von Dreamcatcher
Schritt für Schritt wich Ginny an den Bettpfosten ihres Himmelbettes zurück. Ihr Herz raste, sie spürte, wie sie am ganzen Körper zu zittern begann.
„Du ...“, brachte sie nur heraus, dann versagte ihr die Stimme. War das wieder einer dieser furchtbaren Träume, von denen sie nie jemanden etwas erzählt hatte?
Sie spürte, wie ihre Glieder schwach wurden, doch sie zwang sich, aufrecht stehen zu bleiben und nicht auf den Boden zu sinken.
Der junge Mann trat einen Schritt näher und nun wurde sein Gesicht vom Mondlicht beleuchtet. Es gab keinen Zweifel ... doch ... das war unmöglich ...
„Ginny ...?“, sagte er.
Sie presste die Lippen aufeinander, schüttelte energisch den Kopf, als könne sie so seine völlig irreale Erscheinung vertreiben. Tränen liefen ihr über die Wangen.
Tom kam erneut etwas näher und betrachtete sie eingehend.
Sie lebte. Er wartete auf die Woge des Zorns, die ihn erfassen musste, doch sie blieb aus. Er konnte nur ein flaues Gefühl in der Magengegend spüren. Gleichzeitig wurde ihm unwirklich bewusst, wieviel Zeit vergangen sein musste, seit er sie in seine Gewalt gebracht und in die Kammer des Schreckens entführt hatte: sie hatte sich entwickelt, war zu einer jungen Frau geworden. Nichts erinnerte mehr an das kleine, ängstliche, zerbrechliche Mädchen von damals. Doch wie damals spürte er ihre unbändige Angst, sah sie in ihren Augen.
„Wie ich sehe, ist es Harry Potter gelungen, euch beide zu retten“, bemerkte er mit einem trockenen Lachen.
Ginnys Lippen bebten. Ihre Gedanken überschlugen sich, die lähmende Angst hinderte sie daran, sich zu rühren.
„D-das ... kann nicht sein ...“, stotterte sie mit tränenerstickter Stimme und starrte ihr Gegenüber an.
Tom schmunzelte leicht.
„Wir leben in einer magischen Welt“, sagte er und kam, wenn es überhaupt möglich war, noch näher. Seine schwarzen Augen bohrten sich in die ihren. „Vieles ist möglich ...“
Er wird mich umbringen, dachte sie. Er wird mich umbringen ...
„Ich brauche deine Hilfe“, sagte er mit einer überraschenden Geschäftigkeit in der Stimme und begann, vor ihr auf- und abzuschreiten. Mitten im Gehen hielt er inne, musterte einige Augenblicke die Tür des Schlafsaals und richtete dann den Zauberstab darauf. Für einen kurzen Moment leuchtete sie golden auf, dann erlosch sie wieder. Ginny wusste, dass er sie versiegelt hatte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.
Tom wandte sich ihr wieder zu und prüfte ihren Gesichtsausdruck, gerade so, als wolle er abschätzen, ob sie versuchen würde zu entkommen.
„Wir beide wissen, was sich damals in der Kammer abgespielt hat“, sagte er und konnte nicht verhindern, dass ein schmerzhafter Ausdruck auf sein Gesicht trat. Kurz darauf festigte er seine ausdruckslose Miene wieder und fuhr fort: „Potter hat mich umgebracht, indem er das Tagebuch zerstörte. Er hat meine Erinnerung zerstört. Aber“, er lachte leise, „wie du siehst, lebe ich. Ich bin aus Fleisch und Blut, ich bin nicht länger ein bloßer Gedanke, der von der Kraft eines Lebenden zehrend wieder zu Kräften kommt.“
Er musterte aufmerksam Ginnys bleiches Gesicht. Er hatte einen seltsamen Ausdruck in den Augen.
„Du ... das, was ich ... was ich dir damals angetan habe ...“, sagte er und seufzte leise. “Es ... es tut mir leid.“
Stille. Ein bizarrer Augenblick entstand, in dem Ginny Tom anstarrte, als wäre er mehr denn je ein furchtbares Gespinst ihrer Fantasie. Das erste Mal, seit er so plötzlich den leeren Schlafsaal betreten hatte, löste sie sich aus ihrer Starre.
„Was soll das alles?“, fragte sie und plötzlich wurde sie argwöhnisch. „Wer bist du wirklich, raus mit der Sprache!“
War sie da auf irgendeinen blöden Witz reingefallen? Das, was ... Tom Riddle ... gesagt hatte, wollte einfach nicht passen.
„Ich bin der, dessen Tagebuch du gefunden hast“, entgegnete er ruhig. „Ich bin der, dem du deine tiefsten Ängste und Wünsche anvertraut hast. Ich bin der, der dich die Kammer des Schreckens hat öffnen lassen und dich beinahe getötet hat.“
Ginny sagte kein Wort. Sie öffnete den Mund, versuchte vergeblich, etwas Vernünftiges von sich zu geben, und schloss ihn wieder.
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