von Marisol
Immer noch neben Snape kniend, legte Hermine ihm die Arme auf die Schultern, und zu ihrer grenzenlosen Überraschung stieß er sie nicht von sich, sondern verharrte stocksteif und stumm, so als wäre die Tatsache, dass sie ihn freiweillig berührte und nicht Hals über Kopf davonlief zu viel für seinen benebelten Verstand, um es zu begreifen.
Hermine wusste nicht genau, was sie tat- das einzige, dessen sie sich bewusst war, war das brennende Verlangen, etwas von seiner Verzweiflung fortzunehmen.
Sie hatte sich nie wirklich Gedanken darüber gemacht, was Snapes Irrwicht sein könnte, aber nun, da sie es mit eigenen Augen gesehen hatte, ergab alles auf eine perplexe Weise Sinn.
Anders als Harry und Ron hatte sie Dumbledores Urteil nie hinterfragt, und wenn der Schulleiter seine Gründe dafür hatte, Severus Snape zu vertrauen, dann gab es für sie keinen Zweifel, dass sie ihrem Lehrer ebenfalls nicht trauen sollte.
Sein Irrwicht bewies nicht, dass er ein guter Mann war... im Gegenteil. Er bewies, dass er Dinge gesehen und Dinge getan hatte, die schrecklich und verstörend waren, aber gleichzeitig gab es etwas in ihm, das all diese furchtbaren Taten verabscheute. In Snapes Seele existierte Falsch neben Richtig, vermengte sich manchmal miteinander und ergab verschiedenste Schattierungen, und das alles war viel zu komplex, als dass sie es verstehen konnte, aber auf einer geheimnisvollen, unbewussten Ebene tat sie es trotzdem.
Ohne darüber nachzudenken, schob sich Hermine näher an ihren Lehrer heran und drückte ihren Körper an seinen. Sie wusste, dass sie ihn mit Worten nicht erreichen konnte, also versuchte sie ihm mithilfe ihrer Umarmung zu zeigen, dass sie ihn trotz allem, was sie miterlebt hatte, nicht für das Monster hielt, das er selbst in sich sah.
„Haben Sie mir nachspioniert?“, fragte er so leise, dass sie ihn kaum verstehen konnte.
Seine Stimme hatte die schneidende Schärfe verloren und klang nur noch unendlich müde.
„Nein“, entgegnete sie flüsternd. „Ich kam hier runter, um mich... meiner größten Angst zu stellen.“
Sie wischte sich die letzten Tränenspuren von ihren Wangen, stand unsicher auf, hielt ihren Zauberstab erhoben und atmete tief durch, ehe sie die Schranktür sich öffnen ließ.
Augenblicklich schoss der Irrwicht daraus hervor und es dauerte nur Sekunden, bis die Szene erschien, die Hermine in den letzten Wochen so schwer auf der Seele lastete, dass ihr das Atmen manchmal zu schwer wurde.
Sie kämpfte gegen angreifende Gestalten, deren Masken ihre Gesichter verbargen, aber sie war viel zu langsam, viel zu ungeschickt... kein Fluch, den sie auf ihre Gegner abfeuerte, traf sein Ziel und in dem Gesicht der Irrwicht-Hermine spiegelte sich die zunehmende Panik als sie erkannte, dass ihr all ihre Bücher und ihr Fleiß nichts genützt hatten, jetzt, da es auf Leben oder Tod ankam, jetzt, da ihr so umfangreiches Wissen nicht viel mehr wert war als ein kaputter Zauberstab. Da stand sie und versuchte verzweifelt, sich gegen die Angriffe zu wehren und die zu schützen, die sie liebte... aber ihre Eltern waren nicht mehr. Leblos lagen sie nur einen Schritt weit entfernt neben ihr, die Spuren des Schreckens noch auf ihren erstarrten Gesichtern. Ron und Harry kämpften in ihrer Nähe, taten ihr Bestes, um den tödlichen Flüchen zu ergehen, und die Irrwicht-Hermine sah, wie ein Fluch direkt auf Ron zusteuerte. Sie versuchte einen Schildzauber heraufzubeschwören, aber ihre Bewegung schienen sich wie in Zeitlupe abzuspielen, und noch bevor sie überhaupt die Lippen bewegt hatte, sank Ron zu Boden wie eine Puppe, deren Glieder umgeknickt waren...
„Nein“, keuchte Hermine entsetzt, „Ri-Ridi-Kulus!“
Der logische Teil ihres Verstandes sagte ihr, dass das alles nicht wirklich passierte, dass sie in der Realität niemals so langsam reagieren würde, aber in ihrer wachsenden Angst gelang es ihr nicht, sich den Irrwicht in einer lächerlichen Gestalt vorzustellen.
„Bitte nicht!“, brachte sie erstickt hervor, als sie dabei zusah, wie ihre Angreifer einen engeren Kreis um sie zogen, und sie nahm all ihre Kraft zusammen, um sich den Irrwicht als lustiges Kuscheltier mit herabhängenden Schappohren und einem albernen Hut vorzustellen. „Ridi...kulus“, stammelte sie kaum hörbar, und obwohl es ihr kaum gelang, sich auf das Kuscheltier zu konzentrieren, dauerte es nicht lange, bis sich die grauenvolle Szene vor ihr auflöste und der Irrwicht für Sekunden wie eine Schlange aussah, die sich viele Male um sich selbst geknotet hatte, ehe das Wesen polternd wieder im Schrank verschwand.
Hermine war zutiefst irritiert, da es nicht die Gestalt war, sie sie sich vorgestellt hatte, aber als sie zu Snape schaute, der immer noch auf dem Boden kniete, sah sie, dass er gerade seinen Zauberstab wieder sinken ließ- und sie verstand.
„Danke“, krächzte sie erstickt, aber er gab durch nichts zu verstehen, dass er sie überhaupt gehört hatte- oder dass er ihren Dank erwartet hatte.
Hermine ging langsam wider auf ihn zu und ließ sich neben ihn nieder, bereit sofort wieder zu verschwinden, sollte er sie fortjagen, doch er sprach kein Wort.
„Meine größte Angst“, flüsterte sie nach einem langen Moment des Schweigens. „Ich... ich habe schreckliche Angst davor, dass ich all die Jahre lang so viel unnütze Zeit damit verbracht habe, meine Nase in Bücher zu stecken, und dann, wenn es soweit sein wird zu kämpfen...“
Sie zitterte und ihre Stimme verlor sich. Sie hatte keine Ahnung, warum sie ihm das alles erzählte, wusste sie doch, dass er mit seinen eigenen Dämonen kämpfte, doch zu ihrer Verblüffung sprach er nach einem kurzen Moment: „Sie sind nicht dumm, Miss Granger. Das, was Sie sich angeeignet haben, wird Ihnen helfen, auch wenn es Ihnen jetzt nicht so erscheinen mag. Wenn es in dem kommenden Krieg zum Kampf kommt, und es wird soweit sein, früher oder später, gebrauchen Sie Ihren Verstand.“
Er sah sie nicht an, als er murmelnd hinzufügte: „Sie haben eine Menge davon.“
Hermine errötete bis unter die Haarwurzeln. In all den Jahren, die sie nun in Hogwarts zur Schule ging, hatte er sich die größte Mühe gegeben, sie zu demütigen und ihren Eifer lächerlich zu machen, aber nun gaben ihr seine Worte eine Art des Mutes wieder, denn sie noch nie zuvor verspürt hatte.
„Nun, ich...“, begann sie, aber er schnitt ihr das Wort ab.
„Zögern Sie nicht, wenn Sie gezwungen sind zu kämpfen... selbst wenn einer der Angreifer mit der Kapuze ich sein sollte.“
Sprachlos starrte sie ihn, versuchte zu ergründen, was in den schwarzen Augen vor sich ging und öffnete den Mund, doch kein Laut kam daraus hervor.
Sie wusste, dass es sinnlos war ihn danach zu fragen, welche Rolle er spielte- oder spielen musste.
Sie standen auf der gleichen Seite und taten es doch nicht, kämpften für die gleiche Sache und waren gleichzeitig auch Gegner.
Sie begriff, dass es Dinge gab, die er gezwungen sein würde zu tun- für welche Seite auch immer- und sie begriff auch, dass sein Innerstes zerrissen war und er sich verzweifelt danach sehnte, dem allen zu entkommen, wohl wissend, dass es keinen Ausweg für ihn gab.
Wie von selbst griffen ihre Hände nach seinen.
Sie waren eiskalt und zuckten in ihren, aber sie verfestigte den Griff um seine Finger und senkte den Kopf, um einen Kuss auf seine Hände zu drücken... die Hände, von denen der Irrwicht-Snape behauptet hatte, dass sie gemordet hatten und morden würden.
Sie tat es ganz bewusst, hielt seine geschickten, schlanken Finger umklammert und wärmte sie mit ihren eigenen.
Sein Blick ruhte auf ihr, und obwohl sie spürte, dass er nicht verstand, was genau sie da tat, löste er sich nicht aus ihrem Griff.
Vielleicht fühlte er genau wie sie, dass sie einen seltsamen Moment der Intimität geteilt hatten, die weder körperlich war noch auf Freundschaft basierte, sondern sich einfach aus einem Zufall heraus ergeben hatte.
Sie schlang wieder die Arme um seinen Hals, berührte dann seinen Rücken und versuchte all das in die Umarmung zu legen, was sie nicht aussprechen konnte: dass sie eine Ahnung davon hatte, wie schwer es für ihn war, seine Aufgaben in diesem Krieg zu erfüllen... welcher Art auch immer sie waren, dass sie einen kleinen Blick auf die Komplexität seiner Seele erhascht hatte und dass sie ihn eigentlich für all das verabscheuen sollte, was er war, es aber dennoch nicht tat.
„Ich wünsche Ihnen viel Glück, Sir“, flüsterte sie an seinem Hals und bemerkte noch nicht einmal, dass ihre Tränen seinen Umhang benetzten.
Dann löste sie sich langsam von ihm, stand auf und wankt auf unsicheren Beinen auf die Tür zu, ohne sich noch einmal zu ihm umzudrehen.
Und sie hatte sie fast erreicht, als sie seine flüsternden Worte eher spürte, als dass sie sie wirklich hörte:
„Ich Ihnen auch.“
ENDE
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