von Dreamcatcher
„Legen Sie einen Zahn zu, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit!“, raunzte Snape, während er hastigen Schrittes durch die Gänge eilte. Ginny konnte kaum mit ihm Schritt halten.
„Ich kann es kaum erwarten, Professor Dumbledore davon in Kenntnis zu setzten, was Sie angerichtet haben ...“, murmelte Snape im Gehen wie zu sich selbst. „Und wenn Sie erst einmal draußen sind, wird es nicht mehr lange dauern, bis auch ihr lieber Bruder seine Koffer packen wird.“
Ginny biss sich auf die Unterlippe. Inzwischen war sie sich nicht mehr sicher, ob die Idee, zu Dumbledore zu gehen, ĂĽberhaupt gut war. Vor allem nicht, wenn sie einen triumphierenden und im wahrsten Sinne des Wortes unternehmungslustigen Snape im Schlepptau hatte.
Ehe sie sich jedoch weitere Gedanken über den nächsten Schritt machen konnte, bremste Snape schon ruckartig vor dem Wasserspeier, der Die Treppe zum Schulleiterbüro bewachte, ab.
„Folgen Sie mir“, wiederholte er in einem kühleren Ton und Ginny wusste, dass er sich seelisch und moralisch darauf einstellte, Dumbledore von ihrer Schandtat zu überzeugen.
Nachdem Snape energisch angeklopft hatte, betraten sie das kreisrunde und von einem vielstimmigen Ticken erfĂĽllte Zimmer.
„Ah, Severus!“, sagte Dumbledore und erhob sich von einem Stuhl an seinem Schreibtisch. „Und ... Miss Weasley, sollten Sie sich nicht im Unterricht befinden?“
„Miss Weasley wird an keinem Unterricht dieser Schule mehr teilnehmen, nachdem ich Ihnen von ihren ... Aktivitäten wahrend der letzten Zaubertrankstunde berichtet habe, Sir“, sagte Snape schnell und warf Ginny einen gehässigen Seitenblick zu.
„So?“, entgegnete Dumbledore und sah milde überrascht aus. „Bitte setzt dich, Ginny“, sagte er unverhofft und beschwor einen dritten Stuhl hervor. „Du auch, Severus.“
Doch Snape tat nicht dergleichen. Mit vor der Brust verschränkten Armen und zu einem gemeinen Lächeln gekräuselten Lippen sagte er leise: „Erzählen Sie dem Direktor, was Sie angestellt haben, Weasley.“
Ginny setzte sich auf den ihr angebotenen Stuhl und senkte den Kopf. Ihr Hals war trocken und sie wünschte sich inzwischen sehnlich, dass sie das alles gelassen hätte. Doch nun war es zu spät. Snapes schwarze Augen durchbohrten sie und sie dachte an Tom, dem sie versprochen hatte zu helfen. Zum Leugnen war es zu spät, und sie wusste, dass es keinen Sinn hatte Dumbledore anzulügen. Doch sie wollte lieber die ganze Wahrheit erzählen.
Sie holte tief Luft.
„Ich hab es nur gemacht, um mit Ihnen allein sprechen zu können, Sir.“
Dumbledore zog die Brauen so weit hoch, dass sie unter seinem langen Silberhaar verschwanden. Snapes Augen hingegen verengten sich zu Schlitzen.
„Was soll der Unsinn, Weasley? Wollen Sie dem Schulleiter einen Bären aufbinden?“
„Beruhige dich“, unterbracht ihn Dumbledore und legte ihm beschwichtigend die Hand auf die Schulter. Dann wandte er sich wieder Ginny zu. „Du willst mit mir allein sprechen? Es ist eine dringende Angelegenheit, wie ich annehme?“
„Äußerst dringend“, sagte Ginny nickend.
„Dann werde ich dir dieses Gespräch gewähren“, sagte Dumbledore ruhig. „Du wirst einen Grund haben, so viel zu riskieren, nur um mit mir altem Kauz zu reden. Severus ... ich muss dich bitten, uns jetzt allein zu lassen.“
Snapes Gesicht war rosarot angelaufen und hatte den Mund zusammengepresst. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und verließ mit wehendem Umhang - mehr denn je einer überdimensionalen Fledermaus ähnelnd - den Raum.
Ginny wandte sich wieder Dumbledore zu. Er saĂź entspannt in seinem Chins-Sessel, hatte die Fingerkuppen aneinander gelegt und beobachtete sie interessiert.
Peinlich berĂĽhrt rutschte Ginny auf ihrem Stuhl hin und her.
„Professor, Sir ...“, begann sie unschlüssig. Wieviel konnte sie erzählen, ohne Tom dabei zu gefährden? Würde Dumbledore nachfragen, wenn sie gewisse Dinge verschwieg? Wie würde er reagieren, sie doch noch von der Schule verweisen? Oder gar den Orden zu Hilfe rufen, um Tom nach Askaban zu bringen?
Wieder holte sie tief Luft. Sie musste ihm alles erzählen, sie hatte keine andere Wahl.
„Es befindet sich jemand in Hogwarts, der ... hier ... nicht sein dürfte“, bracht sie stotternd hervor.
Dumbledores blaue Augen musterten sie immer noch eindringlich und es war unmöglich zu sagen, was er dachte.
„Fahr fort“, sagte er nur.
„Gut ... also ... er sollte eigentlich tot sein. Nein - er existiert normalerweise nicht, das heißt, seine frühere Form ...“
Hilflos sah sie ihn an.
„Ja?“
„Es ist ... Tom Riddle, Sir.“
Stille trat im Raum ein. Ginny bemerkte, dass alle Schulleiter und Schulleiterinnen in den Portraits ringsum gespannt beobachteten, was sich unter ihnen tat.
Dumbledore löste sich aus seiner Starre und sah sie eindringlich an.
„Wo befindet er sich?“, fragte er aufmerksam.
„Das ... das weiß ich nicht, Professor. Er hält sich wahrscheinlich versteckt.“
„Ist es dieselbe Erscheinung wie in deinem ersten Schuljahr?“, fragte Dumbledore. Eine feine Linie hatte sich zwischen seinen Augenbrauen gebildet und er wirkte sehr angespannt.
„Nein, er ist diesmal aus Fleisch und Blut, er ist ein Mensch“, sagte Ginny fest. „Er ist anders als damals ... er bereut seine Taten, er denkt und fühlt anders als früher. Er hat sich verändert, Sir!“
„Ich verstehe“, sagte Dumbledore. „Er ist also zurückgekehrt, doch er ist nicht mehr Derselbe wie früher?“
„Ja.“
Er sah sie ernst an.
„Woher weißt du, dass er die Wahrheit sagt und es nicht ein erneuter Versuch ist, mehrere Morde an Unschuldigen auszuüben?“
Ginny senkte beschämt den Kopf. Sie wollte Dumbledore die ganze Wahrheit sagen, doch nie im Leben hätte sie es fertig gebracht, ihm von ihren Gefühlen zu Tom zu erzählen. Und selbst wenn sie es gewollt hätte, wie hätte sie ihm erklären sollen, was nachts in der Bibliothek geschehen, wie er sie berührt hatte ...
„Ich vertraue ihm voll und ganz“, sagte sie und hielt Dumbledores Blick tapfer stand. „Ich weiß, dass er die Wahrheit sagt. Er ist ein völlig Anderer als zuvor, wie ... verwandelt.“
„Hm ...“, sagte Dumbledore und schaute nachdenklich aus dem verschneiten Fenster. „Ich glaube dir. Aber erkläre mir bitte eines: wie ist er zurückgekehrt? Harry hat sein Tagebuch vor fünf Jahren zerstört.“
„Das weiß ich, Sir“, erwiderte Ginny und versuchte dabei, nicht allzu unfreundlich zu klingen. Sie war am Boden zerstört. „Ich dachte, Sie wüssten vielleicht, wie das passiert ist. Nicht einmal Tom weiß es. Es ist auch der Grund, weshalb ich zu Ihnen gekommen bin. Ich hatte gehofft, Sie könnten ihm vielleicht helfen ...“
Bedrückt starrte sie auf ihre Handflächen.
„Nun ...“ Dumbledore, der den Blick weiterhin auf dem Fenster ruhen ließ, seufzte tief. „Es gibt eine Möglichkeit, auch wenn es sehr anmaßend von mir ist, solches zu spekulieren. Beweise werden sich dafür nicht finden lassen, und wenn ich darüber nachdenke, ist es sogar sehr weit hergeholt. Jedoch ...“
„Ja, Sir?“
Gespannt beobachtete Ginny ihn. Nun wandte Dumbledore endlich den Blick von den verschneiten Baumwipfeln des verbotenen Waldes ab und blickte ihr wieder geradewegs in die Augen.
„Harry hat damals Riddles Tagebuch zerstört. Soweit wir wissen, hatte er gleichzeitig auch einen der sieben Horcruxe Voldemorts und nicht zuletzt dessen sechzehnjährige Erinnerung vernichtet.
Doch nach dem, was du mir erzählt hast, steckte wohl noch weit mehr Magie hinter dieser Sache, als wir dachten. Wie es aussieht, wurde Riddles Erinnerung tatsächlich gelöscht, doch der wahre Tom Riddle scheint zurückgekehrt zu sein.“
„Sie meinen, er ist der ... der vor fünfzig Jahren ...“
„Ja“, sagte Dumbledore leise. „Er scheint es geschafft zu haben, sich von seiner Zukunft loszulösen und hierher zu kommen, auch wenn er sich an seine Reise nicht mehr erinnern kann. Es ist natürlich nur eine reine Vermutung von mir, auch wenn ich sie für sehr plausibel halte.“
Ginny nickte.
„Aber warum ... ich meine, warum ist er hierher gekommen?“
„Eine gute Frage“, antwortete Dumbledore. „Ich schätze, er wird einen guten Grund gehabt haben. Vermutlich hatte er etwas vor ... Und wie ich Tom kenne, wird es nichts Gutes gewesen sein. Aber ...“ Er drehte nachdenklich eine Strähne seines langen Bartes um den Finger. „Wenn ich so frei sein kann, Folgendes in Erwägung zu ziehen ... du sagtest mir, Tom Riddle würde bereuen, was er getan hat, er hätte sich geändert?“
„Ja, Professor.“
„Dann ist es vielleicht möglich, dass er sich an sein Vorhaben nicht mehr erinnern kann. Und nicht nur das, möglicher Weise wird er nie wieder der von einst sein.“
Ginny starrte ihn verdutzt an.
„Sie meinen -“
„Lord Voldemort. Seine Vergangenheit, seine Gegenwart und seine Zukunft, wie er Harry einst selbst sagte. Ich vermute, wir können es als eine Art Geschenk sehen, dass er sich - wenn auch unbeabsichtigt - von seiner Zukunft abgenabelt hat, wenn du verstehst, was ich meine. Vielleicht ... jah ... “ Plötzlich veränderte sich etwas in seiner Miene. „Vielleicht ist es ihm bestimmt, all dem ein Ende zu bereiten. Er wäre der Einzige, der dazu in der Lage wäre, er hat die Macht und vor allem das Wissen dazu ...“
Bei Dumbledores letzten Worten fiel es Ginny wie Schuppen von den Augen. Es passte alles zusammen! Tom hatte sich gewandelt, und nun, da er seiner Zukunft, Voldemort, so nah war wie nie zuvor, bestand eine kleine Chance, das er es mit ihm aufnehmen konnte. Mit sich selbst.
Plötzlich fiel Ginny etwas ein.
„Professor, werden Sie jetzt ... werden Sie den Phönixorden alarmieren, oder die Dementoren? Sir, ich kann Ihnen versichern -“
„Ich werde niemanden rufen, solange du mich nicht von dem Gegenteil überzeugst“, sagte Dumbledore ruhig. „Ginny, hälst du ihn für gefährlich?“
Ginny lächelte in sich hinein. „Nein, Sir. Absolut nicht.“
Er funkelte sie verschwörerisch durch die Halbmondgläser seiner Brille an und sie hätte schwören können, dass sie ein kurzes Zucken um seine Mundwinkel bemerkt hatte.
„Dann bist du hiermit aus unserer Unterredung entlassen. Ich werde Professor Snape davon informieren, dass du eine Strafarbeit von mir erhalten hast - und du fliegst selbstverständlich nicht von der Schule“. Er schmunzelte. „Ich möchte dir aber noch sagen, dass ich dir sehr dankbar bin, dass du mir dies anvertraut hast. Diese Geschichte ist wirklich außerordentlich erstaunlich ... bei nächster Gelegenheit werde ich mit Tom sprechen müssen. Ich habe ihm einiges zu erzählen ...“
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