich konnte es nicht in Worte fassen, also habe ich es gezeichnet.“ Es war eine Feststellung, ohne jegliche Bewertung. Sie verspürte den Drang ihre Gedanken niederzuschreiben und jedes Mal, wenn sie es versuchte, wurde sie durch ihre eigene Unzuverlässigkeit im Umgang mit Worten verraten. Die Worte, die es auf das Papier schafften, wurden den Bildern in ihrem Kopf nicht gerecht und so hatte sie nach einem Ausweg gesucht, einer Art Substitution und sie hatte sie im Zeichnen gefunden.

Ihrin betrachtete das oberste Blatt, eine Zeichnung eines alten Gemäuers, ein See, ein Wald, imposant, dunkel, mächtig. „Es ist…“

„… atemberaubend“, beendete Jane den Satz für sie. Ein schiefes Lächeln zeichnete ihre Lippen. „Ich weiß. Mir geht es immer so, wenn ich es sehe. Es strahlt etwas aus, eine Präsenz, die mir vollkommen fremd ist.“

„Was denkst du, wenn du es siehst?“

„Geborgenheit? Es fühlt sich sicher an, aber zugleich…“ Jane verstummte, betrachtete das Bild eingehend, fuhr mit ihren Fingern ja schon fast sanft, liebkosend über die gezeichneten Mauern. „…Bedrohung. Es macht mich nervös, unruhig. Dennoch ist mir dieser Ort… wichtig.“

„Also, warst du schon mal dort?“

„Auf einem Schloss? Offensichtlich.“ Sie schüttelte mit dem Kopf, ihre Haare schwangen mit der Bewegung mit.

„Du hast es ziemlich oft gezeichnet. Das Schloss ist auf jedem deiner Bilder präsent. Ich gehe davon aus, dass diese Bilder hier“, Sie zog drei Blätter heraus, „das Innere des Schlosses darstellen?“

„Vermutlich“, antwortete Jane langsam.

Vorsichtig legte Ihrin die Bilder zurück. „Was ist vorhin passiert, Jane?“

„Ich, ich… ich habe eine Stimme gehört. Es ist lächerlich.“ Ein vehementes Kopfschütteln, eine Verneinung, Ablehnung. „Vergiss es einfach.“

„Nein“, beharrte Ihrin bestimmt. „Es ist nicht lächerlich. Jede Kleinigkeit kann dir helfen diese Dinge zu verstehen. Dein Unterbewusstsein versucht dir etwas zu sagen. Die Barriere, die dein Bewusstsein aufgebaut hat, beginnt zu bröckeln. Es wird weiterhin fortschreiten und wenn du dich nicht damit auseinandersetzt, dann wird es dich überrennen. Es wird ein langer und schwerer Weg werden, es werden Hindernisse und Rückfälle auftreten, aber du wirst auch Erfolge haben.“ Sie hatte sich in Rage geredet, gefangen in ihren eigenen Worten, erkannte sie, dass sie Janes Aufmerksamkeit hatte. „Die Dinge, die du erfahren wirst, werden dir anfangs Angst machen, du wirst sie nicht verstehen können, weil du sie nicht kennst, weil sie dir fremd sind, aber du wirst lernen, Stück für Stück, dass sie ein Teil von dir sind.“

Ein hohles, kaltes Lachen erfüllte den Raum, dass Ihrin automatisch einen Schritt zurückwich. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich will, dass diese Dinge ein Teil von mir werden… oder sind.“

Sie fragte sich, ob Jonas nicht vielleicht doch mehr wusste, als er zugab. „Du wirst es nicht ändern können.“

„Sie ergeben keinen logischen Sinn.“

„Die Stimme, erzähle mir von der Stimme.“

Jane massierte ihren Nasenrücken, ihre Augen waren geschlossen. Sie atmete hörbar aus. „Männlich, leise, kalt, verärgert, wütend… ich weiß es nicht.“

„Was hat sie gesagt?“

„Ich kann mich nicht erinnern, Sie gebeten zu haben, hier die Wichtigtuerin zu spielen.“

„Das hat sie gesagt?“

„Ja.“ Leicht genervt warf Jane ihr einen Blick zu.

„Zu dir?“

Schon fast verzweifelt starrte sie Ihrin an. „Keine Ahnung. Ich gehe einfach mal davon aus.“

„Ist das schon mal passiert? Ich meine, dass du dich an etwas erinnert hast, was durch ein Wort oder Redensart oder dergleichen ausgelöst wurde?“

Janes Augen wurden groß und für einen Moment sah es so aus, als ob sie jegliche Farbe aus ihrem Gesicht verlieren würde. „Woher..?“ Aber bevor sie die Frage stellen konnte, konnte Ihrin erkennen, wie etwas verschlossen wurde. Eine Mauer, um das Chaos zu bannen. Oh, Jane…Nicht.

„Erzähl es mir.“

„Es ist noch lächerlicher als dieser Satz.“ Sie verschränkte bestimmt ihre Arme vor der Brust, beschützend, abwehrend.

„Dann zeichne es.“

„Was?“

„Wenn du es nicht erzählen kannst, dann zeichne es.“

Jane schnaubte. „Du willst, dass ich mich jetzt hier hinsetze und anfange zu zeichnen?“

„Ja“, war die einfache und doch ernste Antwort.

„Das ist nicht dein Ernst.“ Mit einem schon fast lächerlichen Ausdruck sah sie ihre Freundin an.

„Absolut. Warum nicht? Jane, du musst anfangen dich damit auseinanderzusetzen. Das passiert nicht von alleine und schon gar nicht von jetzt auf gleich. Und wie ich dich kenne, hast du deinem Therapeuten noch nichts davon gesagt, oder?“

Es lag keine Anschuldigung in ihrem Ton und dennoch kam Jane nicht drum herum sich in eine Ecke gedrängt zu fühlen. Hartnäckig biss sie ihre Zähne zusammen, ihr Blick blieb hart, ihr Körper angespannt. „Wie soll ich jemanden etwas erklären, was wirklich absolut unlogisch ist und sich jeglicher Vernunft entzieht, was ich selbst noch nicht einmal verstehe und was sich sogar in meinem Kopf, in meinen Gedanken, vollkommen lächerlich anhört?“

„Wieso überlässt du diese Entscheidung nicht einfach den anderen?“

Ein Kopfschütteln war ihre Antwort.

„Bitte, Jane“, flehte Ihrin. „Die Fakten?“

Janes Unterlippe wurde von ihren Zähnen gefangen, während sie einen unsicheren Blick hinaus in die Nacht warf. Als ihr Blick zu dem gleißenden Mond wanderte, musste sie ihren Kopf wegdrehen. Da war es wieder, diese Enge, das Kribbeln, das etwas nicht mir ihr stimmte. „Krieg. Es ist… oder war Krieg. Überall schreien die Menschen. Ich sehe das Schloss, eine kleine Stadt und Menschen werden angegriffen. Manchmal kann ich den Rauch riechen.“ Mit traurigen Augen blickte sie hinüber zu Ihrin, während ihre Hand leicht über ihr Schlüsselbein strich. Tränen schimmerten in dem blassen Licht.

Leicht runzelte Ihrin die Stirn und überlegte eifrig welchen Krieg Jane meinen könnte. In den letzten Jahren gab es keine Kriege, keine, die ihr bekannt waren.

„Ich bin dort gewesen. Ich war noch ein Kind…“ Sie schüttelte mit dem Kopf. „Nein, kein Kind, aber jung, noch nicht erwachsen. Und da waren diese Männer, mit den Masken und Gewändern. Sie haben uns gejagt, verfolgt.“ Ihre Stimme verstummte kurz. „Das Schloss wurde angegriffen. Wir dachten, dass es sicher dort sei, das war es immer gewesen, aber diesmal waren wir nicht einmal dort in Sicherheit.“

Ihrin s Gedanken kreisten, schwirrten wild herum. Ihr Blick flog immer wieder zu den Bildern, bis eines, welches halb versteckt unter den anderen lag ihre Aufmerksamkeit erhaschte. Sie hatte es vorher nur wenig Bedeutung beigewohnt, viel zu sehr war sie geblendet von der Kunst gewesen als das Wesentliche zu erkennen, nämlich, dass was die Bilder darstellten. Eine Aufzeichnung. Wirklich, Ihrin, du hättest es erkennen müssen, schalt sie sich.

Es zeigte das Schloss in all seiner Pracht, der Mond stand voll am Himmel und obwohl es lediglich eine Bleistiftzeichnung war konnte sie die Flammen erkennen. Einzelne Rauchschwaden waren schemenhaft eingezeichnet. Und obwohl das Monument stabil stand, erkannte sie dass es in seinem Fundament brüchig geworden war. Viele Schatten überluden das Geschehen und ganz klein im Hintergrund eine kleine Stadt, gefallene Häuser, Brände und diese kleinen Schatten, waren das Menschen? Sie kniff ihre Augen zusammen, konnte aber nichts weiter ausmachen. Bei ihrem Leben, sie hatte keine Ahnung wo sich dieser Ort befinden mochte.

„Das Schloss“, begann sie nachdenklich. „Was war es?“

Verwirrt sah Jane sie an. „Was es war?“

„Ja, du hast gesagt, dass es ein Ort der Sicherheit gewesen ist. Also, muss es dir wichtig gewesen sein, du bist dort gewesen“, schlussfolgerte Ihrin nüchtern und dennoch angetrieben von einer Energie, die sie schon lange nicht mehr erlebt hatte. Es kitzelte in ihr, so als ob sie etwas Richtigem auf der Spur war. Wenn es dieses Schloss wirklich gab, dann musste es ja schließlich irgendwo stehen und dann konnte es auch gefunden werden und vielleicht war das ja der erste Schritt, der Jane helfen würde Ordnung in das Chaos zu bringen.

„Ich bin mir nicht sicher“, antwortete Jane grübelnd, als sie selbst noch einmal die Bilder durchschaute und gedankenvoll darauf starrte, so als würde sie in ihren Gedanken nach einen Anhaltspunkt suchen. „Ich kann mich an Mauern erinnern, große Räume, manche kalt, mache warm… wir waren viele. Kinder, Jugendliche, Erwachsene. Es war so ähnlich wie ein Internat.“

„Eine Schule?“ Ihrin Stimme überschlug sich fast vor Eifer. Das zäumte die Möglichkeiten noch weiter ein. Es gab in England einige Schlösser, die heute Internate waren, Eaton, Oxford… aber selbst die USA hatte Havard, Columbia…

„Es war keine normale Schule.“

„Hast du einen Namen oder ein Logo? Die meisten Schulen tragen Zeichen, ein Wappen, irgendeinen Erkennungsgrad.“

„Nein, tut mir leid. Ich kann mich nicht erinnern.“

„Das ist okay.“ Ihrin lächelte sie an. „Das ist schon mehr als man erwarten kann. Immerhin können wir jetzt mit den Fakten arbeiten.“

„Und du willst nichts von dem anderen hören?“ Unglaube schlich sich in Janes Ton.

„Natürlich, aber du musst entscheiden, wann du es jemanden erzählen willst. Was du mir bisher gegeben hast, waren Fakten, Tatsachen. Daran ist nichts unnormal. Und sie bringen uns weiter und vielleicht, wenn wir mehr Informationen haben, ergeben die anderen Dinge dann einen Sinn.“

Jane biss gedankenverloren auf ihre Unterlippe und begann mit einer herausgefallenen Strähne zu spielen. Zweifel lag in ihren Augen, aber auch eine Spur von Hoffnung. Ein berechnender und schon fast ängstlicher Blick ihrer Freundin traf Ihrin. „Was hast du jetzt vor?“

Ein geheimnisvolles Lächeln umspielte Ihrins Lippen. „Ich, meine Liebe, werde jetzt herausfinden, wo sich dieses besagte Schloss befindet.“


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Erst Stunden nach dem Besuch ihrer Freundin, Stunden nachdem Jonas bereits schlafend im Bett lag, war Jane noch einmal aufgestanden, hatte sich in die gewohnte Dunkelheit des Arbeitszimmers zurückgezogen. Als sie eintrat, hatte sie nicht den Lichtschalter betätigt, sondern ließ sich durch das weiße, gleißende Licht des Vollmondes leiten, hinüber zum Schreibtisch, wo sie eine einzelne Kerze anzündete. Flackernd erwachte diese zum Leben und schimmerte graziös im Kontrast zum kalten Licht des Mondes.

Wie benommen saß sie einen Moment da, blickte hinunter auf die noch immer ausgebreiteten Bilder. Ihre Unterhaltung mit Ihrin jagte in einer unendlichen Schleife der Wiederholung durch ihren Kopf.

„Die Dinge, die du erfahren wirst, werden dir anfangs Angst machen, du wirst sie nicht verstehen können, weil du sie nicht kennst, weil sie dir fremd sind, aber du wirst lernen, Stück für Stück, dass sie ein Teil von dir sind.“

Ihre Hand fuhr zu einer abgeschlossenen Schublade, schon automatisch drehte sie den Schlüsseln, ein ungewöhnlich lautes Klicken war zu hören, als der Bolzen aus dem Schloss fuhr und ein Knarren begleitete Janes Bewegung, als sie die Schublade langsam aufzog. Zum Vorschein kamen weitere Zeichnungen, beschriebene Zetteln mit Notizen und Recherchen.

Sie ließ den Stapel mit einem dumpfen Geräusch auf die Arbeitsfläche fallen. Sie hatte bereits ihre eigenen Nachforschungen angefangen, unwissend den anderen gegenüber und je mehr sie nachlas, desto mehr fragte sie sich, ob sie nicht auf dem Drahtseil des Wahnsinns balancierte. Niemand wusste davon, niemand würde je davon erfahren.

Sie las den Absatz, den sie bereits in der Nacht zuvor gelesen hatte, erneut durch:

„Für die einen ist Lykanthropie die Verwandlung eines Menschen in ein Tier, für andere beschreibt es die Form einer Geisteskrankheit. Dennoch ranken sich Legenden um den Mythos. Halb Tier, halb Mensch. Getrieben von niederen Instinkten, Vieh zu reißen und Menschen anzugreifen, geleitet von einer dunklen Macht, die das Christentum dem Bösen zuschrieb. So war es keine Verwunderung, dass selbst eine simple Beschuldigung dazu beitrug einen Betroffenen auf den Scheiterhaufen zu bringen. Genau wie die gleichzeitigen Hexenprozesse, waren die Werwolfprozesse nichts weiter als eine Farce – unmöglich zu gewinnen, unter Folter ein Geständnis, am Ende nur der sichere und meist wohl auch erlösende Tod.

Einmal von einem Werwolf gebissen, war man verbannt sich jeden Vollmond in ein Wesen zu verwandeln, was kein Gewissen kennt. Sagen berichten, dass die Betroffenen keine Erinnerungen an ihre Zeit der Verwandlung haben, dass sie in dieser Zeit Angst verbreitet und gemordet haben.

Bereits durch seine Namengebung und durch die datierten Prozesse, in denen fast ausschließlich nur Männer auf dem Scheiterhaufen anzutreffen, waren Betroffene stets männlicher Gestalt. Ob die männliche Physiologie dabei eine Rolle spielt oder wie sich ein Biss bei einer Frau auswirkt ist nicht bekannt.“


Jane schaute kurz von der Zusammenfassung auf, die Worte, gefolgt von ungebetenen Bildern hallten noch allzu laut in ihrem Kopf. Sie wusste, dass sie kommen würden, sie kamen immer, in den letzten Tagen stärker und dringender den je.

Mit einem leichten Kopfschütteln versuchte sie sie abzuwimmeln und sich wieder auf ihre Arbeit vor sich zu konzentrieren.

„Die Verwandlung erfolgt unfreiwillig und ist für den Beteiligten ein schmerzhafter Prozess, Knochen verbiegen sich, Haare sprießen durch die Haut, das menschliche Bewusstsein verdrängt, überdeckt durch das dominante Bedürfnis zu jagen – wobei der Werwolf keinen Unterschied zwischen Freund und Feind macht.

„Berichten zufolge geht der Verwandlung eine Aura voraus, die von jedem individuell anders empfunden werden kann, einige werden unruhig, andere verspüren ein unangenehmes Gefühl, als ob sie am liebsten ihre Haut abreißen würden, andere reagieren sensibel.“


Und während sie die Worte las, verspürte sie ein Kribbeln. Automatisch fuhr ihre Hand zu der Stelle auf ihrem Bauch, wo sich vier parallel verlaufende Narben befanden, die wie sie jetzt bemerkte, als sie leicht ihr Top anhob, rot im Schein der Kerze leuchtete. Sie widerstand dem Bedürfnis sie zu kratzen, dem Kribbeln so ein Ende zu setzen, es würde nur schlimmer werden, es gab nichts, was es stoppen konnte.

Abrupt stieß sie sich vom Tisch ab und sprang auf. Ungeduldig und von einer inneren Unruhe getrieben, begann sie vor dem Fenster auf und ab zu laufen, Gedanken rasten durch ihren Kopf, versuchten logische Verknüpfungen herzustellen. Und während sie hinaus auf den Mond starrte, dachte sie einen Ruf zu hören, das Blut rauschte pochend durch ihre Adern, erfüllte ihre Sinne mit einer unerklärbaren Sehnsucht.

Das Prickeln breitete sich aus, wie spinnenartige Finger hüllte es sie ein und sie war gewillt dem Drang nachzugeben, auch wenn sie nicht wusste, was es war. Die Sinne vernebelt, das alleinige Kribbeln war alles, was sie wahrnahm und so blieb auch der Schatten unter ihrem Fenster unbemerkt. Mit einem unterdrückten Schrei, wandte sie ihren Blick von dem gleißenden Himmelskörper ab, umklammerte den Fenstersims, bis sie kein Gefühl mehr in ihren Fingern verspürte.

Leise stöhnend sackten ihre Beine unter ihr weg und langsam rutschte sie auf den Boden, hinaus aus dem hellem Silber hinab in die Dunkelheit, wo sie sich geborgen fühlte. Instinktiv schlang sie ihre Arme, um ihre angewinkelten Beine.

Sie hatte eine Ahnung, einen Verdacht und wenn sie ihrem Verstand zuließ das Logische nicht von der Hand zu weisen, wenn sie zuließ die Bilder und Träume als das anzusehen, was sie vorgaben zu sein, dann wusste sie, dass sie sich jenseits des Schmalen Grades befand, der Wahnsinn und Vernunft trennte. Es konnte nicht wahr sein, es durfte nicht wahr sein.

Sicherlich, es gab Übereinstimmungen, aber es wurde nie wissenschaftlich belegt, dass es so etwas wirklich gegeben hat oder gab. Aberglaube, Gespinste, die sich die Menschen zuammengereimt haben, weil sie es nicht besser wussten. Waren das nicht die Worte gewesen, die sie noch am heutigen Tag ihren Schülern gepredigt hatte?

Und dennoch nagte etwas in ihr, sagte ihr, dass es nicht so einfach war. Dass diese Bilder nicht dem Wahnsinn entsprungen waren.

Abgehackt schnappte sie nach Luft, was wenn sie wirklich krank war? Was, wenn sie wirklich wahnsinnig wurde?

„Nein“, sagte sie laut, ihre Stimme unglaublich dünn in der Dunkelheit. „Ich bin nicht verrückt.“ Verzweifelt versuchte sie ihren eigenen Worten Glauben zu schenken.

Doch die Alternative, erkannte sie, als sie auf den Blätterhaufen starrte, war genauso erschreckend.

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„So, so… sieh einer mal an, wen wir hier haben“, knurrte eine tiefe Stimme amüsiert. „Wirklich interessant, so sehen wir uns also wieder.“

Seine Augen glitzerten hungrig auf, sein Mund verzog sich zu einer grinsenden Fratze, wodurch das getrocknete Blut, welches an seinem Kinn und seinen Zähnen klebte widerlich verzerrt wurde. Er beugte sich über die auf den Boden kauernde Person. „Und heute werde ich dafür sorgen, dass du diese Nacht niemals vergessen wirst.“ Seine Stimme nur ein gefährliches Knurren.

Das Mädchen vor ihm zuckte zurück, versuchte nach hinten zu krabbeln, stieß dabei aber an den leblosen Körper über den sie gerade gebeugt gewesen war. Erschrocken blickte sie auf, als sie ihr Gleichgewicht verlor.

„Heute, gehörst du mir“, flüsterte er begierig. Sein beißender Gestank, der Geruch nach Schmutz, Blut und Tod umgab sie wie eine Wolke, eingehüllt und gefangen. Seine Nase fuhr ihren Körper entlang, sie konnte nicht flüchten, nicht rennen, lag eingekerkert zwischen einer Leiche und einem wahnsinnigen Mörder.

Sie wollte Schreien, wollte sich wehren, aber ihre Muskeln waren wie erstarrt. In ihrem Kopf liefen die Stimmen Amok, sie sollte endlich anfangen zu handeln, sie sollte das Gelernte endlich umsetzen, aber ihr Körper weigerte sich. Starr vor Angst verfolgte sie die Bewegungen des Mannes, hoffend, dass es bald ein Ende finden würde.

Und als er seine gelben, langen, spitzen Finger hob, um sie auf den Boden zu halten, sich das zu nehmen, weshalb er gekommen war, hörten sie beide einen gellenden Schrei. Instinktiv flogen beide Köpfe in die besagte Richtung…

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… und die Stimme sprach mit Bedauern, leise, kaum wahrnehmbar. „So sollte es nicht enden“, flüsterte sie dunkel. Ein Schatten beugte sich über sie, Haare verdeckten ihr Sichtfeld, als sich die Lippen an ihr Ohr legten.

„Vergib mir.“

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Augenblicklich öffnete sie ihre Augen. Ihr Blick fiel auf einen massiven Tisch, der direkt vor ihr stand. Erst als sie langsam ihren Kopf hob, erkannte sie, dass sie sich noch immer im Arbeitszimmer befand. Sie war eingeschlafen. Mit einem Stirnrunzeln versuchte sie alles in eine Reihenfolge zu bringen.

Als sie schließlich aufstand, aus dem Fenster schaute und die ersten Sonnenstrahlen erblickte, war sie schon fast erleichtert, dass die Nacht vorbei war. Geistesgegenwärtig strich sie sich ihre Haare aus dem Gesicht und fuhr mit ihrer Hand über ihr Top, welches sich leicht verschoben hatte. Das Kribbeln unter ihrer Haut hatte aufgehört, ausgetauscht durch ein leises Frösteln, welches mit Sicherheit durch den kalten Boden, auf dem sie gelegen hatte, ausgelöst wurde.

Aber das war ihr egal. Sie setzte sich an den Schreibtisch, zog ein leeres Blatt heraus und begann zu zeichnen. Sie hatte ein Gesicht gesehen und solange die Bilder noch frisch in ihrem Kopf waren, wollte sie sie einfangen.

Konzentriert biss sie sich auf die Unterlippe, während ihre Stirn in Falten lag und nur das hektische Kratzen von Bleistift auf Papier zu hören war. Aus irgendeinem Grund beruhigte sie dieses Geräusch.

++++++

„Ich habe die gesamte Nacht gesucht“, wurde Jane begrüßt, als sie die quietschende Tür öffnete und Ihrin davor stehen sah. Sie blickte ihre Freundin mit einer hochgezogenen Augenbraue an, betrachtete die Schatten unter ihren Augen und war sich ziemlich sicher, dass ihre Freundin die Wahrheit sagte. Sie selbst sah vermutlich nicht besser aus.

Leicht verzweifelt blickte Ihrin Jane über einen Papierstapel an, den sie vor ihre Brust gedrückt hielt und eintrat, während Jane einen Schritt zurück ging. „Ehrlich, wer hätte gedacht, dass es so viele Schulen gibt, die in einem Schloss angesiedelt sind?“

„Kaffee?“, fragte Jane mit einem leichten Lächeln, als sie die Tür schloss.

„Oh, bitte“, seufzte Ihrin erleichtert und folgte ihr durch einen schmalen Flur in die Küche. Dort ließ sie den Stapel mit einem dumpfen Knallen auf die massive Tischplatte fallen.

„Du hast also nichts gefunden?“

„Na ja, gefunden habe ich so einiges, aber es ist schwer eine Auswahl zu treffen, wenn man nicht weiß wie das Schloss heißt, wo es ist oder ohne sonstige Angaben, bis auf ein paar Zeichnungen zur Verfügung hat.“

Jane nickte stumm, als sie Ihrin eine dampfende Tasse Kaffee hinstellte und sich selbst einen Tee einschenkte. Sie setzte sich gegenüber von ihrer Freundin an den Tisch und überflog den Papierberg. Hauptsächlich Bilder von alten Schlössern. Innerlich seufzte sie leise.

„Du hättest dir nicht wegen mir die Nacht um die Ohren schlagen müssen.“

Ihrin zuckte mit den Schultern. „Ich hatte nichts Besseres vor und außerdem ist heute Samstag.“ Und dann riss sie plötzlich ihre Augen auf. „Oh!“

Fragend blickte Jane zu ihr hinüber.

„Heute ist Samstag.“ Jane nickte. „Ich meine, der Samstag. Jonas‘ Samstag.“

„Ja, ich weiß“, lächelte Jane ihre Freundin an. „Jonas ist schon im Museum, um noch die letzten Vorbereitungen zu treffen.“

Aufgeregt rutschte Ihrin bis auf die Stuhlkante vor. „Er ist bestimmt vollkommen begeistert. Seine erste eigene Ausstellung.“ Sie seufzte einmal. „Das war schon immer sein Traum gewesen.“

Jane kniff leicht ihre Augen zusammen und nickte langsam. „Vermutlich.“

„Entschuldige“, murmelte Ihrin zähneknirschend, als sie ihren Fehler erkannte. Sie und Jonas hatten sich geschworen vor Jane niemals die Vergangenheit zu erwähnen, die mehr als fünf Jahre zurücklag. „Also, wirst du hingehen?“

„Es ist wichtig für Jonas“, war die ausweichende Antwort.

Ihrin zuckte leicht zusammen, wandte ihren Blick ab und schaute einen kurzen Moment hinunter in ihre Kaffeetasse. Manchmal vergaß sie, dass Jane mehr als nur ihre Erinnerungen verloren hatte. Sie fragte sich oft, wie Jonas es verkraftete. Er liebte sie, das wusste Ihrin, aber dennoch wäre sie überrascht, wenn seine Liebe allein ausreichen würde. Ihrin wusste, dass Jane ihn auf ihre Art liebte… oder zumindest das, was sie darunter verstand.

Sie seufzte leise und schaute schließlich mit einem schiefen Lächeln auf. „Nun, ich denke, er wird heute einen grandiosen Abend haben.“

Jane setzte zu einem Nicken an, als plötzlich ihr Kopf in Richtung Fenster flog. Ihre Augen zogen sich zu zwei Schlitzen zusammen, die Stirn lag in Falten gelegt, während sie schon fast fließend von ihrem Stuhl aufstand und hinüber zum Küchenfenster ging.

„Was ist los?“

„Hast du das auch gehört?“, flüsterte sie im Schatten stehend, so dass sie zwar alles sehen aber selbst nicht gesehen werden konnte.

„Was?“ Ihrins Stimme klang ungewöhnlich laut und Jane warf ihr einen kurzen warnenden Blick zu. „Was?“, fragte sie leiser und wollte ebenfalls aufstehen, aber sie wurde von einer hochgehaltenen Hand aufgehalten.

„Nicht. Bleib wo du bist.“

„Jane… was ist hier los?“

„Ich weiß es noch nicht, aber ich denke, dass ich beobachtet werde.“

Verblüfft wanderten Ihrins Augenbrauen hoch. Sie hob leicht ihren Kopf, wagte es nicht irgendwelche schnellen Bewegungen auszuführen, während sie versuchte von ihrem Platz aus, aus dem Fenster zu schauen. „Ich kann nichts sehen.“

„Sshhh“, zischte Jane, ihren Blick nicht abwendend. Sie kniff leicht ihre Augen zusammen, als ob sie etwas gesehen hätte, wie ein Jäger seine Beute. Konzentriert legte sie ihren Kopf schief und atmete tief ein. „Ja, jemand ist hier.“

Wenn es denn möglich war, wurden Ihrins Augen noch größer. „Dann sollten wir die Polizei rufen.“

„Nein!“ Janes Blick flog in ihre Richtung sah sie bestimmt, wenn nicht sogar etwas panisch an. „Keine Polizei.“

Ungläubig starrte Ihrin ihre Freundin an, ihr Mund stand offen, während sie den Drang unterdrückte aufzuspringen. „Jane“, zischte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „dann rufe ich jetzt Jonas an.“

Um ihren Worten den nötigen Nachdruck zu verleihen stand sie auf und ging hinüber zum Telefon. Eine schlanke Hand, umschlang ihr Handgelenk, als sie den Hörer abnahm. „Nein, ich will nicht, dass Jonas etwas davon erfährt.“

Ihrin versuchte sie mit ihrem Blick zu überzeugen, zu überreden endlich ihren Verstand einzuschalten, aber ihre Freundin hielt ihren Blick stand, wenn nicht sogar war am Ende sie selbst, die letztendlich mit einem Seufzen langsam ihre Hand sank. Die Finger, die sich um ihr Handgelenk verkrampft hatten, lockerten sich. Von ihrer jetzigen Position aus, konnte sie besser den Vorgarten betrachten und erkannte nichts. Vielleicht, so hoffte sie, war derjenige auch schon gar nicht mehr da. „Jonas wird das nicht gefallen.“

„Jonas wird davon nichts erfahren.“

„Jane, das kann unmöglich dein-“

„Bitte, Ihrin. Jonas hat genug Sorgen.“ Ihrin schnaubte ungläubig und wusste dass Jonas alles stehen und liegen lassen würde, wenn er erfuhr, dass seine Frau bedroht wurde. Er hatte ein Recht dazu es zu erfahren. „Ich denke nicht, dass er es verstehen würde.“

„Er ist dein Mann, Jane, und da draußen befindet sich angeblich irgendein Irrer, der dich beobachtet.“ Sie betrachtete ihre Freundin mit einem kalkulierten Blick und als die versteinerte Ablehnung in ihrem Gesicht erkannte, schnappte sie laut nach Luft. „Oh mein Gott. Wie lange? Wie lange geht das schon so?“

Ausweichend wandte Jane ihr den Rücken zu, ihre Lippen wieder einmal gefangen zwischen ihren Zähnen, während sie erneut hinausstarrte. Ihrin erkannte die Anspannung und nur die Tatsache, dass sie krampfhaft ihre Arme vor der Brust verschränkte, hielt sie davon ab, ihre Freundin durchzuschütteln. Was in Gottes Namen hatte sie noch alles übersehen? Wut und Sorge loderten gleich gefährlich unter der Oberfläche. „Wie lange, Jane?“, wiederholte sie ihre Frage angespannt, jegliche Freundlichkeit war aus ihrer Stimme verschwunden, die keine weiteren Ausflüchte dulden würde.

„Ein paar Wochen“, hörte Ihrin schließlich das geflüsterte Geständnis.

„Ein paar Wochen?!“, kreischte Ihrin aufgebracht.

„Grundgütiger Merlin, Ihrin, beruhige dich wieder.“ Jane wirbelte herum und hob ihre rechte Hand in einer drohenden Geste.

„Beruhigen?“ Fassungslos starrte sie Jane an. „Nimm das jetzt bitte nicht persönlich, aber hast du jetzt vollkommen deinen Verstand verloren?“

„Vielleicht. Manchmal frage ich mich, ob dies tatsächlich der Fall ist.“

„Mensch, Jane, du weißt, dass du seit ein paar Wochen beobachtet wirst, und du hast niemanden davon erzählt?“

„Ich wollte keine Aufmerksamkeit auf mich lenken. Wenn ich jemanden davon erzählt hätte, hätte es nur Aufsehen gegeben und-“

„-und hätte den Kerl vielleicht verscheucht.“ Ihrin schüttelte verärgert den Kopf, eine Hand fuhr durch ihre schwarzen Haare. „Wirklich, was hast du dir dabei nur gedacht? Und was ist mit Jonas?“ Ein Schweigen war ihre Antwort. „Hast du eigentlich eine Ahnung, was du Jonas damit antust?“

„Ich wollte nicht, dass er damit reingezogen wird.“

„Er ist dein Mann, Jane. Er steckt schon mitten drin. Du hast keine Ahnung, wer es ist der dich beobachtet?“ Ein Hauch eines Kopfschüttelns. „Vielleicht beobachtet er nicht nur dich, sondern auch Jonas, hast du daran schon gedacht? Du weißt nicht, was er will und somit ist auch Jonas in Gefahr.“

„Nein, das ist er nicht.“

„Und woher willst du das wissen?“ Jane setzte zur Antwort an, aber Ihrin unterbrach sie mit einem energischen Kopfschütteln. „Es tut mir leid, aber ich kann nicht zulassen, dass Jonas irgendwas passiert. Er ist mein bester Freund und ich werde alles tun, um ihn zu beschützen.“

„Ihrin, tu das nicht. Es ist zu seinem Besten, wenn er nichts davon erfährt.“ Janes Stimme hatte einen ungewöhnlich leisen Unterton angenommen.

Ihrins Augen zogen sich zu zwei Schlitzen zusammen. „Nenne mir einen vernünftigen Grund, warum ich nicht auf der Stelle die Polizei rufen sollte.“

„Weil ich dich als Freundin darum bitte mir zu vertrauen.“

Ihrin knurrte leise, sie hasste es, wenn Jane diesen Weg einschlug. Es war mehr als offensichtlich, dass ihr Gegenüber etwas wusste, etwas Wichtiges, etwas, was sie dazu veranlasste so dermaßen irrational zu handeln, aber bei Gott, ihr wollte partout kein vernünftiger Grund einfallen. Und das Dilemma, welches sich vor ihr ausbreitete, konnte größer und komplizierter nicht sein. Entweder tat sie genau das, was ihr gesunder Menschenverstand ihr sagte – nämlich die Polizei rufen und somit dem Ganzen ein Ende zu setzen, und auf gleichen Wege Janes Grundvertrauen zu zerstören oder aber sie würde in Janes wahnsinnige Bitte einlenken. Sie wusste, was passieren konnte, wenn sie Jane jetzt den Rücken zuwandte und war sich darüber im Klaren, dass ihr gesamter Fortschritt auf dem Spiel stand, aber lieber Himmel, ein Verrückter, der sie schon seit Wochen – Wochen! – beobachtete und verfolgte und sie hatte nichts gesagt!

Und dann hob Ihrin ihren Kopf, ihre Antwort stand klar leserlich in ihren Augen. „Es tut mir leid.“

„Nein.“ Jane schüttelte langsam mit dem Kopf. „Nicht.“

Diesmal war Ihrin schnell genug, sie schnappte sich ihr Handy, welches auf dem Tisch lag, wählte bereits die drei vertrauten Ziffern.

„Tu das nicht“, flehte sie mit einer steigenden Verzweiflung in ihrer Stimme.

Und während Ihrin langsam ihr Handy zu ihrem Ohr führte und versuchte rückwärtsschreitend so viel Distanz zwischen sich und Jane zu bringen, verspürte sie ein merkwürdiges Knistern, als sie plötzlich von einer unsichtbaren Kraft erfasst und zu Boden geschleudert wurde, ihr Kopf schlug dumpf gegen den Boden und während sich ungebetener Schmerz durch ihren Körper schoss, fiel ihr Handy klappernd aus ihrer Hand und glitt über den ebenen Küchenboden, bis es mit solch einer Wucht gegen den Schrank knallte, dass die äußere Hülle wie eine Eierschale zerbrach. Erschrocken starrte sie von den Trümmern des einstigen Telefons hinauf zu ihrer Freundin, die noch immer an ihrem Platz stand, aber ihre Hände waren zu Fäusten geballt, ihr Gesicht zu einer erschreckenden Grimassen verzogen, ihr ganzer Körper zitterte und Ihrin hätte schwören können, dass die Luft in dem Raum mit Elektrizität, einen immer lauter werdenden Summen, gefüllt war.

Vollkommen benommen beobachtete sie, wie ihre Freundin ihren Kopf nach hinten warf und ihren Mund zu einem stummen Schrei öffnete. Sie konnte sich nicht bewegen, rührte sich nicht, als sie mit ansah, wie einzelne Funken glitzernd aufsprühten und ein Küchenstuhl unfreiwillig an der Wand über ihr zerschmetterte. Automatisch ihre Arme schützend über ihren Kopf werfend, fragte sie sich panisch, ob das nicht alles ein schlechter Scherz war.

„Jane“, krächzte sie heiser, aber ihr Gegenüber konnte sie nicht hören.

Selbst wenn sie gewollt hätte, sie konnte einfach nicht ihren Blick von dem grotesken Bild vor ihr abwenden und so vernahm sie das plötzliche Scheppern einer Tür gegen die Wand nur am Rande. Der Ausdruck „Stupor“ ergab absolut keinen Sinn und sie war sich nicht sicher, ob es nicht lediglich eine Ausgeburt ihres Deliriums war.


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Ich will mehr wie jeder andere, dass Joanne K. Rowling mit meiner Luna zufrieden ist, denn es ist ihr Charakter. Ich hatte schon einen Albtraum davon, auf der After-Show-Party zu sein, Jo zu treffen und sie schüttelt nur ihren Kopf und schaut traurig. Das ist mein Irrwicht. Aber bis jetzt hat sie sich mir gegenüber positiv verhalten, also bin ich optimistisch.
Evanna Lynch