von Dreamcatcher
Nie war Ginny Zaubertränke mit Snape so kurz vorgekommen. Zum ersten Mal machte es ihr nichts aus, wie er sich vor der ganzen Klasse, einschließlich der Slytherins, über ihren misslungenen Aufmunterungstrank amüsierte. Kaum hatte sie es sich versehen, war die Doppelstunde auch schon vorbei und im nächsten Augenblick befand sie sich auf dem Weg zu den Gewächshäusern. Nur beiläufig bekam sie mit, was Professor Sprout ihnen sagte, und war bei der Arbeit so unkonzentriert, dass sie Ernest White aus Versehen mit einer Gartenschaufel fast die Hand abhackte.
Und bevor sie recht wusste, wie ihr geschah, saß sie auch schon beim Abendessen in der Großen Halle. Wo war die Zeit geblieben? Andauernd ertappte sie sich dabei, wie sie verstohlen einen Blick auf ihre Armbanduhr warf. Der Minutenzeiger schien in einer Art Marathonlauf voran zu ticken.
„Mid wem willsch'dn disch dreffen, Ginny?“, schmatzte Ron und sah sie über den Berg von Bratkartoffeln auf seinem Teller beunruhigt an. „Oh, Verschei'ung“, entschuldigte er sich bei Hermine, die ihm einen angewiderten Blick zuwarf und schluckte runter. „Ich meine, es ist doch nicht dieser Unbekannte, der dir Briefe schreibt?“
„Oh Ron, nun hör aber auf“, schimpfte Hermine und setzte eine ihrer erhabenen Mienen auf. „Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass Ginny unter den Jungs unbeliebt ist?“
„Hm?“, machte Ron und lief rosarot an.
„Die fliegen auf sie, ist dir das noch nicht aufgefallen? Und du willst dich beschweren, wenn sie sich einmal mit jemandem verabredet. Du solltest dir lieber ein Beispiel an ihr nehmen.“
Ron überhört ihren letzten Kommentar. „Kannst du mir bitte die Hühnerbeine rüber reichen, Harry?“, sagte er laut und mied Hermines Blick, die trotzig die Arme vor der Brust verschränkte.
Ginny war froh darüber, dass die volle Aufmerksamkeit jetzt wieder auf Ron und Hermine gerichtet war, da alle hinter vorgehaltener Hand über die beiden Streithähne lachten und Witze rissen.
Unruhig rutschte sie auf ihrem Platz hin und her und versuchte krampfhaft, irgendeine Ablenkung zu finden. Irgendwann merkte sie, dass sich zu ihren Seiten alle zu ihr umdrehten und sie erneut mit merkwürdigen Gesichtsausdrücken bedachten. Bevor sie mit ihrer Unruhe noch weiter auffiel und alle in den Wahnsinn trieb, erhob sie sich eilig von ihrem Platz und lief aus der Halle. Sie nahm einen extra langen Umweg hinauf zum Gemeinschaftsraum, indem sie sämtliche Geheimgänge die sie kannte nutzte und in einer langgezogenen Zickzacklinie lief. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie je so verzweifelt, verwirrt und so schrecklich allein gewesen war.
Doch, sagte eine Stimme in ihr. Es ging dir schon einmal so.
Seit Riddle wieder aufgetaucht war, schienen die Dinge, die damals in ihrem ersten Jahr geschehen waren, ihren Lauf zu nehmen. Doch diesmal nahm sie das alles nicht durch eine neblig getrübte Wand wahr.
Ginny schlug die Stunden tot, indem sie Aufzsätze für Snape und Professor Binns schrieb und an einem sinnlosen Gespräch zwischen Samantha und Rose teilnahm, in dem es hauptsächlich um einen attraktiven Slytherin aus der Siebten ging, und ob er wohl freundlicher war, als ihm nachgesagt wurde.
Der Zeiger der großen Pendeluhr neben dem Kamin rückte der zwölf unaufhaltsam näher. Der Gemeinschaftsraum begann sich zu leeren und Ginny folgte einigen anderen in den Schlafsaal. Sie legte sich angezogen ins Bett und starrte auf den Baldachin ihres Himmelbettes, ohne das geringste Anzeichen von Müdigkeit zu verspüren. Mit ihrem Zauberstab beleuchtete sie ihre Armbanduhr und beobachtete mit klopfendem Herzen, wie sich der Sekundenzeiger langsam der 12 näherte, sie überquerte und provokativ weitertickte.
Nein. Sie würde Riddles Aufforderung in diesem Brief nicht folgen. Sie würde hier einfach liegen bleiben und er sich die Füße in den Bauch stehen, es war ihr egal. Wenn er auf sie angewiesen war, konnte sie sich wenigstens an seinem Leid erfreuen. Sie jedenfalls würde ihm nicht den Gefallen tun und sich für ihn zum Narren machen. Möglicher Weise war all das auch eine Falle ...
Viertel nach zwölf. Ob Riddle sich zu fragen begann, dass sie ihn vielleicht versetzen würde? Bei diesen Gedanken spürte sie eine Spur von Schadenfreude. Zwanzig nach zwölf ... sicher verfluchte er sie gerade und wünschte ihr irgendwelche Flüche an den Hals ... neunundzwanzig nach zwölf. Spätestens jetzt war Riddle sicher verschwunden. Er hatte eingesehen, dass sie nicht kommen und ihn im Stich lassen würde. Dass sie ihn auf seinen Sorgen und Ängsten sitzen ließ und -
Ginny zerrte die purpurroten Vorhänge beiseite und schlüpfte entschlossen in ihre Schuhe, die sie neben das Bett gepfeffert hatte. Einen kurzen Moment, in dem sich Rose im Schlaf auf die Seite drehte, hielt sie inne, dann schnappte sie sich ihren Zauberstab vom Nachttisch und rannte die Treppen zum Gemeinschaftsraum hinunter. Alles war still, keine Menschenseele war noch wach. Voll Hast kletterte sie durch das Portraitloch und warf sich ihre dünne Strickjacke über.
„Lumos!“, flüsterte sie und stürzte dann durch die kalten, dunklen Gänge.
Schlitternd stoppte sie vor der schweren Flügeltür der Bibliothek ab. Sie war fest verschlossen.
„Alohomora!“, keuchte Ginny und tippte energisch gegen das schmiedeeiserne Schloss, doch es öffnete sich nicht. Seid wann verriegelte Madame Pinns die Bibliothek, als müsse sie einen Massendiebstahl an Büchern befürchten?
Gerade wollte sie aufgeben, als sich die Türen wie von Geisterhand öffneten. Langsam ließ sie ihren Zauberstab sinken und betrat vorsichtig die weitläufige Halle, durch die sich Reihen schwerbeladener Bücherregale zogen. Durch die hohen Fenster fielen dünne Strahlen silbernen Mondlichts und tauchten den großen Raum in ein unheimliches Licht.
Plötzlich nahm Ginny rechts von sich eine Bewegung war. Als sie sich umblickte, erkannte sie eine dunkle Gestalt, die an eines der Fenster gelehnt stand. Die Gestalt hob ihren Zauberstab und richtete ihn auf die Tür, die sich leise schloss und, wie Ginny es bereits kannte, golden aufleuchtete und wieder erlosch. Doch diesmal hatte sie keine Angst. Entschlossen trat sie auf die Gestalt zu.
Riddle war sehr blass, blasser noch als sonst.
„Warum bist du gekommen?“, fragte er und seine Stimme klang rauh. Offenbar hatte er sie nicht mehr erwartet.
„Ich ... keine Ahnung“, entgegnete sie. „Es war sowas wie ein Gefühl.“
Ein kaum merkliches Lächeln breitete sich auf Tom Riddles Gesicht aus.
„Du ... du willst mir wirklich helfen? Nach allem, was war?“
„Ich denke schon“, wich Ginny ungelenk aus. Sie fürchtete sich immer noch ein bisschen, aber sie zeigte es ihm nicht.
„Gut ...“ Riddle löste sich aus seiner Starre, und verblüfft stellt Ginny fest, dass er sich unsicher zu fühlen schien.
„Dann erzähl mir“, begann Ginny entschlossen und trat einen Schritt auf ihn zu, „warum du wiedergekommen bist. Wie hast du`s geschafft?“
Er sah sie ernst an. „Das ist genau der Grund, warum ich deine Hilfe brauche. Ich weiß es nicht. Ich kann es mir einfach nicht erklären. Und ich muss es wissen, es gibt einen bestimmten Grund, da bin ich mir sicher. Ver- verstehst du das?“
Sie nickte. Ja, wenn sie versuchte, zu vergessen, wer da vor ihr stand, und wenn sie vergaß, wer er damals gewesen war und was er getan hatte, dann verstand sie es.
„Also gut“, sagte sie schließlich und begann, rasch die Regalreihen abzuschreiten. „Es muss hier irgendwo ein Buch geben, wo wir eine Antwort finden. Ich hab hier bisher immer Antworten gefunden, die Bücher werden uns nicht im Stich lassen ...“
Tom Riddle lachte trocken.
„Gib dir keine Mühe Ginny, ich habe schon alles abgesucht, glaub mir. Hier jedenfalls werden wir nichts zur Lösung meines Problems finden.“
Verwirrt hielt sie im Lesen der beschrifteten Metallplättchen an den Regalen inne und musterte ihn.
„Aber warum sollte ich dich dann hier treffen?“
„Hier wird uns niemand überraschen“, erklärte er, während er an Regalreihe entlang auf sie zuging. „Ich habe eine besondere Bitte an dich.“
Ginny sah ihn nervös an. „Und die wäre ...?“
„Bitte rede mit Dumbledore über das, was ich dir gesagt habe.“
Wie vom Donner gerührt starrte sie ihn an. „Ich soll was? Dumbledore? Und ihm erzählen, dass du von den Toten wieder auferstanden bist?“
„Er ist der Einzige, der es verstehen wird, Ginny. Er ist der Einzige, der mir eine Antwort darauf geben kann, das weiß ich!“
„Und wenn er dich dafür bestrafen will, was du getan hast? Wenn er dich nach Askaban bringen will?“, fragte sie fassungslos. Sie konnte sich selbst nicht erklären, warum sie so aufgebracht war.
Riddle fuhr sich mit einem leisen Seufzen durchs Haar und legte die Stirn in Falten.
„Dann werde ich wohl verschwinden müssen“, sagte er.
Ginny wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie spürte, wie ihr Mund trocken wurde als sie an das dachte, was er da von ihr verlangte und die möglichen Folgen. Seufzend lehnte sie sich gegen eines der Regale. Aus dem Halbdunkel heraus musterte er sie eingehend und einen Moment lang fragte sie sich, was er wohl von ihr dachte.
„Ich hab keine andere Wahl. Auf einen Versuch werde ich es ankommen lassen“, sagte sie schließlich. „Aber ich verspreche dir nichts. Und eigentlich weiß ich auch gar nicht, weshalb ich das tue. Es ist verrückt!“
Die ganze Situation war verrückt. Es war mitten in der Nacht und sie befand sich mit dem, der sie einst fast getötet hatte, allein in der Bibliothek und redete mit ihm.
„Ginny, ich ... bin nicht mehr der von früher“, sagte Tom und löste sich aus dem Schatten, in dem er bis jetzt gestanden hatte. Das erste Mal betrachtete sie richtig seine Gesichtszüge. Seine sonst so elegant zur Seite gestrichenen Haare waren verstrubbelt und unordentlich und fielen ihm in das blasse Gesicht. Auch seine Wangenknochen zeichneten sich noch markanter als früher ab. Nur seine schwarzen, lebendigen Augen erinnerten an den, den sie früher gekannte hatte. Er sah sehr gut aus ...
Peinlich wurde ihr auf einmal bewusst, wie nah er ihr war. Seine dunklen Augen wanderten forschend über ihr Gesicht und blieben schließlich an den ihren hängen. Sie spürte seine unwiderstehliche Aura und versuchte verzweifelt, gegen sie anzukämpfen, doch diesmal schaffte sie es nicht. Sie konnte nichts tun, als sich mit dem Rücken gegen das Bücherregal zu drücken und ihn immer näher kommen zu lassen ...
Sein warmer Atem streifte ihre Wange, und seine Augen hatten ihre gefangen genommen. Mit klopfendem Herzen spürte sie, wie seine Hand über ihren rechten Arm strich, und ein angenehmer Schauer wanderte über ihren Rücken. Seine Finger wanderten behutsam über ihren Nacken, ihre heißen Wangen ... Dann war er so nah, dass sich ihre Lippen berührten. Schauer um Schauer strömten ihr durch den ganzen Körper, während sie spürte, wie sich seine Arme um sie schlossen und sie ihren Mund langsam weiter öffnete, um ihn ganz auszukosten ...
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