von Muggelchen
Erst vor vier Jahren erforschten Muggelwissenschaftler der Universität von Iowa die Ursache für eine Ohnmacht nach übermäßigem Alkoholkonsum. Übeltäter waren ein niedriger Blutdruck und zudem geweitete Blutgefäße. Bei der Menge Wein, die Lucius genossen hatte, war sein Körper schon auf dem Weg vom Keller nach oben nicht mehr in der Lage, den Druckunterschied auszugleichen. Die Schwerkraft ließ sein Blut in die Beine sacken, was normalerweise durch einen natürlichen Schutzmechanismus ausgeglichen werden konnte, indem die Gefäße verengt wurden. Der Alkohol hatte diesen Reflex jedoch ausgeschaltet – und somit auch Lucius.
Es waren höchstens drei Sekunden, in denen er langsam in sich zusammensackte – unbemerkt von den Gästen, die sich weiter hinten im grünen Salon aufhielten. Marie hatte nach ihm gegriffen, hatte dafür gesorgt, dass er sich nicht den Kopf stieß. Weitere drei Sekunden lang sah Lucius eine noch nie da gewesene Großaufnahme des dunkelgrünen, handgeknüpften Bordürenteppichs, bevor er das Sehvermögen kurzweilig völlig einbüßte und alles schwarz wurde.
Für einen Augenblick wähnte sich Lucius in seinem Bett, entspannt und friedlich, leicht dösig von der Nacht. Im nächsten Moment hörte er Maries Stimme. Er öffnete die Augen und sah Tisch- und Stuhlbeine aus der Perspektive eines kleinen Haustiers.
Kaum einer der Gäste hatte seine fünfzehn Sekunden andauernde Bewusstlosigkeit bemerkt. Sie alle unterhielten sich dank Narzissa prächtig. Sie war eine der wenigen, die ihren Gatten ständig im Auge behalten hatte und voller Sorge Severus dazu anhielt, unauffällig nach dem Rechten zu sehen, während sie, um Lucius die Blamage zu ersparen, die Gäste ablenkte. Momentan sah man Lucius von Narzissas Position aus gar nicht mehr. Er war hinter dem großen Esstisch verschwunden, ebenso Marie.
An seinem rechten Oberarm fühlte Lucius eine kräftige Hand. Eine weitere griff ihm ungeniert unter die linke Achsel. Schnell und leise hievte ihn jemand auf einen Stuhl. Marie reichte ihm sofort ein Glas Wasser. Sie verhielt sich ruhig, wollte keine Aufmerksamkeit erregen. Nur an ihren Augen konnte man erkennen, dass sie aufgewühlt war, denn sie blinzelte häufig, musterte ihn nervös. Als Lucius trank, waren zwei Hände auf seinen Schultern präsent, die nach Überprüfung all seiner körpereigenen Funktionen nicht zu ihm gehörten. Jemand stabilisierte ihn von hinten. Für alle anderen Gäste müsste es wie eine freundschaftliche Geste aussehen, dachte Lucius benommen. Eine Hand verließ seine Schulter. Als er einen weiteren Schluck nehmen wollte, tauchte eine bekannte Hand mit den gelblich verfärbten Fingern in seinem Blickfeld auf. Aus einem kleinen Fläschchen wurde ihm ungefragt eine durchsichtige Flüssigkeit unters Wasser gemengt.
„Was is’ das?“, fragte Lucius lallend.
Die vertraute Fistelstimme seines Freundes war zu hören. „Davon wachsen dir Eselsohren.“
Lucius lachte und trank danach ohne Murren sein Wasser. „Das hättest du vorhin allen Gästen untermischen müssen. Das hätte sicherlich zur allgemeinen Belustigung beigetragen.“ Der Zaubertrank wirkte schnell. Nach kurzer Desorientierung war Lucius stocknüchtern. „Danke, Severus.“
„Nichts zu danken. Ich habe mich bereits gefragt, wie lange du das durchhalten würdest. Du hast bei Geselligkeiten wie dieser nie über den Durst …“ Severus hielt inne, weil er vor Marie keine persönlichen Informationen preisgeben wollte.
„Es sind ja auch andere Zeiten.“
„Bessere?“
„Kommt drauf an, wer man ist“, murmelte Lucius. Plötzlich erinnerte er sich an das, was Marie gesagt hatte. Er ergriff ihre Hand. „Habe ich das geträumt?“
Marie warf Severus einen unsicheren Blick zu, den Lucius kommentierte: „Er ist mein Freund, gehört sozusagen zum malfoyschen Inventar.“
Hinter ihm schnaufte es leise, was Marie zum Lächeln brachte. Sie holte einmal Luft, bevor sie versicherte: „Sie haben nicht geträumt. Ich möchte Sie aber wirklich nicht aufregen, Lucius. Ich …“
„Wie geht es ihr?“ Seine Unterbrechung nahm er als solche nicht einmal wahr, obwohl er wusste, dass man sein Gegenüber, besonders wenn es so freundlich war, nicht das Wort abschnitt.
„Es geht ihr gut.“ Sie nickte mehrmals heftig, um ihre Aussage zu unterstreichen.
Lucius’ Mundwinkel wussten nicht, ob sie sich nach oben ziehen oder der Schwerkraft nachgeben sollten. So entstand ein nervöses Zittern an der Mundpartie. Er räusperte sich, schürzte seine Lippen erst nach links, dann nach rechts, um die Kontrolle über seine Muskeln wiederzuerlangen.
„Was bedeutet gut?“, fragte er zaghaft nach.
Über sein Interesse war Marie erfreut. „Sie ist sehr fidel, gut zu Fuß und wach im Geist.“
„Sie ist nicht krank?“
Abraxas Malfoy hatte nach der Zwangseinweisung nie wieder von seiner Frau gesprochen, hatte seinem Sohn verboten, jemals die Mutter zu erwähnen. Totgeschwiegen war sie nach Ansicht des damaligen Familienoberhaupts besser dran, vor allem aber würde das Ansehen der Familie Malfoy nicht unter ihrem Gebrechen leiden. Gebrechen.
Seinem eigenen Sohn hatte Lucius erzählt, dass der Großvater die Großmutter weggeschickt hätte. Was hätte er sonst sagen können, dachte Lucius, wo er selbst nicht genau wusste, was ihr widerfahren war oder wohin man sie gebracht hatte.
Als er an seine Mutter dachte, hörte er wieder ihre Stimme. ‚Du darfst Vater nicht sagen, dass es mir nicht gut geht. Es wird bestimmt von allein wieder besser werden.‘ Lucius war erst sieben Jahre alt gewesen, und er hatte das Geheimnis seiner Mutter gehütet. Er verlor kein Wort darüber, dass sie ihr Wollknäuel mit der Hand auflas, wenn es ihr beim Stricken vom Schoß gerollt war, anstatt einen Aufrufezauber anzuwenden. Nicht eine Silbe war über seine Lippen gekommen, als sie beim Arrangieren der Akeleien die teure Vase zerbrach und die Scherben heimlich wegwarf. So sehr sie sich auch bemüht hatte, einen Reparo wollte ihr Zauberstab nicht ausführen. Ihre magischen Fähigkeiten zu verlieren hatte Abélia Estelle Malfoy sehr mitgenommen, aber die Liebe zu ihrer Familie war ungebrochen.
Kein Wort zu niemandem! Dann würde es immer so bleiben wie es war. Nur Kinder konnten so unkompliziert denken. Und Lucius hatte so gedacht.
Ein Räuspern sollte dafür sorgen, dass seine Stimme nicht zerbrechlich klang, als er Marie fragte: „Wie haben Sie sie kennengelernt? Hat sie von mir gesprochen?“
Neugierde zählte zwar nicht zu den Tugenden, aber schon damals, als Severus als Doppelagent arbeiten musste, war das Interesse an Informationen groß. Er blieb hinter Lucius stehen und lauschte, als Marie von Mrs. Malfoy erzählte, von den Akten, die sie im Gorsemoor fand und die sie neugierig gemacht hatten. Severus war immer davon ausgegangen, dass Lucius’ Mutter viel zu früh verstorben war. Ein Schicksal, das die beiden in der Jugend verbunden hatte. Das Treffen mit Lucius’ Mutter schilderte sie sehr kurz und am Ende kam die gewünschte Antwort.
„Ja, sie hat von Ihnen gesprochen, Lucius. Sie hat die Zeitungen verfolgt.“ Marie verschwieg, dass Abélia nicht über alle Neuigkeiten erfreut war, von denen sie erfahren musste. „Sogar von der Hochzeit ihres Enkels hat sie gelesen. Eine Schwester war so freundlich, ihr das Bild zu beschreiben.“
Lucius wollte fragen, doch ein Instinkt stoppte ihn. Sich ein Bild beschreiben zu lassen konnte nur eines bedeuten. Auch er war davon nicht verschont geblieben. Bei ihm hatte jedoch die Therapie im Mungos angeschlagen. Auf sein Augenlicht musste er nicht verzichten. Er hatte Glück gehabt.
„Sie ist blind“, sagte er mit Gewissensbissen. Keine Vermutung. Ein Fakt.
„Ja, aber sie kommt damit wunderbar zurecht“, tröstete ihn Marie.
Trotz der lieben Worte war der Gedanke daran, sich nie zuvor um den Verbleib der Mutter gekümmert zu haben, unerträglich. Jetzt, wo sie greifbare Nähe gerückt war, plagten ihn Schuldgefühle. Sie würde ihn für einen schlechten Sohn halten. Davon ging er aus.
„Ich nehme an, sie möchte mich nicht sehen.“
Seine Mutter war bereits dreißig, als sie Lucius zur Welt brachte. Wie viele Reinblüter hatte sie arge Mühe gehabt, schwanger zu werden – und es zu bleiben. Für acht Jahre war sie seine liebevolle Mutter, bis sein Vater das gut gehütete Geheimnis lüftete und Nägel mit Köpfen machte. Knapp 42 Jahre lang hatte man ihr verwehrt, ein normales Leben zu führen, während ihre Familie sie behandelte, als wäre sie gestorben. Selbst nach Abraxas’ Erkrankung an Drachenpocken und dem darauf folgenden Tod des Familienoberhauptes hatte sich Lucius weiterhin stillschweigend an das Verbot seines Vaters gehalten und die Mutter nie wieder erwähnt.
„Ich weiß nicht.“ Marie hob und senkte die Schultern. „Ich habe ihr nicht gesagt, dass ich Kontakt mit Ihnen habe, Lucius. Soweit ich die Situation einschätzen kann, vermute ich sehr, dass Ihre Mutter den gleichen Gedanken hegt. Auch sie ist der Meinung, dass ihre Familie sie nicht sehen möchte.“
„Hach“, seufzte Lucius laut, ergriff dann plötzlich die Hand an seiner Schulter. „Severus“, Lucius führte Severus um den Stuhl herum, so dass er ihn sehen konnte. „Sag, was würdest du tun?“
„Dabei kann ich dir nicht helfen. Ich kenne keinerlei Details. Bisher dachte ich, deine Mutter wäre schon seit langer Zeit tot.“
Marie bot an: „Wenn Sie möchten, Lucius, können wir einmal ganz in Ruhe darüber reden. Und vielleicht auch überdenken, ob und wie Sie Kontakt zu ihr aufnehmen.“
„Es ist meine Pflicht, nicht wahr? Streichen Sie das Ob und konzentrieren wir uns auf das Wie, aber alles zu seiner Zeit.“
Einen nervösen Lucius bekam man selten zu Gesicht. Sogar in Askaban war er Herr seiner Selbst, aber jetzt trommelte er mit den Fingern auf seinem Oberschenkel herum, atmete schwer ein und aus. Lucius war angespannt.
„Ich werde mich erst einmal meinen Gästen widmen. Mich beschleicht das Gefühl, ich könnte den einen oder anderen vor den Kopf gestoßen haben.“ Als Lucius aufstand und sich umblickte, bemerkte er den besorgten Gesichtsausdruck seiner Frau. Die Falten an der Stirn standen ihr nicht. Mit einem Nicken, gefolgt von einem zuversichtlichen Lächeln zeigte er ihr, dass alles in Ordnung war.
„Willst du nicht dein Geschenk öffnen, Lucius?“ Severus schob das Päckchen, das vor ihm auf dem Tisch lag, näher an seinen Freund heran.
„Oh, sicher. Das hätte ich beinahe vergessen.“
Das Papier war schnell beseitigt, die Mappe geöffnet. Lucius benötigte einen Moment, um den gesamten Umfang des Geschenkes zu erfassen. Die beiden Papiertickets versprachen drei Wochen Urlaub auf Mauritius für zwei Personen, inklusive eines nicht gerade kleinlichen Taschengelds, das man dezent in einem extra Umschlag beigefügt hatte. Lucius zählte nicht zu den Männern, die zu feuchten Augen neigten. Weinen war unmännlich, wenn man Abraxas Malfoy Glauben schenken wollte. Die winzige Träne der Rührung, die sich bilden wollte, blinzelte Lucius schnell weg. Hinter dem Geschenk verbarg sich etwas viel Bedeutsameres. Es war, wenn nicht unbedingt Hochachtung, zumindest Achtung, die seine Familie und Bekannten ihm mit diesem Präsent entgegenbrachten. Kein Schlips, kein Fotoalbum – man hatte sich wirklich Gedanken gemacht. Es lag nahe, dass Narzissa als Ideengeberin zu betrachten war, möglicherweise sogar sein Sohn.
„Das ist doch mal etwas, worauf ich mich freuen kann“, sagte Lucius, als er mit einem Finger über die Tickets strich, die gleichermaßen die Portschlüssel darstellten. „Ein Dank ist das Mindeste, was ich aussprechen sollte.“
Marie und Severus folgten Lucius, der sich mit dem Geschenk in der Hand den Gästen näherte. Einige standen, andere saßen, aber jeder hatte einen Drink in der Hand und fühlte sich zudem sichtlich wohl. Sehr bald waren die Blicke auf Lucius gerichtet. Niemand erwartete etwas Böses. Manch einem lag noch ein sanftes Lächeln auf den Lippen, das während der Unterhaltung mit dem Gesprächspartner entstanden war.
„Ich möchte mich ganz herzlich für diese Aufmerksamkeit bedanken.“ Er hob die Mappe kurz an, damit jeder sehen konnte, was er meinte. „Urlaub habe ich wahrhaftig nötig. Meinem Dank möchte ich eine Entschuldigung für mein vorangegangenes Benehmen anfügen“, sagte er mit einem selbstsicheren Lächeln, denn peinlich war es ihm nicht. „Alkohol lockert bekanntermaßen die Zunge und übt fatalen Einfluss auf die sonst so wichtigen Hemmungen aus.“ Sorgsam legte Lucius das Geschenk auf einen Tisch, bevor er sich erneut an die Gäste wandte und einmal in die Hand klatschte. „Ich bin dennoch für etwas Unterhaltung. Hätten die Herren Lust auf Billard?“
Sirius schaute sich um, fand Blickkontakt mit Remus, aber keiner der beiden äußerte sich. Harry war drauf und dran, die Hand zu heben und „Hier!“ zu rufen, aber er musste sich eingestehen, dass er nicht besonders gut beim Billard war, obwohl er im Schloss Schnatzer von Seamus die wichtigsten Regeln erklärt bekam.
Unerwartet meldete sich Ginny zu Wort: „Ich hätte Lust.“
„Ah“, stieß Lucius hervor.
Er überlegte noch, ob es ein Fauxpas gewesen war, nur die Herren zu fragen, da hörte er Sirius die Frage stellen: „Was ist Morologie?“
„Ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen, werter Cousin“, redete sich Lucius aus dieser unangenehmen Situation heraus. „Aber vielleicht kann ich auch Sie zu einem Spiel überreden?“ Gerade mit Sirius hatte Lucius seine Probleme, aber was konnte schon passieren, wenn man eine Zeit lang mit einem Queue ein paar Kugeln hin und her schob? Zur Not könnte man den Queue auch als Schlagstock nutzen.
„Ich, ähm …“
Sirius war sich nicht schlüssig, dafür aber Remus, der freudestrahlend seine Teilnahme kundtat: „Ich würde gerne mitspielen, wenn man mir die Regeln erklärt.“
Harrys Stichwort. „Ich mache mit, aber ich muss warnen. Ich habe bisher nur einmal gespielt.“
„Wunderbar, dann haben wir schon zwei Teams zusammen. Dann ab ins Nebenzimmer.“ Lucius deutete mit einladender Geste zu einer Tür. „Zuschauer sind herzlich willkommen.“
Der Abend wurde wider Erwarten sehr nett. Narzissa konnte die Familie Bones, Hermine, Anne und Marie doch noch für andere Gesellschaftsspiele begeistern. Die Dame des Hauses hatte ein Händchen dafür, die Gäste so gut zu unterhalten, dass die Zeit wie im Fluge verging.
Sirius zog sich vorsichtig zurück und gesellte sich zu Sid, damit der nicht ganz allein war. Sie redeten, wie sollte es anders kommen, über die Arbeit. Mit einem Ohr hörte Severus aus sicherer Entfernung zu und entschied für sich, dass Duvall der passende Ansprechpartner wäre, wenn er später seinen Bluttrank unter die Leute bringen wollte, oder besser gesagt unter die Vampire.
Als die Gäste spät abends aufbrachen, ging Severus mit zum Kamin, um die anderen zu verabschieden. Auch Hermine wünschte er eine gute Heimreise.
„Du kommst nicht mit?“, fragte sie nach.
„Ich würde gern noch bleiben.“ Um deutlicher zu werden, fügte er hinzu: „Allein.“
„Sicher.“
„Du musst nicht auf mich warten.“
Hermine nickte. Sie presse kurz die Lippen zusammen, bevor sie sagte: „Okay, kein Problem.“
Nachdem die Gäste gegangen waren, entschuldigte sich Susan, um den noch immer von den vielen Leuten und den Geschenken aufgedrehten Charles endlich ins Bett zu bringen. Nur noch Severus, Draco und Narzissa hielten sich beim Geburtstagskind im grünen Salon auf.
„Na, das lief doch alles wie am Schnürchen“, wagte Lucius zu behaupten.
Zwar wollte sich Narzissa die Rüge bis morgen aufsparen, aber der Satz ihres Mannes regte sie auf: „Der Abend verlief alles andere als reibungslos, Lucius. Es wäre nett gewesen, wenn du den Wein in Ruhe genossen hättest, vor allem aber in kleineren Mengen. Mit deinem ondulierten Gang hast du niemanden beeindruckt, und deine Zunge wurde so locker, dass sie getan hat was sie wollte.“ Ihre Wut hielt sie zurück. Trotzdem oder gerade deswegen bebte ihr Körper. „Ich fand es unangenehm.“ Gezwungen legte sie ihre Hände ineinander, um sich zur Gelassenheit zu überreden. „Wenn ihr mich bitte entschuldigen würdet? Ich begebe mich zur Nachtruhe.“
Ihr Mann lief ihr nach. Severus konnte beobachten, wie Lucius seine Frau beruhigte. Es waren zärtliche Gesten, die Lucius anwandte. Ein Streicheln am Arm, das Nehmen der Hand. Es schien zu wirken, wenn man Narzissas sanftes Lächeln so interpretieren wollte. Auf dem Stuhl neben Severus nahm unerwartet Severus’ Patensohn Platz.
„Den Tag gut überstanden, Draco?“
„Ich wünschte, er wäre weniger peinlich ausgefallen, aber ja, ich habe ihn gut überstanden.“ Nach einem Seufzer schilderte er von seiner Frau. „Susan hat es reichlich mitgenommen, so völlig unverhofft an …“ Er ersparte sich zu sagen, dass Susan an das Ableben ihrer Verwandten erinnert wurde.
„Ah, mein Junge!“ Lucius war zurückgekehrt, zauberte sich einen dritten Sessel heran. „Endlich finden wir Zeit für ein echtes Gespräch unter Männern.“
„Ich geh schon“, sagte Draco und stand auf.
„Nein, behalt doch bitte Platz. Ich habe auch dich gemeint.“
„Ich bin müde, Vater. Charles wird mich früh wecken. Der nimmt auf die Uhrzeit keine Rücksicht.“
Mit einem Nicken verabschiedete sich Draco von seinem Vater und von Severus.
„Schade“, sagte Lucius, als er seinem Sohn hinterherblickte. „Es wäre schön gewesen, wenn er uns noch etwas Gesellschaft geleistet hätte.“
Als Lucius sich wieder umdrehte, bemerkte Severus ein spitzbübisches Funkeln in den grauen Augen, das er nur aus Schulzeiten kannte.
„Dann eben nur wir beide, Severus.“ Lucius zauberte zwei Gläser und eine Flasche teuren Whiskys heran.
„Lucius, willst du wirklich …?“
Die Flasche war bereits geöffnet. „Was? Ich bin doch jetzt nüchtern.“
Severus nahm das eingeschenkte Glas entgegen und stieß mit Lucius an. „Auf deinen Fünfzigsten!“
„Ach“, winkte Lucius ab, „stoßen wir nicht auf so etwas Belangloses wie das Alter an. Trinken wir auf …“ Lucius überlegte, kniff dabei die Augen leicht zusammen. „Auf gute Zeiten?“
„Die sind längst eingetroffen.“
„Ja, aber nicht für mich“, sagte Lucius zynisch. Die Gläser klirrten, als er das seine an Severus’ stieß, bevor er einen Schluck nahm.
„Bevor ich es vergesse …“, warnte Severus vor. Mit einer Hand fischte er ein kleines Päckchen aus der Innentasche seines Gehrocks. „Ein Geschenk.“
„Noch eines?“ Sein Glas stellte Lucius auf dem kleinen Beistelltisch ab, bevor er das Päckchen entgegennahm. Sofort entfernte er das Papier und öffnete die Schachtel. Überrascht schnappte er nach Luft, bevor er den Gegenstand behutsam aus dem gepolsterten Boden nahm. „Meine Herren!“, war das Erste, was Lucius aufgrund der Überraschung von sich geben konnte. Den Gegenstand drehte und wendete er. „Eine echte Calabashpfeife? Ich hoffe nicht, du hast dich deshalb finanziell übernommen.“
„Nein, ich fand sie zwischen meinen Sachen, als ich Hogwarts verließ.“
Eine blonde Augenbraue hob sich, und mit einem Schmunzeln stichelte Lucius: „Du schenkst mir Gerümpel?“
„Antikes Gerümpel“, verbesserte Severus mit regungsloser Miene. „Die Pfeife wollte ich ursprünglich veräußern, bis mir ein Sohn von Mr. Burke ans Herz legte, sie lieber an einem Sammler zu verkaufen.“
„Wie bitte?“, fragte Lucius verdutzt nach. „Mr. Burke hat einen Sohn?“
„Zwei sogar, und darüber hinaus sehr ehrliche, sonst hätten Sie meine Unwissenheit ausgenutzt und mich übers Ohr gehauen.“
„Es scheint so, als würde die heutige Jugend nichts mehr von den Eltern lernen.“ Lucius nickte gedankenverloren, bis sein Blick erneut auf die orangefarbene Pfeife fiel. „Wenn du sie bei Borgin & Burke's verkaufen wolltest, dann ist sie …?“
„Schwarzmagisch, ja, aber nur in Kombination mit bestimmten Tabaksorten.“ Severus griff in eine andere Tasche. „Ich habe dir drei besorgt. Des Weiteren habe ich eine Beschreibung zusammengefasst, was der Rauch der Pfeife alles bewirken kann.“
Lucius’ Augen glitzerten wie die eines hellauf begeisterten Kindes. „Das ist interessant, vielen Dank!“ Die Pfeife verstaute er vorsichtig wieder in der Schachtel. „Es gibt nur ein Problem. Sollte mich Narzissa beim Rauchen ertappen, wird sie mir was auf die Finger geben.“ Aus heiterem Himmel wechselte Lucius das Thema. „Ich habe mich noch nie richtig bei dir bedankt, Severus.“
Die ernste Stimme seines Freundes ließ Severus aufhorchen. „Wofür?“
„Dass du dich um meinen Sohn gekümmert hast. Er hätte den Krieg nicht überlebt, wäre er bei mir geblieben.“
Obwohl Lucius erst fünfzig Jahre jung geworden war, klang seine Stimmt mit einem Male verlebt – wie die von einem gebrechlichen Mann, der auf dem Sterbebett einige ehrliche Worte an die Freunde und Verwandten richtete.
„Hatte er es sehr schwer?“ Die grauen Augen fixierten die von Severus und hofften auf eine Antwort.
„Er war sechszehn. Natürlich war es eine schwere Zeit für ihn“, erwiderte Severus ruhig. „Ich riss ihn aus der vertrauten Umgebung. Ich, der Verräter.“
„Hat er dich so genannt?“
„Mehr als einmal.“
„Das tut mir …“
„Muss es nicht. Es entsprach zum damaligen Zeitpunkt der Wahrheit. Und wie du sehen kannst, haben Draco und ich alle Differenzen beseitigt.“
Ein kurzes Schweigen folgte, das Lucius nutzte, um in sein Whiskyglas zu blicken. Möglicherweise würde auf dem Grund des goldbraunen Getränks eine Offenbarung auf ihn warten.
„Es ist die Familie“, sagte Lucius plötzlich. Danach entwich ihm die Luft, als würde eine schwere Last auf seiner Brust liegen. Severus wollte sich nicht die Blöße geben zu gestehen, dass er nicht wusste, wovon der Gastgeber sprach. Vom Whiskyglas löste sich Lucius’ Zeigefinger, mit dem er auf Severus zeigte, um seine Erkenntnis zu untermalen. „Die Familie ist das Wichtigste. Nicht die Macht oder das Geld.“ Die Hand, die das Glas hielt, machte einen halbrunden Schwenker, mit dem er all das abwinken wollte. „Auch nicht das Ministerium und schon gar nicht ein Dunkler Lord. Narzissa hatte immer Recht. Manchmal täte man gut daran, öfter auf seine Frau zu hören.“ Wieder setzte der Zeigefinger mit seiner deutenden Geste ein unsichtbares Ausrufezeichen. „Was meinst du, Severus?“
„Ich meine, dass ich im Gegensatz zu dir noch viel zu viel Alkohol intus habe, als dass ich mich in philosophischen Äußerungen versuchen wollte.“
„Du weichst mir nur aus, mein Freund. Nimm etwas von deiner eigenen Medizin.“ An vorhin erinnert grinste Lucius, als er anfügte: „Ich möchte dich mit Eselsohren sehen.“
„Der Genuss von Alkohol ohne anschließenden Rausch stellt nur die Hälfte des …“
„Du warst“, unterbrach Lucius zwar ruhig, aber mit Bestimmtheit, „und bist der Einzige, den ich ohne Bedenken einen Freund nennen kann. Wenn ich in die Tiefen allen Übels abtauchen musste, hast du dort unten bereits auf mich gewartet. Erschien ich wieder an der Oberfläche, hast du am Ufer gewartet und mir die Hand gereicht. Als Freund ist deine Pflicht, mir zuzuhören …“
„Ich höre zu!“
„… und mit mir zu reden.“
Severus ließ den Kopf nach hinten fallen, und er stöhnte theatralisch: „Merlin, ich hätte doch nachhause gehen sollen.“
„Nimm deinen Trank und werde nüchtern. Ich will mich unterhalten!“
„Und Malfoys bekommen immer, was sie wollen“, beklagte sich Severus, griff aber trotzdem in seine Innentasche und nahm einen der Tränke, von denen Lucius bereits nüchtern geworden war.
Von Neugierde gepackt wollte Lucius wissen: „Was hast du eigentlich alles in deinen Taschen?“
„Das geht dich gar nichts an.“
„Komm schon, pack aus. Früher zählten zu deiner Ausrüstung … Lass mich kurz überlegen: ein Stärkungstrank, ein Felix Felicis“, Lucius tippte sich mit einem Finger auf die Unterlippe, „Weinrautenessenz, ein Trunk des Friedens, Vergesslichkeitstrank, Murtlap-Essenz, Veritaserum … Da war doch noch einer.“ Lucius spitzte die Lippen, bis er drauf kam. „Natürlich! Ich habe zwar nie verstanden, warum du gerade den immer mit dir geführt hast, aber es war der Plappertrank.“
Severus musste grinsen. „Das Resultat eines Vergesslichkeitstrank und eines dazu verabreichten Plappertranks ist äußerst amüsant anzusehen.“ Ausprobiert hatte Severus diese Kombination ein einziges Mal an Pettigrew, der danach so einen Stuss von sich gegeben hatte, dass Bellatrix kurz davor war, ihn mit einem Avada ins Jenseits zu befördern. „Hast du dir über all die Jahre gemerkt, was ich zu welchem Anlass aus meinem Umhang gezaubert habe?“
„Nein, ich habe damals deinen Gehrock untersucht“, gestand Lucius.
„Warum das?“
„Ich war nur neugierig“, erklärte Lucius mit unschuldiger Miene, als würde das seine Handlung rechtfertigen.
Severus schnaufte. „Machst du das noch immer? Die Taschen deiner Gäste durchwühlen?“
„Nicht im Entferntesten, das ist unter meinem Niveau. Damals wusste ich nicht, wem ich noch trauen konnte.“
„Wusstest du es danach?“
„Ja“, kam auf der Stelle. Lucius hatte nicht einmal nachdenken müssen. „Leere deine Taschen“, forderte er nochmals.
Severus kam der Aufforderung nach. Noch zwei Tränke gegen übermäßigen Alkoholgenuss stellte er auf den Beistelltisch.
Amüsiert fragte Lucius: „Sag mal, mit was für einer ausschweifenden Feier hast du denn gerechnet?“
Eine Antwort umging Severus. „Kannst sie behalten. Beide sind ein Jahr lang haltbar.“
Ein Stärkungstrank und ein Trunk des Friedens gesellten sich zu den anderen Fläschchen auf den Tisch. Danach lehnte sich Severus gemütlich in seinen Sessel zurück.
„Was denn, das war alles?“ Lucius klang enttäuscht.
„Hermine ist die Heilerin von uns beiden. Gegen ihre Erste-Hilfe-Tasche komme ich sowieso nicht an.“
Lucius glaubte ihm kein Wort, was der eindringliche Blick sehr klar zum Ausdruck brachte. Severus seufzte und griff ein letztes Mal in seinen Gehrock. Eine Phiole mit einer wasserähnlichen Flüssigkeit lag in seiner Hand.
„Ich wusste es! Du hast Veritaserum bei dir. Hättest mir vorhin etwas geben soll, als ich danach verlangte.“
Severus schüttelte den Kopf. „Ist dir entfallen, dass es vom Ministerium verboten ist, damit leichtfertig zu hantieren? Ich werde bestimmt nicht in Anwesenheit einer Aurorin und der Tochter des Ministers auf einer Party eine Runde Wahrheitsserum schmeißen.“
Lucius lachte aus vollem Hals. „Das wäre aber Feier gewesen, an die sich jeder noch lange erinnert hätte. Hach …“ Er atmete tief durch. „Weißt du noch? Die Spielchen im Gemeinschaftsraum?“
„Meinst du die, an denen ich nur einmal und nie wieder teilgenommen habe?“, fragte Severus mit hörbarer Verachtung nach.
„Ich weiß gar nicht, was du hast. In meinen Augen war das immer sehr unterhaltsam. Ich frage mich, ob die Schüler das noch heute heimlich tun.“
Severus schüttelte den Kopf. „Jedenfalls nicht, als ich Lehrer war. Ich war nie wie Slughorn, der es auf seine eigene Schusseligkeit schob, wenn er Zutaten oder Tränke vermisste.“
„Ach“, Lucius winkte ab, „ich bin mir sicher, dass er es mit Absicht getan hat. Er wollte, dass seine Schüler eigene Erfahrungen sammeln.“
„Das bezweifle ich.“
Seinen Whisky hatte Lucius seit dem Geschenk nicht wieder angerührt, und die paar Schlucke hatten nichts bei ihm bewirkt. „Sag, hättest du Lust?“, fragte Lucius scheinbar zusammenhanglos.
„Auf was?“
Sein reinblütiger Freund hohnlächelte wie damals in der Schule, wenn er eine Dummheit ausheckte. „Auf ein Tröpfchen Veritaserum, natürlich.“
„Schlag dir das aus dem Kopf. Wenn du etwas von mir erfahren möchtest, dann frage mich.“
In seinem Sessel drehte sich Lucius, damit er seinem Freund direkt in die Augen sehen konnte. „Du verstehst mich falsch, Severus. Ich möchte, dass du mir Fragen stellst.“
Die Wahrheit.
Es gab immer verschiedene, niemals eine einzig richtige Wahrheit, wenn es um Betrachtungsweisen ging. Auf die Frage, ob es richtig gewesen wäre, sich Voldemort anzuschließen, hätte Bellatrix unter Veritaserum mit einem klaren Ja geantwortet, Severus hingegen würde verneinen. Das unveränderte Wahrheitsserum konnte jedoch überlistet werden, weshalb das Ministerium zu anderen Methoden und auch zu härteren Tränken griff. Es gab drei Möglichkeiten, Veritaserum abzuwehren. Man könnte eine Flüssigkeit, in dem man diesen Trank vermutete, in etwas anderes verwandeln, bevor man sie zu sich nahm. Das wäre die erste Variante. Die zweite wäre, den Hals magisch zu verschließen, damit die ungebetene Flüssigkeit nicht in den Magen gelangte. Zum Tode konnte dies führen, wenn man den Zauberspruch, der den Hals wieder öffnete, nicht wortlos beherrschte. Die dritte Möglichkeit war jene, die Severus in der Vergangenheit einige Male angewandt hatte. Eine Person, die wie er Okklumentik beherrschte, konnte sich gegen den Trank abschirmen. Lucius sah nicht so aus, als wollte er eine dieser drei Techniken anwenden. Er wollte Veritaserum einnehmen.
„Und was genau soll ich dich fragen?“ Das interessierte Severus momentan am meisten.
„Dir wird schon etwas einfallen.“
„Wohin soll das führen?“
Ungeduldig klopfte Lucius mit der flachen Hand auf die Stuhllehne. „Lügen sind immer kompliziert, nicht wahr?“, zischte er plötzlich gereizt. „Sie sind erbaut auf wackligem Fundament. Je höher man baut und je mehr man hinzudichtet, desto baufälliger wird das Ganze. Es wird knifflig, den Überblick zu behalten. Was ich möchte, ist die Einfachheit der Wahrheit.“
„Aber was für Fragen erwartest du?“
Lucius hatte sie schnell wieder beruhigt. „Ich sagte bereits, dass dir schon etwas einfallen wird.“ Er zeigte mit einem Finger auf die Phiole Veritaserum. „Ein Tröpfchen genügt. Damit kann ich nicht lügen, wenn ich etwas sage.“
„Mit nur einem Tropfen hältst du dir die Option offen, auf manch eine Frage gar nicht zu antworten. Das volle Programm, Lucius, oder wir lassen es bleiben“, stellte Severus klar.
Der Gastgeber nahm sein Gegenüber in Augenschein und überdachte ab, ob er es wagen durfte. „Darf ich damit rechnen, dass du mir keine Fragen stellst, die unter die Gürtellinie gehen?“
Einer von Severus’ Mundwinkeln machte sich selbstständig und wanderte nach oben. „Du kennst mich.“
„Deshalb ja! Versprich es mir: nichts Intimes.“
Severus nickte. „Machen wir zwei Tropfen draus. Damit wirst du nicht gezwungen, alles haarklein zu erklären. Soll ich auch etwas nehmen?“
„Ha, du kannst dich doch dagegen wehren.“
„Ich gebe mein Ehrenwort, dass ich mich nicht gegen die Fragen abschirmen werde.“
Lucius überlegte nochmals, bevor er völlig untypisch für seine Person erwiderte: „Deal!“
Alle Wahrheiten sind leicht verständlich von dem Zeitpunkt an, wo sie aufgedeckt werden. Die Frage ist, ob sie aufgedeckt werden.
Diese Weisen Worte stammten von Galileo Galilei. Im Falle von Lucius wurden sie ans Tageslicht gebracht. Es war eine langwierige, aber notwendige Prozedur. Die Wahrheit aus seinem eigenen Mund zu hören machte sie für Lucius erst präsent, real.
Bei dem Frage-und-Antwort-Spiel unter dem Einfluss von Veritaserum ging es nicht um jugendliche Frivolitäten. Verhört wurde Lucius’ innere Einstellung. Sie stand unter Verdacht, ihre wahre Identität zu verbergen. Severus war sich darüber im Klaren, was Lucius sich von dieser Fragestunde erhoffte. Er wusste sogar genau, welche Fragen er wie zu stellen hatte. Einige von ihnen hatte er in den vergangenen Wochen bereits gestellt, doch Lucius war stets ausgewichen. Diese Möglichkeit war nun nicht mehr gegeben.
Marie und Susan. Severus konzentrierte sich anfangs auf den vermeintlichen Unterschied, den Lucius zwischen den beiden Damen zu sehen glaubte. Lucius durfte nicht länger mit zweierlei Maß messen, dann würde das Leben für ihn erträglicher werden.
Die gegebenen Antworten bezeugten, dass die von Lucius nach außen zur Schau gestellten Ansichten schon lange nicht mehr all seine aktuellen Empfindungen widerspiegelten. Von der heimlichen Wandlung seiner Sichtweise, die schon damals im Krankenhaus durch Susan und besonders durch Marie in Gang gesetzt worden war, hatte Lucius selbst nie Notiz genommen. Verbissen hatte er alles daran gesetzt, seine alten Vorurteile weiterhin aufrechtzuerhalten. Über Unstimmigkeiten wurde großzügig hinweggesehen. Die echten Empfindungen waren über lange Zeit durch Lügen gedeckt worden. Lucius’ Selbsttäuschung war so sehr perfektioniert, dass die ans Tageslicht gebrachten Wahrheiten, die ihm ungebremst über die Lippen kamen, bitter schmeckten.
Das Spiel wurde von zweien gespielt.
Lucius lauschte aufmerksam, wenn Severus eine seiner Fragen beantwortete. Sie halfen ihm zu verstehen, was sein Freund durchgemacht hatte. Vor allem aber öffnete es ihm die Augen, warum Severus die Dinge heute anders sah und mit seiner Situation so gut zurechtkam.
Um einige Wahrheiten reicher, die beiden Männern mit Bestimmtheit eine unruhige Nacht bescheren würden, verabschiedeten sich Lucius und Severus inniger voneinander als je zuvor.
Es war gegen halb fünf Uhr morgens.
Durch das Geräusch des Kamins im Nebenzimmer wurde Hermine geweckt. Severus war nachhause gefloht. Er verhielt sich leise, als er das Schlafzimmer betrat.
„Ich bin wach.“
„Mmmh“, summte er, um ihr zu verstehen zu geben, dass er sie gehört hatte, während er sich auszog.
„Warst du bis jetzt noch mit Lucius zusammen?“
Es war so warm, dass er heute auf das Baumwollnachthemd verzichtete. „Ja, und eine Bitte: Stell mir keine Fragen.“
Hermine setzte sich im Bett auf: „Warum denn nicht?“
„Weil ich Veritaserum eingenommen habe.“ Er fluchte leise, weil er die Antwort nicht hatte aufhalten können.
„Tatsächlich?“
„Ja.“ Severus zog sich im Dunkel des Zimmers eine neue Unterhose an.
„Das verspricht ja ungeahnte Möglichkeiten!“, scherzte sie.
„Hermine, bitte, keine Fragen! Die Wirkung wird morgen verflogen sein.“ Severus legte sich neben sie. Er war hundemüde.
„Vielleicht möchte ich ja die Situation ausnutzen.“
„Dann würdest du mein Vertrauen aufs Spiel setzen. Gute Nacht.“
Natürlich würde sie niemals pikante Fragen stellen, aber ein wenig necken wollte sie ihn doch. „Hast du Lust auf Sex?“
„Nein.“ Empört holte er Luft. „Hermine …!“, warnte er mit mürrischem Tonfall.
Sie lachte und gab ihm einen Kuss auf die große Nase. „Dann schlaf schön.“
Das Trara auf Lucius’ Geburtstagsfeier wurde von niemandem offen angesprochen. Jeder wollte nachsichtig mit dem Mann sein, auch wenn es dem einen schwerer fiel als dem anderen. Am Ende freute oder wunderte man sich über die Postkarte, die zwei Wochen später eintrudelte. Sie wies zwar keine blaue Mauritius auf, stammte dafür jedoch von dieser Insel. Ein schriftliches Dankeschön von Narzissa und Lucius, die das Geschenk eingelöst hatten.
Den Urlaub nutzte Lucius nicht, um sich von der Sonne bräunen zu lassen. Das wäre Verrat an seinen Pigmentzellen. Viel mehr lag ihm daran, sich mit seiner Frau auszusprechen. Wichtigstes Thema war Abélia Estelle Malfoy. Narzissa war aus allen Wolken gefallen, als sie erfuhr, dass die tot geglaubte Schwiegermutter in guter geistiger und körperlicher Verfassung zu sein schien und ihr Leben in verschiedenen Heimen verbringen musste. Einen Entschluss hatte Lucius bereits auf seiner Geburtstagsfeier gefasst. Nach der Rückkehr aus dem Urlaub wollte er seiner Mutter einen Besuch abstatten. Die Zeit auf Mauritius benötigte er, um sich seelisch auf dieses Treffen vorzubereiten.
Zu einer frühen Stunde, zu der manche Menschen gerade erst von ausgelassenen Feiern nachhause wankten, waren einige schon fleißig bei der Arbeit. Dazu zählten Bäcker, wie der in der Winkelgasse, Heiler und Schwestern und natürlich auch Postangestellte.
Ein Ottonormalzauberer ahnte gar nicht, was es für einen Aufwand darstellte, die Briefe und Päckchen von Muggeln in der Zaubererwelt zuzustellen. Möglich war es auf jeden Fall, sonst hätten Muggelstämmige wie Dean und Hermine während ihrer Schulzeit niemals Post von den Eltern erhalten.
Vor genau zwei Tagen war es Petunia Dursley gewesen, die mit einer Postsendung in der Hand unentschlossen an einem der vielen Briefkästen stand. Sie zögerte. Sollte sie den Brief einwerfen, könnte sie ihn nicht wieder herausfischen, falls sie es sich anders überlegen sollte. Er war ausreichend frankiert, sogar ihren Absender hatte sie hinterlassen. Das seltsame war die Adresse des Empfängers: Harry Potter, Hogwarts-Schule. Keine Postleitzahl, keine weiteren Ortsangaben. Die korrekte Bezeichnung der Einrichtung wollte sie nicht auf den Umschlag schreiben. Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei klang für sie noch immer falsch. Petunia wusste, dass der Brief dennoch ankommen würde. Schon durch Lily hatte sie erfahren, dass die Schule bekannt war – in der Welt ihrer Schwester, in der magischen. Jeder Zauberer und jede Hexe wusste von Hogwarts. Wahrscheinlich auch solche Leute wie Mrs. Figg.
Als Petunia an Mrs. Figg dachte, kam diese mit zwei Tüten voller Katzenfutter um die Ecke gebogen. Langsam kam sie auf Petunia zu, schnaufte dabei. Mrs. Figg war nicht mehr die Jüngste.
„Mrs. Dursley, schönen guten Morgen“, grüßte die betagte Nachbarin.
Um die Adresse zu verdecken, hielt Petunia den Brief an ihre Brust. „Guten Morgen.“
Mrs. Figg schaute auf den Umschlag. „Hogwarts?“
In ihrer Nervosität hatte Petunia die Rückseite gegen den Körper gepresst. „Ja.“ Sie schaute sich den eigenen Brief an. „Meinen Sie, der kommt so an?“
Die Katzenfreundin überflog die Adresse und nickte. „Es würde sogar ankommen, wenn nur Hogwarts draufstünde. Dann würde er aber direkt beim Direktor landen.“ Mrs. Figg lächelte, und Petunia strengte sich an, die Freundlichkeit zu erwidern.
„Tja, dann …“
Mit zittriger Hand hielt sie die Klappe geöffnet. Unter den wachen Augen von Mrs. Figg warf sie den Brief ein. Er war weg, irgendwo in diesem metallenen Kasten zwischen unzähligen anderen Briefen. Würde sie ihn jetzt noch aufhalten wollen, müsste sie den Inhalt des Briefkastens in Brand setzen. Erleichtert atmete sie durch. Sie hatte ihre Angst überwunden und Harry nach all den Jahren einen netten Brief geschickt.
„Ich habe gehört“, begann Mrs. Figg, „dass Dudley demnächst nach London reist?“
Über die Ablenkung war Petunia mehr als nur erfreut. „Ja, mit seinem Trainer.“ Ihr Blick fiel auf die schweren Tüten. „Darf ich Ihnen helfen?“
„Oh, das wäre nett. Vielen Dank.“
Die beiden Damen gingen gemächlich den gefegten Bürgersteig entlang und unterhielten sich, während der Brief seine Reise antrat.
Nicht mal eine Stunde später kam ein Angestellter der Post und leerte diesen Briefkasten sowie die anderen in der Umgebung. Zwischen geschäftlicher Korrespondenz, Glückwunschkarten zum Geburtstag, wenigen Liebesbriefen und einem Erpresserbrief – alle Inhalte waren dem Postbeamten natürlich nicht ersichtlich – reihte sich Petunias Brief nach Hogwarts ein. Zusammen mit allen anderen wurde er in einem Auto zum Briefverteilzentrum gefahren und dort entladen.
Im Briefverteilzentrum arbeiteten die Muggel nicht überwiegend mit der Hand. Das würde viel zu lange dauern. Die Anschriften auf den Briefen wurden von einer Maschine gelesen. Wenn jemand beispielsweise zu betrunken gewesen war, um die Adresse ordentlich niederzuschreiben oder wenn der morgendliche Kaffee für eine kräftige Sauerei auf dem Umschlag gesorgt hatte, dann bekam die Maschine Probleme, die Adresse zu entziffern. Aber auch Briefe mit unbekannter Adresse wurden von der Maschine aussortiert, damit die Mitarbeiter der Post sich an ihnen versuchen konnten.
Noch immer war keiner der Angestellten nah genug an den Briefen, um sie in die Hand zu nehmen. Die Briefe mit nicht leserlicher Anschrift wurden videokodiert, damit sie von den Damen und Herren der Post am Bildschirm betrachtet und zugeordnet werden konnten. Hier trennten sich die Wege von dem Brief an Hogwarts, der mit den freundlichen Worten „Lieber Harry“ begann und dem Brief an eine ehemalige Geliebte mit der weniger netten Anrede „Du alte Schabracke!“. Natürlich konnte keiner der Postangestellten in die Briefe hineinsehen. Es ging bisher nur um die pure Adressen. Die krakelige Handschrift auf einem der Briefe wurde von einem der Mitarbeiter am Bildschirm entziffert. Er gab die Postleitzahl per Hand ins System ein. Demnächst würde die Dame, die vom Briefeschreiber mit der ursprünglich türkischen Bezeichnung für Satteldecke beschimpft wurde, ihre Post erhalten und sich wohl weniger darüber freuen. Der Brief an Harry Potter wurde abermals aussortiert, da hier kein bekannter Ort angegeben war und eine Straße komplett fehlte.
Petunias Brief landete Stunden später in der Ermittlungszentrale für unzustellbare Briefe. Kaum einer der Postangestellten wusste, dass in diesem Gebäude Zauberei mit im Spiel war. In der Lagerhalle, in der die angelieferten Briefe kurzzeitig auf ihre Weiterbearbeitung warten mussten, tauschten die magischen Postrollwagen unentdeckt von den Muggeln ihre Briefe untereinander aus. Sie erledigten die gleiche Arbeit wie die Maschine im Briefverteilzentrum.
Hogwarts war den Rollwagen natürlich ein Begriff, ebenso Flourish & Blotts, Gringotts, Minister Weasley oder Muggel wie Anne Black, die in die magische Welt eingeheiratet haben. So kam es, dass einer der Postrollwagen all die Briefe beinhaltete, die an magische Einrichtungen oder an Zauberer und Hexen beziehungsweise deren Lebenspartner adressiert waren. Und genau dieser eine Postrollwagen landete in einem Büro mit insgesamt fünf Mitarbeitern, die allesamt eines gemeinsam hatten. Sie waren Squibs.
„Sagt mal“, begann der schlaksige Squibs mit den abstehenden Ohren, „arbeitet Harry Potter noch in Hogwarts?“ Er beäugte den Brief, der von einer Petunia Dursley stammte.
„Warum sollte er nicht?“, stellte seine Kollegin Doris als Gegenfrage.
„Ich dachte, er wäre vielleicht umgezogen. Er hat doch die Tochter vom Minister geheiratet.“
„Wen?“, fragte die Dame neben ihm, die nur mit einem Ohr zugehört hatte, weil sie Briefe in verschiedene Fächer einsortierte.
„Stand doch in der Zeitung!“
Er nahm die aktuellste Ausgabe des Tagespropheten in die Hand und wedelte damit herum. In genau diesem Moment öffnete sich die Tür und der Abteilungsleiter, Mr. Witherspoon, kam herein. Als der die Zeitung erblickte, schloss er hektisch die Tür hinter sich und wandte sich an den hoch gewachsenen Herrn.
„Sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen?“ Mr. Witherspoon durchquerte eilig das Büro. Das hallende Geräusch seiner Herrenschuhe war zu vernehmen. Dem Angestellten riss er heftig die Zeitung aus der Hand, so dass das Papier knitterte. „Auch wenn Sie in diesem Raum unter sich sind, müssen Sie immer damit rechnen, dass ein Kollege eintritt.“ Jetzt wedelte er mit der Zeitung, aber wesentlich heftiger, weil er wütend war. „Muggel sind bewegte Bilder in Tageszeitungen nicht gewohnt!“ Um das verräterische Objekt loszuwerden, öffnete Mr. Witherspoon die unterste Schublade des Schreibtisches. Es klirrte leise. Der Abteilungsleiter blickte entgeistert auf drei Flaschen Feuerwhisky verschiedener Marken. „Und was soll das bitte?“ Eine der Flaschen nahm er in die Hand und hielt sie dem Angestellten unter die Nase. „Habe ich Ihnen nicht gesagt, dass damit Schluss ist?“
„Die gehört nicht mir! Ich meine, das ist ein Geschenk“, stotterte der Angestellte. „Für meinen Bruder.“
„Ach, und der mag angebrochene Flaschen?“ Enttäuscht stellte Mr. Witherspoon die Flasche wieder in die hohe Schublade, bevor er den Tagespropheten ebenfalls dort unterbrachte. „Das geht so nicht weiter, haben Sie verstanden, Mr. Shunpike?“
Stan senkte das Haupt. „Ja, Sir.“
Als er das, weswegen Mr. Witherspoon eigentlich gekommen war, erledigt hatte, verließ er das Büro. Nach diesem Vorfall sprach Stan Shunpike nicht ein Wort mit seinen Kollegen, die ihm mitleidige Blicke zuwarfen. Den Brief an Harry Potter reichte er an Doris, die ihn in das Fach legte, deren Inhalt später von einem Mitarbeiter der Posteulerei in der Winkelgasse zur Weiterbearbeitung abgeholt werden würde.
Zwei Tage später, an dem Tag, an dem Harry Potter den Brief enthielt, der durch die Hände des Squibs gegangen war, verlor Stan Shunpike seine Anstellung bei der Post.
Harry erhielt ebenfalls eine Postkarte von den Malfoys. Sofort träumte er vom blauen Himmel, dem ruhigen Meer und der warmen Sonne. Seine Hochzeitsreise mit Ginny stand noch aus. Vor der Eröffnung seines Kindergartens wollte er sich diese Auszeit mit Frau und Kind noch nehmen.
Gerade war er dabei, die Post durchzugehen, als Ginny ihn von hinten umarmte und ihm über die Schulter schaute.
„Was für mich dabei?“, wollte sie wissen.
„Nein, tut mir leid.“ Ginny hatte all sein Mitgefühl. Sie fragte jeden Tag nach einem Brief für sie. „Ich möchte mal wissen, was bei Eintracht Pfützensee so lange dauert“, regte er sich solidarisch auf.
„Vielleicht kommt morgen was“, vertröstete sich Ginny selbst.
Ein Brief mit einer Muggelbriefmarke weckte seine Neugierde. Der Absender war der seiner Tante. Nachdem er ihre Zeilen gelesen hatte, wandte er sich an Ginny.
„Meine Tante hat uns eingeladen. Mein Cousin ist zu der Zeit in London und mein Onkel auf Geschäftsreise.“ Murmelnd fügte er hinzu: „Was für ein Zufall.“
„Willst du hin?“
„Ja, warum nicht? Sie war zu unserer Hochzeit recht umgänglich, meinst du nicht?“
Ginny lächelte. „Sie war angetrunken und von Slughorn abgelenkt.“
„Wir besuchen sie auf jeden Fall. Ich weiß, wie viel Überwindung es sie gekostet haben muss, den Brief einzustecken.“
Harry öffnete den nächsten Umschlag. Der war dicker als alle anderen.
„Schau mal, unsere Besitzurkunden zum Grundstück und zum Haus.“ Zwei gefaltete Papiere klappte er auf. „Und das Wassergrundstück ist auch genau eingezeichnet. Mann, ist das groß!“ Harrys Augen bekamen einen kindlich begeisterten Blick. „Kaufen wir uns ein Boot?“
„Wenn du mir versprichst, dass du damit nicht untergehst.“
„Beim Baden ist mir das Schiffchen jedenfalls nie abgesoffen.“
Mit einer Hand wuschelte Ginny in seinen Haaren. „Kauf gleich ein größeres Boot, mindestens für vier Personen.“
Lächelnd wandte er sich der restlichen Post zu. Bei einem Brief zog Harry beide Augenbrauen in die Höhe.
„Ich glaub’s ja nicht. Endlich!“
„Was?“
„Ein Brief von Gringotts.“ Eilig öffnete er ihn.
„Das ist bestimmt eine Absage“, bereitete sie ihn auf eine mögliche Enttäuschung vor. „Die Strafe dafür, dass du den Kobolden drei Tage lang auf den Geist gegangen bist.“
Wie so oft in den letzten Tagen verteidigte er sich. „Ich sehe nichts Falsches darin, für das, was ich haben möchte, ein bisschen zurückzustecken.“
„Zurückstecken? So etwas nennt man auch jemandem in den Hintern kriechen“, ärgerte sie ihn.
Als Ron davon erfuhr, dass sein Freund drei Tage lang die Bank belagert hatte, meinte er nur „Du spinnst!“. Von Severus hatte er sich auch einiges anhören müssen, besonders aber von Draco, der felsenfest der Meinung war, die Kobolde hätten sich mit Harry den längsten Scherz ihres Lebens erlaubt. Selbst Remus, der sonst in allen Lebenslagen seine Freunde ermutigte, selbst bei schier aussichtslosen Unterfangen, äußerte zögerlich, dass sich Harry nicht so viele Hoffnungen machen sollte. Hermine setzte noch einen oben drauf, denn auch sie war der Meinung, dass er keine Chance hätte, die Geschäftsräume in der Winkelgasse zu erhalten. Sie hatte extra recherchiert, hatte Kopien gemacht und sich Informationen notiert, nur damit sie ihre Meinung mit Fakten untermauern konnte, die sie ihm nicht nur sinnbildlich um die Ohren hauen konnte. Sie fand heraus, dass in den 122 Jahren, in denen das Gebäude bereits in den Händen der Bank war, nur ein einziger Mensch vertraglich als Mieter aufgeführt war. Es handelte sich dabei um niemand anderen als Perpetua Fancourt, die sich vor 83 Jahren im zarten Alter von 21 mit ihrer Erfindung, dem Lunaskop, in der Winkelgasse selbstständig machte. Das Geschäft behielt sie nur zwei Jahre, bevor sie den Mietvertrag kündigte und sich ausschließlich dem Versandhandel per Eule widmete. Diese Informationen waren nicht motivierend, selbst für Harry nicht. Mit einem Schmollmund entfaltete er den Brief.
„Was schreibt Gringotts?“, hörte er Ginnys neugierige Stimme.
Aus einem Gefühl heraus rechnete er mit einer Zusage. Andererseits konnte es nicht sein, dass all seine Freunde mit ihren Gefühlen falsch liegen sollten. Den Brief las er zweimal, weil dort etwas anderes stand als erwartet. Langsam wurde die Information von seinem Gehirn an die Lachmuskeln weitergetragen, was sich in einem breiten Grinsen niederschlug.
„Was glaubst du?“, fragte er Ginny.
„Sag schon!“
„Die Winkelgasse gehört mir!“, verkündete er stolz, riss dabei triumphierend beide Arme in die Höhe.
„Was denn, die ganze Winkelgasse?“
„Ach, du Spaßbremse weißt genau, wie ich das meine.“
Ginny drückte ihn, bevor sie ihm den Brief aus den Händen nahm, um ihn selbst zu lesen. „Gratuliere, Harry!“
Sein Grinsen wollte nicht vergehen. „Und jetzt nimmst du das mit dem in den Hintern kriechen zurück.“
„Das tu ich nicht!“, sagte sie vorgetäuscht ernst. „Die haben nur nachgegeben, weil du sie genervt hast.“
„Hab ich nicht!“
„Doch! Das ist wie mit kleinen Kindern, wenn sie plärren und heulen, um etwas zu bekommen. Irgendwann hat man genug und gibt ohne Rücksicht auf erzieherische Maßnahmen nach, weil man einfach seine Ruhe haben möchte.“
„Echt?“ Harry grinste fies. „Klappt das bei dir auch?“
„Nein, ich bin gegen Bettelei immun“, behauptete sie mit ernster Miene.
Immer wieder blickte Harry auf den Brief. Er konnte es nicht fassen und musste sich vergewissern, dass er sich nicht verlesen hatte.
„Ich gehe zu Draco“, verkündete er voller Stolz. „Soll ich Nicholas mitnehmen, damit du deine Ruhe hast?“
„Der ist doch mit den Elfen bei Hagrid.“
Mit einem Male war Harrys Gesicht ernst. Er blinzelte durch die Brille hindurch, die nur aus Fensterglas bestand. „Bei Hagrid?“
„Ja, er sagte, er hätte flauschige, niedliche Tiere zum Streicheln.“
„Mmmh“, machte Harry und presste skeptisch die Lippen zusammen. „Ich kenne seinen Streichelzoo. Hagrid hat nichts Flauschiges und Niedliches. Jedenfalls nichts, das auf meiner Kuschelskala steht.“
„Nicholas hat einen Krake zum Freund“, erinnerte seine Frau ihn freundlich lächelnd.
„Stimmt auch wieder. Willst du vielleicht mit zu Draco?“
„Bloß nicht! Nicht wegen ihm, aber das geschäftliche Geschwafel ist nichts für mich. Ich langweile mich ja schon, wenn ich nur daran denke.“
Um jenes geschäftliche Geschwafel, wie Ginny es nannte, ging es auch in der Winkelgasse. Die Magische Gesellschaft hatte sich nach dem Krieg soweit erholt, dass die Galleone wieder eine stabile Währung darstellte. Des Weiteren liefen die Geschäfte gut. Die Leute hatten Geld und waren in der Stimmung, es auszugeben.
Am Frühstückstisch blätterte Severus in den Unterlagen, die die Einnahmen und Ausgaben der Apotheke aufführten. Die Handschrift von Daphne war ordentlich und sah beinahe noch genauso aus wie damals in der Schule. Als Severus die Gewinne der letzten Wochen durchging, stellte er eine Sache fest. Er hielt Hermine, die gerade in ihr Marmeladenbrötchen biss, die Seite unter die Nase.
„Wir sollten Miss Greengrass eine Gehaltserhöhung geben. Leisten können wir es uns offenbar.“
Hermine nahm das Blatt entgegen und blickte auf die wichtigen Zahlen, kaute dabei den Happen weiter, bis sie ihn schlucken konnte. „Ich hab durchaus gemerkt, dass es rapide aufwärts geht. Kann man aber nach ein paar Monaten schon sagen, dass es so bleiben wird?“
„Kann man. Ich war so frei und habe einigen Unternehmen einen dreijährigen Partnervertrag schöngeredet. Sie haben ohne zu Murren unterschrieben.“
„Partnervertrag?“, fragte Hermine nach.
Severus nickte. „Du weißt, dass unter anderem Hogwarts zu unseren Kunden zählt.“ Hermine nickte. „Das Genesungsheim von Mr. Panagiotis beliefern wir jetzt ebenfalls. Außerdem habe ich einige der frei praktizierenden Heiler kontaktiert, selbst die feinen Pinkel hier in der Winkelgasse.“
„Die kaufen alle bei uns?“
„Was habe ich denn eben gesagt?“, stellte Severus etwas grimmig als Gegenfrage. „Ich bin noch am Gorsemoor dran. Das Mungos können wir allerdings vergessen. Die haben ihre eigenen Tränkemeister.“
„Das Gorsemoor doch auch, oder nicht?“
„Ja, aber für Aufträge, die über einen Abschwelltrank hinaus gehen, suchen sie sich in der Regel jemand anderen. Ich nehme an, es hat mit der langen Brauzeit zu tun, die manch komplizierte Tränke mit sich bringen. Ich habe mich erkundigt. Das Gorsemoor beschäftigt nur einen Tränkemeister und der braut nicht nur für alle Patienten die Mittelchen, sondern fungiert zudem als Lehrer für die Auszubildenden. Man muss nur eins und eins zusammenzählen, um zu dem Schluss zu kommen, dass er völlig überlastet ist.“
„Denkst du auch daran“, Hermine gab ihm das Blatt zurück, „irgendwann zu expandieren?“
„Möglicherweise?“ Das Blatt heftete er wieder in den Ordner zurück, auf dessen Rücken ganz dick Buchführung stand. „Meinst du, zwanzig Galleonen mehr die Woche wäre für Miss Greengrass angemessen? Sie ist immerhin unsere einzige Verkäuferin, kümmert sich zusätzlich um den Wareneingang, die Buchführung um Bestellungen, um …“
„Ich weiß, was sie alles leistet“, unterbrach Hermine. „Sie schreibt sich nicht einmal die Überstunden an. Vielleicht sollten wir lieber überlegen, ob wir eine Teilzeitangestellte hinzuziehen. Eine, die wirklich nur verkauft. Dann hat Daphne mehr Freiraum.“
Severus schüttelte den Kopf. „Nein, ich spiele eher mit dem Gedanken, einige Tränkemeister einzustellen.“
„Was denn, gleich einige?“
„Wir brauchen keine zweite Verkäuferin, wenn wir beide mit der Arbeit gar nicht nachkommen.“
Das klang logisch, dachte Hermine, weshalb sie nickte. „Wie viele?“
„Ich dachte an zwei Tränkemeister mit etwas Berufserfahrung. Zusätzlich werde ich Mr. Foster ausbilden. Letzteres mache ich nicht uneigennützig. Ich hoffe darauf, dass er nach der Ausbildung bei uns bleibt. Wenn auch nur für ein paar Jahre.“
„Neben Gordian noch zwei Tränkemeister?“
Severus nickte. „Vorerst, ja. Halt es dir doch mal vor Augen. Das würde bedeuten, dass wenigstens du immer Zeit hättest, dich um etwas völlig anderes zu kümmern. Selbst ich werde Mr. Foster nicht ständig auf die Finger schauen müssen, nur bei den prüfungsrelevanten Tränken.“
„Wie dem Adlerauge“, fiel ihr sofort ein.
„Genau“, stimmte er zu. „Auf diese Weise werden wir Zeit für eigene Projekte haben. Dein Farbtrank ist bisher noch in der Testphase, aber wenn dieses Produkt erst einmal vermarktet wird, müssen wir uns gar keine Gedanken mehr machen.“
„George hat neulich, als wir das Geld weggebracht haben, gefragt, ob sie den Farbtrank in einer neuen Süßigkeit verarbeiten können.“
„Siehst du? Ich hoffe, du hast zugesagt. Das wäre wieder eine Gelegenheit, die eine langjährige Partnerschaft und regelmäßige Einnahmen verspricht.“
Hermine nickte. „Ich glaube, ich weiß langsam, auf was du hinaus möchtest.“ Er wartete auf ihre Erklärung und die gab sie ihm. „Du willst irgendwann nur noch andere arbeiten lassen und dich selbst deinen Projekten widmen.“
„Unseren Projekten“, verbesserte er mit ungewohnt sanfter Stimme. „Ich möchte noch vor meinem Ableben die Erinnerungen von dem Alchimist durchgehen. Da könnte etwas Interessantes bei sein.“
„Ach ja, die haben wir ja auch noch“, murmelte Hermine gedankenverloren.
„Mit unserem kombinierten Potenzial auf dem Gebiet der Forschung werden wir mit Sicherheit einige Neuheiten entwickeln. Allein durch die Patente würden wir uns dumm und dämlich verdienen. Je mehr Geld reinkommt, desto größer die Chance, eines Tages zu expandieren. Eine Filiale in Hogsmeade, eine in …“
„Wow, Severus.“ Hermine wedelte mit ihrer Hand. „Wann hast du dir diese Pläne ausgedacht?“
„Vor dem Schlafengehen“, erwiderte er, als wäre es völlig normal. „Wir haben dank Harrys kleinem Hochzeitsumtrunk zwanzig Jahre Leben und vor allem Lebensqualität geschenkt bekommen. Wir beide sollte uns bemühen, das Beste daraus zu machen.“
„Du möchtest erreichen“, vermutete Hermine, „dass wir uns so bald wie möglich zurücklehnen können.“
„Ja, zumindest in dem Sinne, dass wir nicht mehr arbeiten müssen, um leben zu können, sondern um uns und unsere Ideen zu verwirklichen. Den größten Sprung möchte ich innerhalb eines Jahres erzielen, nämlich dass die Apotheke auch laufen würde, ohne dass wir selbst brauen.“
„Dann müssen wir aber richtig ranklotzen. Warum schon in einem Jahr, Severus? Das ist etwas knapp bemessen.“
„Weil wir heiraten werden.“
Den Sinn dahinter verstand Hermine nicht. Ob mit oder ohne Ring am Finger – es würde sich ihrer Meinung nach nichts an ihrem gemeinsamen Leben ändern.
„Das ist doch kein Grund.“ Mit einem Male fiel ihr etwas ein. Neugierig fragte sie: „Oder hast du vor, zeitig eine Familie zu gründen?“ Hermine bemerkte, dass ihre Wangen warm wurden.
„Nein, und du?“, fragte er unsicher zurück.
„Nicht sofort, nein. Irgendwann“, sie nickte, „ja.“ Sie sah lediglich, wie er kräftig schluckte. Ein unangenehmes Kribbel breitete sich in ihr aus. „Und wie sieht es bei dir aus? Irgendwann?“
„Ich weiß nicht. Im Moment muss ich ehrlich sagen, dass ich mich nicht in der Vaterrolle sehen kann.“ Als er sich traute, ihr in die Augen zu blicken, sah er dort die Hoffnung bröckeln. „Ich bezweifle, ein guter Vater zu sein, aber andererseits weiß ich, dass du eine gute Mutter sein wirst.“
Genau wie bei den Snapes, dachte er. Und das war kein vorbildliches Elternhaus gewesen.
„Da gehören aber zwei zu, Severus.“ Sie räusperte sich, damit die trübe Stimme verschwinden würde. „Würdest du mir glauben, wenn ich sage, dass du bei Charles und Nicholas für deine Verhältnisse sehr tolerant bist?“
„Für meine Verhältnisse?“
„Ich meine damit, dass du immer sagst, Kinder von anderen würden dir nichts bedeuten. Dafür kommst du mit den beiden aber wunderbar zurecht.“
„Ich …“ Es würde nichts bringen dagegenzuhalten. „Ich habe genug Zeit, mich mit dem Gedanken anzufreunden. Solange ich mich nicht sofort entscheiden muss.“
„Nein, auf keinen Fall.“ Diesmal klang sie erleichtert. „Das ist nichts, was man mal eben“, sie schnippte mit den Fingern, „übers Knie brechen sollte. Bei Ginny und Susan war es zum Beispiel gar nicht geplant und sie kommen dennoch gut zurecht. Von Remus und Sirius weiß ich aber, dass sie planen.“ Hermine grinste. „Sie wollen in etwa zur gleichen Zeit für Nachwuchs sorgen. Sirius und Anne warten nur noch, bis das Gesetz in Kraft tritt und dann …“
„Merlin, verschone mich mit solch dämlichen Wettbewerben.“
„Ich war übrigens auch geplant“, beteuerte Hermine kopfnickend. „Meine Eltern haben gewartet, bis die neue Assistentin eingearbeitet war. Und als die Praxis ohne meine Mutter lief, kam neun Monate später ich.“
„Ich könnte wetten, du hast im Mutterleib schon Bücher gelesen. Über Geburtsvorbereitungen, damit du weißt, wie du dich als Säugling verhalten musst, wenn du auf die Welt kommst.“
„Ha, das ist ulkig. So etwas Ähnliches hat mein Vater immer gesagt.“ Sie holte Luft, als wäre ihr gerade eben etwas eingefallen. „Wo ich gerade von ihm rede. Er will heute vorbeikommen und mit dir reden.“
Severus stöhnte. „Und worüber?“
„Weiß ich nicht.“
Nach dem Frühstück ging es ins Labor. Daphne war wie immer früher da, um die Regale aufzufüllen.
Kurz vor der Mittagspause, als Hermine sich fertigmachte, um mit George die ersten Einnahmen von heute und des Rest von gestern zur Bank zu bringen, fand sich ihr Vater ein. Joshua Granger sprach nur kurz mit ihr, wandte sich dann an Severus.
„Joshua, wie kann ich Ihnen helfen?“
Hermines Vater schaute sich stolz in der gut sortierten Apotheke um, bevor er Severus ansah. „Könnten wir unter vier Augen …“
„Aber sicher“, unterbrach Severus und wies den Weg.
In der Küche setzte Severus einen Kaffee auf, nachdem er Joshua einen Platz angeboten hatte.
„Es geht um Hermine“, sagte der Schwiegervater in spe, der sich diesmal in der Küche umblickte. Die Räume hatte er bisher nur einmal gesehen und das war, als er sich mit Hermine und seiner Frau die Apotheke von Mrs. Cara zeigen ließ. „Sie haben sich hier sehr gemütlich eingerichtet“, kommentierte Joshua die warmen Farbtöne von Boden und Wänden, die hölzernen Schränke und die Essecke, die gerade von ihm in Beschlag genommen wurde. „Es sieht nicht mehr so aus wie aus dem letzten Jahrhundert.“
„Hermine war für die Innenausstattung verantwortlich.“
Severus hoffte, somit weitere inhaltslose Gespräche über das Innendesign zu vereiteln. Er selbst hatte nie einen Finger krumm gemacht, weil es ihn nicht interessierte, wie die Räume aussahen. In diesem Sinne war er eher praktisch veranlagt. In einer Küche musste man kochen und essen können. Alles andere war zweitrangig.
Von dem Kaffee, der bereits durchgelaufen war, schenkte Severus zwei Tassen ein. Eine davon reichte er Joshua, bevor er sich ihm gegenübersetzte.
„Danke, Severus. Bevor Hermine zurückkommt …“ Nach einem Spritzer Milch, den er seinem Kaffee hinzufügte, sagte Joshua: „Haben Sie eine Idee, was sie sich zum Geburtstag wünscht?“
Severus behielt die Information für sich, dass er an Hermines Geburtstag bis jetzt gar nicht gedacht hatte und erwiderte stattdessen: „Ich befürchte, mir fällt auf die Schnelle nichts ein.“ Oh, doch, da war plötzlich ein Gedanke an ein Gespräch mit Hermine. „Sie sprach neulich davon, dass sie gern nach Tibet reisen würde. Der Chinesische Raupenpilz hat es ihr angetan.“
„Tibet“, wiederholte Joshua verträumt, bevor er schnaufte. „Warum nicht einfach mal ein hübscher Pullover LeComte oder eine Tasche von Pussy Deluxe?“
„Pussy?“
Joshua schlug sich auf die Schenkel. Die Entscheidung war gefallen. „Dann also eine Reise nach Tibet.“ Von seiner Tochter hatte er offenbar nichts anderes erwartet. Er grinste. „Designerklamotten kommen eben nicht gegen Raupenpilze an.“
„Das ist wohl wahr“, stimmte Severus zu. „Ich kennen keinen Trank, in dem ein Pullover als Zutat dienlich ist.“
Joshua musste lachen. „Wann würde es denn passen? Ich nehme an, Sie reisen mit ihr?“
„Momentan können wir uns nicht leisten, die Apotheke allein zu lassen, geschweige denn, für eine Woche zu schließen.“
„Oh, dann muss ich mir etwas anderes überlegen? Schade, meine Frau und ich hätten ihr wirklich gern eine Reise geschenkt. Haben Sie eine andere Idee? Wir sehen Hermine nicht mehr so häufig und haben daher keine Ahnung von ihren aktuellen Interessen.“
„Wenn alles so klappt, wie ich es plane“, begann Severus nachdenklich, „wäre eine Reise zwischen Weihnachten und Neujahr möglich.“
„Was planen Sie denn, wenn ich fragen darf?“ Joshua nahm einen Schluck Kaffee und blickte Severus über den Rand der Tasse hinweg an.
„Zwei verlässliche Tränkemeister einzustellen.“
„Das rechnet sich auch? Die Apotheke ist doch noch nicht so lange ihn Ihrem Besitz.“
Nur leicht zog Severus beide Augenbrauen in die Höhe, was darauf hindeutete, dass er sich der Sache sicher war. „Der Vorteil dieser Apotheke ist, dass jedermann sie kennt. Wir haben nicht nur Mrs. Caras Kundenstamm übernommen, sondern auch einen neuen hinzugewonnen. Es sind aber nicht nur die Laufkunden, von der die Apotheke profitiert. Ich bin dabei, einen festen Kundenstamm aufzubauen, darunter große Einrichtungen. Finanziell steht jetzt bereits nichts im Wege, zwei oder drei Angestellte mehr zu beschäftigen.“
Mit gespitzten Lippen nickte Joshua, hob dabei selbst die Augenbrauen. „Das hört sich gut an. Demzufolge geht es der Apotheke bestens?“
„Das kann man so sagen, ja.“
„Das freut mich, Severus. Ich weiß, dass es schwer ist, sich in die Selbstständigkeit zu stürzen. Halten Sie mich auf dem Laufenden? Ich meine, wenn sich die Zeit zu einem Urlaub finden sollte. Dann bekommt Hermine eben ein verspätetes Geschenk.“
„Das kann ich gern tun.“ Die Zeit, bis Hermine wiederkam, musste Severus mit Smalltalk vergeuden. „Sagen Sie, wie können Sie“, als Muggel, dachte Severus, „eigentlich die Winkelgasse betreten?“
„Tja, das war anfangs ein kleines Problem. Aber Hermine war so nett, mich mit Tom bekanntzumachen, dem Wirt. Ein netter Mann. Er öffnet mir die Backsteinmauer. Zurückzukommen ist ja kein Problem, wenn ich erst einmal hier bin.“
„Waren Sie schon häufiger hier?“
Joshua schüttelte den Kopf. „Früher, vor jedem neuen Schuljahr. Sonst nicht. Heute bin ich das erste Mal allein hier. Ich bin extra früher hergekommen, um mir mal in Ruhe ein paar Geschäfte anzusehen. Wirklich interessante Dinge, die man hier kaufen kann.“
„Und Sie hatten nie Probleme?“
„Inwiefern?“
Severus legte den Kopf einmal nach links, dann nach rechts. „Mit den anderen Leuten, die hier in der Winkelgasse ein- und ausgehen. Sie sind für jeden als Muggel zu erkennen.“
Erstaunt schaute Joshua an sich herab, bevor er lächelte. „Das hat mir die Dame in dem Bekleidungsgeschäft auch gesagt. Sie hat mich geradezu ausgefragt. Offenbar hat sie nicht häufig Besuch von Muggeln, die ohne magische Begleitung unterwegs sind.“
„Davon können Sie ausgehen.“
In diesem Moment hörte man, wie jemand sich im Flur der Küche näherte. Zum Glück war alles Relevante geregelt, was Hermines Geschenk betraf. Sie trat auch gleich in die Küche ein.
„Papa! Gut, dass du noch da bist. Ich habe Kuchen besorgt. Möchtest du ein Stück?“
„Klar! Ist das irgendwas Besonderes? Hüpft mir das Stück vom Teller?“, fragte er mit einem Schmunzeln.
Hermine lachte. „Nein, das ist ganz ordinärer Bienenstich und man versicherte mir, dass er nur so heißt.“ Als sie das Kuchenpaket abstellte, bemerkte sie den Kaffee. „Oh, schön! Dann ist ja alles fertig.“ An der Tür rief Hermine nach Daphne. „Kommst du?“
„Sofort!“
Manchmal wurde Daphnes Einsatz mit einem Essen belohnt, für das sie natürlich nichts bezahlen musste. Heute bekam sie Kaffee und Kuchen.
In der Küche nickte Daphne nochmals dem Herrn zu, den sie vorhin nur flüchtig gegrüßt hatte.
„Ich habe mich gar nicht vorgestellt.“ Als Daphne Joshua die Hand entgegenhielt, erhob er sich höflich von seinem Stuhl. „Ich bin Miss Greengrass, Daphne Greengrass.“
„Habe die Ehre“, grüßte er gut gelaunt zurück. „Joshua Granger.“
Während des Essens bemerkte Joshua, dass die junge Dame ihn häufig betrachtete. Er sprach es ungeniert an.
„Habe ich gekleckert?“, scherzte er.
Ertappt hielt sie sich eine Hand vor den Mund. „Entschuldigen Sie, ich habe nur selten mit Muggel zu tun gehabt.“
„Ah“, machte er verständnisvoll. Ähnlich hatten auch Hermines Freunde reagiert, wenn sie während des Krieges in seinem Keller Pläne schmiedeten. „Haben Sie Fragen? Ich beantworte sie gern.“
„Was arbeiten Sie?“, kam wie aus der Pistole geschossen. Daphne war neugierig.
„Ich bin Zahnarzt.“ Sie brauchte gar nicht nachzufragen. „Ein Arzt ist so etwas wie ein Heiler“, erklärte er, weil er genau wusste, wie ihre nächste Frage ausgesehen hätte. „Und ich kümmere mich zusammen mit meiner Frau um den gesamten Bereich der Zähne samt Ober- und Unterkiefer.“
„Oh, ich dachte, ein Arzt ist für alles verantwortlich.“
Das Gespräch am Tisch fand fast ausschließlich zwischen Daphne und Joshua statt. Severus war froh, dass er sich nicht äußern musste, während Hermine manchmal einige Gesprächspunkte für Daphne „übersetzte“, weil sie nicht alle Muggelwörter verstand. Begriffe wie Zahnspange und Wurzelbehandlung waren ihr völlig fremd. Joshua wurde am heutigen Tag nicht von Hermine, sondern von Daphne zurück zum Tropfenden Kessel begleitet, damit er wieder die Charing Cross Road in der Muggelwelt betreten konnte.
Spät am Abend, als Hermine und Severus mit allen Tränken fertig waren, setzten sie sich einen Augenblick ins Wohnzimmer, anstatt wie üblich müde ins Bett zu fallen.
Hermines Blick fiel auf den ungeöffneten Umschlag, der auf dem Couchtisch lag. Sie nahm ihn in die Hand, wedelte Severus damit wie mit einem Fächer Luft zu und sagte: „Es gibt drei Möglichkeiten: du öffnest ihn, ich öffne ihn oder du wirfst ihn weg.“
„Interessiert dich so sehr, was darin geschrieben steht?“
„Nein, mich stört, dass er so lange schon auf dem Tisch liegt. Also …?“ Sie hielt ihm den Brief entgegen, aber er nahm ihn nicht. „Soll ich ihn öffnen?“
„Du kannst ihn wegwerfen.“
„Oh, nein!“ Hermine warf ihn zurück auf den Tisch. „Wenn es ums Wegwerfen geht, dann ist das deine Angelegenheit. Und wenn dich nicht interessieren sollte, was drin steht, dann frage ich mich, warum du ihn nicht längst ins Feuer geworfen hast.“
„Weil wir zu dieser Jahreszeit den Kamin noch nicht entzündet haben.“
„Du weißt ganz genau, wie ich das meine. Werde nicht spitzfindig.“
„Dann mach ihn auf“, stimmte er letztendlich zu. Sie schaute ihn einen Moment lang fragend an. „Na, wird’s bald!“, drängte er.
Endlich, dachte sie. Der Brief hatte sie gestört. Nicht nur als Ding, das nutzlos auf dem Tisch herumlag, sondern auch als Hürde, die Severus bisher nicht zu nehmen wagte. Alles, was seinen Vater betraf, war noch immer eine heikle Angelegenheit. Tobias oder Eileen Snape machten selten den Inhalt eines Gesprächs aus, obwohl es von Hermines Seite aus nicht an Fragen mangelte.
Der Brief, der jahrelang in einer Eulerei als unzustellbar zwischengelagert wurde, war schnell geöffnet und gelesen. Sie selbst konnte die dort gegebene Information nüchtern betrachten, weil sie Severus’ Vater nicht persönlich kannte.
„Sehr geehrter Mr. Snape,
aufgrund der Schließung des Pflegeheims „Paulinehaus am Quell“ möchten wir Sie davon in Kenntnis setzen, dass Ihr Vater, Tobias Snape, in die Einrichtung „Dii Penates“ umziehen wird. Die Kosten für den Aufenthalt werden nicht mehr von der National Insurance übernommen.
Für weitere Informationen wenden Sie sich bitte an die unten genannte Adresse von „Dii Penates“.
Mit freundlichen Grüßen,
J. Holcomb
- Heimleiterin - “
Hermine war sich nicht bewusst darüber, den Brief laut gelesen zu haben. Erst Severus’ Stimme machte sie darauf aufmerksam.
„Ich habe nie eine Rechnung von denen erhalten!“, sagte er irritiert. „Sie werden ihn doch nicht auf die Straße gesetzt haben?“ Er riss ihr den Brief aus der Hand und überflog ihn selbst. „Warum haben die nie wieder geschrieben?“
„Vielleicht haben sie und der Brief ist diesmal wirklich im Krieg verschütt gegangen. Was mich nur wundert: Warum ist er nach Dii Penates gekommen?“
„Haben Sie doch geschrieben. Das Heim wurde geschlossen und die Bewohner umgesiedelt.“
„Ja, das habe ich gelesen, aber mit Sicherheit sind nicht alle dorthin verlegt worden. Das ist nämlich eine Einrichtung für Betreutes Wohnen.“
„Dann heißt das“, kombinierte er vorsichtig, „er hat sich erholt und benötigt keine Rundumpflege mehr.“
„Mmmh“, stimmte Hermine summend zu. „Das heißt aber auch, dass das Zaubereiministerium für die Kosten der Unterkunft aufkommt. Dii Penates ist nämlich eine Einrichtung der Magischen Welt.“
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