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Harry Potter und die Schatten der Vergangenheit - Die lieben Verwandten

von Muggelchen

„Ich schwöre dir“, sagte Harry zu Ginny und nickte dabei heftig, „ich habe nichts getan! Ich habe nur mit einem Schäfer geredet.“ Eine ihrer Augenbrauen wanderte nach oben. „Und mit seinem Schaf.“ Die zweite Augenbraue leistete der ersten Gesellschaft.
„Du hast Luna die Schlagzeile vermasselt“, hielt Ginny dagegen. „Egal wo du auftauchst, allein dein Name ist schon die erste Seite wert.“
„Kingsley und Geoffreys haben immerhin 142 Menschen gerettet“, verteidigte er sich. „Das ist auch die erste Seite wert. Warum interessiert dich das überhaupt? Bekommst du eine Provision von Luna?“
Ginny stopfte Nicholas das Hemd in die Latzhose. „Ich habe nur wieder einmal festgestellt, Harry, dass dein Name Futter für die ausgehungerte Presse ist. Du hättest in der Winkelgasse auf einer Bananenschale ausrutschen können und ich wette mir dir, die Zeitungen hätten über deinen profanen Unfall berichtet und nicht über den Aufstand.“
„Das ist doch aber nicht meine Schuld.“ Harry schmollte. „Außerdem hat sich ja herausgestellt, dass der Aufstand organisiert war und zwar von so ein paar Hohlköpfen, die unter anderem dagegen sind, dass Frauen Quidditch spielen dürfen.“
Ginny schnaufte wegen der Bemerkung. „Weißt du, was Mama macht?“
„Was?“
„Sie schneidet jeden Zeitungsartikel aus, der über dich berichtet. Ich frage mich nur, ob wir die Alben irgendwann mal geschenkt bekommen.“
„Ehrlich? Das macht sie?“ Er konnte sich nicht vorstellen, dass Molly mit einer Schere bewaffnet die Zeitungen malträtierte und Arthur wie in einem klischeehaften Film durch ein Loch im Tagesprophet starrte, weil er die Ausgabe leider erst nach ihr in die Finger bekommen hatte.
„Ist doch für unsere Kinder interessant, meinst du nicht?“ Sie wartete keine Antwort ab. „Bist du fertig?“
„Schon seit einer halben Stunde“, beteuerte Harry.
„Dann kann es ja losgehen.“

Mit einer Tasche, die einige Dinge für Nicholas beinhaltete und einem Blumenstrauß flohten Harry und Ginny erst einmal zum Tropfenden Kessel. Von dort aus apparierten sie in eine Kleinstadt, die in der Nähe von London lag.

Als sie angekommen waren, von den Blicken neugieriger Muggel geschützt, schaute sich Ginny um.

„Das ist also Little Whinging“, stellte sie verwundert fest. „Ich hab es mir belebter vorgestellt.“
„Belebter? Nein, hier klappt man um zehn Uhr abends die Bürgersteige hoch.“ Nicholas fand die Reise so aufregend, dass er in seiner Brabbelsprache viel zu erzählen begann. Harry nahm ihn auf den Arm. „Hier lang.“

Auf ihrem Weg sahen sie ein Plakat, das Werbung für die Firma Grunnings machte, der Firma, die Harrys Onkel Vernon leitete. Sie stellte Bohrmaschinen her. Ginny nahm das Plakat zur Kenntnis. Sie kamen an einem Geschäft für Haustierbedarf vorbei.

„Hier holt Mrs. Figg immer ihr Knie-“, er stoppte sich, weil gerade ein älterer Herr aus dem Geschäft kam. „Ihr Katzenfutter, meine ich. Manchmal hat sie mich mitgenommen, wenn sie auf mich aufgepasst hat.“ Nicholas sah den Hund, den der Mann an der Leine hatte und sagte dazu „Wauwau“.

Nach etlichen Reihenhäusern, die in Ginnys Augen alle gleich aussahen, bogen sie in den Ligusterweg ein. Harry wurde plötzlich langsamer. Im ersten Moment glaubte Ginny, der Grund dafür wäre der Junge in Harrys Arm. Es handelte sich jedoch um einen inneren Kampf, den Harry unbewusst ausführte. Das Haus seiner Verwandten hatte er lange nicht besucht. Der Ligusterweg brachte all die Erinnerungen seiner Jugend zurück, die er als Schüler jedes Mal aufs Neue in Hogwarts einfach nur vergessen wollte.

„Da ist es“, sagte Harry leise.
„Wo? Da?“ Ginny nickte in eine Richtung, woraufhin Harry nickte.
„Gehst du vor?“

Ginny tat ihm den Gefallen, dachte sie doch, Harry könnte mit Nicholas im Arm nicht die Türklingel bedienen.

Man konnte frischen Kaffee durch die Ritzen der alle zwei Jahre neu gestrichenen Haustür riechen. Ein Wasserkessel pfiff, wahrscheinlich für den Tee. Irgendwo in der Nachbarschaft bellte ein Hund. Die Klopeks hatten immer einen Hund, erinnerte sich Harry. Wahrscheinlich handelte es sich um Arco Nummer drei oder vier, eine Terrierhündin. Arco eins und zwei starben an Krebs und bei einem Autounfall. Ginny klingelte, und Harry schluckte mehrmals, als wäre das Loch in seiner Kehle zu klein, sodass nicht einmal Speichel hinunterrinnen konnte, so zugeschnürt kam sie ihm vor. Das Pfeifen verstummte. Man konnte drinnen eine Tür hören. Das Geräusch kannte Harry noch. Es war die Küchentür. Er konnte die Zeit abschätzen, wie lange Tante Petunia über den frisch gesaugten, aufgeräumten Flur benötigen würde, bis sie die Tür öffnet. In dem Moment, in dem Harry dachte, jetzt wäre es soweit, öffnete sich tatsächlich die Haustür. Tante Petunia stand vor ihnen. Ihr freundliches Lächeln war jenes, welches sie sogar für den Postboten übrig hatte – und für jeden beliebigen Fremden, der an ihre Tür klopfte. Sie trocknete sich die Hände an einem blütenweißen Küchentuch, blickte dabei erst Harry in die Augen, dann Nicholas. Jetzt kroch ihr distanziert freundliches Lächeln hinauf bis zu den Augen und wurde echt.

„Harry, Ginevra, schön dass ihr da seid.“ Der Junge in Harrys Arm wurde extra nett begrüßt. „Und der kleine Spatz!“ Petunia strich ihm über die Pausbacken. „Für dich habe ich eine Kleinigkeit. Kommt erst einmal herein.“

Ginny wusste nicht, wohin mit dem Blumenstrauß. Noch nie war sie in die Verlegenheit gekommen, einer Gastgeberin so ein Geschenk zu überreichen. Also hob sie einfach die Hand, in der sie ihn hielt und fummelte das Papier drumherum ab. Es war ein bunter Strauß mit verschiedenen Blumen. Petunien waren darunter, auch rotweiße Lilien. Beim Floristen hatte Harry auf diese ungewohnte Mischung bestanden. Seine Tante würde die symbolische Vereinigung sicherlich bemerken.

„Mrs. Dursley“, Ginny reichte der Tante ihres Mannes den Strauß.
„Nicht doch Mrs. Dursley. Petunia“, verbesserte sie und nahm den Strauß entgegen. „Ach, das wäre doch nicht …“ Ihre Augen huschten über die Blumen. Lilien. Petunien. Sie hatte verstanden. Ihr Lächeln wurde sanfter, ein wenig melancholisch. Petunia blinzelte zweimal und wandte ihren Blick von den Blumen ab. „Kommt doch bitte in die Küche.“

Petunia wies den Weg. Ginny folgte und Harry mit dem Jungen auf dem Arm bildete das Schlusslicht. Sein Schritt wurde langsamer, als er an der Besenkammer vorbeikam. Das Schloss war neu. Er hatte sich damals jedes einzelne ganz genau angesehen, um zu überlegen, ob er es im Notfall irgendwie von innen öffnen könnte. Diesmal war es kein Schiebeschloss, sondern nur ein kleiner Haken, der die Tür unter der Treppe verschlossen hielt. Es duftete nach Putzmitteln, stellte Harry fest. Damit sich niemand wundern würde, warum er so lange benötigte, setzte er Nicholas auf dem Boden ab. Eine kleine Hand hielt er fest. Im Gehen berührte Nicholas die Wand. Seine Verwandten hatten alle drei, vier Jahre den Flur tapezieren lassen, doch die Tapete hatte immer das gleiche Muster. Seine Tante hätte am liebsten nach jedem rauchenden Besuch frisch tapeziert, aber das war Onkel Vernon zu teuer gewesen. Über die kleine Schwelle zwischen Flur und Küche wäre Nicholas beinahe gestolpert.

„Vorsichtig, kleiner Mann“, sagte Petunia freundlich. Nicholas strahlte und riss sich von Harry los, um zu Ginny zu laufen, die bereits am großen Tisch in der Küche stand. „Nehmt doch bitte Platz, wo ihr möchtet.“ Petunia hängte das weiße Handtuch an den dafür vorgesehenen Haken. Sie kümmerte sich um das Teewasser. Derweil betrachtete Harry den gedeckten Tisch. Alles war perfekt. Er kannte die Art seiner Tante, für Gäste zu dekorieren. Das Porzellan-Set war ihm ebenfalls bekannt. Nachdem Gäste gegangen waren, hatte er es häufig abwaschen müssen, aber immer ganz vorsichtig. Es war wertvoll. Davon gegessen hatte er noch nie. Heute war das eine Premiere.

„Die Blumenvase ist aber hübsch“, hörte Harry plötzlich Ginny sagen.

Er überblickte die Situation. Seine Tante hatte für den mitgebrachten Strauß eine der vielen Vasen aus dem Schrank geholt. Für jede Art von Sträußen hatte sie ein passendes Gefäß: langhalsig oder dickbäuchig mit großer oder kleiner Öffnung. Insgesamt mindestens zehn Stück.

„Oh, vielen Dank“, sagte Petunia geschmeichelt. „Die habe ich vor zwei Jahren auf einem Weihnachtsmarkt gekauft.“ Sie drehte besagtes Objekt in ihrer Hand und betrachtete kurz das Muster, bevor sie Wasser hineinfüllte. „Sieht gar nicht weihnachtlich aus. Ist für jede Gelegenheit gut geeignet.“

Harry war mehr als dankbar für Ginnys angestrebten Smalltalk, obwohl oberflächliche Gespräche auch ihr nicht besonders sehr lagen.

Seine Tante war nervös. Sie knetete ihre Hände, rieb sie ineinander, als würde sie noch immer das weiße Küchentuch in ihnen halten. „Möchtet ihr Tee oder Kaffee?“ Man einigte sich auf Kaffee. „Für den kleinen Spatz habe ich Tee. Was mag er?“ Petunia blickte zu Harry, dann zu Ginny, bevor sie zur Wahl stellte: „Kamillentee, Fencheltee, Früchtetee?“
Es würde Harry nicht wundern, wenn seine Tante all dieses Teesorten erst heute vorsorglich gekauft hatte, nur um genügend anbieten zu können. „Kamillentee mag er gern“, beteuerte Harry. „Wir haben auch seine Flasche dabei.“
„Ach ja?“ Petunia griff zu einem Gegenstand, der bisher ungeachtet auf der Arbeitsfläche stand. Es war eine Nuckelflasche. Mit beiden Händen umfasste Petunia sie, als sie leise sagte: „Das ist deine alte.“ Harry schluckte. Er hatte keine Erinnerung daran, aber zu ahnen, dass seine Tante ihm damals Tee in eine Flasche gefüllt hatte, ließ die Frau mit einem Male weniger gefühlskalt erscheinen. „Eigentlich ist sie noch von deiner Mutter. Ich meine, sie hat sie …“ Jetzt musste seine Tante schlucken. „Sie hat sie gekauft. Wenn du möchtest …“ Sie hielt ihm die Flasche entgegen, die er aus einem puren Reflex heraus nahm. „Du kannst sie mitnehmen.“
„Darf ich helfen?“, fragte Ginny mit einem Mal. Diesmal schien sogar Tante Petunia froh über Ginnys ablenkende Worte zu sein.

Drei verschiedene Kuchensorten hatte Tante Petunia gebacken. Auf dem Tisch war kein Platz, um alle zu präsentieren, also blieben die Tortenplatten auf der Arbeitsfläche der Küche stehen. Harry hatte Nicholas auf den Schoß genommen, um abwechselnd sich selbst und ihm etwas Schokoladenkuchen zu gönnen. Während des Essens sprach man nicht, hatte Harry damals eingebläut bekommen. Dudley hatte sich immer daran gehalten, denn sein Cousin war morgens, mittags und abends normalerweise während des Essens vom Fernseher abgelenkt.

„Wann genau ist Nicholas eigentlich geboren?“, fragte seine Tante. Während sie auf die Antwort wartete, pustete sie zaghaft in ihre Kaffeetasse.
„Am 28. August letzten Jahres“, wagte Harry zu erwidern, nachdem er den Happen Torte geschluckt hatte.
Petunia strahlte. „Dann ist der Kleine ja schon ein Jahr alt. Spricht er schon ein bisschen?“
„Er ahmt viel nach“, bejahte Ginny freundlich lächelnd. „Einige Sachen versteht er schon, aber noch nicht viel.“
Seine Tante nickte, schien einen Moment an etwas zu denken, was ihr abwesender Blick verriet, bevor sie sagte: „Harry war immer ein sehr stilles Kind gewesen.“

Nach ihren Worten war Petunia unsicher und fragte sich, ob es angemessen war, so eine Anmerkung zu machen. Mit zittriger Hand führte sie ihre Kaffeetasse zum Mund und hoffte, die Stille würde vorüberziehen, denn Harry war schlichtweg sprachlos. Bisher hatte er von seiner Tante nie etwas über sich als Kind erfahren. Als Nicholas anfing zu quengeln, ließ Harry ihn hinunter. Mittlerweile mit festem Schritt stampfte der junge Mann zu Ginny hinüber. Petunia hingegen verschaffte sich einen Überblick über den Tisch.

„Harry, wie wäre es noch mit etwas Kaffee?“, fragte seine Tante.

Harry nickte, stand in Windeseile auf und griff zur Kaffeekanne. In dem Moment, als er ihr einschenken wollte, wurde er sich über das Versehen bewusst. Seine Tante war ebenfalls peinlich berührt. Sie wollte ihn bewirten. Die Gewohnheit von früher hatte Harry jedoch unerwartet anders handeln lassen.

„Das ist doch in Ordnung, wenn ich …“, begann er, bevor er sich räusperte. „Du hast dir schon so viel Mühe gegeben.“ Ungenau deutet er auf den Kuchen, dann auf die Tischdekoration.
„Sicher ist das in Ordnung.“ Seine Tante hielt ihm die Kaffeetasse hin. Harry bemerkte, dass ihre Hand zitterte.
„Ginny, du auch noch?“
Während er ihr einschenkte, begann Ginny zu plaudern. „Ihr Mann ist auf Geschäftsreise?“
„Ja“, sagte Petunia leise. „Ja.“ Ein Echo ihrerseits. Sie schien an dem Gedanken festzuhalten, dass Harry sie damals immer bedient hatte, denn mit dem Blick folgte sie jedem seiner Handgriffe.
„Und Harrys Cousin?“ Weil eine Antwort ausfiel, hakte Ginny nach. „Dudley?“
Beim Namen ihres Sohnes fuhr Petunias Kopf herum. „Dudley ist dieses Wochenende mit seinem Trainer unterwegs. Promotion.“ Langsam taute Petunia wieder auf. „Mein Junge möchte bekannter werden.“ Sie lächelte, als sie stolz erzählte: „Mit fünfzehn war er schon südwestenglischer Boxchampion im Juniorenschwergewicht.“
„Tatsächlich!“

Harry machte sich eine gedankliche Notiz, dass er Ginny für den Rest seines Lebens dankbar sein wollte, weil sie eine Normalität in diese Küche brachte, die er bis dato nie erlebt hatte.

„Harry erzählte“, jetzt bemühte sich Ginny, ihn in das Gespräch einzubeziehen, „dass sein Onkel Direktor von Grunnings ist.“
„Ja, das ist richtig. Mein Mann geht zwar bald in den Ruhestand, aber zuvor möchte er, dass bei der Übergabe alles reibungslos läuft. Er hätte es gern gesehen, wenn sein Junge ihn ablöst, aber Dudley …“ Petunia lächelte, schüttelte dabei verträumt den Kopf. „Er hat andere Träume.“
Leute verprügeln und dafür Geld bekommen, dachte Harry, bevor er laut sagte: „Wissen Dudley und Vernon von …“ Er deutete auf Ginny und sich.
„Nein.“ Es war so leise, dass man es beinahe nicht vernommen hätte. „Möchtet ihr noch ein Stück Kuchen?“, fragte seine Tante in normaler Lautstärke. Harry verneinte wortlos. Er hatte sich das erste Stück schon hinuntergequält – und dabei hatte er sich das sogar mit Nicholas geteilt. „Dann räume ich mal schnell ab. Ihr könnt gern schon ins Wohnzimmer gehen.“
„Komm, Nicholas.“ Harry streckte ihm seine Hand entgegen, doch der Junge verzog das Gesicht. Er wollte nicht zu Harry, wo er gerade jetzt die vielen, bunten Kühlschrankmagneten entdeckt hat, die sich wunderbar hin und her schieben und neu anordnen ließen.
Petunia räumte die Teller zusammen. „Ach, lass ihn ruhig hier, ich passe schon auf.“

Im Wohnzimmer gab es für Harry eine Verschnaufpause. Durchatmen. Das war das Erste, was er im Wohnzimmer machte. Augen zu und tief durchatmen.

„Harry, entspann dich“, empfahl Ginny, bevor sie sich den vielen Bildern widmete. Dudley, Dudley, Dudley – so weit das Auge reichte. Sie unterließ es zu fragen, warum kein einziges Bild von Harry hier hing oder stand. Dudley war schon ein Prachtexemplar, dachte sie. Einmal hatte Harry ihr erzählt, wie Hagrid seinem Cousin einen Ringelschwanz angezaubert hatte. Ab und an war ein Familienfoto mit allen dreien zu sehen. Petunia hatte Glück, dass sie so dürr war, sonst hätte sie mit den beiden kräftigen Herren an ihrer Seite gar nicht mehr aufs Bild gepasst.

Die herrschende Ordnung im Wohnzimmer war von niemandem, den Harry kannte, zu überbieten. In einem Zeitungsständer neben der Couch befanden sich nur die brandaktuellen Ausgaben der Zeitschriften, die man in diesem Haus las. Ältere Exemplare wurden regelmäßig aussortiert. In dem imposanten Holzschrank standen hinter dem Glas der Vitrine verschiedene Römergläser, meist von Tante Magda zu verschiedenen Anlässen geschenkt. Harry konnte sich nicht daran erinnern, dass diese Gläser jemals benutzt wurden. Es handelte sich um Sammelobjekte. Auf dem frisch polierten Holztisch – man konnte noch den Duft des Poliermittels wahrnehmen – stand ein Schälchen mit Süßigkeiten. Selbst die schienen systematisch angeordnet zu sein, so dass man sich nicht traute zuzugreifen, um die Ordnung nicht zu zerstören. Ginny hatte sich bereits auf das Sofa gesetzt, nur Harry zögerte. Dort zu sitzen war damals für ihn tabu gewesen.

Vom Flur hörte man Petunias freundlich klingenden, hohe Stimme: „Komm mit, Nicholas. Ich hab ein Geschenk für dich.“

Die angelehnte Tür öffnete sich, als Petunia mit dem Jungen an der Hand das Wohnzimmer betrat. Sie konnte nett zu Kindern sein, dachte Harry mit etwas Wehmut. Zu Dudley war sie immer liebevoll gewesen.

Petunia ließ die kleine Hand los und ging hinüber zu einem Sideboard, aus dem sie ein in Geschenkpapier verpacktes Paket holte. Es hatte die Größe von Hedwigs Käfig. Auf dem vor etwa drei Tagen feucht gereinigten Teppich – selbst das konnte Harry noch riechen – stellte sie das Geschenk ab und versuchte, Nicholas zu sich zu locken. Der zierte sich. Er war hier noch nie gewesen, kannte die Frau nur vom Sehen.

„Na komm“, sagte Harry und hielt ihm die Hand entgegen, die der Junge ergriff.
„Das ist doch in Ordnung, wenn ich ihm ein Geschenk mache?“, wollte seine Tante wissen. „Nachträglich zum Geburtstag“, fügte sie hinzu.
„Klar“, sagte er zu seiner Tante. An Nicholas gewandt sagte er: „Schau mal, das ist für dich.“ Harry tippte auf das Geschenk. Mit großen Augen blickte ihn Nicholas an, bevor er zurückhaltend an der Schleife zog.

Seine Tante half dem Jungen, das Paket zu öffnen. Das erste Mal verspürte Harry ein Gefühl, das man am besten mit Neid beschreiben konnte. Er wollte Nicholas das Geschenk gönnen, war jedoch gleichzeitig in hohem Maße auf ihn eifersüchtig.

Das zerrissene Papier wurde sofort von Petunia entsorgt. Nicht der kleinste Schnipsel blieb auf dem Teppich liegen. Jetzt konnte man einen Blick auf das Geschenk werfen. Es war ein Bagger für Kleinkinder. Er war gelb und rot, mit großen Rädern an der Seite. Man konnte sogar darauf sitzen, stellte Harry fest.

„Boah“, rief Nicholas begeistert. Der Umgang mit Onkel Ron färbte ab. Zumindest war der Junge vorerst beschäftigt. Beim Spielen blieb er sehr ruhig, probierte zufällig alle möglichen Funktionen aus, denn man konnte sogar den Schaufelarm bewegen, wenn man eine kleine Kurbel betätigte.

Gerade wollte Petunia sich auf einen Sessel setzten, da überlegte sie es sich und machte zunächst das Radio an. Nur leise, als Untermalung und vielleicht zu dem Zweck, mögliche stille Momente wie vorhin in der Küche zu überspielen. Endlich setzte sie sich. Natürlich überschlug sie ihre Beine nicht. Das hatte sie noch nie getan, es schickte sich einfach nicht. Ihre Knie waren fest zusammengepresst, die Unterschenkel fielen leicht zur Seite. Auf den Oberschenkeln lagen ihre gefalteten Hände. Es war nicht zu übersehen, dass Petunia angespannt war. Momentan war selbst ihr Lächeln wieder erzwungen. Sie stellte Blickkontakt mit Ginny her.

„Gehen Sie einem Beruf nach, Ginevra?“ Mit einer Hand strich sich Petunia den Rock auf den Schenkeln gerade, obwohl er perfekt saß.
Ginny schüttelte den Kopf, lächelte dabei. „Noch nicht, aber ich strebe eine …“, nicht Quidditch-Karriere sagen, dachte sie, „eine Sportkarriere an. Ich warte nur noch auf das Okay von der medizinischen Untersuchung.“
„Sport?“ Petunia lächelte breit „Ganz wie mein Dudley.“ Nur kurz schaute Petunia zu Nicholas hinüber und wünschte sich die gleiche Gelassenheit, die der Junge an den Tag legte. An Harry gerichtet fragte sie: „Und du bist Lehrer? Dieser Mr. Slughorn erzählte mir, dass du in“, sie schluckte, „Hogwarts unterrichtest.“ Es war gesagt. Sie hatte den Namen der Zaubererschule über die Lippen bekommen, ohne dabei ein Gesicht zu ziehen. „Was genau unterrichtest du dort?“
Harry fragte sich, ob das ihr Ernst war. Seine Tante Petunia interessierte sich für das Fach, das er in Hogwarts unterrichtet hatte? „Ich war Lehrer für Verteidigung gegen die Dunklen Künste.“ Der Adamsapfel in dem langen Hals seiner Tante fuhr Fahrstuhl – hoch und runter.
„Verteidigung“, wiederholte sie. „Mr. Slughorn hat erzählt, was du geleistet hast.“

Was hat Slughorn erzählt, grübelte Harry. Über seine Rolle im Krieg, über den Sieg über Voldemort? Oder hat Slughorn nur von Hogwarts erzählt?

„Möchtet ihr noch etwas trinken? Ich kann noch einen Tee machen oder“, schon war Petunia aufgestanden, „ich habe auch Saft im Haus. Ich hole etwas zu trinken.“ Und weg war sie.

Harry und Ginny blickten sich kurz fragend an. Offenbar war er nicht der Einzige, der wegen des Besuchs aufgeregt war.

„Es ist hier schön eingerichtet.“
„Du musst nicht wegen mir Smalltalk …“
Ginny unterbrach ihn. „Nein, ich meine das wirklich so. Mir gefällt die Einrichtung. Es wirkt gemütlich, richtig heimelig.“

Harry versuchte, das Wohnzimmer distanziert zu betrachten, doch er scheiterte. Überall sah er Gegenstände, die er noch von früher kannte, und mit denen er überwiegend schlechte Erinnerungen verband, wie mit der Musikanlage. Ein Mitschüler aus der Grundschule hatte ihm mal eine Hörspiel-CD mit dem Titel Das Piratenschiff ausgeliehen. Onkel Vernon hatte ihm nie erlaubt, die CD abzuspielen. Ungehört musste er sie dem Mitschüler zurückgeben. In dem großen Schrank mit den Römergläsern war unten hinter zwei Schiebetüren der Fernseher versteckt, wusste Harry. Nur wenn seine Verwandten außer Haus waren, hatte Harry heimlich Fernsehen geschaut – und zwar das, was er sehen wollte. Ansonsten lag die Kanalauswahl ausschließlich bei Dudley.

Mit einem Tablett in den Händen kam Tante Petunia zurück ins Wohnzimmer. Unter einem Arm hatte sie etwas geklemmt, das man nicht genau erkennen konnte. Ginny war so frei und nahm ihr das Tablett mit den drei Gläsern, der gefüllten Nuckelflasche und verschiedenen Säften ab. Den untergeklemmten Gegenstand legte Petunia zunächst auf ihren Sessel ab, damit sie die Gäste bewirten konnte.

„Kürbissaft?“ Harry hätte sich beinahe verschluckt, so schnell sprach er das Unglaubliche aus.
„Ja“, bestätigte Petunia. „Ich habe Mrs. Figg gefragt, was man so“, sie formulierte ihre Antwort langsam und vorsichtig aus, „in der Magischen Welt trinkt. Sie hat mir freundlicherweise eine Flasche mitgebracht. Möchtest du?“

Harry bejahte. Während Ginny die Gläser auf dem Tisch verteilte, danach Nicholas seine Flasche übergab, beobachtete Harry, wie seine Tante die Flasche Kürbissaft in die Hand nahm. Sie ging vorsichtig damit um, schien offenbar jeden Augenblick mit einem erschreckenden Fluch zu rechnen, der aus dem Flaschenhals geschossen kommen könnte. Das Öffnen verlief zu ihrer Erleichterung ganz ohne Zwischenfällt. Die Flüssigkeit beäugte sie neugierig, als sie Harry etwas einschenkte.

„Hast du das mal gekostet?“, fragte Harry.
„Nein, ich …“
„Versuch es mal. Könnte dir schmecken.“ Harry erinnerte sich daran, dass sie keine gesüßten Getränke mochte. „Ist ganz ohne Zucker, sehr erfrischend.“
„Vielleicht einen winzigen Schluck“, gab sie nach und schenkte sich selbst zwei Finger breit ein. Petunia nahm das Glas in die Hand und musterte den Inhalt, bevor sie die Augen schloss und einen kleinen Schluck nahm. Erstaunt öffnete sie ihre Augen wieder. „Das schmeckt gut“, gab sie zu.

Sie leerte das Glas und schenkte sich nochmals etwas ein. Das erste Mal in ihrem Leben war sie frei von Angst, als sie etwas zu sich nahm, das der Zaubererwelt entsprang. Als sich Petunia auf ihren Sessel setzen wollte, musste sie erst das Album – jetzt erst erkannte Harry den Gegenstand als solchen – in die Hand nehmen. Nur einen kurzen Moment zögerte seine Tante, bevor sie ihm das Album überreichte.

„Das ist ein Fotoalbum deiner Großeltern“, erklärte sie. Harry nahm es und hörte zu, als seine Tante anfügte: „Ich habe es vor einiger Zeit auf dem Dachboden gefunden, als ich aufgeräumt habe.“ Ginny war von Nicholas zurückgekommen und nahm wieder neben Harry Platz. Seine Tante gab sich einen Ruck und setzte sich auf den letzten freien Platz der Couch, so dass Harry zwischen den beiden Frauen saß. Er öffnete den schweren, muffig riechenden Deckel. Das schwarzweiße Bild zweier älterer Menschen begrüßte ihn. „Meine Eltern“, erörterte Petunia. „Sie sind leider viel zu früh gestorben und haben weder Dudleys noch deine Geburt miterlebt.“ Ginny sagte kein Wort, beugte sich aber zu Harry, um sich die Bilder anzusehen. Für ihn waren es fremde Menschen, die auf merkwürdige Art und Weise Ähnlichkeit mit ihm und seiner Mutter hatten. Lily war offenbar nach dem Vater gekommen, Petunia nach der Mutter. Harry blätterte eine Seite weiter. Wohnungen, Menschen und Orte, die er nie gesehen hatte. „Da haben wir mal eine Zeit lang gewohnt. Du weißt sicher, wo das Geschäft für Haustierbedarf ist.“ Weil Harry nickte, tippte Petunia auf ein Bild. „Das ist die Ecke. Im zweiten Stock haben wir gewohnt. Das Haus wurde später abgerissen und neu errichtet. Seitdem ist das Geschäft unten drin.“

Was Harry in den Händen hielt, war ein Stück Familiengeschichte, selbst wenn er seine Großeltern nie kennengelernt hatte. Wenigstens konnte er mal sehen, wer seine Vorfahren waren. Beide waren ganz offensichtlich Muggel. Harry hatte es kommen sehen. In der Mitte des Fotoalbums erschienen die ersten Fotos von zwei Babys, die von den strahlenden Eltern im Arm gehalten wurden.

„Das ist“, Petunia räusperte sich. Den Namen hatte sie für sehr lange Zeit nicht mehr ausgesprochen. „Das ist Lily.“ Im Arm der Mutter schlummerte das Baby, von dem man bei reinem Betrachten nicht sagen konnte, ob es ein Mädchen war oder ein Junge. Auf der nächsten Seite waren sie wenige Jahre älter. Eines der abgelichteten Kinder hatte hellere Haare.
„Das bist du“, erkannte Harry ganz richtig, als er auf das Mädchen zeigte, die einen großen Teddybären auf den Schultern trug.

Auf einer der nächsten Seiten war bereits der Fortschritt der Technik zu sehen: die ersten Farbfotos. Die roten Haare seiner Mutter waren das erste Mal gut zu sehen. Die Schwestern spielten einträchtig mit einem Puppenhaus und schienen das fotografierende Elternteil gar nicht zu bemerken, so vertieft waren sie in ihrem gemeinsamen Spiel. Die nächste Seite zeigte eine Geburtstagsfeier.

„Das war Lilys Geburtstag. Ich glaube, der neunte.“ Petunia nahm das Bild heraus und drehte es um. Auf der Rückseite war mit Kugelschreiber ein Datum vermerkt. „Deine Großmutter hat immer alles ganz genau beschriftet. Ja, es war der neunte Geburtstag.“ Das Bild brachte sie wieder an seinen Platz. „Lily hatte sogar diesen Jungen eingeladen. Severus.“ Harry zog beide Augenbrauen in die Höhe. „Er konnte nicht kommen. Ich glaube, es war irgendetwas mit seinem Vater.“ Auf der nächsten Seite tippe Petunia auf ein Bild. „Die Eisenbahn habe ich auf dem Dachboden und sie funktioniert noch!“ Auf dem Bild hockten beide Mädchen auf dem Boden. Petunia bediente den Trafo einer Modelleisenbahn und Lily stellte eine Plastikfigur auf den Miniaturbahnhof. „Ich würde sie gern Nicholas schenken, wenn er älter ist. Habt ihr dafür Platz in Hogwarts?“
„Wir ziehen um“, sagte Harry.
„Du bist dort aber noch Lehrer oder?“
„Nein, ich war es über ein Jahr lang. Ginny und ich haben ein Haus gekauft. Wenn wir uns eingerichtet haben, kannst du uns gern mal besuchen. Wir stecken gerade noch im Umzug.“
„Mmmh“, summte Petunia zustimmend. „Wenn du nicht mehr Lehrer bist, was arbeitest du dann?“
„Ich mache mich selbstständig“, antwortete Harry stolz.
„Das ist schön! Und was hast du vor?“
„Ich eröffne einen Kindergarten.“ Plötzlich war es ein Leichtes für Harry, ohne jegliche Hemmungen zu sprechen. Er strahlte breit, als er von seinen Plänen erzählte. „Ein Kindergarten, für kleine Zauberer und Hexen, aber nicht nur. Ich möchte diesen Platz für alle offenhalten, auch für Squibs und Muggel. Besonders für die Geschwister von magischen Kindern, damit es kein Drama gibt, wenn …“ Jetzt stoppte sich Harry, weil er bemerkte, dass die Lippen seiner Tante bebten. „Na ja, für alle Kinder eben“, erklärte er das Thema vorsichtig für beendet.
Petunia kniff die Lippen zusammen, versuchte jedoch gleichzeitig zu lächeln, was natürlich misslang. „Wenn ihr mich kurz entschuldigen würdet?“

Das Beben in Petunias Stimme war deutlich zu vernehmen. Sie verließ das Wohnzimmer. Harry blickte ihr einen Moment lang nach, bevor er durchatmete und wieder auf die Fotos in seinem Schoß schaute. Auf der nächsten Seite, noch immer Lilys neunter Geburtstag, standen die Schwestern vor einem Berg Geschenkpaketen, eng umschlungen, Wange an Wange, so sehr lächelnd, dass man wegen der sichtbaren Zahnlücke zwischen Lilys Schneidezähnen schmunzeln musste. Zu dem Zeitpunkt war noch alles gut.

„Frag doch mal, ob du ihr helfen kannst“, empfahl Ginny, als sie plötzlich von einem lauten Geräusch abgelenkt wurden. Nicholas war mit dem Bagger an den Schrank gefahren. Den hellen Kratzer in dem dunklen Holz konnte man sogar vom Sofa aus sehen. „Ich mach das“, beruhigte Ginny ihn und zückte den Zauberstab, bevor sie sich um die Beschädigung kümmerte. „Geh du in die Küche.“

Harry wollte nicht gehen, aber es war richtig, seine Hilfe anzubieten. Der Teppich dämpfte seine Schritte. Im Flur hörte man ihn gar nicht mehr. Wieder stand er vor der Besenkammer, die ihn magisch anzuziehen schien. Später hatte er zwar Dudleys zweites Zimmer bekommen, aber diese Kammer war etwas ganz Besonderes. Manchmal träumte er von ihr, fühlte sich darin entweder sicher oder wollte aus ihr ausbrechen. In seinen Träumen sah sie oft ganz anders aus. Einmal hatte die Kammer eine zweite Tür, durch die er in den Gemeinschaftsraum der Gryffindors gelangte. Neugierig hob Harry den Haken aus dem metallenen Loch. Die Tür, nun nicht mehr verschlossen, öffnete sich ohne weiteres Zutun. Drinnen, wie geahnt, standen Putzmittel. Selbst die Kammer war in bestem Zustand, war sauer und ohne Staub oder Spinnweben. Ein Wischmob und ein Besen lehnten an der Wand. Unten standen drei Eimer, alle ineinandergestellt. Ein angebrochener Topf weißer Farbe war im Regal zu sehen. Daneben die gereinigten Pinsel. Als Harry ausgezogen war, hatte er alles, was ihm gehörte, mitgenommen. Von ihm selbst war nichts mehr in dieser Besenkammer, bis auf die Erinnerungen an das Alleinsein, an Ungerechtigkeiten, an Tränen …

„Harry?“
Harry war über seine Tante genauso erschrocken wie sie über ihn. „Tut mir leid. Ich …“ Er schloss die Tür wieder mit dem Haken. „Ich schätze, ich war nur neugierig.“

Als er sie anschaute, bemerkte er als Erstes das Tablett in ihrer Hand, dann eine kleine Veränderung in ihren Augen, doch bevor er näher ausmachen konnte, was sie so anders wirken ließ, nickte sie nur und ging zurück in die Küche. In die Kammer geschaut zu haben war ihm verziehen worden. Harry stählte sich innerlich dafür, seiner Tante das Tablett abzunehmen, das sie offenbar gerade ins Wohnzimmer bringen wollte. Als er die Tür zur Küche öffnete, hörte er ein ganz leises Schluchzen. Sie trocknete mit dem Handtuch, das sie vorhin noch für ihre Hände gebraucht hatte, diesmal die Tränen.

„Tante Petunia?“

Allein bei der Nennung ihres Namens schwang die Frage nach ihrem Wohlbefinden mit. Sie drehte sich um. Die Wangen waren trocken, doch die Augen feuchter als sonst. Sie nickte einmal ruckartig. Abgehackt atmete sie ein. Seine Tante hatte er selten weinen sehen. Meist war es, weil sie sich um Dudley sorgte oder einmal sogar, als sie wichtige Gäste erwartete und irgendetwas in der Küche nicht so ablief, wie sie es sich erhoffte. Als perfekte Hausfrau hatte sie für Harry und Ginny ein paar Häppchen gemacht, die sie im Wohnzimmer auf den Tisch stellen wollte. Harry näherte sich der Arbeitsplatte, an der seine Tante stand.

„Soll ich das reinbringen?“, fragte er mit betroffener Stimme nach. Seine Tante schluckte, holte nochmals Luft und nickte. Sie brachte es nicht fertig, ihm in die Augen zu sehen. Harry nahm das Tablett, aber er machte nur einen Schritt zurück, bevor er etwas tat, was er sonst nur bei seinen Freunden, sogar bei Severus getan hatte, denn er fragte: „Ist alles in Ordnung?“
„Ja“, hauchte sie, als sie ausatmete. „Ich …“ Sie zog die Nase hoch. „Ich finde schön, was du vorhast. Es wäre wunderbar gewesen, wenn jemand schon früher auf die Idee gekommen wäre.“ Dem gequälten Lächeln folgte eine Träne, die Petunia mit einer Hand versteckte und damit überspielte, als wollte sie ihr Haar richten. „Bring das schon rein, ja? Ich komme gleich nach.“

Tante Petunia benötigte noch einen Augenblick für sich selbst und den wollte Harry ihr geben. Als er wieder an der Besenkammer vorbeikam, was das Thema für ihn abgeschlossen. Es war nicht mehr seine. Sie war nur ein Teil seiner Kindheit. Er lebte in der Gegenwart, nicht in der Vergangenheit. Und seine Zukunft saß nicht in der Besenkammer, sondern im Wohnzimmer.

Während sich die Stimmung im Wohnzimmer der Dursleys nach und nach lockerte, verschlechterte sie sich in der Apotheke in der Winkelgasse.

Nachdem Severus sich heute Morgen um die Posteulen gekümmert hatte, dabei herumzeterte, dass es mit dem Federvieh so nicht weitergehen könnte, brachte ihn ein Brief in Rage. Eine Waldohreule überreichte ihm ein Schreiben von der Einrichtung, in der sein Vater stationiert war: Dii Penates. Schon das Frühstück hatte er nicht mit Hermine zusammen eingenommen, weil er ihr vorhielt, sie würde sich in seine Belange einmischen. Sie konnte dagegenhalten, so viel sie wollte. Er glaubte ihr nicht, dass sie keinen Finger krumm gemacht hatte.

Gegen Mittag war die Stimmung nicht gemütlicher geworden. Gordian saß am Labortisch und schrieb eine kleine Abhandlung über den letzten Trank, den er gebraut hatte. Hermine musste damals keine schriftliche Arbeit über den Adlerauge verfassen. Sie war von Severus nebenher mündlich abgefragt worden, aber der hatte wenig Zeit dazu, das mit Gordian ebenfalls so zu handhaben. Die Apotheke hatte den Vertrag mit dem Zoo unterschrieben. Dank Mr. Lyon würden sie es schaffen, 28 Liebestränke für verschiedene Tierarten zu brauen, darüber hinaus elf potenzsteigernde Mittel. Hermine und Mr. Lyon machten kaum etwas anderes, nur Severus musste hier und da in Akten nachblättern und Termine in ihrem dafür vorgesehenen Buch eintragen, damit kein Trank vergessen wurde. Nebenbei kümmerte er sich um die zum Glück eher wenigen Bestellungen der normalen Kunden. Severus war der Einzige, der Unruhe verbreitete. Ständig war er auf den Beinen, sah etwas nach, schrieb etwas auf. Seine schlechte Laune war nicht zu übersehen. Entweder knurrte er irgendwelche Termine an, die in seinen Augen zu knapp bemessen waren oder er verfluchte Schriftstücke, wie zum Beispiel jenes, das er gerade in der Hand hielt.

„Mr. Lyon!“
„Ja, Sir?“
Severus überflog ein Schreiben vom Zoo. „Der Trank für die Schildkröte muss dringend eine Spermien bildende Wirkung haben. Nach den Unterlagen des Veterinärs bringt es sonst überhaupt nichts, das Tier auf das Weibchen loszulassen.“
„Ich bin mit dem Trank schon längst fertig.“
Wieder grummelte Severus etwas vor sich hin, bevor er die Order gab: „Brauen Sie ihn separat! Dann gibt es eben einen Extra-Trank für das Panzervieh.“

Mit ihrem Trank war Hermine gerade fertig. Sie hatte ihn abgefüllt und wollte in dem Terminbuch ihr Zeichen eintragen, da traf sie auf Severus, der ebenfalls etwas ins Buch eintragen wollte. Als er sie anblickte, kniff er die Augen zusammen. Er war noch immer wütend.

„Möchtest du erst ran?“, fragte sie höflich.

Ohne dass er etwas erwiderte, verließ er das Labor, um anderen Dingen nachzugehen. Mit einem Seufzer blätterte Hermine in dem Terminbuch und markierte den nächsten Trank für sich. Er war für Pandabären gedacht. Das hieß, sie musste vorher einige Bücher wälzen, bevor sie den Trank brauen konnte. Entsprechende Bücher befanden sich bereits im Labor. So setzte sie sich neben Gordian und begann, das Inhaltsverzeichnis zu durchstöbern.

„Habt ihr euch gestritten?“, kam es plötzlich von der Seite. Hermines Kopf fuhr herum, sodass sie Blickkontakt mit Gordian herstellen konnte, aber sie erwiderte nichts. Private Themen waren im Labor tabu.
„Gordian“, Mr. Lyon schnalzte mit der Zunge, „nicht doch mit der Tür ins Haus fallen.“
„Es tut mir leid, dass die Stimmung heute so gedämpft ausfällt“, sagte Hermine, die sich nun sicher war, dass ihre persönlichen Differenzen für jeden ersichtlich waren.
„Können wir irgendwie helfen?“, bot Gordian freundlich an.
„Nein …“
Diesmal fiel Mr. Lyon mit der Tür ins Haus, denn er fragte geradeheraus: „Um was geht es denn?“
„Darüber möchte ich nicht …“ Doch, sie wollte mir irgendjemandem darüber sprechen, denn Severus hörte ihr ja nicht zu. „Es geht um einen Brief mit eventuell unangenehmem Inhalt. Er ist der Meinung, ich hätte irgendwelche Hebel in Bewegung gesetzt, dabei habe ich damit überhaupt nichts zu tun. Ich habe mit den Leuten nicht gesprochen, ihnen nicht geschrieben …“
In diesem Moment kam Severus wieder zur Tür herein und hörte ihre Unterhaltung. „Mr. Foster, sind Sie mit dem Essay fertig?“
„Ich …“ Er hatte ihn beim Schwatzen erwischt. „Eigentlich war ich schon vor einer halben Stunde fertig, Sir. Sie sagten aber, mindestens vierzig Zentimeter Pergament. Ich bin gerade dabei, das Ganze mit Füllwörtern zu strecken, denn das Wesentliche habe ich längst …“

Mit flinken Fingern riss Severus ihm das Pergament vor der Nase weg. Ohne einen Blick drauf zu werfen legte er es auf einen Stapel, den er später bearbeiten würde. Severus nahm ein Buch in die Hand, schlug eine Seite auf und legte es aufgeschlagen vor Gordian.

„Lesen Sie das Rezept, die Braumethode und beginnen Sie, Mr. Foster. Ich erwarte, dass Sie vor Feierabend fertig sind. Ansonsten dürfen Sie gern länger bleiben.“
„Ja, Professor Snape.“ Gordians Blick huschte über den Titel. „Veritaserum, Sir?“
„Wie wunderbar! Lesen können Sie zumindest schon einmal.“
Gordian verzog das Gesicht und begann zu lesen, bevor er nochmals aufblickte und seinen Tränkemeister fragte: „Sir, wird der Trank später auch getestet?“ Er hatte nichts dagegen einzuwenden, solche Tränke wie den Adlerauge auszuprobieren, aber Veritaserum könnte peinlich werden.
„Sicher wird der getestet. Vielleicht schon heute Abend.“ Severus schaute Hermine mit böse funkelnden Augen an. „An Miss Granger.“
„Vielleicht sollten Sie Gordian ein Euphorie-Elixier brauen lassen“, wagte Mr. Lyon einzuwerfen, „den Sie heute Abend selbst einnehmen könnten, Professor Snape.“ Den gleichen, finsteren Blick, den er erst Hermine gegönnt hatte, widmete er nun Mr. Lyon. Severus ging auf den Mann zu, der nicht zurückwich und weiterhin seelenruhig den Trank in seinem Kessel rührte.
Als Severus direkt vor Mr. Lyon stand, sagte er mit leiser Fistelstimme: „Mit solchen Frechheiten sollten Sie sich zurückhalten. Sie befinden sich noch in der Probezeit.“
Hermine trat helfend ein: „Den Vertrag mit Mr. Lyon habe auch ich unterschrieben und ich muss auch die zweite Unterschrift leisten, wenn er gefeuert wird.“

Severus ignorierte die anderen und ging seinen eigenen Anliegen nach. Im Terminplaner hatte er einige eben bestellte Tränke eingetragen, die Daphne von Kunden entgegengenommen hatte. Als er mit einem der Tränke für den Zoo beginnen wollte, sah er, dass Gordian noch immer in dem Buch las.

„Wollen Sie das Rezept gleich auswendig lernen, Mr. Foster?“ Erschrocken blickte Gordian auf, sodass Severus anfügte: „Beginnen Sie endlich mit dem Brauen!“

Mr. Lyon machte heute keine Überstunden, was an der Stimmung im Labor lag. Gordian hatte das Veritaserum perfekt gebraut und machte sich ebenfalls pünktlich auf den Heimweg. Severus füllte das frische Gebräu ab, versiegelte es und machte ein Päckchen für das Ministerium fertig, die diesen Trank bestellt hatten. Gleich danach notierte er sich in einem Buch, was Gordian heute geleistet hatte.

Gegen neun Uhr saß Hermine im Wohnzimmer, streichelte ihren Kniesel und las gleichzeitig einen Roman. Als Severus hereinkam, widmete er ihr keinen einzigen Blick. Auch er griff zu einem Buch aus dem Regal und setzte sich Hermine gegenüber. Ohne etwas zu sagen saßen die beiden eine Weile im Wohnzimmer. Severus konnte sich nicht konzentrieren. Der Brief hatte ihn heute Morgen völlig aus der Fassung gebracht. Für ihn war klar, dass Hermine irgendetwas damit zu tun haben musste. Weil er unfähig war, sich auf das Buch zu konzentrieren, klappte er es wieder zu und stellte es wortlos es zurück ins Regal. Bevor er jedoch das Zimmer verlassen konnte, wollte Hermine die Sache geklärt haben.

„Severus, sagst du mir wenigstens, was in dem Brief steht?“
Wie angewurzelt blieb er an der Tür stehen, die Hand an der Klinke. „Tu nicht so!“
„Ich sagte bereits, ich habe keine Ahnung, was die von dir wollen.“

Auf den Hacken drehte sich Severus zu ihr. Er presste die Lippen zusammen, damit ihm keine Beleidigungen entweichen konnten. Sie hörte in schnaufen. Aus der Innentasche seines Gehrocks zog er den Brief samt Umschlag und warf ihn auf den Couchtisch. Kommentarlos verließ er das Zimmer.

Fellini stellte die Vorderbeine auf den Tisch und machte sich lang, um an dem neuen Objekt zu schnuppern. Hermine legte ihr Buch beiseite und nahm den Brief in die Hand. Zuerst sah sie sich den Umschlag an. Der Poststempel von der Eulerei war neu. Bei dem Brief handelte es sich also nicht um eine Nachsendung wie bei jenem Brief, der wegen Nichtzustellung jahrelang im Amt zwischenlagerte. Die Adresse war die der Apotheke, der Absender das Heim Dii Penates. Die Damen und Herren dort kannten also Severus’ neue Anschrift. Sie atmete tief durch und entnahm den Brief, stellte sich dabei vor, wie Severus sich gefühlt haben musste, als er ihn das erste Mal las. Das Logo der Einrichtung war oben auf dem Briefkopf zu sehen. Der Brief selbst war mit einer Feder geschrieben. Leise las sie den Inhalt:

„Sehr geehrter Professor Snape,

es freut uns zu hören, dass Sie nach den wirren Zeiten des Krieges die Ruhe und Muße finden, sich bei uns nach Ihrem Vater zu erkundigen.“

Hermine machte eine Pause. Sie kam nicht drumherum, über diese Aussage zu stutzen. Severus wäre der Letzte, der sich wegen Tobias Snape erkundigen würde. Vielleicht würde sie dem Brief noch einige Informationen entnehmen können, also las sie weiter:

„Wir würden es sehr begrüßen, wenn Sie sich am 22. Oktober in unserem Haus einfinden würden, um mit der zuständigen Sachbearbeiterin ein Gespräch zu führen. Während des Verbleibs Ihres Vaters Tobias Snape sind innerhalb der letzten Jahre einige klärungsbedürftige Ereignisse eingetroffen.“

Klärungsbedürftige Ereignisse? Hermine wusste damit nichts anzufangen. Der Brief sagte nichts aus, nur dass die Dame von Dii Penates mit Severus über dessen Vater sprechen möchte. Der Brief war kurz. Am Ende stand nur:

„Mrs. Commisatio würde Sie gern zu o.g. Termin um 12.30 Uhr im Erdgeschoss, Raum 108, erwarten. Bitte bringen Sie Ihren Zauberstab zwecks Identifikation mit.

Mit freundlichen Grüßen
Leila Smythe
- Magistra der Heilkunde -“

Hermine verstand den Brief zwar, konnte sich aber nicht erklären, wie es dazu kam. Es wäre ihr nicht entgangen, hätte Severus dieser Einrichtung eine Eule geschickt. Außerdem wäre er wegen deren Antwort wohl kaum so außer sich, sollte er sich selbst erkundigt haben. Nein, etwas anderes musste der Anlass gewesen sein. Hatte sich etwa jemand als Severus ausgegeben? Und wenn ja, wer und warum? Nein, dachte sie, das konnte nicht sein. Kaum jemand wusste, dass Severus’ Vater überhaupt noch lebte. Ob Lucius …? Nein, auch dieser Gedanke schien abwegig. Lucius Malfoy würde sich nicht in Severus’ Belange einmischen, außer seinem Freund vielleicht gut zuzureden. Hermine hatte nicht mit Ginny darüber gesprochen, nicht mit Harry, nicht mit Remus. Wer …?

„Oh mein Gott!“ Erschrocken hielt sie sich eine Hand vor den Mund. Kingsley? Die Antwort lag nahe. Ihn hatte sie während der Hochzeit von Remus und Tonks gefragt, warum ein Muggel in eine Einrichtung der Magischen Gesellschaft verlegt worden war. Kingsley war über den alten Mr. Snape zwar informiert, war aber nicht sonderlich mit dieser Angelegenheit vertraut. Dennoch konnte er Hermine erzählen, dass der damalige Minister Scrimgeour für die Verlegung verantwortlich war. Tobias Snape agierte damals als Köder für Severus. Vielleicht, dachte Hermine, nur möglicherweise …

„Kingsley!“, sagte sie laut und klang dabei auch ein wenig echauffiert.

Was Hermine nicht ahnen konnte: Severus hatte zwar das Wohnzimmer verlassen, stand jedoch weiterhin an der angelehnten Tür und beobachtete sie. Alte Gewohnheiten konnte man nur schwer ablegen. Er hörte sie den Namen sagen und fragte sich, was Kingsley Shacklebolt wohl mit Dii Penates zu tun haben könnte. Als Severus bemerkte, dass Hermine sich von der Couch erhob, ging er vorsichtshalber einen Schritt zurück. Durch den Türspalt sah er, dass sie an den Kamin herantrat. Sie rief Kingsley an. Leider hörte er nur ihre Stimme, nicht die des Angerufenen, denn die war zu dumpf.

„Hallo Kingsley, entschuldige bitte die späte Störung.“ Nach einer kurzen Pause sagte sie: „Sag mal, kann es sein, dass du dich wegen der Frage, die ich neulich hatte, an Dii Penates gewandt hast?“

Die Antwort hörte Severus nicht, aber jetzt wurde ihm wenigstens der Zusammenhang klar. Er ahnte, dass Kingsley ihre Frage bejahte, denn er hörte sie seufzen.

„Na klasse“, sagte sie nicht sehr erfreut, „danke für die Auskunft, Kingsley. Guten Abend noch.“

Diesen Moment nutzte Severus, um seine Anwesenheit kundzutun. Er betrat das Wohnzimmer in dem Augenblick, als Hermine vom Boden aufstand.

„Was hat Kingsley mit der Sache zu tun?“
Hermine hob beide Augenbrauen. „Hast du gelauscht?“
Ein Mundwinkel zuckte aufwärts. „Ich habe es zufällig mitgehört.“
„Zufällig“, erwiderte Hermine ungläubig. „Was Kingsley damit zu tun hat, möchtest du wissen?“ Sie ging zurück zur Couch und griff zum Brief. „Neulich habe ich ihn gefragt, warum jemand aus einem Muggelpflegeheim in eine Einrichtung der Magischen Welt verlegt wird. Ich habe ihm gesagt, es ginge um deinen Vater.“ Noch erwiderte Severus nichts, was bedeutete, dass er mehr hören wollte. „Das Ministerium fragt automatisch innerhalb eines bestimmten Turnus nach den Patienten, für deren Kosten sie aufkommen. Offenbar hat sich Kingsley nach meiner Frage dazu motiviert gefühlt, selbst in dem Heim nachzufragen. Er hat denen die Adresse der Apotheke genannt. Dii Penates wird seine Anfrage missverstanden haben. Sie haben wohl geglaubt, du hättest dich bei Kingsley erkundigt, der daraufhin …“
„Kannst du solche Erklärungen auch mal kurzhalten?“
„Nicht wenn ich dir damit unter die Nase reiben kann, dass du mich zu Unrecht beschuldigt hast.“
„Habe ich nicht“, widersprach Severus. „Du hast immerhin mit Kingsley über meinen Vater gesprochen.“
„Das ist so auch nicht ganz richtig. Ich habe meine Frage anfangs allgemein gehalten, aber da sagte er, dass Muggel nicht in unsere Heime kommen. Ich musste deutlicher werden und habe nur deshalb deinen Vater genannt.“
„Ah“, machte Severus unbeeindruckt. „Und was meinst du, soll ich jetzt machen?“ Severus deutete mit einer Hand zum Brief. „Denen zurückschreiben, dass Sie mich nicht mehr belästigen sollen und ich den nächsten Brief erst nach dem Verscheiden meines Vaters erwarte?“
„Meinst du nicht, das ist etwas hart?“
„Nein, das ist noch die sanfte Tour. Die harte Tour wäre es, sollte ich meinen Vater besuchen. Der würde nämlich etwas zu hören bekommen …“
Hermine hielt eine Hand die Höhe, sodass er aufhörte zu reden. „Du musst deinen Vater überhaupt nicht besuchen. Hier drin“, sie nahm den Brief in die Hand, „steht nur, dass eine Sachbearbeiterin mit dir sprechen möchte. Du musst dich nicht mit ihm auseinandersetzen. Nur mit“, Hermine las den Namen ab, „Mrs. Commisatio. Am 22. Oktober um 12.30 Uhr in Zimmer 108. Das ist ein Freitag, Severus. Von der Uhrzeit her passt der Termin wunderbar in unsere Mittagspause. Ich möchte dich gern begleiten.“
„Ich werde aber nicht hingehen!“, machte er ihr klar.
„Soll ich allein hin? Du musst mir nur eine schriftliche Bestätigung geben, dass ich in deinem Namen …“
„Nein!“
„Wenn das mein Vater wäre …“
„Dein Vater“, unterbrach er barsch, „ist aus einem völlig anderen Holz geschnitzt. Den würde sogar ich besuchen.“
„Wie viele Jahre liegen dazwischen?“ Auf Hermines Frage hatte er keine Antwort, denn er wusste nicht, auf was sie hinaus wollte. „Wie viele Jahre lang hast du deinen Vater ausgeblendet, als würde er gar nicht existieren? Und was hat sich in all den Jahren in deinem Leben verändert? Wer hat sich alles geändert?“ Ihm fielen auf Anhieb Harry und Remus ein, die seiner Meinung nach heute völlig andere Menschen waren als früher. Als hätte sie seine Gedanken gelesen sagte sie: „Meinst du wirklich, alle anderen wären plötzlich neue Menschen? Oder kann es sein, dass du derjenige bist, der anders geworden ist? Vielleicht sogar von beidem etwas. Wer weiß das schon?“
„Wenn du mich überreden möchtest …“
Wieder wagte sie es, ihn zu unterbrechen: „Ich habe lange aufgegeben, dich zu irgendetwas überreden zu wollen. Das funktioniert nicht und darüber bin ich mir im Klaren. Was ich nur hoffe, ist, dass du dir mal Gedanken machst. Denk drüber nach. Denk einfach nur drüber nach. Mehr möchte ich gar nicht. Ich hoffe innig, dass der Heiltrank, dessen Rezept wir in mühevoller Kleinarbeit berechnet haben, auch tatsächlich alles in dir wiederherstellen konnte.“

Das traf ihn tief. Ihre Anspielung auf das erkaltete Empfinden durch den Ewigen See und dass es möglicherweise noch immer Stellen in seinem Innern gab, die so eisig wie der bevorstehenden Winter geblieben sind. In Bezug auf seinen Vater schien sie Recht zu haben. Gedanken an den Mann ließen ihn kalt. Möglicherweise war ein Körnchen Wahrheit an dem, was Hermine sagte. Es war viel Zeit vergangen. Severus war kein Teenager mehr, der mit der Pflege seines Vaters überfordert war. Die Ärzte und Schwestern im Muggelpflegeheim hatten seinem Vater sicherlich die Vorliebe für übermäßigen Genuss von Alkohol ausgetrieben. Severus konnte sich nur an wenige Momente seiner Kindheit erinnern, in denen Tobias Snape nüchtern war. So einen Moment gab es gleich nach der Beerdigung seiner Mutter. Das hielt leider nur wenige Monate an. Mehr und mehr lebten sich die beiden auseinander. Als Severus seinen Abschluss in Hogwarts gemacht hatte und den Todessern beitrat, konnte und wollte er seinen Vater nicht mit in die Zaubererwelt nehmen. Es war darüber hinaus keine gute Idee, Tobias Snape sich selbst zu überlassen. Es war leicht gewesen, als bemitleidenswerter 17jähriger den volltrunkenen Vater einzuweisen, bevor sich Severus vollends in die Magische Welt zurückzog. Hermine hatte gefragt, wie viele Jahre dazwischen lagen. Waren es 26 oder schon 27? Severus’ Leben hatte gezeigt, was in viel kürzeren Zeitspannen für Veränderungen eintreten konnten.

Als er unerwartet eine Hand an seinem Unterarm spürte, blickte er hinunter zu Hermine, die auf der Couch saß und ihn zu sich zog.

„Du denkst nach, oder?“, fragte sie scheinheilig. Nachdem er neben ihr Platz genommen hatte, fügte sie hinzu: „Vielleicht benötigen die für irgendetwas nur eine Unterschrift von dir.“
„Ja“, stimmte er zu, „vielleicht ist das notwendig, damit sie die lebenserhaltenden Maschinen abstellen dürfen.“
Im ersten Moment war ihr nicht bewusst, dass es sich um einen seiner finsteren Scherze handelte, doch dann musste sie grinsen. „Du bist böse.“
„Es ist noch Zeit bis zum 22. Oktober. Ich werde es mir überlegen.“ Damit sollte sie beruhigt sein, dachte Severus.
„Ich würde dich gern begleiten.“
„Ich möchte diese Sache gern ohne dich …“
„Mich interessiert das Dii Penates. Habe im Mungos viel darüber gehört. Vielleicht kann ich dort ein paar von unseren Visitenkarten an den Mann bringen, während du mit Mrs. Soundso einen Plausch hältst?“
„Ich halte nie einen Plausch“, grummelte er resignierend.
Hermine tätschelte seinen Unterarm, während sie sagte: „Ich habe mich ein wenig über das Heim erkundigt. Es sind eine Menge Muggel untergebracht. Ich könnte meine Eltern später auch dort … Na ja, ich meine, wenn sie eines Tages Pflege benötigen sollten und ich nicht persönlich für sie sorgen kann, dann könnte ich dort auch einen Platz für sie beantragen.“
„Meine Mutter hat mir erzählt“, Hermine blieb ganz still, weil Severus selten etwas von früher erzählte, „dass sie ihre Eltern zwei Jahre bei sich Zuhause pflegte, bevor sie starben. Das war noch vor ihrer Hochzeit, aber sie kannte meinen Vater bereits.“
„Was hatten deine Großeltern?“
„Das hat sie nie genau gesagt. Vielleicht dachte sie, ich wäre zu jung für das Thema. Ich kannte meine Großeltern nicht, weder mütterlicherseits noch die Eltern von meinem Vater. Ich hatte keine Onkel und Tanten, demzufolge keine Cousins und Cousinen – nichts dergleichen.“
„Die Familie meiner Mutter ist übersichtlich“, warf Hermine ein, „aber die von meinem Vater … Ich glaube, ich kenne nicht einmal alle. Die sind auf der ganzen Welt verstreut. Ein Cousin von ihm wohnt in Neuseeland, eine Cousine in Kanada und ein Neffe arbeitet in der britischen Botschaft in Südafrika. Alle schreiben spätestens zu Weihnachten eine Karte. Und wo wir gerade bei Weihnachten sind“, Hermine holte tief Luft, „am Heiligabend sind wir bei meinen Eltern eingeladen, am ersten Weihnachtsfeiertag bei den Weasleys und am zweiten …“
„Wir haben Oktober“, rief er ihr ins Gedächtnis, „und du verplanst schon Weihnachten.“
Unbeirrt führte sie ihren Satz zu Ende: „Am zweiten Weihnachtsfeiertag hat uns Remus eingeladen, aber das überschneidet sich mit der Einladung von Harry. Jetzt überlegen wir, ob wir das zusammenlegen, uns also mit Remus und Tonks, vielleicht auch“, sie wurde leiser, „mit Sirius“, jetzt sprach sie wieder in normaler Lautstärke, „im neuen Haus von Harry und Ginny zusammenfinden.“
„Habe ich da auch ein Wörtchen mitzureden?“
„Nein“, sagte sie prompt und verkniff sich ein Grinsen. „Ich bin froh, dass ich das alles unter einen Hut kriege. Du machst mir meine Planung nicht kaputt.“
Severus stöhnte, schüttelte danach resignierend den Kopf. „Ich kann es gar nicht erwarten, bis dieses Fest vorüber ist.“
„Ja, und ich weiß auch, warum: Weil danach nämlich gleich dein Geburtstag kommt und …“
„Ich feiere nicht!“ Damit wollte er ihr den Wind aus den Segeln nehmen, doch er scheiterte damit.
„Das sehen eine paar Individuen aber anders.“
„Ich mag keine Überraschungsfeiern, damit das klar ist!“

Hermine rutsche auf der Couch herum, damit sie Severus besser sehen konnte. Mit einer Hand begann sie, seine Weste zu öffnen, was er mit einer hochgezogenen Augenbraue zur Kenntnis nahm. Jetzt versuchte sie es mit weiblicher Verführungstaktik, dachte er. Jeder Knopf wurde durch sein Loch geschoben, während Hermine weiterredete, als würde nichts geschehen.

„Ich kann nicht dafür geradestehen, was andere planen“, wollte sie ihm weismachen. Die Weste war geöffnet, nur war das Hemd darunter an der Reihe. „Wir könnten einer möglichen Überraschungsfeier entgehen, indem wir zum Beispiel zusammen verreisen.“ Drei Knöpfe des weißen Hemdes waren in Bauchhöhe geöffnet. Ein vierter folgte. „Wir könnten nach und nach meine vorhin genannten Verwandten besuchen.“
„Nein, dann lieber Urlaub in einer Berghütte in Tibet.“
„Gern!“

Fünf Knöpfe seines weißen Hemdes waren geöffnet. Ohne großes Drumherum schob Hermine ihre Hand durch das Loch, sodass sie bis zum Handgelenk verschwand. Mit einem Mal presste sie ihre Handfläche auf seinen Bauch.

„Ah!“, schrie Severus auf, griff nach ihrem Handgelenk. „Oh, Gott!“ Er hörte Hermine kichern, als er versuchte, ihre Hand vom Körper zu reißen, ohne das Hemd dabei zu beschädigen. „Du hättest auch einfach sagen können ‚Severus, ich glaube es ist an der Zeit, dass wir die Wohnung wieder beheizen.‘ Deine Hände sind Eisblöcke!“
„Ja, und damit kann man gut Leute ärgern.“

Es hieß, Ärger enthielte für jeden die Chance, die Grenzen der eigenen Toleranz zu erkennen. Die besagte Toleranzgrenze war bei Severus mittlerweile erweitert, bei Lucius hingegen kaum vorhanden. Wenn etwas nicht nach seinen Wünschen ablief, war Duldsamkeit ein Fremdwort für ihn. Das bekam auch der Pförtner vom Panagiotis Genesungsheim am nächsten Tag zu spüren.

„Ich sagte doch, dass die Besuchszeit …“
Lucius zischte den Mann wie eine Schlange an, damit der den Mund halten würde. „Und ich habe Ihnen mehrmals gesagt, dass ich nicht als Besucher hier bin, sondern als Helfer, denn meine Mutter hat den heutigen Tag und die jetzige Uhrzeit für ihren Auszug aus diesem Heim vorgesehen. Nun lassen Sie mich endlich durch, sonst …“
„Aber außerhalb der Besuchszeit …“

Der mit einem silbernen Schlangenkopf verzierte Gehstock landete mit solcher Wucht auf dem Tisch, dass es sogar ein Blatt in dem Buch zerriss, in welchem der Pförtner sämtliche Besucher eintrug. Noch hatte Lucius seinen Zauberstab nicht in eines der dafür vorgesehenen Schließfächer untergebracht. Es juckte ihn in den Fingern, diesem Squib auf magische Weise die Leviten zu lesen.

„Ich lasse Ihnen sogar eine Wahl“, zischte Lucius durch zusammengebissene Zähne. „Entweder lassen Sie mich passieren oder Sie melden mich unverzüglich dem Direktor, damit ich mein Anliegen“, er verzog die Nase, „mit einem kompetenten Ansprechpartner regeln kann.“
Der Pförtner fühlte sich persönlich angegriffen. „Ich bin kompetent!“
„Verzeihen Sie, wenn ich da widersprechen muss. Wären Sie kompetent, hätten Sie längst eine Lösung für das Problem gefunden.“
Der alte Mann ließ die Gesichtsmuskeln an seinen Kiefern spielen, weil er mehrmals die Zähne zusammenbiss, während er nach einer Lösung suchte. „Von mir aus! Geben Sie Ihren Zauberstab ab und gehen Sie rein. Die Schwestern werden sich schon noch um Sie kümmern.“
„Ist das eine Drohung?“, fragte Lucius höflich nach. „Denn wenn ja, werde ich dafür sorgen, dass Sie Ihren Job hier verlieren werden.“ Mit gerümpfter Nase schaute er sich im Pförtnerhäuschen um. „Ich denke nicht, dass Sie jemandem fehlen würden.“
„Ha!“, machte der Pförtner plötzlich. „Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind? Entschuldigen Sie bitte vielmals mein gewissenhaftes Arbeiten, Eure Durchlaucht – oder sollte ich besser sagen, Eure Durchtrieben?“
„Was fällt Ihnen …?“

Es war ein Reflex, der Lucius seinen Zauberstab aus dem Gehstock ziehen ließ. Als er den Pförtner mit ausgestrecktem Arm bedrohte, dessen vor Angst ganz weit aufgerissene Augen sah, fühlte er sich wieder so wie damals: stark, unbezwingbar, überlegen – vor allem aber wertvoller als dieser Dreck, der es wagte, ihm den Weg zu versperren. Ganz unerwartet kam Lucius zu der Erkenntnis, dass ihm diese Pose nicht mehr stand. Im Gegenteil. Sollte jetzt ein Reporter vom Tagesprophet ein Foto schießen, würde einiges in seinem Leben auf der Stelle zerbrechen wie teures Porzellan, nach dem man mit Steinen warf, darunter auch sein eigenes Ansehen, das sich, wenn auch nur zaghaft, ein wenig gebessert hatte. Sein Arm sank. Aus dem Handgelenk holte er aus und für einen Moment wirbelte der Zauberstab in der Luft herum, bevor Lucius ihn am falschen Ende fing – der Schlangenkopf deutete nun zum Pförtner, der nichts zu sagen imstande war. Wortlos schritt Lucius zu den Fächern hinüber und legte seinen Stab und den Gehstock hinein, verschloss die Tür und entnahm die Ziffer für das Fach, um seinen Gegenstände später wieder abzuholen. Mit gelangweilter Miene blickte er den Pförtner an. Da der Mann versteinert schien, ergriff Lucius das Wort.

„Da ich nun meinen Stab vorschriftsmäßig in das dafür vorgesehene Fach gelegt habe …“ Lucius hob den Kopf, damit er arrogant von oben herab auf den Mann blicken konnte. „Dürfte ich nun wohl freundlicherweise passieren?“

Der Pförtner schluckte hörbar kräftig, traute dem Frieden offenbar nicht so ganz. Mit einer Hand deutete er zur Tür. Lucius nickte und ließ den sprachlosen Mann hinter sich. Zum Glück, dachte er, würde er diesen Pförtner nie wieder in seinem Leben zu Gesicht bekommen.

Die Station, auf der seine Mutter ihr Zimmer hatte, war schnell aufgesucht. Im Gang war schon eine Menge los. Viele Menschen standen herum, einige von ihnen hatten ein Glas in der Hand. Aus dem Zimmer seiner Mutter drang Musik durch die offene Tür.

„Darf ich mal bitte vorbei?“ Die Damen und Herren machten Lucius Platz, so dass er sich dem Zimmer nähern konnte. Drinnen war es allerdings brechend voll. Lucius wandte sich ein eine ältere Dame im Morgenrock: „Entschuldigen Sie bitte, ich suche …“
„Lucius, bist du das?“, hörte man eine Stimme in der Menge.
„Mutter?“ Der Blick zum Tisch wurde frei. Seine Mutter saß dort und trank, wie es aussah, ein Glas Champagner.
„Meine Freunde haben eine Abschiedsfeier für mich organisiert. Ist das nicht nett?“

Lucius schaute sich genauer um. Einige ältere Herren waren nur mit einem Schlafanzug bekleidet, bei einem war das Kleidungsstück hinten sogar offen, stellte er mit gerümpfter Nase fest. Andere trugen ihren Morgenrock und wirkten mit ihren ungekämmten Haaren so, als wären sie tatsächlich erst aufgestanden, dabei war es schon Mittag.

„Wirklich nett von deinen Freunden“, kam ihm gequält über die Lippen. „Mutter, ich dachte, du wolltest pünktlich …“ Irgendjemand hielt ihm in dem Gedränge eine Flöte mit Champagner unter die Nase. Er griff nicht zu, wandte sich stattdessen wieder an seine Mutter. „Du bist nicht einmal angekleidet.“
„Das hat doch noch Zeit. Jetzt werde ich mich bestimmt nicht vor all den Menschen umziehen. Setz dich doch.“ Gut gesagt, dachte Lucius, wo doch jeder Stuhl belegt war. „Möchtest du nicht auch einen Schluck zur Feier des Tages?“
Eine tattrige Frau mit grauem, zerfleddertem Haarknoten fragte irritiert: „Was wird überhaupt gefeiert?“
Seine Mutter erkannte alle an der Stimme. „Ich gehe heute nachhause, Gerda. Mein Sohn holt mich ab.“ Sie legte eine Hand auf Lucius Arm. „Ich bin gespannt, was mein Mann sagen wird. Wir haben uns solange nicht mehr gesehen.“

Lucius benötigte einige Augenblicke, in denen er die Worte seiner Mutter in Gedanken wiederholte, und er begriff, dass es einen sehr wichtigen Punkt gab, den er seiner Mutter noch beibringen musste.

„Warum so still, Lucius?“
Er atmete einmal tief durch und sagte sehr ruhig: „Es gibt etwas, das ich dir sagen sollte, bevor wir aufbrechen.“

Die blinden Augen seiner Mutter starrten bewegungslos in die Leere. Einen Moment lang schien sie zu nachzudenken, bevor sie die Gäste ihrer Abschiedsfeier darum bat, sie allein zu lassen. Nach und nach gingen die alten Menschen, die Freunde, bis nur noch ihr Sohn bei ihr war.

„Er will gar nicht, dass ich zurückkomme, nicht wahr?“ Die Lippen seiner Mutter bebten, und er konnte die Enttäuschung in ihrer Stimme ausmachen.
„Nein, so ist das nicht.“
Bevor er ihr die Umstände erklären konnte, schilderte sie die Situation so, wie sie sie für wahr hielt: „Deswegen hat er mich hier nicht besucht. Deswegen habt ihr nicht über ihn gesprochen.“ Sie ließ den Kopf sinken. „Ich war viel zu hasenfüßig, nach ihm zu fragen.“
„Mutter, bitte, lass es mich erklären.“
Sie schüttelte heftig den Kopf. „Nein, ich möchte nicht mit ihm in einem Haus wohnen, wenn er noch immer so wenig von mir hält wie damals.“
„Er ist tot.“ Kurz und schmerzhaft war Lucius’ Meinung nach der beste Weg.
„Wie bitte?“
„Das versuchte ich dir zu erklären. Vater ist schon lange tot, schon sehr, sehr lange. Seit zwanzig Jahren. Ich dachte, du wüsstest das.“
„Seit …“ Fassungslos schüttelte sie den Kopf. „Seit zwanzig Jahren?“ In ihren Erinnerungen war er lebendig. Noch immer.
„Er starb an Drachenpocken, Mutter. In seinem Alter hat er die Krankheit nicht überwinden können.“

Das glaubte man zumindest, auch wenn Lucius mehr und mehr ahnte, dass sein Vater an einer scheußlichen Erbkrankheit zugrunde ging, denn auch er war noch im Krankenbett erblindet, bevor er einige Wochen später starb. Ohne Kontakt zur Familie konnte seine Mutter lediglich die Neuigkeiten erfahren, die in Tageszeitungen abgedruckt wurden. So hatte sie von seiner Inhaftierung in Askaban erfahren – von der ersten und der zweiten –, später auch von der Hochzeit ihres Enkels, Draco. Von ihrem Mann jedoch wusste sie gar nichts.

„In Malfoy Manor“, Lucius ergriff ihre Hand, die zitternd auf dem Tisch lag, „wartet deine Familie auf dich. Deine Schwiegertochter und dein Enkel samt Frau und Urenkel.“
Ihre Mundwinkel bildeten ein sanftes Lächeln, als sie an Charles dachte, den sie bereits kennengelernt hatte. „Ich dachte, er hätte mir wenigstens vergeben.“
„Du meinst Vater?“ Weil seine Mutter nickte, riss er sich zusammen und erklärte: „Es gab nie etwas, das man dir vergeben musste. Komm“, er stand auf und zog seine Mutter mit sich, „zieh dich an. Ich werde eine Schwester bitten, dir zu helfen.“

Der Schreck bei seiner Mutter saß tief, das bemerkte Lucius an ihrer plötzlichen Zerstreutheit. Er war jedoch froh darüber, dass sie mit ihm nachhause kommen wollte. Hätte sein Vater noch gelebt, wäre es undenkbar, sie wieder in der Familie begrüßen zu dürfen.

Die Entlassungspapiere unterschrieb sie mit ihrem vollen Namen: Abélia Estelle Malfoy. Es dauerte einen Moment, bis sich auch alle Schwestern von ihr verabschiedet hatten. Einige versprachen, Kontakt zu ihr zu halten. Mr. Panagiotis persönlich hatte sich eingefunden, um der Langzeitpatientin auf Wiedersehen zu sagen. Das trieb Abélia sogar Tränen in die Augen. Unangenehm wurde es nur kurz beim Pförtner, den seine Mutter tatsächlich mit Vornamen ansprach. So schnell es möglich war, nahm Lucius seinen Gehstock und Zauberstab, um danach mit seiner Mutter vorsichtig zu apparieren. Magie war sie nicht mehr gewohnt, aber sie erinnerte sich natürlich daran, dass sie früher selbst dazu in der Lage war. Sie vermisste die Magie, doch die letzten Jahrzehnte hatten ihr gezeigt, dass es auch gut ohne ging.

In Malfoy Manor war die Begrüßung sehr herzlich. Abélia schilderte, wie sie das Herrenhaus in Erinnerung hatte. Sie war überrascht, als sie erfuhr, dass einiges geändert worden war.

„Der Boden in der Eingangshalle“, begann Draco, „ist nicht mehr dunkel, Großmutter. Zu meiner Hochzeit habe ich mit etwas Hilfe das Haus umgestaltet. Es ist heller und wärmer, überall.“
„Ich kann es mir kaum vorstellen“, seufzte sie. „Es war immer so düster hier. Dein Großvater sagte, es würde den Gästen Respekt einflössen.“
Lucius nahm die Hand seiner Mutter und legte sie um seinen Arm. „Komm, ich bringe dich erst einmal auf dein Zimmer. Es ist dein altes Schlafzimmer.“ Damals waren aus einer alten Tradition heraus die Schlafzimmer der Eltern getrennt, was nicht nur bei den Malfoys der Fall war. „Wir haben es nie benutzt, aber es ist natürlich alles in bestem Zustand.“

Auf dem Weg nach oben ging Lucius langsam. Seine Mutter hielt sich zusätzlich am hölzernen Geländer fest. In ihrem Zimmer vergrößerte er ihre Koffer. Den Inhalt ließ er mit einem Schwung seines Stabes in die Schränke und Kommoden fliegen.

„Ich werde erst einmal in Ruhe meine Sachen auspacken.“
„Das habe ich eben getan, Mutter.“
„Oh“, machte sie etwas enttäuscht. „Ich hoffe, ich finde später auch alles wieder.“
Daran hatte Lucius gar nicht gedacht. „Ich kann es rückgängig …“
„Nein, nein, schon gut.“ Sie seufzte. „Ich glaube, der Alkohol steigt mir zu Kopf. Ich hätte nichts auf nüchternen Magen trinken dürfen.“
„Narzissa und“, Lucius strengte sich an, den Namen über seine Lippen kommen zu lassen, „Susan bereiten das Mittagessen vor. Möchtest du dich etwas frisch machen? Ich würde dich in einer halben Stunde hinunterbegleiten.“
„Das Badezimmer …?“
„Alles noch wie gehabt, Mutter.“
„Gut!“ Erleichtert atmete sie aus. Malfoy Manor, ihr damaliges Zuhause, kam ihr wie neu vor.
„Du wirst dich schnell wieder einleben“, redete Lucius ihr gut zu. „Ich werde demnächst einen Hauself beantragen.“
„Was ist aus dem Letzten geworden?“
„Das, ähm, ist eine lange Geschichte.“ Sofort lenkte er vom Thema ab. „Wenn du irgendetwas brauchst, dann sag uns Bescheid.“
„In den letzten Jahrzehnten sind meine Ansprüche sehr gesunken, Lucius. Ich werde niemandem zur Last fallen.“
„Das tust du nicht. Du bist hier herzlich willkommen.“
Sie nickte langsam. „Darüber bin ich sehr froh. Früher wurde ich behandelt, als hätte ich die Pest, musst du wissen.“ Lucius konnte sich das gar nicht vorstellen. So lauschte er seiner Mutter, als sie sich an damals erinnerte. „Als wäre das, was ich habe, ansteckend. Sie haben mich ans Bett gefesselt, und wenn ich nichts essen wollte, haben sie aus mir eine Stopfgans gemacht.“ Zwangsernährung.

Die Erinnerungen waren so frisch, weil Abélia kürzlich erst alles mit Schwester Marie besprochen hatte. Chronologisch erinnerte sie sich an die Demütigung der Entmündigung, an die Einweisung gegen ihren Willen, die Torturen der vielen Untersuchungen und die Aufgabe jeglicher Selbstbestimmung über Geist und Körper, die die Entmündigung mich sich gebracht hatte. Abélia spürte eine Hand an ihrem Rücken. Sie lächelte. In ihren alten Tagen würde sie das Leben noch einmal in vollen Zügen genießen können. Es war nur schade, dachte sie, dass sie anstatt ihrer Familie nur deren Schatten wahrnehmen konnte. Der Kleinste von ihnen war ihr bereits besonders an Herz gewachsen, und ihren Sohn müsste sie erst einmal kennenlernen, denn der Achtjährige von damals war er schon lange nicht mehr. Durch Zeitungen hatte sie von seiner Ehe mit Narzissa Black erfahren. Dracos Geburtsanzeige hatte sie damals sogar noch mit eigenen Augen sehen können, bevor die Reinblütigkeit ihren Preis forderte.

Eine Doppelseite im Tagesprophet war für private Anzeigen jeder Art vorgesehen. Es gehörte zum guten Ton, beispielsweise eine Hochzeit anzukündigen. Todesanzeigen von Verwandten trafen ebenfalls bei der Anzeigenbearbeitung des magischen Verlags ein sowie Geburtsanzeigen.

Eileen und Tobias Snape zählten damals, genau wie die Malfoys, zu den Personen, die ihre Hochzeit per Zeitungsanzeige bekanntgaben. Auch über die Geburt des Sohnes sollte die Zaubererwelt Monate später informiert werden. Das war ein Anzeichen dafür, dass Eileen Snape, geborene Prince, zu ihrer Entscheidung stand, einen Muggel geehelicht zu haben. Jeder durfte es wissen. Nach Severus’ eigener Aussage hatte er keine Verwandten, die ihm bekannt waren. Aus den eigenen Reihen gab es für seine Mutter also nichts zu befürchten. Lediglich die Engstirnigen würden sie für ihre Wahl verachten. Ihr war es egal gewesen. Entweder war ihre Ehe ein absichtlicher Schlag ins Gesicht der Reinblüter oder aber – und das war wahrscheinlicher – liebte sie ihren Mann von ganzem Herzen. Severus hingegen hatte gelernt, seinen Vater nicht sonderlich zu mögen.

Am Freitag, den 22. Oktober, war Severus wieder einmal schlecht gelaunt, obwohl alles gut lief. Der Bekannte von Mr. Lyon sowie dessen Nichte waren beide bei einem Vorstellungsgespräch gewesen und beide würden im November die Apotheke mit ihrer Kenntnis und ihrem Können unterstützen: Isabelle Lyon und Cyriakus Woodpecker. Aber zuvor, heute, stand das Gespräch mit der Sachbearbeiterin Mrs. Commisatio an. Der Termin war um 12:30 Uhr.

„Musst du wirklich mit?“, blaffte Severus Hermine an.
Die steckte sich gerade ein paar Visitenkarten der Apotheke in den Umhang. „Ich möchte mir die Einrichtung ansehen. Ich verspreche, dass ich nicht ein einziges Mal meinen Mund aufmachen werde.“
„Wird ein wenig dämlich aussehen, wenn du den Leuten mit wilden Gebärden die Visitenkarten in die Hand drückst.“
„Gut, dann anders: Ich kümmere mich nicht um deine Angelegenheiten. Ist das in Ordnung?“

Beide hatten völlig vergessen, dass Ignatius und Gordian anwesend waren. Die beiden hielten wohlweislich den Mund, um die Laune des Chefs nicht selbst abzubekommen. Die beiden tauschten miteinander lediglich Blicke aus. Eine Sache wollte Gordian jedoch geklärt sehen, bevor sein Tränkemeister gehen würde.

„Sir, darf ich eine Frage stellen?“
„Das war bereits eine oder kommt etwa noch eine?“, zischte Severus seinen Lehrling an.
Gordian blieb gelassen. „Ich wollte nur fragen, ob Sie beide in der Mittagspause außerhalb essen oder ob ich für Sie mit kochen soll?“
„Nein, wir speisen außerhalb.“ Severus wandte sich an Hermine. „Bist du endlich fertig?“
„Ja“, bestätigte Hermine und verkniff sich dabei, dass sie nur noch auf ihn wartete.
„Gut, dann sage ich Miss Greengrass Bescheid.“

Hermine folgte ihm nach draußen über den Flur in den Verkaufsraum. Daphne saß hinterm Tresen und bearbeitete mit einer Nagelfeile den Daumennagel. Als Severus das sah, bekam sie eine geballte Ladung angestauter Aggressionen ab.

„Ich bezahle Sie verdammt noch mal nicht dafür, damit Sie sich kosmetisch herrichten!“, meckerte er.
„Nur der eine Nagel, Sir. Den habe ich mir beim Kistenschleppen eingerissen. Sonst bleibe ich nachher noch irgendwo hängen.“ Die Nagelfeile verschwand, und Daphne klappte ohne Umschweife das Buch auf, um ihrer Arbeit nachzugehen – Buchführung.
„Wir sind in etwa gegen 15 Uhr wieder zurück, falls irgendjemand nach uns verlangen sollte“, informierte Severus die Angestellte.
„Ja, Sir. Viel Spaß wünsche ich.“

Es war Hermine zu verdanken, dass Severus wegen der einfachen Floskel Daphne nicht den Hals umdrehte. Am Umhang zog sie ihn zurück in den Flur und schob ihn die Treppe hinauf.

„Willst du das Schreiben mitnehmen?“, wollte Hermine wissen.
„Ich habe mir alle Fakten gemerkt.“
„Könnte doch aber sein, dass jemand es sehen möchte? Ich stecke den Brief vorsichtshalber ein.“

Mürrisch war schon gar kein treffender Ausdruck mehr, dachte Hermine. Severus war, um es mal salopp auszudrücken, geladen. Bei einem Gerät, das elektromagnetische Felder misst, würde die Nadel in Severus’ Nähe momentan höher ausschlagen als mitten in einem Atomkraftwerk. Man sollte ihm nicht zu nahe kommen, dachte sie, denn die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass man eine gewischt bekommen würde. Schon an seiner Miene konnte man erkennen, dass mit ihm nicht gut Kirschen essen war.

Eben jene Miene war ein sicheres Warnzeichen für die ältere Dame an der Rezeption von Dii Penates. Sie blieb höflich, dennoch distanziert und stellte Severus keine unwichtigen Fragen. Lediglich das Schreiben der Leiterin Mrs. Smythe wollte sie sehen, das Hermine zum Glück eingesteckt hatte. Die Dame an der Rezeption – nach der Kleidung zu urteilen eine Hexe –, sah sich das Schreiben an und nickte sich selbst zu.

„Im dritten Stock, Zimmer 222, Mr. Snape.“ Die Frau musterte ihn, als würde sie in Gedanken einen Vergleich ziehen. „Sie können hier rechts den Fahrstuhl benutzen.“
„In dem Schreiben steht Erdgeschoss, Raum 108“, fuhr er die Empfangsdame an.
„Aber Mrs. Smythe möchte Sie sehen, Sir. Sie hat mir extra Bescheid gegeben.“
„Es wäre netter gewesen, mich vorab darüber zu unterrichten.“

Das Schreiben riss er ihr aus der Hand, bevor Severus zu den Fahrstühlen ging. Während sie warteten, schaute sich Hermine um.

„Es ist schön hell hier“, merkte sie an. „Nicht so düster wie manche Abteilungen im Mungos.“ Severus war nicht nach reden zu Mute, also übernahm Hermine diesen Part. „Ist ziemlich wenig los hier im Eingangsbereich.“
Mit öliger Stimme machte er sich über sie lustig, als er sagte: „Mal auf die Uhr gesehen? Es ist Mittagszeit. Was glaubst du wohl, was die Menschen normalerweise um diese Zeit tun?“

Hermine behielt eine Antwort für sich, denn sie wollte ihn nicht noch mehr reizen. Der Fahrstuhl war endlich gekommen und brachte die beiden zwei Stockwerke höher. Zimmer 222 war ausgeschildert und schnell gefunden. Severus hob die geballte Faust und wollte gerade klopfen, da fror er mit erhobener Hand ein.

„Severus?“ Seine Hand ließ er sinken. „Soll ich mit reinkommen?“, bot sie an.
„Ich weiß nicht, ob ich überhaupt hier sein möchte“, gab er leise zu. Am liebsten würde er kehrtmachen. Als er die Hand ein zweites Mal hob, öffnete sich die Tür, bevor er klopfen konnte. Eine Frau mittleren Alters legte sich eine Hand auf die Brust.
„Um Himmels Willen, haben Sie mich erschreckt.“
„Das war nicht meine Absicht“, erwiderte Severus. „Mein Name ist Snape.“
„Smythe“, stellte sie sich vor. „Schön Sie zu sehen.“ Sie schüttelte kurz seine Hand und blickte dann zu Hermine. „Und Sie sind …?“
„Miss Granger.“
Auch Hermine wurde per Handschlag begrüßt. „Dann treten Sie beide doch bitte ein.“
„Nein, danke“, sagte Hermine. „Ich warte lieber draußen.“
Mrs. Smythe nickte, blickte dann zu Severus. „Nach Ihnen, Mr. Snape.“

Im Büro bot die Dame ihm einen Platz an, doch er zog es vor zu stehen.

„Warum bin ich hier?“, fragte er kurz und knapp.
Mrs. Smythe wollte nicht sitzen, während ihr Gast stand. „Es geht um Ihren Vater.“
„Das hätte ich mir denken können“, veralberte er sie. „Warum wollen Sie mich sehen? In dem Schreiben war nur von einer Mrs. Commisatio die Rede. Meine Zeit ist äußerst begrenzt.“ Das sollte ihr vor Augen halten, hoffte er, ihn nicht mit unwichtigen Details zu belästigen.

Auf ihrem Schreibtisch lag das neuste Geschichtsbuch, in welchem auch Severus mit einem Kapitel gewürdigt worden war. Ein Lesezeichen ragte an jeder Stelle heraus, an der sich das Kapitel über ihn sogar befinden müsste.

„Ich wollte Sie nur einmal sehen, Mr. Snape“, gab Mrs. Smythe lächelnd zu.
Absichtlich ließ er seine Gesichtszüge entgleisen. „Sie hätten sich auch ein paar Schokofrösche kaufen können. Eine der ersten Karten trägt mein Bildnis, das Sie ansehen können, wann immer Ihnen danach ist. Wenn Sie mich nun entschuldigen würden?“
Mrs. Smythe war offensichtlich vor den Kopf gestoßen, denn einen Augenblick lang bewegte sich ihr Mund in stillem Protest, bevor sie laut und hörbar gekränkt erwiderte: „Das Ministerium hat die Überwachung Ihres Vaters eingestellt, Mr. Snape. Ich dachte, das sollten Sie wissen.“
„Erzählen Sie mir etwas Neues!“ Weil Mrs. Smythe die Lippen zusammenkniff und nichts mehr sagte, wandte sich Severus der Tür zu. „Dann werde ich jetzt Mrs. Commisatio aufsuchen. Ich kann nur hoffen, dass es sich um etwas Wichtiges handelt.“
„Wir haben Ihren Vater seit vielen Jahren in unserem Haus …“
Er unterbrach gelangweilt. „Kommen Sie auf den Punkt, verflucht nochmal. Zahlt das Ministerium nicht mehr für ihn? Dann schicken Sie mir eine Rechnung!“ Die vielen Beleidigungen, die Mrs. Smythe zum barschen Auftreten ihres Gastes durch den Kopf gingen, konnte man ihr an den Augen ablesen. Severus brachte das, was er in ihrer Mimik sehen konnte, zum Grinsen.
„Auf Wiedersehen, Mr. Snape.“ Mit diesen Worten entließ sie ihn aus seinem Büro.

Draußen wartete Hermine, die in einer Broschüre blätterte. Als Severus auf den Flur trat, steckte Hermine das Informations-Heft in ihren Umhang.

„Das ging aber schnell“, staunte sie.
„Es ging so schnell, wie die Frau gar keinen Grund hatte, mit mir sprechen zu müssen.“ Wütend ging er in Richtung Fahrstuhl und Hermine eilte hinterher.
„Wohin jetzt?“
„Mrs. Commisatio, Erdgeschoss, Zimmer 108.“ Das klingelnde Geräusch des angekommenen Fahrstuhls war zu hören. Die Türen öffneten sich. „Hoffen wir, dass wenigstens die Dame einen Grund hat. Ansonsten hätte ich gut Lust dazu, ihnen eine Rechnung für meinen Arbeitsausfall zu schicken.“

Beide stiegen in den Fahrstuhl ein. Die Empfangsdame schien ebenfalls sehr erstaunt darüber, dass die beiden Besucher so schnell von dem Gespräch mit der Leiterin zurückgekommen waren.

„Ich kann mir nicht im Geringsten vorstellen“, begann Severus, als er ausstieg, „was man sich von meinem Besuch hier verspricht. Meiner Meinung nach kann man alles schriftlich klären.“

Als Hermine an einem weiteren Tisch vorbeikam, auf denen Informationsbroschüren zum Mitnehmen lagen, griff sie kurzerhand in ihre Innentasche und zog einen kleinen Stapel von in etwa zwanzig Visitenkarten heraus. Sie blickte nach rechts, dann nach links und wieder nach rechts, beinahe so, als wollte sie eine Straße überqueren. Als sie sich sicher war, dass niemand zu ihr schaute, machte sie auf dem Tisch direkt in der Mitte etwas Platz und legte die Visitenkarten dort hin.

„Meinst du nicht, man sollte vorher fragen?“
Hermine schüttelte den Kopf. „Sie würden es nicht erlauben. Ich habe gelesen, dass Dii Penates über eigene Zaubertränkemeister verfügt.“
„Ah!“

Um Zimmer 108 zu erreichen, mussten die beiden durch eine Tür und den dahinterliegenden Gang gehen. Unter den Zimmernummern waren Schilder an den Türen befestigt, die den Namen des dort arbeitenden Sachbearbeiters trugen. Mrs. Commisatio, Zimmer 108. Ohne zu zögern klopfte Severus. Man hörte jemanden „Herein!“ rufen. Wie schon zuvor blieb Hermine im Gang und sah sich um, las hier und da etwas und legte Visitenkaten auf einen Tisch im Wartebereich, steckte einige sogar in die Broschüren, so dass der Anschein erweckt wurde, die werbende Beilage hätte seine Richtigkeit.

„Mr. Snape!“, sagte die Dame mit den Lachfältchen an den Augen. Bei ihr fiel es ihm schwer, durchweg mürrisch zu bleiben. Sie stand auf und begrüßte ihren Gast persönlich. „Schön, dass Sie sich die Zeit nehmen konnten, meiner Einladung zu folgen.“ Sie zeigte auf einen gemütlich aussehenden Stuhl. „Nehmen Sie doch bitte Platz. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“
„Nein, danke.“ Diesmal setzte er sich.
Mrs. Commisatio nickte, lächelte dabei freundlich und nahm hinter ihrem Schreibtisch Platz. „Ich habe gelesen, dass Sie die Apotheke von Mrs. Caro übernommen haben.“
„Ja, das ist korrekt.“
„Das ist wunderbar! Es wäre schade gewesen, würde es in der Winkelgasse keinen zuverlässigen und vor allem mehr als nur fähigen Tränkemeister mehr geben.“

Das, was die Frau hier tat, würde Hermine als freundlichen Plausch bezeichnen. Severus hingegen fiel dazu nur eines ein: Mrs. Commisatio schmierte ihm Honig ums Maul. Auf ihre netten Worte erwiderte er nichts. Er kam gleich zum Punkt.

„Sein Sie so freundlich und sagen Sie mir, warum Sie mich vorgeladen haben.“
Mrs. Commisatio schüttelte den Kopf, pflegte dabei ihr Dauerlächeln, das mal breiter, mal subtiler war. „Doch nicht vorgeladen, Mr. Snape. Wir sind hier nicht vor Gericht.“
Das Lächeln würde er schon noch aus ihrem Gesicht entfernen, dachte Severus. „Geht es um die Kosten für den Aufenthalt meines Vaters?“
„Nein, das ist alles geregelt, Mr. Snape.“ Auch sie musterte ihn genau. „Sie sind Ihrem Vater ja wie aus dem Gesicht geschnitten.“
„Das hört sich schmerzhaft an.“
Mrs. Commisatio lachte. „Eine Redewendung der Muggel. Nicht nur Ihr Vater hat hier einige …“
„Um was geht es?“, fiel er ihr ins Wort. Endlich flackerte ihr Lächeln wie eine Kerze, die starkem Wind ausgesetzt war.
Die Sachbearbeiterin griff nach einer Akte, die sie sich bereits zurechtgelegt hatte. „Ich verstehe. Ihre Zeit ist begrenzt“, sagte sie verständnisvoll. Sie blätterte in den Unterlagen. „Um es schnell zu machen: Es geht um eine rechtliche Angelegenheit.“ Mrs. Commisatio erhob sich von ihrem Platz. „Wenn Sie mir bitte folgen würden? Wir müssten zwei Zimmer weiter.“

Im Flur wurde Hermine von Mrs. Commisatio begrüßt, die nicht wusste, dass die beiden zusammengehörten. Hermine beobachtete, wie Severus der Dame folgte, die an Zimmer 110 klopfte. Als die beiden eintraten, war Hermine wieder allein auf dem Flur. Sie stellte sich an eines der Fenster und beobachtete einige Patienten und deren Besucher. Manche trugen Muggelkleidung – Patienten wie auch Besucher. Die Parkanlage war großflächig und sah sehr gepflegt aus. Balsam für die Seele.

In Zimmer 110 stellte Mrs. Commisatio Severus einen Herrn vor.

„Das ist Mr. Pietavo. Er regelt rechtliche Angelegenheiten in unserem Haus.“ Nach der üblichen Begrüßungsprozedur wurde Severus endlich mitgeteilt, worum es ging.
Mr. Pietavo hielt Severus ein Formular des Ministeriums unter die Nase. „Mr. Snape, wenn Sie mit Ihrem Zauberstab bitte bestätigen könnten, dass es sich bei Ihnen um den Sohn von Mr. Tobias Snape handelt?“ Pietavo tippte auf eine bestimmte Stelle. „Einfach einmal die Stabspitze hier …“
„Ich mache das nicht zum ersten Mal!“, fuhr Severus den Mann an.

Schwungvoll und elegant zog Severus seinen Zauberstab, den er, seitdem das dunkle Mal nicht mehr seinen Unterarm verschandelte, wieder im linken Ärmel trug. Severus presste seinen Stab auf die dafür vorgesehene Stelle. Das Stück Papier war magisch mit dem Ministerium verbunden. Wäre er nicht Severus Snape, würde der Stab, der sich seinen Zauberer beim Kauf selbst aussuchte, ein entsprechend falsches Signal abgeben, doch die magische Signatur stimmte.

„Wofür war das gut?“, wollte Severus wissen. Mr. Pietavo schien überaus zufrieden, was Severus misstrauisch werden ließ.
„Das kann ich Ihnen erklären. Ihr Vater will schon seit Jahren seinen letzten Willen schriftlich hinterlegen, wobei ich ihm mit Rat und Tat zur Seite stand. Es gab nur ein winziges Problem.“ Pietavo legte den Kopf schräg. „In der Zauberergesellschaft darf niemand, der beim Ministerium offiziell als vermisst geführt wird, als Begünstigter ernannt werden. Daher nach all den Jahren die eindeutige Klärung Ihrer Identität. Jetzt steht dem Vorhaben glücklicherweise nichts mehr im Wege.“
Severus konnte es kaum fassen. „Und wegen dieser Lappalie musste ich meine Arbeit unterbrechen? Unglaublich!“
„Für Ihren Vater ist es keine Lappalie“, versicherte Pietavo.
„Der Mann hat nichts, das für mich von Interesse sein könnte“, brachte Severus es auf den Punkt.
„Es steht Ihnen frei, das Erbe später auszuschlagen. Sie können ihm jedoch nicht vorschreiben, wie er sein Testament gestalten soll, Mr. Snape“, erklärte Pietavo sehr ruhig, denn er ließ sich durch Severus’ aufbrausendes Verhalten nicht einschüchtern. Womöglich, schoss es Severus durch den Kopf, kam das von dem häufigen Umgang mit Tobias Snape. Das wiederum würde bedeuten, dass Severus nicht nur äußerliche Ähnlichkeiten mit seinem Vater hatte. Und diese Feststellung machte ihn noch wütender.
„Sind jetzt alle zufrieden?“, fragte Severus genervt.
Pietavo nickte. „Ich habe keine Fragen. Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Ein schönes Wochenende wünsche ich Ihnen.“

Mrs. Commisatio begleitete Severus nach draußen. Zum Glück sah die Frau nicht, dass Hermine gerade eine ihrer Visitenkarten an das schwarze Brett pinnte, das im Flur an der Wand hing.

Hermine näherte sich den beiden und stellte sich vor. Mit Mrs. Commisatio kam sie gut zurecht, man war sich auf Anhieb sympathisch. Die drei setzten sich in Bewegung. Mrs. Commisatio nutzte die Gelegenheit für eine Unterhaltung, an der Severus ausnahmsweise mal interessiert war.

„Mr. Snape, Sie als Zaubertränkemeister können mir bestimmt sagen, ob es die Möglichkeit gibt, bestimmte Zaubertränke in Form einer Pille herzustellen.“
Er schlenderte neben ihr her und dachte einen Moment darüber nach. „Bei vielen Tränken wäre es möglich, bei einigen wiederum nicht. Um was genau geht es denn?“

Mrs. Commisatio öffnete die Tür zur Empfangshalle, ging jedoch nicht zum Ausgang, sondern nahm die Glastür gegenüber. Hermine und Severus folgten ihr und lauschte ihren Worten.

„Wir haben einige Patienten aus der Muggelwelt hier, die Medikamente in kapselform gewöhnt sind. Es ist eine psychologische Angelegenheit zu glauben, die Tränke verfügten über keine oder nur wenig positive Wirkung.“
Mrs. Commisatio hielt eine weitere Tür am Ende des Ganges auf. Als Hermine hindurchtrat, sagte sie ein Wort zum Thema. „Es gibt auch in der Muggelwelt einige Patienten, die davon überzeugt sind, dass flüssige Medikamente weniger helfen würden.“
„Ja, so etwas dachte ich mir“, stimmte Mrs. Commisatio zu. „Wir möchten all unseren Bewohnern das Leben so angenehm wie nur möglich gestalten. Das Dii Penates ist in erster Linie eine Einrichtung für betreutes Wohnen. Aber wir behalten auch diejenigen, die mit dem Alter gebrechlich und pflegebedürftig geworden sind. Wir haben zwar eigene Tränkemeister, aber die haben einfach keine Zeit, um über eine Lösung nachzudenken. Mich würde besonders interessieren, ob Stärkungstränke, Aufpäppeltränke oder der Trunk des Friedens so veränderbar sind, dass man sie als Tabletten herstellen könnte.“
Severus nickte. „Einige Versuche wären notwendig, aber unmöglich ist es sicherlich nicht.“ Er fühlte, wie Hermine ihm eine Visitenkarte in die Hand schob. „Sie können uns gern einen Forschungsauftrag erteilen.“ Er überreichte ihr die eben erhaltene Karte. „Wir werden Ihnen einen gerechten Preis machen.“
Mrs. Commisatio nahm die Karte dankend an, warf einen Blick darauf und steckte sie in ihre Brusttasche. „Das ist wunderbar, ganz wunderbar.“

Die Tür, an der die drei zum Stillstand gekommen waren, war nur angelehnt. Mrs. Commisatio klopfte nicht, sondern trat leise herein, während Severus und Hermine vom Flur aus ins Zimmer blickten. Wo sie sich befanden, wussten Hermine und Severus nicht. Sie waren der Frau einfach gefolgt.

Man hörte Mrs. Commisatio laut einen Namen sagen. „Mr. Snape?“
Severus blickte zu ihr: „Ja?“ Zur gleichen Zeit war ein zweites „Ja?“ zu hören.

Severus Herz setzte vor Schreck einen Schlag aus. Jetzt war es soweit, dachte er. Wegzulaufen stellte keine Option dar. Mrs. Commisatio hatte ihn ohne Vorwarnung zum Zimmer seines Vaters begleitet. Er schaute Hermine in die weit aufgerissenen Augen, die ihm zu sagen schienen „Du musst dort nicht reingehen.“ Doch, er musste, stellte er für sich selbst fest. Severus nahm all seinen Mut zusammen, atmete einmal tief durch und ging ins Zimmer.

In einem der beiden belegten Betten lag ein alter Mann mit kurzen, grauen Haaren, dunkelbraunen Augen und unverwechselbarer Hakennase. Eine Hälfte des faltigen Gesichts war offenbar durch einen Schlaganfall unfähig, die erstaunte Mimik der anderen Gesichtshälfte nachzuahmen. Severus erkannte ihn sofort wieder. Sein Vater blinzelte einige Male, als würde er seinen Augen nicht trauen, doch immer, wenn sie sich wieder öffneten, sah er das gleiche Bild.

„Meine Güte!“, sagte Tobias Snape mit rauer Stimme. Nach einer kurzen Pause lachte der alte Mann, zog nebenbei die Bettdecke ein bisschen höher. „Ich hab in meinem Leben ja schon Pferde kotzen sehen, aber du … Hier? Das schlägt dem Fass den Boden aus!“
Mrs. Commisatio wandte sich an Mr. Snape senior: „Ich werde Sie beide dann mal allein lassen.“ An Severus gewandt sagte sie: „Von meiner Seite aus wäre dann alles geklärt. Ich melde mich bei Ihnen wegen der Pillen. Wenn Sie Fragen haben, dann wissen Sie, wo Sie mich finden.“

Severus war nicht dazu in der Lage, irgendetwas zu erwidern. Er schaute Mrs. Commisatio hinterher. Sein Blick traf den von einer besorgt aussehenden Hermine, bevor die Sachbearbeiterin die Tür von außen schloss und ihn mit dem Albtraum seiner Kindheit allein ließ.


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