von Milky Way
Die Zeit ist reif
Mit gesenktem Kopf lief er die schmalen Wege des Friedhofs entlang. Nach dem eisigen Winter hatte der Weg neu gekiest werden müssen. Nun raschelten die neu geschliffenen Kieselsteine unter seinen Füßen. Bei seiner Beerdigung lagen noch die stark verbrauchten Kiesel.
War es wirklich erst ein halbes Jahr her? Der Monat lief auf Weihnachten zu. Das erste Weihnachten ohne seinen Sohn. Lange im Voraus hatten er und seine Frau es geplant. Endlich wollten sie ihrem Sohn seinen so schmerzhaft herbei gesehnten Wunsch erfüllen.
Papa, kann ich einen Rennbesen haben? Das erste Mal hatte er dies vor beinahe zehn Jahren gefragt. Papa, kann ich einen Rennbesen haben? Bitte!
Damals saßen sie gemeinsam am reichlich gedeckten Frühstückstisch. Er hatte ohne zu Zögern gleich nachdem er seinen Toast aufgegessen hatte gefragt, fast so als wäre es eine Selbstverständlichkeit, dass achtjährige Jungen von ihren Vätern ohne jeglichen Anlass Rennbesen geschenkt bekamen.
Eine abgemagerte Katze strich auf der Suche nach etwas zu Essen um die Grabsteine. Du wirst hier keines finden. Sie schien ihn gehört zu haben, denn sie drehte sich um und blickte ihm direkt in die Augen. Die Augen der Katze waren von einem leuchtenden Grün, aber das war nicht das auffällige an ihnen. Sie vermittelten keinen Ausdruck, nur Leere.
Wozu brauchst du einen Rennbesen? Du kannst doch meinen Sauberwisch 3 benutzen, du weißt ja wo er steht. Welche Antwort er sich auch immer erhofft hatte, diese war es nicht gewesen. Die Enttäuschung in seiner Stimme war unüberhörbar. Aber Papa! Der funktioniert doch gar nicht mehr richtig und ist außerdem schon so al-
Alt? Funktioniert nicht mehr richtig? Damals glaubte er, sich verhört zu haben. Er funktioniert noch sehr gut und das weißt du auch. Erst letzte Woche haben wir doch das Passen mit dem Quaffel trainiert, und du durfest ihn sogar benutzen! Als ich ein kleiner Junge war, hat mein Vater es mir nie erlaubt, seinen Rennbesen zu benutzen, ich musste immer den meines Großvaters nehmen.
Er blieb stehen und schaute sie an. Nach einer Weile wurde ihm klar, dass er falsch gelegen hatte. Ihre Augen vermittelten sehr wohl einen Ausdruck. Den Ausdruck des Todes.
Sein Sohn hatte den Mund geöffnet um etwas zu sagen, aber schloss ihn dann wieder. Schluss jetzt, Ende der Diskussion. Für die nächste Zeit kannst du auch den Sauberwisch benutzen. Seine Frau hatte den Tisch abgeräumt und wagte sich nun, auch etwas zu sagen. Dein Vater hat Recht. Besen sind nicht gerade billig und du brauchst im Moment nicht mal einen. Wir können ja noch ein andernmal darüber sprechen, aber nicht in absehbarer Zeit.
Er löste sich von seiner Starre und ging den Weg weiter hinauf. Die Katze schien nicht mehr nach Essen zu suchen und folgte ihm. Seine Fußabdrücke prägten sich tief in die Erde ein, während die Pfoten der Katze nur umgeknickte Grashalme hinterließen.
Bis zu seinem 1. Schuljahr sprachen sie auch nicht mehr darüber. Gerade war er wegen den Weihnachtsferien zu Hause, da ging es wieder los. Papa, du weißt ja, dass wir unsere ersten Flugstunden hatten. Und Madam Hooch hat gesagt, ich bin richtig gut!
Im ersten Augenblick sagte er nichts, doch sein Sohn schien auf die nicht gestellte Frage eine Antwort zu erwarten. Noch bist du nicht in der Schulmannschaft, brauchen tust du also immernoch keinen. Mal abgesehen davon dürfen Erstklässler keine eigenen Besen besitzen.
Schatz, hatte daraufhin seine Mutter zu ihm in ihrer üblichen sanften Stimmlage gesagt, wenn die Zeit reif ist, wirst auch du einen Rennbesen bekommen.
Die umgeknickten Grashalme brauchten nicht lange um sich wieder aufzurichten. Die lebenserhaltende Energie, sich der Sonne entgegenzustrecken, schien sie anzutreiben.
Wie das Schicksal nunmal so spielte, kam er in der 4. Klasse tatsächlich in die Schulmannschaft. Doch noch war er nicht bereit gewesen, seinem Sohn dieses teure Geschenk zu machen und das sagte er ihm auch. Im Moment reicht der Sauberwisch 3 noch, wenn du wirklich so gut bist, wie du sagst, wirst du dich in der Mannschaft halten können und wenn die Zeit reif ist, werden wir noch einmal darüber sprechen.
Vereinzelte Schneeflecken waren noch zu sehen. Er bog nach rechts ab, die Katze folgte ihm immer noch. Sie lief direkt durch einen der Schneeflecken, ihre Pfoten versanken darin.
Die Abdrücke der Pfotenballen schimmerten in der Sonne, obwohl es regnete. Etwas Schnee blieb an einer ihrer Pfoten kleben. Sie bemerkte es nicht.
Im nächsten Schuljahr wurde er der Mannschaftskapitän, aber einen eigenen Besen besaß sein Sohn immer noch nicht. Du hast mir versprochen, dass ich endlich einen eigenen Rennbesen bekomme! Ich kann doch nicht ewig den Komet Zwei-Sechzig von Zacharias fliegen!
Sein Vater machte ein undefinierbares Geräusch, das wohl Verärgerung ausdrücken sollte.
Du weißt doch, was dein Vater darüber denkt. Zacharias‘ Besen wirst du aber dennoch nicht mehr lange benutzen müssen. Ewig wird es nicht mehr dauern, bis die Zeit reif ist.
An einem der Grabsteine blieb er stehen. Orangefarbene Coonalien, die Lieblingsblumen seines Sohnes, standen in der Vase, die gerade so groß war, dass sie die letzte Ziffer seines Sterbedatums verdeckte. Er blickte auf die Katze hinab, die ihn auf diesem Weg begleitet hatte.
Die Zeit ist reif, flüsterte er. Die Zeit ist reif.
Mit zitternden Händen legte er den Sauberwisch Elf auf das Grab seines Sohnes Cedric Diggory.
Wenn Du Lob, Anmerkungen, Kritik etc. über dieses Kapitel loswerden möchtest, kannst Du einen Kommentar verfassen.
