von Dreamcatcher
Ginny erwachte mit einem seltsamen Gefühl in der Magengegend. Noch bevor sie die Augen öffnete, versuchte sie diese nagende Leere in ihrem Inneren zu ergründen. Irgend etwas schien zu fehlen.
Ganz langsam kam die Erinnerung an den gestrigen Tag wieder. Und ebenso langsam wurde ihr klar, was fehlte. Immer noch mit geschlossenen Augen, vielleicht, weil sie Angst davor hatte, das zu sehen, was sie sehen würde, wenn sie die Augen aufschlug, tastete sie neben sich nach einer warmen Hand oder irgend etwas, was ihr die Sicherheit gab, dass Tom noch bei ihr war.
Er war weg.
Sie hatte es eigentlich gewusst. Sie hatte es von dem Augenblick an gewusst, in dem sie aufgewacht und seine Abwesenheit gespürt hatte. Vielleicht sogar schon gestern Abend, als sie in seinen Armen gelegen und seine Haut an der ihren gespürt hatte. Seufzend schlug sie die Augen auf. Sie wollte nicht weinen, doch die Tränen stiegen ihr trotz dessen in die Augen. Verschwommen erkannte sie den tiefroten Baldachin über sich. Erschrocken blickte sie sich um und erkannte erst jetzt, dass sie in ihrem Himmelbett lag. Tom musste sie hierher getragen haben, nachdem sie eingenickt war. Er hatte sich nicht einmal verabschiedet.
Sie biss die Lippen zusammen. Es war eigenartig, aber sie hatte das Gefühl, dass er ganz genau wusste, wie sehr sie wegen ihm litt. Er musste wissen, wie sehr es sie schmerzte, dass er einfach so gegangen war. Wie ein Dieb hatte er sich davongestohlen.
Ihre Hand klammerte sich haltsuchend an die Bettdecke. Doch der Stoff, den ihre zitternden Finger ertasteten, war ungewohnt. Verwirrt erkannte sie, dass sie ein T-Shirt in der Hand hielt. Es war seines, sie erkannte es an dem Duft, das noch an ihm haftete. Sie hörte sich leise aufschluchzen und in diesem Augenblick wurden die Vorhänge ihres Bettes ruckartig beiseite gerissen. Samantha stand vor ihr, mit in die Seite gestemmten Händen und funkelnden Augen. Es hätte nicht offensichtlicher sein können, wie wütend sie war.
„Ich wusste es!“, rief sie zornig. „Ich hab\'s die ganze Zeit gewusst, und du hast versucht, es vor mir zu verheimlichen!“
Völlig konfus starrte Ginny sie an. Sie hörte wohl nicht richtig. Konnte Samantha irgendetwas von der ganzen Sache mitbekommen haben?
„W-was meinst du?“, versetzte sie und versuchte gleichzeitig, ihre Worte beiläufig klingen zu lassen und in eine schützende Hülle aus gespielter Unwissenheit zu verpacken.
„Tom Riddle!“, entgegnete Samantha nur.
Es waren die einzigen beiden Wörter, die es in dieser Situation schaffen konnten, Ginny innerlich zu zerreißen. Wie, wie um alles in der Welt konnte Samantha von Tom erfahren haben? Hatte sie ihn zusammen mit ihr gesehen? Oder war sie womöglich wach gewesen, als er sie gestern Nacht zurück in ihr Bett gebracht hatte?
Düstere Bilder tauchten vor Ginnys innerem Auge auf und der letzte Rest ihrer Selbstbeherrschung drohte in sich zusammenzustürzen, als Samantha in völlig verändertem Ton sagte: „Im Ernst, Ginny, du hättest es mir sagen müssen. Du hast mir versprochen, dass dir die Sache in der ... du weißt schon, der Kammer, dass sie dir nichts mehr ausmacht. Und nun, nach so vielen Jahren, bekomme ich durch Zufall mit, dass dich dieses Ereignis immer noch quält. Dass er dir immer noch Angst macht!“
Ruckartig setzte sich Ginny auf und schlug die Bettdecke auf. Das alles war so verwirrend, dass es beinahe wieder komisch war.
„Sam ...“, sagte sie und fasste sich an den Kopf. „Wovon bitte redest du?“
Samantha warf ihr einen zutiefst besorgten und teilnahmsvollen Blick zu.
„Ich hab dich gehört, wie du ... im Schlaf gesprochen hast. Jedes Zweite Wort war Tom Riddle.“
Ginny spürte, wie sie bis zum Haaransatz rot wurde, doch innerlich atmete sie erleichtert auf. Das war es also, was Samantha von all ihren Sorgen mitbekommen hatte. Nur ein Name, mit dem sie ganz andere Dinge verband, als sie selbst es inzwischen tat.
Schnell legte sie Sam die Hand auf die Schulter und sagte beschwichtigend: „Kein Grund zur Beunruhigung, wirklich. Ich gebe zu, dass ich hin und wieder einen Alptraum habe ... aber über das Schlimmste bin ich hinweg, glaub mir!“
Und mit einem gewinnenden und - wie sie hoffte - halbwegs überzeugenden Lächeln umarmte sie ihre verdatterte Freundin kurz, schlüpfte in ihre Jeans und zog ein unscheinbares, schwarzes T-Shirt an, das Samantha vorher noch nicht aufgefallen war. Verwirrt blickte sie Ginny nach, die mit betont beschwingtem Schritt die Treppe zum Schlafsaal hinabeilte und verschwand.
Beim Frühstück langte Ginny so beherzt zu wie lange nicht mehr und versuchte angestrengt alle Gedanken, die nichts mit Toast oder Rührei zu tun hatten, zu verdrängen.
Rechts neben ihr warfen sich Ron und Harry, die die ganze Zeit ungewöhnlich still gewesen waren, bedeutungsvolle und unruhige Blicke zu.
„Ginny, wir müssen mit dir reden“, meinte Harry gezwungen gleichmütig, als sie zusammen die große Halle verließen und Hermine am Tisch zurückließen - Ginny war sich sicher, dass dies ein Teil ihres lange durchgekauten Plans war.
„Ich höre?“, sagte sie und biss beherzt in ein in eine Serviette gewickeltes Toast, auf dessen Aufstrich sie sich besonders stark konzentrierte, um Gedankenabschweifungen zu vermeiden.
„Wir ... ähem ...“ Ron räusperte sich vernehmlich. „Wir glauben, dass du in den letzten Tagen ...“ Er warf Harry einen hilfesuchenden Blick zu und dieser ergänzte hastig: „ ... anders warst, als sonst.“
Ginny konnte sich über ihre dümmlichen Gesichter ein geheimes Lächeln nicht verkneifen.
„Gute Beobachtungsgabe“, bemerkte sie trocken, während sie die Stufen zum zweiten Stockwerk emporstiegen. Die nächsten Minuten verfielen sie in drückendes Schweigen. Die beiden Jungs, weil sie nicht wussten, was sie von ihrer Antwort halten sollten, und Ginny, weil sie sich im Stillen über ihre Befangenheit amüsierte. Schließlich konnte sie es nicht lassen und Harry von der Seite her zu fragen: „Erzähl doch mal. Wie ist das eigentlich, mit Schlangen zu sprechen?“
Es war ein sehr kühler Abend, auch wenn die dichten Schneegestöber rund um die Schlossmauern aufgehört hatten und die dünnen Flocken nur noch sacht zur Erde schwebten. Ginny lehnte an der Brüstung des Nordturms und beobachtete die Baumwipfel des verbotenen Waldes, der still wie eh und je am Rand des Hogwartsgeländes lag. Kein Toast oder irgend etwas anderes auf der Welt konnten sie von ihren Gedanken ablenken, die still und entschlossen zu Tom Riddle schwebten.
Es war richtig, dass er sich leise und ohne einen Abschied davongeschlichen hatte. Der Schmerz wäre nicht weniger stark gewesen, doch sie hätte ihn nicht bändigen können, so wie sie es jetzt tat. Und doch, es war ein stiller Abschied gewesen, als sie am Abend in dem verlassenen Klassenzimmer zusammen gekommen waren.
Wo er jetzt bloß war? Ginny wusste, dass er sich auf den Weg gemacht hatte, um seine Aufgabe zu erfüllen. Inzwischen kannte sie ihn gut genug um zu wissen, wie sehr er sich sein Ziel zu Herzen nehmen würde. Dass er alles daran setzen würde, um dem ein Ende zu bereiten, was er selbst zu verschulden hatte.
Es war eigenartig, aber nun, da sie mit kühlem Kopf und so geschärften Sinnen wie seit langem nicht mehr hier oben allein war, konnte sie stärker denn je erahnen, was sich in ihm abspielen musste.
Er würde den Kampf gegen Voldemort aufnehmen. Auch, wenn sie wusste, was das bedeutete, konnte sie doch nicht die Vorstellung verbildlichen, dass Tom gegen sich selbst antreten und sich bekämpfen würde. Er und Voldemort waren zwei so grundverschiedene Männer, die doch ein und dieselbe Person verkörperten, wenn auch durch Zeit und Gefühle voneinander getrennt - und aufs Stärkste verfeindet. Wer von ihnen würde die Oberhand gewinnen? Und wie würde es ausgehen, wenn einer der beiden gewann? Ginny konnte sich das Ende beim besten Willen nicht ausmalen. Doch sie hoffte, mit jeder Faser in ihr flehte sie und in ihr begann die feste Überzeugung zu wachsen, dass es ein gutes Ende werden würde.
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