von Marisol
Das Haus hatte auf den ersten Blick schäbig und verwahrlost ausgesehen, aber als Harry näher kam, sah er, dass es tatsächlich in einem noch viel schlechteren Zustand war, als er zunächst angenommen hatte. Die grauen Wände wiesen tiefe Risse auf, das Dach war an mehreren Stellen undicht und die Fenster waren mit einer so dicken Schmutzschicht bedeckt, als wären sie seit Jahrzehnten nicht gereinigt worden.
Im trüben Licht der Wintersonne sah das Haus in Spinner’s End alles andere als einladend aus, und nicht zum ersten Mal fragte Harry sich, ob er nicht dabei war, einen großen Fehler zu machen.
Dennoch… er war hier, und etwas in ihm sagte ihm, alle Bedenken herunter zu schlucken und an die Tür zu klopfen, bevor er es sich anders überlegen konnte.
Er spürte, wie James seine Hand fester umklammerte, als nach wenigen Augenblicken die Tür geöffnet wurde und die hagere Gestalt eines Mannes im Türrahmen erschien.
Falls Snape überrascht war, Harry nach acht Jahren wieder Auge in Auge gegenüberzustehen, so ließ er es sich zumindest durch nichts anmerken.
„Potter“, sagte er langsam, den jungen Mann lange musternd, ehe er die Tür ein wenig weiter öffnete.
Severus Snape hatte nie zu den Zauberern gehört, deren äußeres Erscheinungsbild dazu beitrug, einen ersten positiven Eindruck von ihnen hervorzurufen. Harry hatte ihn als großgewachsenen, hakennasigen Mann in Erinnerung, dessen Gesichtsausdruck meistens Ablehnung und Verachtung ausdrückte. Die vergangenen Jahre hatten es versäumt, ihn angenehmer wirken zu lassen, im Gegenteil.
Snapes Haar war etwas länger als damals, freilich ungewaschen und schlaff herabhängend. Er schien noch fahlhäutiger geworden zu sein, seine eingefallenen Wangen verliehen ihm das Aussehen eines Gespensts und seine übergroße Nase stach noch deutlicher aus seinem Gesicht hervor. Alles in allem wirkte er ungepflegter denn je mit seiner abgetragenen, schwarzen Kleidung, die offensichtlich lange nicht gewechselt worden war.
Die Verwahrlosung des Hauses entsprach vollkommen der ihres Bewohners.
„Hallo“, sagte Harry dumpf und hielt dem Blick der schwarzen Augen stand, die ihn fixierten.
„Was verleiht mir die Ehre deines Besuchs?“, fragte Snape kühl, keine Anstalten machend, Harry eintreten zu lassen.
„Kann ich reinkommen? Es ist ziemlich kalt hier draußen“, erwiderte Harry, während er das Bündel in seinem linken Arm fester an seinen Körper presste.
Anstatt zu tun, was offensichtlich von ihm erwartet wurde, beugte Snape sich herunter und musterte den kleinen Jungen, der Harrys Hand umklammerte.
„Und wer bist du?“, fragte er ruhig.
Das Kind hatte offensichtlich Angst vor ihm, aber es wich nicht zurück, als es den Kopf hob und antwortete: „James.“
„Natürlich“, erwiderte Snape und verzog die dünnen, blassen Lippen zu einem humorlosen Lächeln.
„Alles andere wäre auch eine handfeste Überraschung gewesen.“
Er erhob sich wieder und machte mit dem Kopf eine ruckartige Bewegung ins Hausesinnere, wobei für einen kurzen Moment eine hässliche Bissnarbe an seinem Hals sichtbar wurde.
Während Harry ihm ins Haus folgte, musste er daran denken, wie Snape damals von Professor McGonagall gefunden worden war. Mehr tot als lebendig, hatte sie berichtet, hatte er in der Heulenden Hütte gelegen, die schwarzen Augen blicklos an die Decke gerichtet, die klaffende Wunde an seinem Hals blutverkrustet… und er erinnerte sich auch an die seltsame Mischung aus Erleichterung und Erschaudern als es nach einigen Wochen hieß, dass Snape überleben würde.
„Setz dich“, sagte Snape kurz und wies auf einen zerschlissenen Sessel, dessen ursprüngliche Farbe vermutlich grün gewesen war.
Harry ließ sich langsam in den Sessel sinken und schaute sich um.
Der Raum war spärlich möbliert mit drei Sesseln, die nicht zueinander passten, einem wackligen, dreibeinigen Tisch und einem Bücherregal an der gegenüberliegenden Wand, das vollgestopft war mit staubbedeckten Büchern.
Es roch nach Moder und altem Schmutz, und unwillkürlich strich Harry James beruhigend über den Kopf, während er das schlafende Baby mit der anderen Hand sanft hin und her wiegte.
Dies war keine Umgebung für ein Kind… eigentlich war es keine Umgebung für irgendjemanden.
„So…“, sagte Snape gedehnt, während er Harry gegenüber Platz nahm. „Leiter des Aurorenbüros, wie ich höre?“
„Jaah“, entgegnete Harry ruhig. „Es ist das, was ich immer machen wollte.“ Er zwang sich, Snapes spöttisches Lächeln zu ignorieren.
„Und Mr. Weasley ist natürlich mit von der Partie… nach wie vor eifrig darum bemüht, in deinem Schatten zu stehen. Er hat es wohl nicht geschafft, eine leitende Position für sich zu beanspruchen.“
„Bis du fertig?“, hätte Harry beinahe gesagt, aber er biss sich auf die Zunge und nahm einige tiefe Atemzüge.
„Sieht ganz so aus“, presste er hervor.
Nichts hat sich geändert, dachte er, und egal, was Snape auf sich genommen hat und wie falsch ich ihn eingeschätzt habe… unsere Abneigung sitzt einfach zu tief.
„Wo ist die werte Gattin, wenn ich fragen darf?“
„Ginny ist zu Hause und erholt sich von der Geburt. Ihr war es ganz Recht, das Haus mal für sich zu haben… ganz ohne Kindergeschrei.“
„Ich verstehe“, entgegnete Snape, wobei er in Harrys Augen der Letzte war, der Verständnis haben würde für die Alltäglichkeiten eines Familienlebens.
Eine unangenehme Pause entstand.
„Womit verbringst du denn deine Zeit?“, fragte er schließlich, das peinliche Schweigen zwischen ihnen brechend.
„Ich stelle Zaubertränke auf Anfragen von St. Mungo her und beliefere auch einige Heiler außerhalb des Landes“, erwiderte Snape knapp und fuhr nach einer kurzen Pause fort: „Allerdings glaube ich nicht, dass du hier bist, um mein soziales Leben zu diskutieren. Was willst du?“
„Ich bin hier um dich zu bitten, Pate meines Jungen zu werden“. Die Worte, obwohl klar und deutlich gesprochen, klangen in Harrys eigenen Ohren plötzlich fremd, so als hätte eine andere Person sie gesprochen und nicht er.
Er hatte nächtelang wach gelegen und in seinem Kopf all die Jahre Revue passieren lassen, die er in Hogwarts verbracht hatte, und in seinen Gedanken hatte er den verhassten Zaubertränkelehrer nicht mehr aus der Sicht des hitzigen Teenagers von früher gesehen, sondern aus der des erwachsenen Mannes, der er heute war.
Snape war ein verbitterter Mann, der ungerecht und sadistisch war und dessen einzige Freude darin bestanden hatte, andere zu quälen… und doch war etwas tief in ihm vergraben gewesen, das ihn dazu verleitet hatte, Harry zu beschützen und sich jahrelang der Todesgefahr auszusetzen, die sein Dasein als Doppelspion mit sich brachte.
Snapes Gesicht wies für den Bruchteil einer Sekunde tiefste Überraschung aus, als sein Blick zu dem Bündel in Harrys Arm wanderte, aber als Harry ihn ansah, waren seine Augen so ausdruckslos wie eh und je.
„Was veranlasst dich zu der Überzeugung, dass ich die richtige Wahl für den Posten eines Paten bin?“, fragte er.
Harry zuckte mit den Schultern, sah an Snape vorbei und murmelte: „Als ich darüber nachdachte, fühlte es sich richtig an. Wir hatten nie die Gelegenheit über das zu sprechen, was damals passiert ist bei dem Kampf in Hogwarts…“
„Ich würde es vorziehen, dass es auch dabei bleibt!“, blaffte Snape.
„Hör zu, was du für meine Mutter empfunden hast…“
Mit einem Satz war Snape aufgesprungen und ehe Harry wusste, was ihm geschah, hatte sein ehemaliger Lehrer die Tür erreicht und riss sie weit auf.
„Danke für deinen Besuch“, sagte er kühl, „ich befürchte, dass ich deinem Anliegen nicht entsprechen kann.“
„Du verstehst nicht…“, begann Harry, der plötzlich wieder das Gefühl hatte, im Zaubertränkeklassenzimmer zu sitzen und gleichermaßen Verachtung wie Angst vor Snapes Ausbrüchen zu haben.
„Ich verstehe sehr wohl, Potter. Mich zum Paten deines Sohnes zu machen würde für dich bedeuten, eine rührselige Version einer Versöhnung…“, er spie das Wort aus, als wäre es etwas Giftiges in seinem Mund, „… zu inszenieren, von der wir beide wissen, dass wir sie nicht wollen. Aus irgendeinem Grund schaffst du es nicht, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Was ich damals tat, tat ich für deine Mutter, nicht für dich oder sonst irgendjemanden. Nur für sie. Du bist mir nichts schuldig, Potter… unsere Wege haben sich in dem Moment getrennt, als du den Dunklen Lord getötet hast und ich wusste, dass ich erfüllt habe, was ich mir selbst und ihr versprochen hatte. Und jetzt möchte ich, dass du gehst.“
„Fein!“, schleuderte Harry ihm entgegen, während er spürte, wie der Zorn in ihm aufkochte.
Wie hatte er so falsch liegen können mit der Idee, Snape zum Paten zu machen! Diesen widerwärtigen Mann, der alles und jeden hasste, inklusive sich selbst…
Nein, korrigierte ihn eine kleine Stimme in seinem Inneren, deine Mutter hat er geliebt. Mehr als alles andere.
Er erhob sich hastig aus dem Sessel was bewirkte, dass das Baby aufwachte und einen Laut der Unzufriedenheit von sich gab.
„Shhh….“, murmelte Harry beruhigend und streichelte das kleine Köpfchen.
„Komm, James, wir gehen nach Hause zu Mummy.“
Der Junge nickte eifrig und folgte seinem Vater, der in Richtung Tür ging.
Als er auf gleicher Höhe mit Snape war, warf er ihm einen letzten verächtlichen Blick zu und sagte: „Ich hoffe, du genießt weiterhin dein Leben in diesem stinkenden Loch hier und entfernst sich weiterhin von jeglicher Zivilisation. Ich hatte geglaubt, dass es möglich sein würde, unsere Abneigung endlich zu überwinden und dazu überzugehen, sich wie normale Menschen zu verhalten, aber offensichtlich lag ich falsch damit. Schönen Tag noch!“
Snape sah wortlos zu, wie Harry mit seinen Kindern die Straße entlangging, bis er schließlich um die Ecke bog und somit aus seiner Sicht verschwand.
*~*~*~*
Einige Stunden später, als es bereits dunkel war und sanfter Schneefall die Umgebung romantischer wirken ließen, als sie tatsächlich war, klopfte es wiederum an Snapes Tür.
Seit Jahren hatte niemand sich nach Spinner’s End bemüht, um ihn zu besuchen, was größtenteils natürlich daran lag, dass er jeglicher Gesellschaft sorgsam aus dem Weg ging und deutlich zu verstehen gab, dass er es nicht wünschte, gestört zu werden.
Mit einem unguten Gefühl erhob er sich aus dem Sessel und ging zur Tür, um sie zu öffnen.
Zitternd, die Arme vor der Brust verschränkt und auf und ab hüpfend, stand Hermine Granger vor seiner Tür und ein äußerst seltsamer Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht, als er ihren Namen aussprach. Sie sah aus, als hätte sie sich gewünscht, dass sie Tür aufging und gleichzeitig auch, dass sie verschlossen blieb.
„Miss Granger, wird das hier ein Klassentreffen, über das jedermann außer mir informiert zu sein scheint?“, knurrte er.
Sie blies in ihre Hände, um sie zu wärmen, lächelte verlegen und sagte: „Entschuldigen Sie, Sir, wenn ich störe…“
„Das tun Sie allerdings!“, unterbrach er unfreundlich und schaute über ihre Schulter.
„Ich bin alleine hier“, versicherte sie hastig, seinen Blick richtig deutend.
„Sir, es ist nur, dass Harry mir erzählt hat, wie katastrophal sein Besuch hier verlaufen ist und da dachte ich…“
„Dass Sie sich einmischen können und Ihre Nase in Angelegenheiten stecken, die Sie nichts angehen?“
Sie presste die Lippen fest aufeinander um sich, wie er vermutete, davon abzuhalten, etwas auszusprechen, was sie hinterher bereuen würde, und starrte ihn an.
Er konnte sich kaum daran erinnern, wie sie das letzte Mal ausgesehen hatte, als er sie gesehen hatte, aber er war sich ziemlich sicher, dass sie damals wohl kaum der jungen Frau geglichen hatte, die sie jetzt war. Ihre Züge hatten ihre jugendliche Naivität verloren und in ihren Augen war eine Ernsthaftigkeit, die weniger etwas mit ihrem Wissensdurst zu tun hatte denn mit den Erfahrungen, die sie im Krieg gemacht hatte.
„Möchten Sie hereinkommen?“, fragte er, wobei er deutlich zu verstehen gab, dass ihm nichts ferner lag, als in ihrer Gesellschaft zu sein.
„Danke, gern“, entgegnete sie und schlüpfte an ihm vorbei ins Innere des Hauses.
„Sir, ich werde gleich zur Sache kommen und Ihre Zeit nicht länger als nötig in Anspruch nehmen“, sagte sie, während sie in dem ihr angebotenen Sessel Platz nahm.
„Harry möchte gerne, dass Sie Pate seines Kindes werden. Ich kenne ihn schon mein halbes Leben lang und ich weiß, dass Harry nie besonders gut darin war, sich auszudrücken. Ich denke er hat versäumt Ihnen zu sagen, dass er Sie für einen der mutigsten Zauberer hält, die er je kannte und dass er Sie bewundert für das, was Sie getan haben… all die Jahre lang.“
Sie schluckte und sah beschämt zur Seite, als er sie wortlos musterte, wobei seine Miene nicht im geringsten verriet, was er dachte.
„Harry kann das alles nicht so zum Ausdruck bringen…“
„Weswegen Sie es sich zur Aufgabe gemacht haben, es für ihn zu übernehmen. Das war schon zu Schulzeiten eine Ihrer Lieblingsbeschäftigung, Miss Granger, und wie ich sehe, hat sich daran nichts geändert.“
Ihre Wangen verfärbten sich rot, als sie seinem Blick begegnete.
„Einer muss es ja tun“, entgegnete sie trotzig.
„Wie auch immer, Sir… Sie zum Paten zu machen ist Harrys Art Ihnen zu sagen, dass er Sie trotz allem, was zwischen Ihnen vorgefallen ist, mehr schätzt, als er sagen könnte.“
„Wie überaus edel von ihm“, spöttelte Snape.
Die junge Frau seufzte frustriert und fuhr sich mit den Händen durch das lange, lockige Haar, in dem immer noch einige Schneeflocken verfangen waren.
„Er tut es nicht aus einem falsch verstanden Schuldgefühl Ihnen gegenüber heraus, verstehen Sie denn nicht?“, platzte es aus ihr heraus.
„Achten Sie auf Ihren Ton, Miss Granger“, sagte er schneidend. „Ich bin es nicht gewohnt, dass in meinem eigenen Haus so mit mir gesprochen wird.“
„Ich glaube nicht, dass überhaupt jemand mit Ihnen in Ihrem Haus spricht“, entfuhr es ihr, noch ehe sie die Worte zurückdrängen konnte.
Hastig schlug sie eine Hand vor den Mund.
„Entschuldigen Sie, Sir… ich wollte nicht unhöflich sein.“
Sie erhob sich aus dem Sessel, seinem eisigen Blick ausweichend, und sagte langsam: „Jedenfalls, ich sehe, wann etwas aussichtslos ist. Verzeihen Sie, dass ich Ihre Zeit unnötig verschwendet habe. Dennoch möchte ich Sie wissen lassen, dass Harry nun vermutlich, wenn ich richtig informiert bin, Neville Longbottom fragen wird, ob er der Pate von Albus Severus sein möchte“.
Sie machte eine kleine, wie zufällig wirkende Pause und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als sie ihn zusammenzucken sah.
„Von wem?“
„Albus Severus“, entgegnete sie unschuldig, während sie fasziniert dabei zusah, wie Snapes Gesicht einen Ausdruck reinster Verblüffung annahm.
„Das ist der Name des Babys“, erklärte sie geduldig. „Hat Harry Ihnen das etwa nicht gesagt?“
Sie ging in Richtung Tür und nutzte seine Verwirrung, um ihren letzten Trumpf auszuspielen.
„Ich glaube, Lily hätte gewollt, dass Sie über alles hinwegsehen und der Pate des Kindes werden“, sagte sie leise und fühlte einen Stich des Mitleids, als seine Züge bei der Erwähnung des Namens einen gequälten Ausdruck annahmen.
„Denken Sie darüber nach, Sir…bitte!“, flüsterte sie, als sie die Tür öffnete und in die winterliche Kälte hinaustrat.
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