von Dreamcatcher
„Du musst mir helfen“, drängte Riddle und seine Hände zitterten vor unterdrückter Anspannung.
Ginny klammerte sich an der Bettkante fest, während sie verzweifelt überlegte, wie sie entkommen konnte; die Tür war verschlossen und sie wusste, dass sie keine Chance hatte gegen diesen Jungen, der sich später einmal Lord Voldemort nennen und Muggel und Zauberer umbringen würde.
„Wie lange ist es her, seit ich dich in die Kammer des Schreckens gebracht habe?“, begann Tom von neuem. „Was hat ... hat Dumbledore irgendetwas auffälliges erwähnt? Ich kann nicht –“
„Hör auf damit!“, rief Ginny verzweifelt. Sie konnte das alles nicht ertragen. Konnte es nicht ertragen, demjenigen erneut gegenüberzustehen, der sie eins gezwungen hatte, den Basilisken auf ihre Mitschüler loszulassen. „Hör endlich auf damit ...“
Tom musterte sie mit einem seiner Blicke, denen man sich nicht entziehen konnte.
„Hör zu, das hier ist wirklich wichtig. Ich brauche deine Hil -“
„HALT DIE KLAPPE“, schrie sie und vergrub das Gesicht in den Händen. „Ich ... ich halte das nicht aus! VERSCHWINDE!“
Warum war Riddle nicht tod? Harry hatte ihn umgebracht, er hatte sein furchtbares Tagebuch zerstört. Wie konnte das alles nur möglich sein?
Plötzlich ertönte ein lautes Poltern und die Tür wurde aufgestoßen. Kurz darauf stürzte eine ganze Horde Mädchen in den Schlafsaal.
„Ginny!“, rief Samantha Jones, Ginnys Klassenkameradin, und ließ sich neben ihr aufs Bett fallen. „Was ist passiert? Wir haben laute Rufe und eine Jungenstimme gehört!“
„Wer war das, Ginny?“, schaltete sich Rose, die ebenfalls in ihre Klasse ging, ein. „Wie ist er hier rein gekommen?“
„Was um alles in der Welt wollte der von dir?“
„ ... und wo ist er überhaupt hin?“
Ginny antwortete nicht. Sie saß zusammengesunken auf ihrem Bett und bekam kaum noch mit, wie die anderen in eine laute Diskussion verfielen. Ihr war nicht entgangen, dass Tom Riddle verschwunden war.
Als sie am nächsten Morgen erwachte (wie lange hatte sie geschlafen? Eine Stunde, zwei?), war es noch dämmrig über dem Schlosshof. Es kam nur selten vor, dass sie als eine der ersten Schlossbewohner aufwachte und nicht mehr einschlafen konnte, aber immer wenn das der Fall war, hatte sie sich ihren Morgenmantel übergeworfen, sich aus dem Schlafsaal geschlichen und war durch die Gänge gewandert, einfach, um allein und ungestört zu sein. Niemand wusste von ihren nächtlich-einsamen Streifzügen, aber sie hatten ihr geholfen, schon damals, nachdem die ganze Sache mit der Kammer des Schreckens endlich vorbei gewesen war.
Beim Frühstück in der Großen Halle war sie ungewöhnlich schweigsam und stocherte abwesend in ihrem Essen herum, ohne richtig mitzubekommen, was sie auf ihrem Teller hatte. Sie zog einige besorgte Blicke auf sich, und sie wusste auch, weshalb: ganz gegen ihre sonstige Art hatte sie sich die Haare nicht gekämmt und nur lieblos zu einem Pferdeschwanz aus der Stirn gebunden, sie wusste, dass sie blasser war als sonst und dass tiefe Schatten unter ihren Augen lagen. Immer und immer wieder sagte sie sich, dass das alles nur ein Traum gewesen war, nichts weiter. Die Erinnerungen und der Schmerz, die ganze Angst von damals war nie wirklich verschwunden. Wahrscheinlich hatte ihr Unterbewusstsein ihr einen miesen Streich gespielt, dachte sie. Und doch ... es war alles so ... wirklich gewesen ...
„Was ist los Ginny?“, fragte Hermine besorgt und legte ihr den Arm um die Schulter. Ginny mied ihren Blick. Sie wusste, dass Hermine, Ron und Harry die ganze Zeit Blicke getauscht hatten.
„Ginny hatte gestern abend Männerbesuch“, murmelte Rose und grinste, doch als Samatha sie unsanft anstieß, blickte sie ein bisschen schuldbewusst drein.
„Du hattest was?“ Ron hatte seine Gabel mit einem lauten Klirren fallen lassen und blickte sie entsetzt an. „Was soll das heißen?“
„Immer mit der Ruhe, Ron“, maßregelte ihn Hermine in ihrem typischen halt-dich-doch-wenigstens-einmal-aus-der-Sache-Tonfall. „Also Ginny, erzähl schon, was ist passiert?“
Ginny schüttelte nur den Kopf. Sie hatte das Gefühl, dass keine Worte das ausdrücken konnten, was ihr zu schaffen machte. Die anderen würden sie für verrückt halten.
„Hey Harry“, sagte Ron plötzlich aus dem Mundwinkel, „ich glaube, Cho hat dich gerade zu sich rübergewunken ...“
„Wie ...? Meinst du wirklich?“
„Harry!“, zischte Hermine aufgebracht, und auch ohne das sie hinsah, wusste Ginny, dass sie in ihre Richtung nickte.
Doch ihr war es gleich, ob Harry zu Cho ging und was er mit ihr machte. Es kümmerte sie nicht. In ihrem Kopf spukte ein großer, blasser Junge herum, der sie in der einen Sekunde blutrote Wörter an die Kerkermauern schreiben ließ, und sie im nächsten Augenblick eindringlich um ihre Hilfe bat ...
In der Mittagspause eilte Ginny mit einem Brief an ihre Mum die steile Wendeltreppe zur Eulerei hoch. Ihre Antwort auf Mrs Weasleys zehn Seiten langen Brief stand schon seit Tagen aus, und sie wusste, wie leicht sie sich Sorgen um ihre Jüngste machte.
Als sie den runden, mit Kot bedeckten Raum betrat, empfing sie ein vielfaches Kreischen und Flügelschlagen. Sie suchte sich eine der alten Schuleulen aus, band ihr den Brief ans Bein und sah ihr nach, wie sie in den hellen Tag hinein verschwand.
Sie wollte gerade kehrt machen und die Treppe wieder hinabsteigen, als sie schlagartig stehenblieb. Langsam, und mit einem unheimlichen Kribbeln im Nacken drehte sie sich um. Ein großer Schwarm aus grauen und braunen Eulen flatterte auseinander, und eine große, schlanke Gestalt trat zwischen ihnen hervor.
Es war kein Traum gewesen gestern Abend im Schlafsaal. Es war genauso wenig einer gewesen, wie es jetzt einer war. Vor ihr stand Tom Riddle.
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