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Fanfiction

Harry Potter und die Schatten der Vergangenheit - In vino veritas

von Muggelchen

„Warum nimmst du nicht den Kamin?“, fragte Ginny.
„Weil ich mich nicht lächerlich machen möchte, falls ich auf meinem Hintern lande und das auch noch vor Malfoy senior. Nein, ich appariere lieber.“
„Grüß Draco und Charles von mir. Ich gehe mit Nicholas ein wenig raus, vielleicht zu Hagrid.“
„Viel Spaß euch beiden.“ Mit einem Kuss verabschiedete sich Harry von Frau und Kind.

Vor den Toren Hogwarts’ apparierte er mit einem Zwischenstopp. Harry fand sich in der freien Natur wieder. Im Juli blühte die Glockenheide, die der großflächigen Wiese um ihn herum einen zartrosa Teint gab. Als er sich umdrehen wollte, wäre er beinahe gefallen. Seine Füße steckten im Moor fest.

„Verflucht nochmal!“ Nur eine Apparation befreite ihn, ansonsten wäre er verloren gewesen. Harry Potters Leiche hätte man eventuell Jahrhunderte später im trockengelegten Moor beim Torfstechen entdeckt. Was für ein Ende für den Held der Magischen Welt.

Vor dem Anwesen der Malfoys putzte er mit Hilfe seines Zauberstabes die Kleidung, um keinen schlechten Eindruck zu hinterlassen. Den Weg durch den Garten genoss Harry. Die Rhododendronbüsche – größer als er – blühten in allen möglichen Farben: weiß, rot, lila. Hier und da müssten sie mal beschnitten werden, aber dem farbenfrohen Anblick tat das keinen Abbruch. Es fiel auf, dass der Garten nicht so gepflegt war wie man es von einem Anwesen dieser Größe – vor allem aber von einer Familie mit so großem Vermögen – erwartete.

An der Tür klopfte Harry. Draco erwartete ihn, weshalb Harry fest damit rechnete, von ihm hereingebeten zu werden. Stattdessen öffnete Mr. Malfoy – Lucius Malfoy. Er hielt die neuste Ausgabe des Tagespropheten in der Hand und blickte an seiner langen, geraden Nase auf den Gast herab.

„Ah, Mr. Potter.“ Die Freude war geheuchelt. „Sind Sie etwa wegen der Stelle“, er wedelte mit der Zeitung, „als Haushälterin gekommen?“
Harry grinste. Er beherrschte das Spiel auch. „Ja, freilich! Ich kann ganz gut kochen, putzen und bestens mit Kindern umgehen.“

Das unechte Lächeln auf Lucius’ Gesicht blieb bestehen, als er darüber nachdachte, wie er kontern konnte.

„Vater, wer ist an der Tür?“, hörte man Dracos Stimme fragen, bevor er in Harrys Sichtfeld trat. „Ah, da bist du ja.“ Skeptisch beäugte Draco seinen Vater und den Gast, versuchte herauszubekommen, welche Stimmung gerade herrschte. Als er bei beiden angelangt war, fragte er geradeheraus: „Ist etwas vorgefallen?“
Sein Vater verneinte. „Wir haben lediglich gescherzt. Ab hier überlasse ich dir deinen Gast.“ Das angeboren höfliche Nicken folgte. „Mr. Potter.“
„Mr. Malfoy.“ Auch Harry nickte ihm zu. ‚Geht doch‘, dachte er.

Draco führte Harry in den ersten Stock. Noch auf der Treppe fragte Harry: „Ihr sucht eine Haushaltshilfe?“
„Vater sucht eine.“
„Warum beantragt er keinen Elf?“ Kaum war diese Frage über seine Lippen gekommen, beantwortete Harry sie sich selbst. „Er bekommt keinen.“
„Richtig.“
Dean Thomas arbeitete bei beim Amt für die Neuzuteilung von Hauselfen. „Ich könnte vielleicht mit dem Zuständigen im Ministerium …“
Draco winkte ab, schnaufte dabei. „Er schlägt meine Hilfe aus und das, obwohl ich Unmengen an vermittelbaren Arbeitskräften an der Hand habe. Glaubst du, er würde sich von dir helfen lassen?“

Die Antwort lag auf der Hand. Draco öffnete eine Tür und bat Harry herein. Im ersten Moment war er erschlagen von dem pompös eingerichteten Arbeitszimmer und blieb wie angewurzelt in der Mitte stehen, während Draco sich zu seinem Schreibtisch begab. Selbst der Tisch war beeindruckend, aus dunkelrotem Mahagoniholz gefertigt.

„Setz dich doch bitte“, bat Draco, zeigte dabei auf einen Stuhl, der teuer aussah. Vorsichtig nahm Harry vor dem Schreibtisch Platz. „Wie geht’s der Familie?“
„Gut. Ginny war bei der Untersuchung von Eintracht Pfützensee.“
„Wird sie genommen?“
„Wissen wir noch nicht. Erst in ein paar Wochen.“
„Sag ihr, ich wünsche ihr Glück.“
Harry nickte. „Was macht Charles?“
„Er spricht noch nicht und krabbelt lieber, anstatt zu laufen, aber es geht ihm bestens. Danke der Nachfrage. Er war enttäuscht, dass ich ihn eben beim Spielen alleingelassen habe.“

In diesem Moment hörte man jemanden an der Tür. Harry blickte über seine Schulter. Beim zweiten Versuch wurde die Klinke bis ganz nach unten gedrückt und die Tür schwang auf.

Draco konnte ein Lächeln nicht zurückhalten, als er zu dem Besuch sprach: „Bist wohl deiner Großmutter ausgebüxt.“ Scheu blickte Charles zu seinem Vater, dann zu Harry. Ja, er kannte alle Personen im Raum. Er stürmte hinein, fiel hin und krabbelte munter weiter. „Einen Moment, ich bringe ihn zu meiner Mutter zurück.“
„Nicht nötig“, warf Harry ein. „Lass ihn ruhig rein. Genau deswegen bin ich ja hier.“
„Wegen Charles?“, fragte Draco verwundert, als er seinen Sohn auf den Arm nahm.
„Nicht direkt wegen ihm, aber wegen Kindern.“
„Jetzt hast du mich neugierig gemacht.“ Zusammen mit seinem Sohn auf dem Schoß nahm Draco wieder hinter dem Schreibtisch Platz. „Du hast noch nicht erzählt, warum du mit mir sprechen möchtest.“

Nervös spielte Harry mit seinen Fingern. Draco wäre der Erste, dem er seine Idee von vorne bis hinten erklären würde.

„Ich möchte mich selbstständig machen.“
Hier zog Draco beide Augenbrauen in die Höhe, was ihn arrogant aussehen ließ. „Was möchtest du machen? Ein Buch über dein Leben schreiben? Ein Tipp von mir: Dein Leben hat so viel Potenzial, dass du es in mehreren Büchern unterbringen kannst. Dann verdienst du dir eine goldene Nase und musst nie wieder einen Finger …“
„Ich möchte einen Kindergarten eröffnen.“

Das Einzige, das man im Raum hörte, war das zufriedene Gurgeln von Charles, als er nach dem bunten Briefbeschwerer griff. Draco hingegen war so überrascht, dass er völlig sprachlos war.

„Was ist?“, fragte Harry vorsichtig nach. „Findest du die Idee blöd?“
„Ich …“ Draco räusperte sich. „Wenn du mir die Definition des Wortes Kindergarten näherbringen würdest. Ich will ehrlich sein. Ich weiß nicht, was das sein soll.“
„Das ist eine Muggeleinrichtung, wo Eltern ihre Kinder unterbringen können, bevor sie zur Arbeit gehen. Und danach“, weil Draco ihn mit seinen graublauen Augen so eindringlich ansah, kam Harry ins Straucheln, „holen sie sie wieder ab.“
Die Konzentration versah Dracos Stirn mit kleinen Falten. Es dauerte einen kleinen Augenblick, bis er seine Überlegungen mitteilte: „Aber es ist doch immer ein Elternteil Zuhause. Wozu dann …?“
„Damit beide arbeiten gehen können, wenn sie möchten. Aber das ist gar nicht der Hauptgrund.“ Harry bemerkte, dass Draco von dem Gedanken nicht angetan war. „Es geht mir darum, Kinder zusammenzubringen. Hat Charles Freunde im gleichen Alter, die er regelmäßig sieht?“
„Nein“, kam unverzüglich zurück. „Aber ich hatte früher auch keine …“ Dracos Mund stand zwar weiterhin leicht offen, aber es kamen keine Worte mehr über seine Lippen, als er über das Ende seines Satzes nachdachte. „Ich bin wohl ein schlechtes Beispiel. Erzähl mir mehr. Ich möchte mir ein Bild von der Sache machen.“

Harry könnte sich selbst Ohrfeigen. Er hatte sich überhaupt nicht darauf vorbereitet zu erklären, was ein Kindergarten war. Dass Hermine solche Einrichtungen kannte, selbst Severus mit dem Begriff etwas anzufangen wusste, war nur logisch. Beide lebten lange genug in der Muggelwelt, hatten als Kind selbst vielleicht einen besucht. Draco hingegen war in Muggelbelangen völlig unbeleckt.

„Es geht darum, den Eltern die Entscheidung zu lassen, ob einer für die Kinder Zuhause bleiben möchte oder beide arbeiten gehen“, versuchte Harry verständlich zu erklären.
Draco hielt gleich dagegen: „Es ist Tradition, für den Nachwuchs daheimzubleiben.“ Demonstrativ wippte Draco mit seinen Knien auf und ab. Charles lachte. „Was für einen Vorteil hat es, doppelt zu verdienen, aber dabei seine Kinder seltener zu Gesicht zu bekommen?“
„Ähm, ja.“ Harry biss sich kurz auf die Unterlippe. „Man könnte den Kindern spielerisch schon etwas über die Magische Gesellschaft beibringen.“
„Diese Aufgabe übernehmen die Erziehungsberechtigten.“
Harry grinste, aber an seinem Gesichtsausdruck erkannte man die Hilflosigkeit. „Sag mal, was soll das? Warum machst du alles mies?“
„Ich mache nichts mies, Harry. Ich sehe es aus der Sicht eines Geschäftsmannes. Ich möchte dir ungern Ratschläge erteilen, wenn am Ende keine magische Familie deinen Kindergarten in Anspruch nehmen möchte. Verkauf mir deine Idee.“

Diesmal lutschte Harry an seiner Unterlippe und blickte zur Seite. Die Finger seiner rechten Hand trommelten auf der Armlehne, während er überlegte, wie er seine Idee an den Mann bringen könnte.

„Es ist wichtig für Kinder, dass sie mit Gleichaltrigen interagieren können.“ Harry dachte, das wäre ein überzeugendes Argument, aber er irrte sich.
„Sagt wer?“
Mittlerweile fand Harry das Gespräch anstrengend. Er hatte es sich leichter vorgestellt. „Darüber gibt es Studien.“
„Muggelstudien?“ Harry nickte. „Bring sie das nächste Mal mit. Ich will mir das ansehen. Was noch?“
„Was meinst du?“
„Ich kann mich daran erinnern, dass die Parkinsons früher oft hier waren, mit Pansy. Es gibt für Eltern also eine kostengünstige Variante, Gleichaltrige zusammenzubringen. Warum braucht die Magische Welt einen Kindergarten?“
„Mann, du bist eine harte Nuss“, nörgelte Harry, woraufhin Draco nur grinste. „Muggelgeborene Hexen und Zauberer!“, fiel ihm plötzlich ein. „Die könnte man auf diesem Weg schon vorbereiten.“
Draco schüttelte den Kopf. „Die bekommen ihr Schreiben aber erst mit elf Jahren. Vorher …“
„Ich habe mit dem Minister gesprochen“, unterbrach Harry. „Er hat zugesagt, in diesem Fall die Eltern magischer Kinder schon früher zu kontaktieren – mit Aussicht auf einen Kindergartenplatz.“
„Du hast mit Minister Weasley darüber gesprochen?“
„Klar“, Harry zuckte mit den Schultern. „Weißt du, ich bin damals aus allen Wolken gefallen, als die ganzen Eulen mit den Briefen von Hogwarts kamen.“
„Die ganzen Eulen?“, wiederholte Draco verdutzt. „Wie viele Einladungen hast du denn bekommen?“
„Das müssen Hunderte gewesen sein.“ Harrys Gegenüber machte ganz große Augen, weshalb er erklärte: „Meine Verwandten wollten verhindern, dass ich nach Hogwarts gehe. Sie haben mir die Briefe immer weggenommen.“ Harry wollte das unangenehme Thema wechseln. „Muggelgeborene sollten nicht einfach ins kalte Wasser gestoßen werden. Es gibt hier eine Menge Dinge, die einem Angst machen können.“
„Den Punkt kann ich nachvollziehen.“ Mit dem Jungen im Arm lehnte sich Draco nach vorn und zog ein leeres Stück Papier heran, auf dem er eine Notiz machte.
Harry machte Stielaugen, konnte aber trotzdem nichts erkennen. „Was schreibst du da?“
„Ist erst einmal unwichtig. Erzähl weiter. Was für Vorteile hat der Kindergarten noch? Momentan scheint er nur für Muggelgeborene interessant zu sein.“
„Der Kindergarten soll nicht nur für Zauberer und Hexen sein“, stellte Harry klar. „Auch für Squibs. Für Kinder eben, egal in welche Schublade man sie stecken möchte. Hauptsache, sie haben irgendwie mit der Magischen Welt zu tun.“ Draco schrieb wieder etwas auf sein Papier. Ohne eine erneute Aufforderung gab Harry weitere Ideen preis. „Auch die Geschwister, die nicht zaubern können …“
„Das geht jetzt aber etwas zu weit, meinst du nicht?“, fragte Draco mit dem Tonfall damaliger Verachtung.
„Finde ich nicht. Soll man sie trennen?“ Mit seinen Händen machte Harry eine fragende Geste. „Soll man gleich von Anfang an deutlich machen, dass ganze Welten zwischen ihnen liegen? Der eine ist besser, der andere nur ein Muggel?“

Wie Tante Petunia sich wohl gefühlt haben musste, fragte sich Harry in Gedanken. Lily bekam einen Brief von Hogwarts, die Schwester nicht. Harry wollte gar nicht wissen, wie viele geschwisterliche Beziehungen dadurch einen Bruch erlitten hatten.

Bei Draco zeigte sich keine Regung. Er starrte Harry einfach nur an, aber der Blick war finster. Jeden Moment – so schien es – würden aus Draco all die schlimmen Bezeichnungen hervorbrechen, die er als Kind schon gelernt hatte. Blutsverräter, Schlammblut, Muggel. Harry wartete ruhig und hielt den Blickkontakt.

Draco kämpfte mit sich, bemühte sich, sein altes Ich dort zu lassen wo es war. Tief in ihm verwurzelt gab es sie noch immer, die geringen Ansichten über Muggel. Er schaute Harry in die Augen, um nach einer versteckten Provokation zu suchen. Er fand nichts außer Geduld.

Muggel. Sie durften neben Draco existieren, ohne dass er die Nase rümpfte. Bei Halbblütern und Muggelgeborenen konnte er heutzutage ebenfalls ein Auge zudrücken. Ihm machte jedoch zu schaffen, dass Harry kurzerhand Spreu und Weizen in einen Topf werfen wollte. Keine Selektion mehr. Das Beste vom Besten sollte einem Pfuhl der Gewöhnlichkeit untergemengt werden. Dracos linke Oberlippe bebte, als wollte er das Gesicht vor Ekel verziehen. Alle sollten gleich sein, wenn es nach Harry ging. Draco hatte nichts gegen ein wenig Kontakt zur Muggelwelt einzuwenden. Und je länger er über Harrys Idee nachdachte, desto mehr Bedeutung sah er in ihr. Es war eine Aktion von viel größerer Tragweite als Harry vermutete. Was sein Freund hier anstrebte war eine nie da gewesene gesellschaftliche Integration, die sogar eine politische Auswirkung haben würde. Politik! Ein Malfoy würde nach langer Zeit wieder Politik machen. Einer von Dracos Mundwinkeln hob sich, bevor er sich nochmals nach vorn beugte und eine Notiz niederschrieb.

„Was schreibst du da ständig?“
Draco blickte auf. „Ich halte dein Konzept fest. Du brauchst doch einen Sponsor für die Umsetzung, der wissen möchte, in was er investieren soll, oder irre ich mich?“
„Ich wollte eigentlich nur in Erfahrung bringen, was ich alles beachten muss. Von den Gesetzen her und so weiter. Ich habe noch nie etwas Geschäftliches gemacht. Außerdem gibt es da eine Räumlichkeit, die ich gern mieten würde. Man sagte, es gäbe da eventuell Probleme.“
„Probleme welcher Art?“
„Das Haus gehört der Bank – Gringotts. Sie vermieten nicht an jeden.“
Draco lachte. „Nicht mal an Harry Potter?“
„Ich hab’s noch nicht probiert.“
„Na dann“, Draco winkte mit dem Stück Papier, nach dem Charles sofort greifen wollte. „Ich glaube nicht, dass die Kobolde dem hier eine Absage erteilen möchten.“ Die Stichpunkte hielt er sich vor Augen, bevor er sie in Sätzen zusammenfasste: „Du schaffst einen Ort, an dem die Freundschaft zwischen Muggeln und Magiern nicht nur auf symbolischer Ebene stattfinden soll. Des Weiteren setzt du ein klares Zeichen gegen Diskriminierung, indem du die Einrichtung für Squibs ebenfalls zugänglich machen möchtest. Eine soziale Interaktion mit Gleichaltrigen wird gefördert, was laut Studie für eine gesunde Entwicklung der Kinder erforderlich ist. Zu guter Letzt kurbelst du die Wirtschaft an, indem du beiden Elternteilen die Möglichkeit bietest, ein produktives Mitglied der Gesellschaft zu werden.“ Draco blickte auf und bemerkte, dass Harry irritiert dreinschaute. „Das hast du gesagt.“
„Hab ich?“ Aus Dracos Mund hörte sich sein Vorhaben so fremd an. „Ich meine: Ja, hab ich!“
„Sag ich doch. Es wird den Kobolden gefallen, dass die Ehepaare mehr Geld auf die Bank bringen. Letztendlich profitieren sie davon. Kommen wir zu den Finanzen. Du meinst, du brauchst keinen Sponsor?“
„Ich denke nicht. Wenn erst einmal alles eingerichtet ist, dann wird sich der Kindergarten hoffentlich selbst tragen.“
„Mit Hoffnung hat das wenig zu tun, Harry. Mit Rechnungen schon mehr. Schreib auf, was du alles benötigen wirst. Trenne zwischen monatlichen und einmaligen Kosten. Ich werde mich beim Ministerium informieren, ob so eine Einrichtung bestimmten Regeln unterworfen ist. Es wäre auch gut für dich, wenn du vielleicht mal in einem dieser Muggel-Kindergärten nachsiehst, wie die das handhaben.“

Jetzt lief alles so, wie Harry es sich anfangs vorstellte. Draco machte ihn auf Dinge aufmerksam, die er übersehen hätte.

„Du solltest deinen Antrag auf Hauselfen rechtzeitig einreichen, damit …“
Harry unterbrach. „Ich wollte keine Hauselfen beschäftigen.“
„Dann willst du richtiges Personal einstellen? Das wird teuer, das sage ich dir gleich. Andererseits habe ich genügend Leute an der Hand, die dringend eine Beschäftigung suchen. Wenn es soweit ist, dann sprich mich an.“
„Werde ich“, sagte Harry und nickte dabei heftig. Er zeigte auf das Stück Papier. „Darf ich?“
„Klar.“

Harry überflog alle Punkte, die Draco festgehalten hatte. Für das vorhin deutlich lange Zögern von Draco fand er keinen Hinweis. Was in Dracos Kopf vorgegangen war, als er über magische Kinder und deren nicht-magische Geschwister gesprochen hatte, würde für immer ein Geheimnis bleiben.

„Du hast eine Sauklaue“, platzte aus Harry heraus, ohne dass er es aufhalten konnte.
Draco grinste. „Ich wünsche mir zu Weihnachten ein magisches Schreibfederset. Dann ist das Problem behoben.“
Eine Sache fiel Harry ein, die er noch zu regeln hatte. „Wo wir gerade von Geschenken sprechen.“
„Ich weiß nicht, womit man meinem Vater eine Freude bereiten kann“, riet Draco ganz richtig. „Er denkt nicht daran, mir einen Hinweis zu geben. Wir haben uns all die Jahre offensichtlich doch mehr auseinandergelebt, als ich geglaubt habe.“

Mit einem Seufzer ließ Draco den Jungen hinunter, der prompt um den Tisch herum zu Harry lief. Harry konnte nicht anders, er musste Charles über den Kopf streicheln. Das rotblonde Haar war so sehr gewachsen, dass sich am Pony eine große Locke geformt hatte, die mit jedem Schritt auf und ab wippte. Der Junge sah sich im Büro um, bis er etwas entdeckte. Ein Bilderrahmen auf dem Arbeitstisch. Harry sah nur die Rückseite. Sicherlich ein Bild von Susan und Draco, dachte er sich. Charles griff danach und hätte es beinahe fallengelassen, doch Harry war schneller. Das gefangene Bild drehte Harry um. Zu seinem Erstaunen zeigte es Lucius und Narzissa an einem Strand. Beide lächelten glücklich.

„Die Hochzeitsreise meiner Eltern“, erklärte Draco, der das Bild tagtäglich vor Augen hatte und es bisher nie übers Herz bringen konnte, es gegen ein eigenes auszutauschen. Er hatte bereits ein schlechtes Gewissen, dem Vater das Büro genommen zu haben.
„Wo waren sie?“
„Auf einigen Inseln im Indischen Ozean. Das da“, Draco zeigte auf das Bild in Harrys Hand, „war auf Mauritius.“
Nochmals musterte Harry das Bild, betrachtete den blauen Himmel und die dazu strahlenden Gesichter der frisch Verheirateten. „Scheint ihnen gefallen zu haben“, murmelte Harry.
„Mein Vater sagte früher immer, die Hochzeit und die anschließende Reise waren die schönsten Augenblicke in seinem Leben – bis ich kam.“

Harry hätte Lucius nie als Familienmensch eingestuft, aber er schien tatsächlich einer zu sein. Das zeigte auch sein Umgang mit Charles.

Ein Gedanke formte sich langsam. „Vielleicht wäre es eine gute Idee, ihm nochmal so einen Augenblick zu schenken?“
Draco stand auf und ging um den Tisch herum zu Harry, um – obwohl er es auswendig kannte – einen Blick auf das Foto zu werfen. „Du könntest Recht haben. Aber Mauritius ist nicht billig.“
„Du meinst wirklich, das wäre was für ihn?“
„Ich kann mir nichts Schöneres für ihn vorstellen, als eine Reise mit meiner Mutter an einen Ort, an dem er glücklich war.“
Behutsam stellte Harry den Rahmen zurück auf den Schreibtisch. „Dann müssen wir mit deiner Mutter nur noch besprechen, wann es ihnen passen würde. Das Geld für die Reise ist kein Problem. Wir legen einfach alle zusammen.“
„Ich muss schon sagen …“ Draco grinste, nickte zustimmend. „Du rettest mir damit den Hals. Ich hätte mir sonst lang und breit anhören müssen, wie einfallslos ich wäre, nicht einmal dem eigenen Vater ein schönes Geschenk machen zu können.“

Unten in der Eingangshalle wurden Harry und Draco Zeuge dessen, wie eine junge Frau hoch erhobenen Hauptes und mit sichtlicher Wut im Gesicht zur Tür stürmte. Lucius Malfoy eilte hinter ihr her. Es wurden ein paar Worte gewechselt, bevor die Dame, noch immer erbost, das Haus verließ. Lucius seufzte, bemerkte erst dann die beiden jungen Männer auf der Treppe.

„Sie war nicht geeignet“, sagte er zu seinem Sohn, als der bei ihm angelangt war.
„Warum?“
„Sie ist nicht sehr kundig mit dem Stab.“
Harry machte den Fehler, sich in das Gespräch einzumischen. „Mit der Hand kann man auch kochen und putzen.“
Langsam drehte sich Lucius zu Harry, achtete derweil darauf, den aristokratisch anmuten Gesichtsausdruck zu wahren – die Mimik, die ihn arrogant wirken ließ. „Mr. Potter, ich weiß nicht, wie Sie sich das vorstellen, ein Haus von dieser Größe ohne Zauberstab rein zu halten. Wäre man mit den Räumen fertig, könnte man gleich wieder von vorn beginnen. Außerdem war die Dame nicht …“
Sein Sohn unterbrach: „Nicht reinblütig?“
Draco erhielt einen bösen Blick von seinem Vater, eine nonverbale Rüge, bevor Lucius seinen Satz leise vervollständigte: „… nicht im Umgang mit Kindern geschult.“

Diesen Moment hielt Harry für den perfekten Zeitpunkt, sich aus dem Hause Malfoy zu verabschieden. Er wollte nicht mit ansehen, wie sich Draco mit seinem Vater zankte.

Harry apparierte in die Winkelgasse. Nicht Hermine wollte er einen Besuch abstatten, sondern dem Reiseunternehmen, das dort kürzlich ansässig wurde. Es hätte ihm bereits an der leeren Straße auffallen müssen, aber erst, als er vor den verschlossenen Türen stand, fiel ihm wieder ein, dass zur Mittagszeit die meisten Geschäfte geschlossen hatten. Jetzt hätte er die Wahl, bei Florean kostenlos ein Eis zu essen – der Mann nahm noch immer kein Geld von ihm – oder doch Hermine mit seiner Anwesenheit zu beglücken. Er entschied sich für Letzteres.

Die Tür der Apotheke war natürlich verschlossen. Harry wagte es nicht, die Klingel für Notfälle zu betätigen. Es wäre falsch. Stattdessen, das hatte er sich von Nicholas abgeschaut, drückte er seine Nase an die Fensterscheibe der Tür und spähte in den Raum hinein. Etwas bewegte sich. Da war jemand. Harry klopfte. Als ein Kopf gehoben wurde, winkte er. Die Person hinter der Theke stand auf und näherte sich der Tür. Erst jetzt bemerkte Harry, dass es sich weder um Hermine noch um Severus handelte. Daphne öffnete ihm. In der Schule hatten sie nie ein Wort gewechselt.

„Hallo Harry.“
Er war froh über die persönliche Begrüßung. In seinen Augen war es albern, ehemalige Schulkameraden mit Sie anzureden. „Hallo Daphne. Ist Hermine da?“
„Im Labor. Komm rein und warte kurz. Ich sag ihr Bescheid.“

Hinter Harry wurde die Tür wieder geschlossen. Es dauerte nicht lange, da kam Daphne mit Hermine zurück.

„Hi Harry, ich hoffe, es ist kein Notfall.“
Er schüttelte den Kopf. „Sag mal, kann ich bei euch warten, bis die Läden wieder öffnen?“
„Klar.“ Sie bedeutete ihm, dass er ihr folgen sollte. An der Theke vorbei warf Harry noch einen Blick auf Daphne, die es sich dort mit einer Tasse Kaffee, einem Mohnhörnchen und der Buchführung gemütlich gemacht hatte. Sie sah gestresst aus.

Im Labor nahm er auf dem Hocker Platz, dem Hermine ihm anbot. Sie selbst eilte zurück zu ihrem Kessel.

„Guten Tag, Severus.“ Der konzentrierte Tränkemeister erwiderte seinen Gruß, ohne den Blick von dem Gebräu zu nehmen.
Während Hermine eine Zutat in ihren Kessel warf, fragte sie: „Was führt dich in die Winkelgasse?“
„Ich will ins Reisebüro und mir ein paar Kataloge besorgen.“
„Ach“, Hermine grinste, „endlich Zeit für eine Hochzeitsreise gefunden?“
„Was?“ In Gedanken wiederholte er die Frage. „Nein, wir reisen später. Ich komme gerade von Draco, wegen … Du weißt schon.“ Sie nickte. „Und ich habe ihn gefragt, was man seinem Vater schenken könnte.“
Hier blickte Severus kurz von seinem Kessel auf und fragte: „Und?“
„Eine Reise“, offenbarte Harry. „Neulich waren Remus und Sirius bei mir. Beide hatten keine Idee. Es kam der Vorschlag, etwas Größeres zu besorgen, an dem sich alle beteiligen können.“ Harry schaute zu Hermine, dann wieder zu Severus. „Habt ihr selbst etwas oder möchtet ihr bei dem Sammelgeschenk mitmachen?“
„Was soll es denn kosten?“, wollte Severus wissen.
„Kann ich noch nicht sagen. Deswegen brauche ich die Kataloge. Ich habe keine Ahnung, wie teuer es wird, die Malfoys nach Mauritius zu verfrachten.“
„Mauritius!“, wiederholte Hermine den Namen mit Verzückung in der Stimme. „In Moka gibt es ein kleines Zaubereiinstitut, das sich mit dem Gift des Steinfischs beschäftigt.“
„Mmmh“, machte Harry, der keine Ahnung hatte, wovon Hermine sprach.
„Es gibt dort einen verborgenen Strand für magische Touristen.“
Wie es aussah, war Hermine bestens informiert, dachte Harry. Severus ebenso, denn er sagte: „Sofern ich mich erinnere, war das einer der Orte, die Lucius für seine Hochzeitsreise ausgewählt hat.“
„Stimmt“, bestätigte Harry. „Die Idee kam mir, als ich ein Bild von besagter Reise gesehen habe.“
„Also, ich würde mich gern daran beteiligen.“ Hermine stellte das Feuer unter dem Kessel auf kleine Flamme. „Ich wüsste nämlich auch nicht, was man Dracos Vater schenken könnte.“
„Ich wüsste schon etwas“, kam von Severus.
Hermine hielt gleich dagegen: „Nichts Schwarzmagisches!“
„Warum?“
„Weil ein kleines Kind in dem Haus wohnt.“
„Das hat bei Draco auch keinen Schaden hinterlassen“, konterte Severus, denn es war die Wahrheit. Von schwarzmagischen Gegenständen war Draco nicht so hochnäsig geworden – daran war die Erziehung schuld gewesen.
Um keinen Streit vom Zaun zu brechen, atmete Hermine einmal tief durch, bevor sie sich wieder an Harry wandte. „Ich gebe was zu der Reise dazu. Plan mich fest ein.“ In Windeseile war das Thema gewechselt, denn sie fragte: „Was kam bei dem Gespräch mit Draco raus?“
„Ich muss einige Informationen sammeln und sie ihm bringen. Soweit sah erst mal alles gut aus. Er hat jedenfalls nicht gesagt, es wäre Stuss.“
„Was für Informationen will er denn haben?“
„Na ja, in einem Anflug von Überheblichkeit habe ich von einer Studie erzählt, die belegt, dass die Entwicklung von Kindern gefördert wird, wenn sie mit Gleichaltrigen zusammen sind.“
Hermine wurde stutzig. „Und?“
„Ich weiß nicht mal, ob es so eine Studie überhaupt gibt und wenn ja, wie ich da rankomme.“ Er klimperte mit seinen Wimpern.
„Das hätte ich eigentlich ahnen müssen“, sagte sie mit einem frechen Lächeln. „Ich such dir eine Adresse raus, wo du so etwas anfordern kannst.“
„Klasse, danke Hermine! Was wäre ich nur ohne dich?“
Severus konnte sich nicht zurückhalten. „Und ich sage es nochmal, Hermine: Du solltest dafür Geld nehmen.“
„Für was? Fürs Beschaffen von Informationen? Das ist ein Freundschaftsdienst.“ Sie zwinkerte Harry zu, und er musste sich ein Lachen verkneifen.

Als die Geschäfte wieder öffneten, verabschiedete sich Harry. Ein paar Minuten später schaute Daphne ins Labor.

„Ich brauche mal kurz jemanden im Verkaufsraum.“
Hermine konnte sich fünf Minuten erlauben, seitdem Severus die Braupläne nicht mehr so knapp gestaltete. „Ich komme.“

Ein Auge warf Severus auf Hermines Kessel, während er seinen Trank braute. Nur wenige Minuten später war sie zurück. In ihrer Hand hielt sie eine dicke Mappe. Sie las etwas.

„Was hast du da?“, wollte Severus wissen.
„Einen Brauauftrag.“
„Etwas viel Papier für einen einfachen Brauauftrag.“
Sie schnaufte. „Wer sagt denn, dass er einfach wäre?“ Mit dem Zeigefinger tippte sie auf einige Stellen. Sie schien zu zählen. „Wir haben eine Brauanfrage für achtundzwanzig Liebestränke erhalten. Elf von ihnen sollen mit einem potenzsteigernden Mittel versetzt sein.“
Severus erlaubte sich ein schiefes Grinsen. „Sind wir auch zu der Party eingeladen?“
Mit einer in die Hüfte gestemmten Hand wollte Hermine Empörung vortäuschen, doch das Lächeln in ihrem Gesicht machte ihr einen Strich durch die Rechnung. „Die Party findet im Zoo statt. Offensichtlich haben einige Tierchen keine Lust, für Nachwuchs zu sorgen.“ Sie legte den Brauauftrag auf den Tisch. „Und außerdem braucht keiner von uns beiden einen Liebestrank. Oder einen, ähm …“ Sie besaß die Grazie zu erröten.
„Das natürliche Rouge steht dir“, stichelte er freundlich.
Verlegen legte Hermine eine Hand auf die heiße Wange. „Dir auch!“, wollte sie dagegenhalten, doch Severus’ Wangen waren fahl wie der Vollmond, der wieder vor der Tür stand.
„Meine Wangen sind mit vornehmer Blässe gesegnet.“
„Warten wir mal ab, ob das heute Abend immer noch so ist“, erwiderte sie dreist.

Gerade noch rechtzeitig drehte sich Severus um, um seinen Trank in Flaschen abzufüllen. Auf diese Weise konnte Hermine nicht sehen, dass sich zwei kreisrunde Stellen in seinem Gesicht blassrosa färbten.

Ohne sich umzudrehen sagte er wenig später: „Morgen Abend kommen Mr. Worple und Mr. Sanguini. Ich möchte, dass du dich etwas in mein Projekt einliest.“
„In den Bluttrank? Klar, aber warum jetzt auf einmal?“
„Du sollst bestens informiert sein, falls ich unerwartet das Zeitliche segnen sollte.“
„Severus!“ Sie klang wütend. „Sag nicht sowas.“
„Warum nicht? Man muss vorausschauend handeln. Ich möchte, dass alles glatt läuft, wenn ich mal nicht …“
„Jetzt hör aber auf!“
„Ich könnte sonstwas haben.“

Hermine hatte genug. Sie zog ihren Stab und richtete ihn auf Severus, der im ersten Moment nicht wusste, was ihn erwartete. Es folgten Zaubersprüche, die ihm nicht geläufig waren. Als das erste Pergament sich in der Luft materialisierte, verstand er, dass Hermine gerade Diagosesprüche an ihm anwandte.

„Hör sofort damit auf!“, befahl er. Schon zwei Pergamente waren auf Hermines Tisch geschwebt.
„Nur den einen noch.“
„Ich habe nicht meine Zustimmung gegeben, dass du …“
Sie hörte überhaupt nicht zu, griff stattdessen zum ersten Pergament und las die Resultate: „Zucker ist in Ordnung, Leberwerte auch.“ Einige Spalten ließ sie unkommentiert. „Eisen könnte etwas höher ausfallen, aber sonst ...“ Den Rest nickte sie zufrieden ab, bevor sie zum zweiten Pergament griff. „Wie kannst du nur so einen niedrigen Blutdruck haben, wo du immer so viel Kaffee in dich reinschüttest?“ Er kam nicht dazu, ihr Konter zu geben, denn sie griff zum dritten Pergament. „Sieht alles wunderbar aus. Das Einzige, was du hast, ist eine kleine Zyste über den linken Backenzähnen“, unbewusst fuhr er mit der Zunge über besagte Stelle, was eine sichtbare Beule an der Wange hinterließ, „die aber gerade dabei ist, wieder zu verschwinden. Und du hast eine leichte Hyperthyreose.“
„Eine was?“
„Eine leichte Schilddrüsenüberfunktion.“ Hermine schaute ihn mit ihrem Heilerblick an, der ihn zu röntgen schien. „Vielleicht bist du deshalb so dünn?“
„Ich bin nicht …“ Er biss sich auf die Zunge. Wegen ihrer Übereifrigkeit nur minimal missgestimmt sagte er in sarkastischem Tonfall: „Mir geht es gut, danke der Nachtfrage. Wenn das Elixier des Lebens das nicht geheilt hat, dann befindet sich für mich alles im Normbereich.“
„Ja, da hast du Recht.“ Hermine strahlte, bevor sie die Pergamente mit einem Evanesco verschwinden ließ. „Was zieht man zu einer Feier bei den Malfoys eigentlich so an?“, fragte sie völlig unerwartet.
„Aus seiner Einladung konnte ich herauslesen, dass legere Kleidung ausreicht. Das hat mich etwas verwundert. Früher wurde immer zur Abendgarderobe aufgefordert.“
„Es reicht also ein hübsches Sommerkleid.“
„Würde ich meinen“, erwiderte Severus.
„Und was ziehst du an?“ Aufgrund seines Blickes hielt sie eine Hand in die Höhe und scherzte: „Schon gut. Tut mir leid, dass ich gefragt habe.“ Gut gelaunt schnitt sie ihre Zutaten und murmelte: „Ich hoffe, es fällt nichts vor.“
„Was sollte vorfallen?“ Er erinnerte sich an den Tag, an dem er Lucius wegen einer Beleidigung, die Hermine galt, zurechtweisen musste. „Ich denke nicht, dass er sich danebenbenehmen wird. Er mag andere Ansichten vertreten, aber er weiß, was sich für Menschen seines Kalibers gehört. Auf der eigenen Feier ausfallend zu werden zählt nicht zum guten Ton.“
„Trotzdem“, Hermine wackelte unschlüssig mit dem Kopf hin und her. „Remus ist ein Werwolf, Susans Mutter und Sirius’ Frau sind Muggel.“
„Das wird in der Tat eine Premiere sein. Die Malfoys haben damals sehr darauf geachtet, wer das Haus betritt. Muggel waren verständlicherweise nie darunter.“
„Du als Halbblut warst immerhin dort, zu Dracos Taufe.“
Severus verbesserte: „Das war keine Taufe. Das war die Feier, bei der ich zu seinem Patenonkel ernannt wurde.“ Er blickte von seinem Kessel auf. „Ich weiß nicht, warum, aber bei mir hat man großzügig über die Herkunft des Vaters hinweggesehen.“
„Über was kann man sich mit Mr. Malfoy unterhalten?“
Ihre Frage irritierte ihn. „Warum willst du das wissen?“
„Na, man muss als Gast doch wenigstens ein Mal mit dem Geburtstagskind geplaudert haben. Ich will mich nicht dumm anstellen.“
„Du plapperst doch sonst immer munter drauf los, warum nicht auch bei ihm?“ Severus musste schmunzeln, weil Hermine versuchte, böse dreinzuschauen. „Er interessiert sich für Politik, allerdings rate ich davon ab, die neuen Gesetze anzusprechen.“
„Aber das ist ein brandaktuelles und heiß diskutiertes Thema.“
„Gerade deswegen. Ihr wollt doch nicht als zwei Kampfhähne enden, die man mühsam auseinanderbringen muss.“
„Na, du machst mir vielleicht Mut.“ Hermine seufzte leise.
„Lucius hat sich immer sehr für Schutzzauber interessiert.“
„Oh!“ Das war ein Thema, über das sie Bescheid wusste.
„Ja, er hat immer versucht, Wege zu finden, die seiner Feinde zu durchbrechen.“
Diesmal klang ihr Oh wenig enthusiastisch. „Kein gutes Thema. Sonst noch was? Hobbies?“
„Schwarze Magie.“
Sie rollte mit den Augen. „Und irgendwas Normales?“
„Soweit ich weiß, spielt er hervorragend Klavier.“ Schadenfreude breitete sich auf Severus’ Gesicht aus. „Du könntest ihn bitten, dich zu begleiten, während du Flö…“
„Vergiss es! Er muss doch noch andere Hobbies haben, irgendwelche Interessen. Was hat er denn die ganze Zeit gemacht, wenn er nicht gerade Voldemorts Speichellecker war?“
„Im Ministerium die Mitarbeiter ausgehorcht. Hermine, wirklich“, Severus legte sein Messer beiseite, „mach dir keine Gedanken. Lass den Tag auf dich zukommen. Ein Gespräch, wenn es sein muss, wird sich von ganz allein ergeben.“

Als er seinen Kessel unbeaufsichtigt lassen konnte, widmete sich Severus der Brauanfrage des Zoos. Es waren 28 verschiedene Tierarten, bei denen man Nachwuchs arrangieren wollte.

„Rentiere“, murmelte er gedankenverloren. „Da ist eine Nachzucht immer schwierig.“ Er blätterte weiter. „Nebelparder, Fischkatzen“, er stutzte, „Galápagos-Riesenschildkröten? Die sollten sich lieber an den Zoo Zürich wenden. Europaweit ist das der einzige Zoo, dem die Nachzucht überhaupt gelungen ist. Kürzlich stand in der Zeitung, im Juni wäre das fünfzigste Jungtier geschlüpft.“ Severus blätterte hin und her. „Steht irgendwo, wie viel wir damit verdienen können?“
„Nein, der Herr sagte, wir sollen ihm ein Angebot unterbreiten.“
„Ah, dann werden wir das demnächst in Ruhe durchrechnen. Billig wird es nicht. Wir benötigen die veterinärärztlichen Unterlagen von jedem einzelnen Tier.“
„Ich befürchte nur, wir werden gar keine Zeit haben, um uns so intensiv mit einem Kunden zu befassen.“

Ohne Kommentar, denn er sah keinen Grund dafür, dem Offensichtlichen zuzustimmen, legte Severus den interessanten Brauauftrag zur Seite. Er wollte ihn zu gern annehmen, aber Hermine hatte Recht. Sie würden ihn nicht erfüllen können. Vielleicht, mit etwas Glück, würde er eine Möglichkeit finden.

Am nächsten Abend gegen halb sieben kamen Mr. Worple und Mr. Sanguini zu Besuch. Normalerweise nickte der Vampir zur Begrüßung, aber dieses Mal hielt er ihr die Hand entgegen. Hermine hatte ihre Lektion gelernt. Sie schüttelte die Hand des Vampirs nicht.

„Sie können ruhig, Miss Granger“, ermutigte Mr. Worple sie mit freundlichem Lächeln.
„Ich …“

Keinesfalls wollte Hermine auf ihren damaligen Ausrutscher mit Mr. Caedes aufmerksam machen. Andererseits war es Mr. Worple gewesen, der ihr nach dem Biss sofort zur Seite gestanden hatte. Wenn Mr. Worple sein Okay gab, sollte alles in Ordnung sein. Sie schaute zu Sanguini, der momentan harmlos und darüber hinaus umwerfend gut aussah – wie immer. Unter Severus’ wachen Augen reichte sie dem Vampir vorsichtig die Hand. In dem kurzen Augenblick, in welchem sie sich auf normale Weise begrüßten, fielen Hermine einige Details auf. Die Hand war eiskalt – natürlich. Sanguini fühlte zudem nicht nach ihrem Puls, wie Caedes es getan hatte. Außerdem schaute er ihr in die Augen, nicht auf den Hals und er beugte sich auch nicht vor, um der Wärme ihres Blutes näher zu sein. In wenigen Sekunden war das Händeschütteln wieder vorbei.

„Ah“, machte Severus. „Wie ich sehe, werden gewisse Dränge unterdrückt.“
Sanguini schaute ihn an und nickte. „Ich habe kein Verlangen mehr.“
„Wunderbar!“ Severus war mit sich und seiner Arbeit überaus zufrieden. „Und die Ernährung?“ Er musterte den Vampir. „Nehmen Sie es mir nicht übel, aber Sie sehen nicht sehr gut aus.“
Hier schritt Mr. Worple ein. „Ich musste ihn daran erinnern, wenigstens etwas Blut zu sich zu nehmen.“
Nachdenklich nickte Severus. „Der Trank hat die Bedürfnisse vollständig unterdrückt?“
„Ja“, erwiderte Sanguini.
„Wann haben Sie das letzte Mal wie viel Blut zu sich genommen?“
Sanguini überlegte. Es fiel ihm nicht auf Anhieb ein. Mr. Worple blätterte derweil in seinen Unterlagen und fand die Antwort: „Kurz bevor wir mit dem neuen Trank begonnen haben. Es waren“, sein Finger fuhr auf einer Liste entlang, „80 Milliliter.“
„Nur 80? Die ganze Zeit über?“, fragte Severus erstaunt nach. Er wollte den Blutdurst nicht komplett unterdrücken. Das könnte so verheerende Folgen haben wie ein Zaubertrank, der einem das Hunger- und Durstgefühl nahm. „Der Trank ist noch nicht optimal. Ihr Organismus soll mit wenig auskommen, aber er muss sich weiterhin von allein melden, wenn eine Blutzufuhr notwendig ist.“

Die ganze Zeit über lauschte Hermine dem Gespräch. Die vier saßen am Küchentisch. Diese beiden Männer gehörten zu den wenigen Bekannten, die Severus in den eigenen Wänden willkommen hieß – die er sogar selbst einlud und in die private Umgebung führte. Hermine wusste nicht hundertprozentig, ob Severus sich nur wegen der gemeinsamen Forschung mit Worple so gut verstand. Ihr Blick fiel auf Sanguini, der über Eck neben ihr saß. Er lauschte dem Gespräch genauso schweigsam wie sie. Plötzlich drehte er sich zu ihr und sie fühlte sich ertappt. Sanguini schenkte ihr ein mildes Lächeln, mit dem er ihr zeigte, dass er sich durch ihre Observation nicht belästigt fühlte.

„Wie fühlen Sie sich?“, fragte Hermine unverhofft. Die Frage nach dem Wohlbefinden schien der Vampir, wie man seinem erstaunten Gesichtsausdruck entnehmen konnte, nicht oft zu hören. Vielleicht fiel ihm deswegen eine Antwort schwer.
„Das erste Mal fühle ich mich frei“, versuchte er zu erklären. „Frei von der Furcht, einem dunklen Instinkt folgen zu müssen, koste es was es wolle.“ Sanguinis leuchtende Augen ließen den Trübsinn hinter sich, den man sonst aus ihnen herauslesen konnte. „Dieser“, er suchte nach einem Wort, „Heißhunger macht blind. Eldred musste bereits das ein oder andere Mal um sein Leben fürchten. Ich weiß nicht, ob Sie sich das vorstellen können.“
Hermine schüttelte den Kopf. „Ich habe zwar auch manchmal Heißhunger, aber der ist mit Ihrem sicher nicht zu vergleichen.“
Ihr Scherz amüsierte Sanguini und des Weiteren fühlte er sich an Zeiten erinnert, in denen er noch ein Mensch war. „Wenn Sie keine Schokolade im Haus finden, werden Sie kaum auf die Straße rennen und Menschen umbringen, um das zu bekommen, nach dem es Ihnen dürstet.“
„Nein.“
„Nun“, begann Sanguini gut gelaunt, „ich auch nicht mehr.“

Sie freute sich mit ihm. Während Severus weiterhin Details mit Mr. Worple erörterte, begann Hermine einen unbefangenen Smalltalk mit dem Vampir.

„Haben Sie eine Lebensgefährtin?“, platzte es unvorhergesehen aus ihr heraus.
Von dieser Frage nicht ein bisschen echauffiert entgegnete er: „Sehnsüchte dieser Art liegen schon lange zurück.“ Hermine verstand nicht, woraufhin Sanguini genauer wurde. „Ein Gefährte für intellektuelle Gespräche ist mir willkommen. Eine Gefährtin für einsame Stunden nicht.“
„Aber warum nicht?“, hakte sie uncharmant nach.
„Ich habe kein Interesse. Sofern ich von meinen“, er spitzte kurz die Lippen, „Artgenossen unterrichtet bin, bin ich nicht der Einzige.“
Hermine hatte nicht bemerkt, dass Severus und Mr. Worple mit der eigenen Unterhaltung innehielten und ihrem Gespräch lauschten. Und sie sah auch nicht, wie Severus eine Augenbraue hob, als sie Sanguini fragte: „Aber so ganz allein … Wie hält man das aus?“
„Miss Granger, eine Dame erwartet in der Regel eine gewisse Zuwendung, die ich nicht zu erfüllen imstande bin.“
„Wieso sind Sie nicht …?“

Jemand räusperte sich. Es war Severus, der Hermine daran hindern wollte, sich noch mehr in eine unangenehme Situation hineinzureiten. Sanguini winkte gelassen ab und wandte sich erneut an Hermine.

„Ich habe schon lange keine Berührungsängste mehr, über dieses Thema zu sprechen, weil es mich nicht mehr betrifft. Das Verlangen nach Blut ist bei einem Vampir am größten und das Einzige, das noch zählt, Miss Granger. Und wie Sie wissen, bin ich seit dem Biss schon lange kein Mensch mehr, auch nicht nach Ansicht des Ministeriums. Für mich gelten andere Regeln. Selbst mit regelmäßiger Speisung fließt in meinen Adern kein Blut, das für bestimmte körperliche Funktionen verantwortlich ist. Aber selbst wenn ich eigenes Blut besäße“, er legte eine flache Hand auf seine Brust, „würde es nicht mehr durch meinen Körper gepumpt werden. Mein Herz schlägt nicht, ergo: keine Erektion.“ Hermines Wangen glühten, doch Sanguini stellte noch eine Sache klar. „Seit meiner Andersartigkeit ist glücklicherweise jedes Verlangen in dieser Hinsicht gestorben, sozusagen mit Abdanken meiner Menschlichkeit verpufft.“
Sie schluckte kräftig, und spürte förmlich, wie ihr Gesicht in Flammen stand. Diesmal räusperte sich Mr. Worple, der das Wort an Hermine richtete: „Wie ich annehmen muss, haben Sie keines meiner Bücher gelesen.“
Severus versicherte: „Ich sorge dafür, dass Sie sie liest.“
Worple amüsierte sich köstlich, blickte zu Severus: „Ich habe übrigens mit einem neuen Buch begonnen.“ Er deutete auf die Ampullen. „Über den Bluttrank, über das gesamte Experiment. Mit Ihrer Zustimmung …“
„Es wäre freundlich“, fiel Severus ihm ins Wort, „wenn Sie wenigstens so viel Zeit verstreichen lassen würden, sodass niemand annehmen könnte, ich hätte mit dieser Forschung gegen geltende Gesetze verstoßen.“
„Darüber machen Sie sich mal keine Sorgen. Es dauert sowieso, bis es fertig ist. Danach geht es durch die Hände meiner beiden Lektoren. Wenn es auf den Markt kommt, wird es so aussehen, als hätten wir sofort am 1. September mit der Forschung begonnen.“ Weil Severus sich nicht äußerte, fügte Worple an: „Ich möchte Ihnen Tantiemen anbieten, Mr. Snape.“

An dieser Stelle nickte Hermine Severus dezent zu, woraufhin er das Angebot annahm.

Nachdem die Gäste gegangen waren und Hermine und Severus sich ins Schlafzimmer zurückzogen, kramte er in einer der Kisten, die er nach seinem Einzug in die Apotheke noch nicht vollständig ausgeräumt hatte. Er fand das gesuchte Objekt.

Severus hielt Hermine ein Buch entgegen. „Hier, die Einstiegslektüre.“
Sie las den Titel Blutsbrüder: Mein Leben unter Vampiren. „Wie ist er eigentlich so nahe an sie herangekommen?“ Das Buch nahm sie ihm aus der Hand, um darin zu blättern.
„Anstatt schreiend davonzulaufen, hat Mr. Worple den Kontakt zu Vampiren gesucht. Es war Sir Castus Caedes, der sich seiner annahm und ihn anderen Vampiren vorstellte. Später kam Sanguini, der wesentlich ruhiger und umgänglicher war, deshalb von Worple sehr geschätzt wurde. Eine Art Eifersucht machte sich bei Caedes breit, der übrigens auch der Erste war, den ich jemals zu Gesicht bekam. Das war in meiner Jugend, ich glaube, während einer von Slughorns Zusammenkünften.“ Severus zeigte auf das Buch. „Du wirst darin unter anderem von Caedes lesen können.“ Hermine verzog das Gesicht. „Und auch von den Rivalitäten unter Vampiren. Sanguini und Caedes waren sich spinnefeind.“
„Aus welchem Grund?“
„Lies selbst.“
Hermine legte das Buch auf ihren Nachttisch, bevor sie begann, ihre Hose auszuziehen. „Warum hast du es mir nicht schon vorher gegeben, anstatt mich ins offene Messer laufen zu lassen?“
Unweigerlich musste er an das unangenehme Gespräch zwischen Sanguini und Hermine denken, woraufhin er grinsen musste. „Ich hätte nie geahnt, dass dich das Sexualverhalten von Vampiren interessiert.“
„Nicht nur das von Vampiren. Mich interessiert in biologischer Hinsicht alles, Severus. Das Sexualverhalten von Galápagos-Riesenschildkröten, von Hauselfen“, sie lächelte neckisch, knöpfte ihre Bluse auf, „und auch das von Tränkemeistern.“
In Windeseile war Severus dabei, sich der eigenen Kleidung zu entledigen. „In Bezug auf Letzteres kann ich dir ein praktisches Lehrangebot unterbreiten.“
„Das nehme ich doch gern an.“

Wie es sich anfühlte, wenn zwei Herzen im gleichen Takt schlugen, das wussten auch Harry und Ginny.

Am frühen Nachmittag machte sich Harry auf zu Draco. Unter dem Arm trug er eine Menge Informationsmaterial und die Hoffnung, seine Idee von einem gemischten Kindergarten verwirklichen zu können.

Anfangs las Draco die wichtigsten Punkte Muggelstudie über das soziale Verhalten von Kindern. Dabei kopierte er einige Stellen mit seinem Zauberstab auf ein separates Papier. Bei Harrys finanzieller Auflistung hakte er noch nach, weil einiges vergessen wurde. Weil Harry sich aber den Ratschlag zu Herzen genommen hatte, in Kindergärten der Muggelwelt Informationen einzuholen, war sehr bald alles vollständig. Auf dem Schreibtisch lag eine große Mappe, in der Draco sämtliche Papiere einsortierte.

„Was ist das?“, wollte Harry wissen.
„Dein Konzept. Wir wollen doch etwas vorzuweisen haben, wenn wir mit den Herren von Gringotts sprechen.“
„Ah!“ Harry nickte. „Wann sprechen wir mit denen?“
„Wie wäre es mit gleich? Wir gehen einfach hin. Wenn sie keine Zeit haben, machen wir persönlich einen Termin aus. Das kommt immer gut, wenn man zeigt, dass das Anliegen einem wichtig ist.“
„Ich bin aber nicht für ein Geschäftsgespräch gekleidet.“

Dracos Blick musterte Harry von oben bis unten. Eine blaue Jeans, ein weißes Muggelshirt, ungekämmt wirkende Haare. Draco grinste.

„Ich glaube nicht, dass die Kobolde sich erlauben würden, eine Person nach dem Äußeren zu beurteilen. Oder willst du es verschieben?“ Harry schüttelte den Kopf. „Dann auf in die Winkelgasse.“

Gringotts dominierte die Winkelgasse. Von beinahe jeder Stelle aus konnte man einen Teil der hoch gebauten Bank gut sehen.

Zunächst zeigte Harry ihm die Räumlichkeiten, die er von der Bank mieten wollte. Draco notierte die Gebäude-Nummer, die auf dem Schild an der Tür stand. Kurz darauf kamen sie an Flourish und Blotts vorbei. Im Schaufenster lagen Bücher aus, deren Buchdeckel Harrys Aufmerksamkeit erregte. Er blieb stehen.

„Dürfen die einfach ein Bild von mir nehmen?“
Draco gesellte sich zu ihm und betrachtete die neuste historische Ausgabe, die vom Krieg handelte. „Willst du den Verlag verklagen? Können wir gern machen.“
„Nein, ich bin nur überrascht.“

Drinnen im Geschäft führte einer der Angestellten eine Dame zum Schaufenster, nahm eines der Bücher und reichte ihr es. In dem Moment blickte sie auf und sah Harry durch das Glas. Aufgebracht rannte sie nach draußen, der Verkäufer hinterher.

„Moment, Sie können nicht einfach mit einem unbezahlten Buch auf und davon …“ Jetzt sah auch er Harry. „Oh, was für eine Freude. Harry Potter!“
Der Enthusiasmus der Frau war nicht zu bremsen. „Mr. Potter! Es ist so wundervoll, Sie einmal in natura zu sehen.“ In stinknormalen Jeans. „Würden Sie mir dieses Buch signieren?“
„Sie haben es noch nicht bezahlt“, erinnerte der Verkäufer.
„Ich werde schon noch bezahlen“, blaffte sie zurück. Die Dame blätterte zu einer bestimmten Seite. „Das ist das Ende des Kapitels über Sie, Mr. Potter. Hier ist genügend Platz, wenn Sie mir die Ehre erweisen würden?“ Man drückte ihm eine in Tinte getauchte Feder in die Hand. Woher die kam, war ihm schleierhaft. „Mein Name ist Alias.“ Harry stutzte. Das war ein Name? Als er die Stelle mitten im Buch betrachtete, fiel ihm das folgende Kapitel mit dem Titel Severus Snape auf.
„Das Buch kenne ich noch gar nicht“, murmelte er, als er einen Gruß an Alias auf dem Papier hinterließ.
„Es wäre mir eine Ehre“, begann der Verkäufer, „Ihnen eines zu überlassen.“ Einem der jungen Verkäufer, der an der Tür stand und mit seinen großen Augen den berühmten Harry Potter verschlang, schnippte der ältere Verkäufer zu. Sofort brachte man ein weiteres Exemplar vor die Tür. „Für Sie, Mr. Potter.“
„Oh, vielen Dank.“ Dabei las er ja auch so gern, seufzte Harry innerlich. Obwohl dieses Buch tatsächlich etwas für ihn sein könnte. Immerhin kam er darin vor – und seine Freunde. Er gab das signierte Exemplar an Alias zurück.
„Vielen Dank, Mr. Potter.“ In ihrer Geldbörse suchte sie sich Galleonen zusammen, die sie dem Verkäufer gab.
„Jetzt kostet das Buch aber fünfzig Galleonen mehr“, sagte er bierernst. „Weil es signiert ist.“
„Bitte?“
Gerade wollte Harry seinen Einwand kundtun, da verbesserte der Verkäufer: „War nur ein Scherz, meine Dame.“
Draco hatte sich das ganze eine Weile lang angesehen, bevor er an Harry herantrat und fragte: „Können wir weitergehen?“ Der Verkäufer und Alias blickten auf. Beide schienen zu wissen, um wen es sich bei Draco handelte, aber keiner sagte etwas.
Harry nickte. „Klar, wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden.“

Draco ging vor, als sie die weißen Stufen von Gringotts erreichten. Am blankpolierten Bronzetor trafen sie auf einen vom Alter gebeugten Angestellten. Der Kobold in seiner goldverzierten, scharlachroten Uniform verneigte sich vor den beiden Besuchern.

„Guten Tag“, sagte Harry, bevor er durch die Tür ging, die Draco ihm aufhielt.
Nachdem die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, fragte Draco leise: „Du grüßt den Türsteher?“
„Warum nicht?“

Draco zuckte mit den Schultern und beließ es dabei. Er schaute sich um. Hinter der silbernen Doppeltür sah man Kunden und Kobolde, doch man hörte sie nicht.

„Wir fragen an einem der Schalter, ob wir mit einem Verantwortlichen reden können.“

Auch diesmal hielt Draco die Tür auf. Sofort drang der Redeschwall verschiedener Personen an ihre Ohren. Ein organisiertes Durcheinander. Die Bank war immer gut besucht. In der Marmorhalle saßen die Bankangestellten auf ihren hohen Schemeln, um auf die großgewachsenen Menschen herabblicken zu können. Draco ging auf einen der Schalter zu und stellte sich an. Eine Dame wurde gerade bedient. Danach wären Harry und er an der Reihe.

Harry beobachtete die anderen Besucher. Jeder war so sehr mit seinen Belangen beschäftigt, dass er seine Ruhe vor aufdringlichen Fans hatte. Von einem der anderen Schalter kamen gerade zwei Personen, die Harry kannte.

„Hermine, George!“
„Harry, wie geht’s dir?“, fragte George.
„Gut, danke. Das ist aber ein Zufall, dass ich euch hier treffe.“
Hermine schüttelte den Kopf. „Ich komme mit George jeden Tag zur Mittagszeit her, um die Einnahmen einzuzahlen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ich mal jemanden treffe, den ich kenne.“
Draco unterbrach: „Harry, wir sind dran.“
Er ließ es sich dennoch nicht nehmen, seine Freunde zu verabschieden. „Ich komm nachher noch bei euch im Laden vorbei“, sagte er zu George.
Vom Schalter raunzte es: „Der Nächste!“

Kobolde waren ungeduldige Gesellen. Draco und Harry gingen zum Schalter, betraten die eine Stufe davor. Trotzdem waren sie gerademal auf Augenhöhe mit der Fläche, auf dem der Bankangestellte seine Arbeit verrichtete.

„Was kann ich für Sie tun?“ Der Kobold klang sehr unfreundlich.
Das Gespräch übernahm Draco. „Wir möchten gern mit jemandem sprechen, der für die Vermietung von 10/12 verantwortlich ist.“
„Von den Geschäftsräumen hier in der Winkelgasse? Wer will die mieten?“
Harry trat vor. „Ich, Sir. Guten Tag erst einmal.“ Harry streckte die Hand über den Schalter, die der Angestellte sich betrachtete, als wäre sie schmutzig. Nur zögerlich schüttelte der Kobold sie. „Mein Name ist Harry Potter.“
„Ja, glauben Sie denn, ich wäre blind?“
Harry blinzelte nervös. „Nein, natürlich nicht, Sir.“
„Lass mich reden!“, zischte Draco. An den Kobold gewandt sagte er: „Wegen der Räumlichkeiten.“
„Sind nicht zu vermieten.“ Der Kobold stand auf und belferte über die Köpfe der beiden hinweg: „Der Nächste!“
Draco wurde sauer. „Wir waren aber noch nicht fertig!“
„Doch, waren Sie. Ich sagte, die Räumlichkeiten wären nicht zu vermieten.“
„Warum hängt dann ein Schild an der Tür? Um die Leute zu verar…“
„Draco, lass mich mal“, bremste Harry ihn. Er war mehr als nur aufgeregt. „Könnten wir bitte mit dem zuständigen Mitarbeiter reden, Sir? Ich möchte ihm wenigstens sagen, warum ich diese Räume gern haben möchte.“

Der Kobold überlegte einen Moment, denn er blickte Harry lange an, ohne ein Wort zu verlieren. Vielleicht aber, und bei dem Gedanken wurde es ihm unbehaglich, dachte der Kobold nur, was für ein Idiot er wäre, weil er ein Nein nicht akzeptieren wollte.

„Bitte, Sir“, bohrte Harry nach.
„Nehmen Sie Platz und warten Sie. Ich werde sehen, was ich tun kann.“
Harry grinste. „Danke, Sir.“

Der Kobold grinste zurück, aber es wirkte nicht freundlich. Als sie sich vom Schalter entfernten, strahlte Harry übers ganze Gesicht. Draco hingegen wirkte verbissen.

„Was hast du denn?“, wollte Harry wissen. „Es sieht doch gut aus.“
„Findest du? Der Kobold hat gesagt, wir sollen Platz nehmen. Jetzt schau dich mal um.“
Bald verstand Harry, was Draco meinte. „Es gibt keine Sitzmöglichkeiten.“
„Richtig. Er hat und auf den Arm genommen. Komm, wir gehen.“
„Was denn, schon aufgeben?“
„Was willst du denn tun?“
Harry zuckte mit den Schultern. „Na, warten.“
„Wie lange soll das dauern?“
„Ich musste hier schon einmal bis zu fünf Stunden warten, nur um an mein Verlies zu kommen. Das war im sechsten Schuljahr. Ich kann warten. Die sollen ruhig sehen, dass es mir ernst ist.“
Draco schnaufte. „Gut, warten wir.“

Nach geschlagenen drei Stunden, in denen der Kobold nicht einmal seinen Schalter verließ, tat sich etwas. Ein anderer Kobold kam zu ihm, brachte ihm etwas. Wahrscheinlich etwas zu trinken. Die beiden tuschelten miteinander, wie Harry es beobachten konnte.

„Da, jetzt sagt er ihm bestimmt Bescheid, dass wir hier warten“, flüsterte Harry Draco zu. Sein Begleiter schaute zum Schalter, um noch rechtzeitig zu sehen, wie beide Kobolde in ihre Richtung blickten und kicherten. Harry rutschte das Herz in die Hose, und Dracos Zorn wuchs nur noch mehr.
„Die verarschen uns, Harry! Ich will nicht mehr warten.“
„Dann geh, ich warte noch. Die können mich doch nicht ewig hier sitzen lassen. Ähm, stehen lassen.“

Sie konnten. Nachdem Draco gegangen war, weil er noch andere Dinge erledigen musste, wartete Harry in der Marmorhalle auf einen Mitarbeiter, mit dem er sprechen konnte.

Endlich, nach vielen Stunden, kam ein Kobold auf Harry zu. Erwartungsvoll spitze Harry die Ohren.

„Wir schließen jetzt. Wenn Sie so freundlich wären und das Gebäude verlassen würden.“
„Ich …“ Man hätte ihm auch gleich mit einer Keule ins Gesicht schlagen können. „Ich warte auf einen Sachbearbeiter, Sir.“ Es war ihm ein Rätsel, warum er immer noch so höflich bleiben konnte und das kleine Wesen Sir nannte. Verdient hatte der Kobold es nicht.
„Tut mir leid, da müssen Sie wohl morgen wiederkommen.“

Jetzt war Harry wirklich sauer, aber er war auch hartnäckig.

Der Erste, der am nächsten Morgen mit einer dicken Mappe unterm Arm vor den noch verschlossenen Toren der Koboldbank wartete, war kein Geringerer als Harry Potter. Es war eine Sache, nach einem geschäftlichen Gespräch eine ablehnende Antwort zu erhalten, aber komplett ignoriert zu werden fand er unhöflich. Er selbst hatte sich gestern vorbildlich verhalten, war immer freundlich geblieben. Für heute hatte er sich extra elegant gekleidet, in traditioneller Zauberermontur. Möglicherweise trug seine legere Muggelbekleidung Schuld daran, dass man ihn nicht ernst genommen hatte. Harry wollte einen guten Eindruck hinterlassen.

Die Tür öffnete sich. Der betagte Türsteher trat heraus, beäugte Harry argwöhnisch.

Harry nickte ihm zu. „Guten Morgen.“
Der Kobold war über den heutigen Gruß genauso erstaunt wie über den gestrigen. „Guten Morgen“, erwiderte der kleine Kerl. Wenigstens einer war höflich.

Er war tatsächlich auch der Erste, der die Bank betrat. In der sonst so gut besuchten Marmorhalle herrschte eine seltsame Stille. Harry ließ seinen Blick schweifen. Ausnahmslos jeder der Kobolde, die an ihren Schaltern saßen, hatte die Augen auf ihn gerichtet. Harry entschloss sich dazu, mit dem Herrn zu reden, mit dem er gestern bereits Kontakt hatte. Als er auf den Schalter zuging, senkte der Kobold das Haupt. Man konnte es nicht hören, dafür jedoch sehen, dass der Bankangestellte stöhnte.

Artig wartete Harry an der Linie, die die Diskretion wahren sollte. Der Kobold hob eine Augenbraue, bevor er Harry zu sich heranwinkte.

„Guten Morgen, Sir“, grüßte Harry, hielt ihm abermals seine Hand entgegen.
Diesmal griff der Kobold sofort zu, wusste er doch, dass all seine Kollegen zusahen. „Mr. Potter, wie kann ich Ihnen behilflich sein?“
„Ich habe gehofft, Sie erinnern sich vielleicht noch an mein Ersuchen.“ Harrys Stimme hallte durch die Marmorhalle und drang an die Ohren aller anderen Kobolde, die gebannt lauschten.
„Sie wollen mit einem Zuständigen wegen der zu vermietenden Räumlichkeiten sprechen.“
Ha, dachte Harry, der Kobold hatte zugegeben, dass sie zu vermieten waren. „Richtig“, erwiderte er ruhig. Obwohl er sich sicher war, dass der Kobold darüber informiert war, denn er hatte ihn die ganze Zeit über sehen können, rief er ihm ins Gedächtnis: „Ich habe gestern sechs Stunden gewartet. Vielleicht findet sich heute eine Möglichkeit zu einem Gespräch?“

Der Kobold spielte mit seinen langen, knorrigen Fingern, spitzte dabei die Lippen. Ein hurtiger Blick zur Seite verriet ihm, dass seine Kollegen ebenso auf eine Antwort warteten wie der Kunde.

„Wenn Sie …“ Der Kobold biss sich auf die Zunge. Zweimal der gleiche Scherz bei derselben Person wäre selbst ihm zu dämlich. Es gab keine Stühle, auf denen Kunden Platz nehmen könnten. „Wenn Sie bitte warten würden.“
„Können Sie mir in etwa verraten, wie lange es dauern wird, bis mich jemand anhört?“ Von gestern taten Harry bereits die Füße weh, und er hatte das seltsame Gefühl, durch das lange Stehen heute einen Zentimeter kleiner zu sein. Vielleicht würden sie ihn erst anhören, wenn er sich die Beine in den Bauch gestanden hatte und genauso groß war wie sie?
„Tut mir leid, der Zuständige ist noch nicht im Haus.“
„Ah“, Harry versuchte es gar nicht erst, seine Enttäuschung zu verbergen, „gut, dann warte ich. Danke, Sir.“

Harry wählte die gleiche Säule wie gestern. Er lehnte sich an sie, drückte seine Unterlagen an den Oberkörper und begann zu warten. Warten war in diesem Sinne gleichzusetzen mit aufmerksamer Beobachtung. Es waren weniger die Kobolde, die er sich genauer ansah, sondern das Gebäude. Hier hingen eine Menge Bilder, in die er während der langen Zeit des Nichtstuns eintauchen konnte. Das Weizenfeld mit dem Birkenbaum in der Mitte hatte er gestern schon auswendig gelernt. Auch war er in seiner Fantasie bereits mit nackten Füßen durch die Botanik gelaufen und hatte es sich mit dem Rücken an den Stamm gelehnt gemütlich gemacht. Heute wollte er sich die Architektur des Gebäudes genauer betrachten. Überall waren goldene Verzierungen zu sehen.

Die Tür öffnete sich. Die Kobolde und Harry blickten die Frau an, die plötzlich innehielt und sich zu fragen schien, ob noch Reste ihres Frühstücks im Gesicht klebten. Nachdem sie sich gefangen hatte, warf sie Harry einen fragenden Blick zu. Sie erkannte ihn, das konnte er an ihren Augen sehen, die für einen kurzen Moment größer wurden, aber sie ließ ihn in Ruhe. Ihr weiterer Weg führte sie zu einem der Schalter.

Schon gestern hatte Harry die Zeit genommen. Kobolde arbeiteten schnell und effektiv. Die Frau, die Geld abheben wollte, war in fünf Minuten wieder draußen. Nicht immer musste man für solche lapidaren Angelegenheiten wie eine Auszahlung gleich in das persönliche Verlies reisen. Der Zeitaufwand wäre viel zu groß. Damals, als Gringotts die Sicherheitsmaßnahmen erheblich verschärft hatte, bekam man bereits einen Einblick, wie lange es dauerte, wenn jeder persönlich sein Verlies aufsuchte. In Friedenszeiten griffen die Kobolde wieder zu anderen Methoden. Vielleicht, so vermutete Harry, gab es hier oben einen Raum, in dem bereits Geld gelagert wurde oder wo man es aus den Verliesen hochzauberte.

Die Zeit verging schleppend. Die Säulen im Raum hatte er längst gezählt – es waren zweiundzwanzig. Jetzt nahm er sich das Gemälde vor, welches rechts von ihm an der Wand hing. Ein Koboldmädchen, das sich die Füße wusch. Für Kobolde stellte sie wahrscheinlich ein reizendes Geschöpf dar, in Harrys Augen war sie nicht sehr stimulierend, aber irgendetwas hatte die junge Frau an sich. Zunächst konnte man bestens sehen, dass sie jung war, denn ihre Haut war nicht so furchig wie ein Ackerfeld, die Ohren waren straff. Es war ihr leicht gesenkter Blick, der Harry faszinierte. Ihr gesamtes Gesicht war so entspannt, dass Harry beinahe meinen würde, sie würde das Fußbad nach einem harten Arbeitstag auf dem Feld genießen. Ein kühles Bad könnten auch seine Füße vertragen.

Die Tür zur Marmorhalle öffnete sich häufiger als am vorigen Tag. Mit Harry Potter schien kaum ein Kunde in der Bank zu rechnen. Sie gingen nicht mit wachem Blick durch die Welt, dachte Harry. Er hingegen sah selbst unwichtige Details. Der eine Kunde beispielsweise. Er humpelte, hielt einen beigefarbenen Schein in der Hand. Harry wusste, dass das ein Auszahlschein vom Ministerium war, der an Bedürftige ausgegeben wurde. Wahrscheinlich eine Kriegsverletzung, die zur dauerhaften Arbeitsunfähigkeit führte. Die Augenringe zeugten von schlaflosen Nächten. Obwohl Harry den Mann nicht kannte, empfand er Mitleid.

„Harry?“
Sein Kopf fuhr herum. „Hermine! Was für ein …“
„Kein Zufall. Die gleiche Zeit, Harry“, erinnerte sie ihn mit einem Lächeln.
George betrachtete ihn von oben bis unten. „Was machst du denn wieder hier?“
„Gestern hatte man keine Zeit für mich. Vielleicht heute.“
„Wie lange wartest du denn schon?“, fragte Hermine skeptisch.
„Seit neun.“
Sie stutzte. „Haben die dich auch nicht vergessen?“
„Glaube ich nicht. Der Kobold dort“, er nickte zum Schalter gegenüber, „weiß ganz genau, dass ich hier bin.“
„Herrje“, George seufzte, „man könnte meinen, sie spielen dir einen Streich.“
„Ich will wenigstens angehört werden“, verteidigte Harry sein hartnäckiges Verhalten.
Hermine knetete die beiden dicken Geldbeutel in ihrer Hand. „Hast du keinen Hunger?“
„Doch, so langsam schon. Aber ich gehe nicht, sonst heißt es nachher, als ich weg war, hätte man Zeit für mich gehabt.“

Ein wenig Aufmunterung hatte Harry nötig, aber Hermine musste bald wieder gehen, um während der Mittagszeit Tränke zu brauen. Womit Harry nicht gerechnet hatte, war, dass sie zurückkam. In ihrer Hand eine weiße Papiertüte und ein großer Pappbecher.

„Hier, Harry, was zu essen und einen großen Orangensaft für dich. Kürbis war leider aus.“
„Oh, vielen Dank.“ Aus der Tüte zog er eines der Sandwiches. In dem Moment, in welchem er herzhaft hineinbeißen wollte, wurde er von einer krächzenden Stimme gestoppt, die von einem der Schalter herüberhallte.
„Die Nahrungsaufnahme in diesen Geschäftsräumen ist nicht gestattet!“ Es war sein Kobold gewesen. Alle Menschen im Raum starrten ihn an, einige erkannten ihn als der, der er war. Ihm war danach, laut zu schreien, aber er schluckte seine Wut hinunter.
„Tut mir leid.“ Die momentane Stille nutzte er für sich. „Ich bin kurz vor der Tür, nur falls der Zuständige unerwartet Zeit für mich finden sollte.“ Damit sollte er ihnen die Möglichkeit genommen haben, ihn tatsächlich auf den Arm zu nehmen.

Harry war sauer. Dreieinhalb Stunden wurde er heute schon ignoriert, aber ihn auf ein Verbot hinweisen, das konnten sie. Hermine begleitete ihn nach draußen. Glücklicherweise war es sonnig und warm. Die erste Stufe nahm Harry als Sitzgelegenheit in Anspruch. Er stöhnte erleichtert. Nach der ganzen Zeit, die er stehend verbringen musste, war seinem Gesäß harter Stein so willkommen wie eine weiche Wolke. Den Orangensaft, die Tüte mit den Sandwiches und seine Mappe legte er zur Seite. Harry war sich klar darüber, dass Hermine keine Zeit hatte, aber dennoch blieb sie, setzte sich neben ihn. Freunde waren eben doch wichtiger als alles andere.

„Harry, willst du das wirklich durchziehen? Ich hätte längst aufgegeben.“
„Überleg doch mal, warum ich unbedingt in die Winkelgasse möchte.“ Er öffnete den Schnürsenkel eines Schuhs und zog ihn aus. „Das ist der Ort, an dem die Eltern mit ihren Kindern das erste Mal einkaufen gehen werden, bevor es nach Hogwarts geht.“ Der zweite Schuh folgte. „In dieser Einkaufsstraße ist alles beisammen.“ Harry hatte ein Loch in der Socke, durch das der große Zeh schlüpfte, als er sie streckte. „Und jeder, selbst der verbohrteste Reinblüter mit all seinen Vorurteilen, wird meinen Kinderladen in der berühmten Winkelgasse sehen und vielleicht, mit etwas Glück, dadurch zum Nachdenken angeregt werden.“ Obwohl Harry so ernst war, musste Hermine plötzlich lachen. „Was ist?“, blaffte er sie versehentlich an.
„Ich dachte nur eben …“ Sie schüttelte den Kopf, lächelte noch immer. „Du solltest nicht unbedingt ein leuchtendes Schild raushängen, auf dem Kinderladen steht. Sonst glaubt noch jemand, du würdest Kinder verkaufen.“ Harry musste schnaufen. „Du weißt doch, dass Zauberer manchmal etwas weltfremd sein können.“
„Mit dem Begriff Kindergarten konnte Draco auch nichts anfangen. Vielleicht hat er gedacht, ich stecke die Kids in einen Topf voller Erde, gieße sie und stelle sie in die Sonne.“
Sie deutete auf das Loch im Strumpf. „Soll ich …“
„Nein, das ist ein Luftloch. Das muss dort sein.“
Hermine strich ihm über den Rücken. „Wenn dir nach Reden ist, dann komm zu mir.“
„Du hast doch keine Zeit.“ Es schmerzte sie, das von Harry zu hören. „Ich meine das nicht so“, verbesserte er. „Und wenn ich vorbeikomme, dann erst nach Feierabend.“ Harry blickte über seinen Rücken zum Eingang und bemerkte den Türsteher, der auffällig unauffällig in die Luft schaute. Harry sprach vorsichtshalber leiser: „Mann, ich habe Voldemort besiegt. Ich lass mich doch jetzt nicht von ein paar Bankern in die Flucht schlagen.“ Kurz presse er die Lippen zusammen. „Von einer Horde Rechtsanwälten vielleicht, aber nicht von Bankern!“
„Ich wusste gar nicht, dass du so hartnäckig sein kannst.“
„Na, irgendwas musste ich mir in all den Jahren ja von dir abgucken.“
Hermine grinste. „Und das konnte nicht meine Liebe für Bücher sein?“
Aus Spaß verzog er das Gesicht, bevor er seufzte. „Hermine, du musst gehen. Ich weiß doch, dass du viel zu tun hast.“
„Mein Angebot steht.“
„Ich stehe auch gleich wieder“, stöhnte er zurück, bevor er zur Tüte griff. „Aber vorher stärke ich mich. Danke fürs Essen.“
„Dann viel Glück bei deinem Stehstreik, Harry.“ Über den Kuss an die Schläfe freute er sich. Es machte Mut.

Harry verschlang beide Sandwiches. Für den Orangensaft nahm er sich etwas mehr Zeit. Mit dem leeren Becher in der Hand beugte er sich leicht nach vorn, um einen Fuß zu massieren. Langes Stehen war er nicht gewohnt. Ein Herr kam an ihm vorbei. Plötzlich hörte er es klimpern. Zeitgleich wurde sein Getränkebecher schwerer. Verdutzt schaute Harry hinein. Der Mann hatte ihm vier Galleonen in den Becher geworfen.

„Hey, Sir!“, rief er ihm nach.
Der Mann schaute nicht einmal zu Harry, winkte nur ab und sagte: „Nichts zu danken.“

Mit seinem Zauberstab trocknete Harry den Inhalt des Bechers, bevor er die vier Münzen in seine Handfläche rutschen ließ. Das Loch in der Socke war nicht unbedingt sehr schick, dachte Harry, aber daraus gleich zu schließen, dass es sich bei ihm um einen Bettler handelt? Die vier Galleonen steckte er ein. Den Müll vom Lunch stopfte er in die leere Tüte, bevor er sich wieder die Schuhe anzog. Als er aufstand, spürte er sofort seine beanspruchten Füße. Er grummelte in sich hinein, als er seine Sachen nahm. Ordentlich, wie er war, warf er seinen Müll in den Abfalleimer, der sich in der Nähe des Türstehers befand.

„Ich bewundere Sie“, sagte Harry, als er den Kobold anblickte.
„Sir?“
„Sie stehen hier den ganzen Tag und verziehen keine Miene. Ich könnte das nicht.“
Der Kobold grinste. „Vielleicht stehe ich in Wirklichkeit gar nicht.“
„Aber ich sehe doch, dass Sie stehen.“
„Ihre Augen wollen es so sehen.“
„Ein Zauber?“, fragte Harry neugierig. Das wäre was für ihn.
„Das verrate ich Ihnen nicht. Ich kenne Sie ja nicht einmal.“
Harry streckte dem Kobold seine Hand entgegen. „Harry Potter ist mein Name, Sir.“ Der Kobold schüttelte Harry Hand und krächzte etwas. „Wie bitte?“, fragte Harry vorsichtig nach.
„Das war mein Name.“
„Oh, ich bedaure. Meine Zunge ist offenbar nicht gelenkig genug, um Ihren Namen zu wiederholen.“
„Versuchen Sie es.“ Der Kobold wiederholte seinen Namen. Es klang wie Gräschdn – fast wie ein Nieser.
Harry versuchte es: „Gräschdn.“
„Vor dem d noch ein e, Sir.“
„Gräschedn.“
„Sehen Sie, war gar nicht so schwer.“
Harry lächelte. „Ich habe bestimmt einen schlimmen Akzent.“
„Ach, die Kobolddamen finden so einen ausländischen Akzent sehr anziehen.“
„Wirklich?“ Harry machte eine gedankliche Notiz, niemals in Anwesenheit einer Kobolddame Koboldgack zu sprechen. „Ich habe noch nie eine Koboldfrau gesehen.“
„Nein? In der Bank arbeiten doch genügend.“
‚Fettnapfalarm!‘, dachte Harry. „Das Bild ist schön, das drinnen hängt. Sie wissen, welches ich meine?“
„Ja, das kenne ich. Sehr hübscher Pinselstrich.“
Harry nickte. „Na, dann will ich mal wieder.“
„Sir? Wenn ich fragen darf: Arbeiten Sie in der Bank?“
„Nein, ich warte.“ Kobolde hatten ebenso eine Mimik wie Menschen und dieser Türsteher warf ihm gerade einen fragenden Blick zu, sodass Harry erklärte: „Ich würde ja auch lieber mit jemandem sprechen, der für die Räumlichkeiten von 10/12 verantwortlich ist, aber da findet sich keiner, also warte ich.“
„Sie warten stundenlang?“
„Was bleibt mir denn übrig? Ich muss wieder … Warten gehen. Sie wissen schon.“

Drinnen lehnte sich Harry wieder an seine Säule. Er warf dem Mitarbeiter am Schalter gegenüber einen Blick zu, der besagte ‚Ich bin wieder da. Wäre schön, wenn man Zeit für mich hätte.‘

Es tat sich nichts. Harry war der Letzte in Gringotts. Der Kobold verließ seinen Schalter und kam auf Harry zu.

„Tut mir leid, Mr. Potter, aber …“
„Ja ja, ich weiß. Der Zuständige war nicht im Haus.“
„Ganz recht.“

Hörbar holte Harry Luft und ließ sie durch die Nase wieder hinaus. Er nickte dem Kobold zu und verschwand.

Noch bevor die Apotheke schloss, schaute Harry im Laden vorbei. Daphne winkte ihn nach hinten durch. Im Labor traf er auf Hermine und Severus – wie immer.

„Hat es geklappt?“, fragte Hermine ihn sofort, als sie ihn sah.
„Nein.“
„Setz dich erst einmal.“ Als sie sich zu Harry gesellte, übernahm Severus ihren Trank. „Kann ich etwas für dich tun.“
„Mir tun die Füße weh“, nörgelte er. „Darf ich mir die Schuhe ausziehen?“
„Oh, bitte“, warf Severus ein, „geht gefälligst in die Küche! Auf dem Boden hier kleben unzählige Zutaten. Du willst doch nicht, dass dir ein paar Zehen mehr wachsen?“

Den Vorschlag nahm Harry gern an. In der Küche entledigte er sich seiner Schuhe und stöhnte wonnig.

„Das tut gut.“ Er zog noch eine Socke aus und betrachtete seine Füße, die irgendwie anders aussahen als sonst.
Hermine bemerkte es ebenfalls. „Ach herrje, deine Füße sind ganz geschwollen.“ Vor ihm ging sie in die Knie und betastete den Spann. „Du hast Wasser in den Füßen.“
„Ist das schlimm?“
„Nein, höchstens unangenehm. Das kommt vom Stehen, Harry. Gehst du da morgen etwa nochmal hin?“
„Klar!“
„Sei nicht so störrisch.“ Hermine griff nach seinem Fuß, der zwar warm war, aber nicht verschwitzt und begann mit einer leichten Massage.
„Ah, das tut gut.“
„Ich geb dir ein Diuretikum. Allerdings musst du dann häufig auf die Toilette, also nicht erst kurz vorm Schlafengehen einnehmen.“

Nach wenigen Minuten betrat Severus die Küche, gefolgt von Hund und Kniesel. Er erblickte Hermine in der Hocke, Harrys Unterschenkel auf ihren Oberschenkeln, ihre Hände an seinem Fuß.

„Du massierst fremder Herren Füße?“
„Harrys Füße“, verbesserte sie.
Harry hielt Severus den anderen Fuß entgegen. „Hier, ich hab noch einen, falls du mitmachen möchtest.“
„Merlin bewahre!“
Der Hund kam zu Harry gelaufen und leckte die Fußsohle. „Nicht!“ Harry gackerte. „Hör auf, Harry.“ Beinahe wäre Harry vom Stuhl gefallen, aber Severus rief den Hund rechtzeitig zurück, um ihm Futter zu geben.
„Wenn du morgen wirklich noch einmal hingehen solltest“, begann Hermine, „dann mach ein paar Venenübungen, wenn du so lange stehen musst. Rolle mit dem Fuß vom Hacken bis zur Sohle, hin und her. Oder stelle dich auf die Zehen, hoch und runter. Nicht zu schnell.“ Hermine machte es vor. Sie stellte sich auf die Zehen, zählte bis drei, stellte sich wieder normal hin. „Und das ein paar Mal wiederholen. Oder mach so.“ Sie hob ein Knie an, umfasste es mit beiden Händen und zog es leicht an den Körper, wie Fußballer es zum Aufwärmen machten.
„Ich werde bestimmt keine Gymnastik machen, wenn ich in der Bank bin.“
„Ist ja nur gut gemeint.“ Aus einem Schrank holte sie eine Ampulle, die sie ihm gab. „Fünf Tropfen, mehr nicht. Du wirst ein paar Male ziemlich dringend müssen, also bleib in der Nähe der Toilette.“

Zuhause erhielt Harry von Ginny eine Fußmassage im Bett, aber auch eine Standpauke über sein stures Verhalten. Wenn die Kobolde nicht wollen, sagte sie, sollte er sich nicht so erniedrigen und betteln. Mit betteln hatte es seiner Ansicht nach nichts zu tun. Er blieb freundlich und ruhig. Sollte man ihm das Gebäude nicht vermieten, könnte man es ihm mitten ins Gesicht sagen. Den Kobolden müsste es irgendwann peinlich werden, ihn so an der Nase herumzuführen.

Am nächsten Morgen fand sich Harry pünktlich vor Gringotts ein. Auf den steinernen Stufen hatte er Platz genommen, bis er hinter sich hörte, wie ein Schlüssel ein schweres Schloss öffnete. Harry nahm all seine Sachen und stand auf. Durch die Tür kam zunächst der alte Türsteher nach draußen.

„Guten Morgen, Mr. Gräschedn“, grüßte Harry. Als er auch den Kobold vom Schalter bemerkte und grüßte, zeigte er die Courage, freundlich zu lächeln. Ron wäre wahrscheinlich jetzt schon aus der Haut gefahren. Die Zwillinge würden Stinkbomben werfen und Severus hätte die Gelegenheit genutzt, ein paar böse Flüche an den kleinen Gesellen auszuprobieren. Aber egal, wie sehr der Trotz der Kobolde seine Nerven auch strapazierte – Harry blieb ruhig und höflich.

„Mr. Potter“, sagte er Bankangestellte, mit dem er schon gestern und vorgestern zu tun hatte. „Es geht um die Immobilie 10/12, wie ich annehmen darf?“
„Ja, aber lassen Sie mich raten“, unterbracht er den Kobold, der bereits Luft geholt hatte, „ich soll warten. Wenn der Zuständige die Bank betritt, kann ich mit ihm reden.“

Der Kobold blickte ihn lange an, wirklich lange, so dass Harrys Gedanken einen Augenblick zu schweifen begannen und er sich vorzustellen versuchte, was der kleine Mann von ihm wohl denken mochte. Womöglich hielt er Harry für einen Idioten. Das machte ihm seltsamerweise gar nichts aus. Damals hatte ganz Slytherin ihn für einen Idioten gehalten, samt Severus als sarkastisches Sprachrohr des Hauses. Seine Verwandten waren nicht anders gewesen, und dann noch Umbridge, Fudge …

„Korrekt, Mr. Potter“, hörte er den Kobold plötzlich mit einem Hauch von Reue sagen. „Ich bedaure sehr, dass ich keinen Einfluss darauf habe, wann entsprechende Person in der Bank eintrifft.“
Resignierend presste Harry die Lippen zusammen. „Schon gut. Er ist aber nicht im Urlaub oder so? Nicht dass ich hier tagelang umsonst warte und der Zuständige sich gerade für einen zweiwöchigen Hula-Kurs auf Hawaii eingetragen hat.“
Der Kobold musste lächeln. Es war nicht dieses abfällige, gekünstelte Lächeln, das die für Menschen unansehnlichen Gesichter noch mehr zu Fratzen mutieren ließ. Es war ein echtes Lächeln. „Nein, Mr. Potter. Urlaub hat derjenige nicht.“
Harry atmete tief durch. Er glaubte dem Kobold. „Sie wissen, wo Sie mich finden können.“ Harry nickte zu der Säule gegenüber vom Schalter. „Aber auch ich werde mal Pause brauchen und kurz rausgehen.“
„Wenn nicht hier, dann werde ich Sie vor dem Gebäude finden, nehmen ich an?“

Harry nickte dem Kobold zu und nahm den Platz an seiner Säule ein. Gegen die Langeweile hatte Harry heute vorgesorgt. Das Buch, welches ihm der Herr von Flourish und Blotts geschenkt hatte, befand sich in seiner Hosentasche. Unter den neugierigen Blicken von etwa zwanzig Kobolden vergrößerte Harry es magisch, bevor er sich gemütlich an die Säule lehnte und mit dem ersten Kapitel des historischen Wälzers begann.

Beim Lesen verging die Zeit wie im Fluge. Heute fanden sich weit mehr Kunden in der Bank ein als an den letzten beiden Tagen. Einige Male wurde er von Fans angesprochen, aber auch von Bekannten. Hagrid, Filius, Molly, Neville. Letzterer erklärte das Kundenaufkommen damit, dass Mitte und Ende eines Monats die Leute ihr Geld bekommen würden. Das war auch der Grund, warum Valentinus Svelte sich hier einfand.

„Harry?“ Svelte blieb wegen des ehemaligen kollegialen Status auf der persönlichen Ebene, trotz der Meinungsverschiedenheiten und dem Vorfall mit Hermine. „Harry, was tun Sie denn hier?“
„Lesen“, erwiderte Harry trocken.
„Ah“, ein verlegenes Lachen, „im Park, in einem Wartebereich … Da lesen die Leute, aber in einer Bank? Das habe ich noch nie gesehen.“ Ein Lockhart-Lächeln blitzte auf, das mit großer Wahrscheinlichkeit das Copyright verletzte. „Was lesen Sie denn?“ Svelte griff zum Buch und drückte es an Harrys Brust, um den Titel lesen zu können. „Ich hab es auch gelesen, fantastische Buch. Wenn Sie es durchhaben, dann lesen Sie doch mal dieses.“ Svelte hielt Harry ein Buch mit dem Titel 100 fröhliche Knieselgeschichten unter die Nase. „Nehmen Sie es, ist ein Geschenk. Das ist mein zweites Werk“, verkündete Svelte stolz. Harry hielt es für besser, das Geschenk entgegenzunehmen und so wenig wie möglich mit Svelte zu sprechen. „Vielleicht sieht man sich mal wieder. Ich hoffe, etwaige persönliche Missverständnisse können eines Tages aus dem Weg geräumt werden. Meine Mutter war von Ihnen übrigens sehr angetan. Sie würde sich freuen, Sie nochmals treffen zu können.“
Eleanor. Die Frau, die sich Hopkins angeschlossen hatte. Die betagte Dame hatte er zu ihrem ersten Gespräch mit dem verlorenen Sohn begleitet. „Man wird sehen.“
Svelte war sich der ablehnenden Worte bewusst. „Sie können mich jederzeit über den Verlag kontaktieren. Die Adresse steht ihm Buch.“ Nach einem kurzen Schweigen verabschiedete sich Svelte.

Harry las sein Geschichtsbuch weiter. Und er versuchte, seine schmerzenden Füße zu vergessen.

Eine dunkle Gestalt vor ihm ließ ihn Stunden später aufblicken.

„Severus?“ Der Tränkemeister stand mit am Rücken verschränkten Armen vor ihm.
„War das tatsächlich eine Frage? Man sollte meinen, nach all den Jahren erkennst du mich.“
Harry schnaufte. „Ich war nur überrascht, dich hier zu sehen.“
„Wie üblich zur Mittagszeit werden die Einnahmen zur Bank gebracht.“ Harry schaute sich um. Hermine, die sonst diese Aufgabe übernahm, war nicht zu sehen, durchaus aber George, der sie nach dem Überfall immer abholte, damit sie nicht allein gehen musste. „Mit meinen eigenen Augen wollte ich mich davon überzeugen, wie du deine Zeit vergeudest.“ Harry kam nicht dazu, Einspruch einzulegen. Einige Kunden der Bank, auch einige der Banker, beobachten die beiden bereits. „Eigentlich solltest du schon in der Schule gelernt haben, wann man dir einen Streich spielt und wann nicht.“ Severus gab sich nicht einmal Mühe, seine Stimme zu zügeln. „Ich würde mir das nicht bieten lassen.“
„Severus.“ Harry sprach in der Hoffnung, dass sich seine Ruhe auf Severus übertragen wurde, sehr besonnen. „Wenn ich genug habe, habe ich genug. Im Moment macht es mir nichts aus zu warten.“
„Und es macht dir offenbar nichts aus, öffentlich schikaniert zu werden.“
Diesmal schnaufte Harry abfällig. „Schikane ist etwas anderes, das hat mir der Tagesprophet beigebracht. Warum kümmert’s dich eigentlich?“
Weil man für seine Freunde einsteht wäre die richtige Antwort gewesen, stattdessen sagte Severus: „Weil es ein Unding ist, wie man in diesem Haus als Kunde behandelt wird.“ Einige Kobolde begannen nervös miteinander zu tuscheln. „Ich überlege ernsthaft, die Bank zu wechseln. Möchtest du, dass ich vielleicht mal ein Wörtchen mit Angestellten wechsel?“
„Um Himmels Willen, nein!“ Die Kobolde müssten um ihr Leben fürchten, zumindest aber um ihr Gesicht, das sie bei einem Gespräch mit Severus mit Sicherheit verlieren würden. „Meine Geduld ist auch nicht unbegrenzt, Severus, aber im Moment …“ Harry seufzte. „Es macht mir nichts aus zu warten.“
„Mmmh“, grummelte es von Severus auf Harry herab. „Fein, wie du meinst.“
„Ich habe eigentlich gehofft, Hermine kommt heute wieder. Versteh das bitte nicht falsch, ich freue mich über jede Ablenkung, aber sie hat mir gestern was zu essen gebracht und …“
„Man trat durchaus mit der Bitte an mich heran, mich um diese Angelegenheit zu kümmern.“

Die Hände hinter dem Rücken waren nicht verschränkt, wie Harry anfänglich dachte. Dort hatte Severus eine Tüte und einen Becher verborgen gehalten, die er ihm nun präsentierte. Ein Mittagessen, heute mit Kürbissaft. Harry lächelte. Er verkleinerte sein Buch, verstaute es und nahm das Menü dankend entgegen.

Severus und George begleiteten ihn nach draußen, bevor sie sich verabschiedeten.

Gerade wollte Harry es sich wie gestern auf den steinernen Stufen gemütlich machen, da begann es bei schönstem Sonnenschein zu regnen. Im Nu stellte er sich bei dem Türsteher unter.

„Muss ausgerechnet jetzt eine Husche kommen?“ Harry schaute neben sich. „Dürfte ich mich vielleicht neben Sie setzen und essen?“
Gräschedn blickte von der Seite an Harry hinauf. „Sicher, Sir.“

Hier hatte Harry wenigstens eine Rückenlehne, wenn man die Wand des Bankgebäudes so nennen konnte. Er streckte seine Beine aus, zog plötzlich Luft durch die Zähne ein und winkelte ein Bein an. Mit einer Hand betastete er den Knöchel. Er war geschwollen.

„Sie dürfen Ihre Schuhe ruhig ausziehen, Sir“, sagte Gräschedn.
„Nur wenn es Ihnen nichts ausmacht.“ Weil der Kobold wortlos verneinte, befreite Harry seine Füße und stöhnte erleichtert.
„Heute ohne Luftloch?“
Erstaunt blickte Harry neben sich, dann lächelte er. „Sie haben gestern gelauscht.“
„Nein, Sir. Mit diesen Ohren muss man nicht lauschen.“ Es waren große Ohren, auf die Gräschedn zeigte, fast so groß wie die von Elfen.
Grinsend stöberte Harry in der Tüte, die Severus ihm gegeben hatte. „Möchten Sie vielleicht ein Sandwich?“, bot er höflich an.
Das Gesicht des Türstehers wurde mit einem Male ganz weich, begleitet von einem milden Lächeln. „Nein, aber vielen Dank, Sir.“

Ganz in Ruhe verspeiste Harry sein Essen, hielt derweil einen lockeren Plausch mit Gräschedn – wie der Name geschrieben wurde, war ihm noch immer nicht bekannt. Der Türsteher entschuldigte sich jedoch, bevor Harry fertig war, und ging nach drinnen.

Seine Pause hatte er genossen. Am liebsten würde er noch einen Moment hier verweilen, im Sitzen, aber er rang sich dazu durch, seine Sachen zu packen und sich wieder an seine Säule zu lehnen.

Der Kobold vom Schalter gegenüber winkte Harry unerwartet zu sich heran. Die Menschen, die in einer Schlange anstanden, sagten kein Wort, als Harry sich an ihnen vorbeidrängte.

„Mr. Potter, Sie finden Gehör. Einer unserer Angestellten wird Sie ins Büro des Zuständigen begleiten“, sagte der Kobold am Schalter.

Harry konnte es gar nicht fassen. Endlich, am Ende des dritten Tages, hatte er die Kobolde mit seinem Warten mürbe gemacht. Ein Sieg! Er hoffte nur, dass dieser Sieg am Ende nicht doch mit einer Niederlage enden würde, wenn man ihm sagte, er könnte die Räume vergessen.

Der Kobold führte ihn einen Gang entlang, der für den Publikumsverkehr tabu war. Schon die Türen hier sahen prachtvoll aus; aus dunklem Holz, groß und üppig verziert. An der größten Tür am Ende des Korridors machte der Kobold Halt.

„Einen Moment bitte. Ich werde Sie ankündigen.“
Harry nickte dem Kobold zu. „Sicher.“

Den Moment lang, den er warten musste, betrachtete er die hölzernen Schnitzereien über der Tür. Engelsgleiche Koboldkinder wachten über dem Eingang. Die Tür öffnete sich erneut.

„Sie können jetzt eintreten und auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz nehmen.“
„Vielen Dank.“

Im großräumigen Büro blickte sich Harry schüchtern um. Noch war er allein, der lederne Sessel hinter dem Schreibtisch leer. Gemälde hingen an der Wand, ausschließlich von Kobolden. Harrys Blick fiel auf den Stuhl, auf den er sich setzen sollte. Er war für kleine Wesen gemacht, wirkte wie der Stuhl aus einem Kindergarten. In diesem Sinne passte es zu seinem Anliegen, dachte Harry mit einem Schmunzeln, bevor er sich setzte. Mit seinen Händen konnte er den Boden berühren. Als sich eine andere Tür öffnete, stand er höflicherweise auf.

„Behalten Sie Platz“, hörte er eine bekannte Stimme sagen. Es war der alte Türsteher, der sich langsam zum Schreibtisch begab, doch er trug jetzt einen schwarzen Anzug in Miniaturausgabe. Harry blinzelte, blinzelte nochmals.

„Sir?“, wagte er leise zu fragen.
Gräschedn verzog keine Miene. „Nehmen Sie doch Platz, Mr. Potter.“
„Oh ja, vielen Dank.“ Der erste Schock war überwunden, aber jetzt stellte Harry sich Fragen – eine Menge Fragen.
„Meine Mitarbeiter teilten mir mit, Sie hätten Interessen an der Immobilie in der Winkelgasse.“
„Ja, Sir. Ich …“ Harry konnte nicht anders. „Darf ich fragen, warum Sie als Türsteher agieren, wenn Sie doch offenbar der Chef der Bank sind?“
Wieder dieses milde Lächeln. „Nur manchmal überkommt mich das Verlangen, meine Kunden zu beobachten. Ansonsten hocke ich hier, in diesem tristen Büro und lasse mir jegliche Arbeit abnehmen.“
Harry nickte. „Das verstehe ich, dass es einem schnell langweilig werden kann.“
„Zurück zu Ihnen, Mr. Potter. Erzählen Sie mir, was Sie mit den Räumlichkeiten vorhaben.“ Harry schlug seine Mappe auf, in der er sofort sein von Draco zusammengefasstes Konzept fand, doch Gräschedn war davon wenig begeistert. „Lesen Sie mir nichts vor, Mr. Potter. Erzählen Sie es mir.“

Und Harry begann zu erzählen, mit Händen und Füßen. Ähnlich wie bei Draco hatte er manchmal Probleme, seine Gedanken verständlich zu formulieren, aber seine Begeisterung machte das wieder wett. Bei einigen Punkten fragte Gräschedn nach, wollte mehr erfahren. Dämlich schien seine Idee keinesfalls zu sein, dachte Harry, sonst hätte man ihm längst einen Laufpass gegeben.

Als Harry sich alles von der Seele geredet hatte, besonders auch die Erklärung, warum er unbedingt in der Winkelgasse ansässig werden wollte, wurde es ruhig. Der Kobold machte ein ernstes Gesicht und dachte nach. Geduldig wartete Harry, blickte sich dabei im Zimmer um. Plötzlich krächzte eines der Gemälde und zwar genau das, das hinter dem Schreibtisch hing. In seinem Stuhl drehte sich Gräschedn zu dem Gemälde um und grunzte etwas zurück.

„Entschuldigung“, bat Harry um Aufmerksamkeit. „Ist das etwa der berühmte Gringott auf dem Bild?“ Gräschedn nickte. „Wow!“ Noch nie hatte Harry ein Bild von dem Gründer der einzigen Koboldbank gesehen. „Ich meine, guten Tag.“
„Mr. Potter“, begann Gräschedn sehr ruhig, „ich möchte Sie bitten, jetzt zu gehen. Sie werden von mir hören.“
Harry stand auf, sammelte seine Unterlagen zusammen. „Ist das ein eher schlechtes Zeichen?“
„Das werden Sie früh genug erfahren.“
„Auf jeden Fall danke ich vielmals dafür, dass Sie mich angehört haben. Auf Wiedersehen, Mr. Gräschedn.“

Als Harry den Koboldnamen aussprach, blickte Gringott ihn mit einer Mischung aus Verwunderung und Skepsis an. Die Augen des gemalten Kobolds wurden noch größer, als Harry sich per Handschlag von Gräschedn verabschiedete.

Zuhause wurde Harry von Wobbel begrüßt. Als Erstes mussten Schuhe und Socken dran glauben.

„Wo ist meine Frau?“
„Sie ist mich Nicholas die Mutter besuchen gegangen, weil sich ihr Gatte lieber die Beine in den Bauch steht, als mit ihr zu …“
„Hey!“, stoppte Harry den Elf.
„Ich wiederhole nur sinngemäß, was Mrs. Potter gesagt hat.“
„Na klasse.“ Harry seufzte, warf seine Unterlagen auf den Tisch und ließ sich auf die Couch plumpsen. „Dafür hatte ich endlich Erfolg.“ Nach einer kurzen Pause gab er zu: „Glaube ich jedenfalls. Mr. Gräschedn hat mich angehört. Ich denke, ihm gefällt meine Idee von einem Kindergarten.“
„Gräschedn ist ein Vorname in der Koboldgesellschaft.“
„Ach wirklich? Deswegen hat er immer gegrinst, wenn ich ein Mister davorgesetzt habe.“
„Ich bin mir sicher, mal gelesen zu haben, dass der Name gleichzusetzen ist mit dem englischen Vornamen Grayson, was soviel bedeutet wie ‚der graue Sohn‘.“
„Was denn, Wobbel“, Harry grinste, „du kannst Koboldgack?“
„Ich verstehe alles sehr gut, sprechen geht einigermaßen, aber schriftlich …“ Wobbel schüttelte den Kopf. „Das beherrsche ich nicht. Es ist eine sehr umfangreiche Sprache mit über fünfzig Buchstaben und extra Zeichen für Begriffe. Ich könnte Gräschedn nicht einmal zu Papier bringen. Der Anfangsbuchstabe ist ein Zwischending von k und g, nicht hart, nicht weich und mit keinem Buchstaben der Menschen zu vergleichen.“
„Und wie ist es mit deiner Sprache? Ist sie schwer?“
„Nein, elfisch ist recht einfach.“
„Dann kannst du es mir irgendwann mal beibringen.“
„Vinn!“
„Bitte?“
„Ich sagte Vinn. Wiederholen Sie es, Sir.“
Wegen Wobbels Eifer musste Harry lachen. „Ich sagte irgendwann, nicht sofort.“
„Das eine Wort schadet doch nicht.“
Da musste Harry ihm zustimmen, also wiederholte er das einfache Wort und sagt: „Vinn.“
„Sehr gut. War gar nicht schwer, nicht wahr?“
Harry schüttelte den Kopf. „Aber was heißt es?“
„Es heißt ‚Freund‘, Sir.“

Harry war gerührt und zudem stolz, dass Wobbel dieses Wort als so wichtig empfand, um es ihm als Erstes beizubringen.

Anders als Demut, Ehre oder Eitelkeit, die unter den Selbstgefühlen angesiedelt waren, zählte Freundschaft zu den Gefühlen der Verbundenheit. Ebenso wie der Hass.

Der Hass war ein Gefühl, das gemeinhin im Stillen gepflegt wurde. Uneingeschränkt zeigen sollte man ihn nicht unbedingt, besonders dann nicht, wenn diejenigen, die man hasste, in der Überzahl waren. Hass war obendrein angriffslustig. Er breitete sich im Herzen aus, konnte sein Pendant, die Liebe, verzehren und im Austausch eine ungesunde Leidenschaft für böse Taten wecken. Der Hass in der Brust machte einen aktiv.

Geringschätzung war im Gegensatz zum Hass viel leichter zu kontrollieren, denn sie fand im Kopf statt. Mitmenschen und weitere Kreaturen konnte man aufgrund ihrer Andersartigkeit schnell und unkompliziert als unwert bezeichnen und mit Verachtung strafen. Aber nicht alles, was man verachtete, hasste man von ganzem Herzen.

Verachtung drückte man am besten dezent aus, mit gewöhnlicher Mimik, anstatt mit bösen Worten. Man konnte beispielsweise die Nase rümpfen, als wäre man einem üblen Geruch ausgesetzt. Eine Gewohnheit, von der Narzissa seit langem schon abgelassen hatte. Severus schnaufte gern, um seine Geringschätzung zum Ausdruck zu bringen. Auf nonverbaler Ebene beherrschte er seinen Musculus frontalis perfekt. Er konnte mit seinen Augenbrauen eine Mimik erzeugen wie kein zweiter, aber selten machte er davon Gebrauch, um Überraschung zum Ausdruck zu bringen. Viel mehr lag ihm daran, dem Gegenüber deutlich zu machen, dass er ihn für unwissend, närrisch oder schwach an Verstand hielt. Gilderoy Lockhart zählte übrigens zu den wenigen Personen, die mit Severus’ gesamter Palette an verschiedenen Augenbrauenformationen bedacht worden waren.

Lucius hingegen zog es vor, ein prächtiges Gemeinschaftsspiel zwischen Mund, Nase und Augen zum Besten zu geben. Sein Mienenspiel war so sehr vollendet, dass die eigene Erhabenheit so gut wie nie durch ein hässliches Gesicht verunziert wurde. Wie aber, und das fragte er sich gerade, sollte er die Gäste seiner Geburtstagsfeier behandeln? Ein Werwolf in seinem Haus! Der Gedanke daran ließ ihn unbewusst jede Kontrolle über die Gesichtsmuskeln verlieren. Vor Ekel war es so sehr entstellt, als hätte man ihm Cerumen aufs Brot geschmiert. Abscheu war das, was er empfand. Hätte er die Möglichkeit, würde er die Schande, die mit so einem Wesen über seine Familie gebracht wurde, mit einer deukalischen Flut wegspülen, ganz wie Zeus es bei König Lykaon vorgemacht hatte. Erste Assoziationen zu einem solchen dunklen Wesen war die fortwährende Gefahr, die es für jedermann darstellte. Jeder wusste, was unschuldigen, kleinen Mädchen widerfuhr, die allein im Wald unterwegs waren.

Bei einem Werwolf dachte man ohne Umschweife an ein verschlagenes Monstrum, blutrünstig, Kinder fressend, behaart, stinkend und mit einem großen Maul voller scharfer Zähne. Als Lucius aus dem Fenster schaute, spitzte er die Lippen. Genau genommen verkörperte Greyback all dies, sogar ganz ohne Vollmond, ging es ihm durch den Kopf. Der Mann hatte stets nach Schweiß, Blut und Urin gestunken, dass es einem den Magen umdrehte. Zweifelsfrei rührte die größte Verunreinigung von Greybacks Kleidung nicht durch eigene, sondern durch die Körperflüssigkeiten seiner Opfer her, die vor lauter Todesangst keinen Muskel mehr unter Kontrolle hatten. Im Gegensatz zu Greyback, der eines Tages unverhofft auf Voldemorts Türschwelle auftauchte und wie ein anhänglicher Straßenköter einfach nicht mehr gehen wollte, war ihm Lupin bereits aus der Schule bekannt. Erst als ehemaligen Mitschüler und später als Lehrer von Draco. Sein Sohn hatte damals nichts Gutes über ihn sagen können. Und eben jener Lupin, eine dieser Bestien, würde demnächst in die Familie einheiraten und somit die gesellschaftliche Blamage für die Familie Malfoy vervollständigen.

Lucius schloss die Augen und versuchte, sich dem Schicksal zu beugen – den Dingen einfach ihren Lauf zu lassen. Immerhin, das hatte er sich vor einiger Zeit bereits vor Augen gehalten, gab es niemanden, der ihn für diese Schande despektieren würde. Diese Sorge war ihm von dem brennenden Mal genommen worden, das die meisten Anhänger des Dunklen Lords, fast seinen gesamten Bekanntenkreis, dahingerafft hatte. Unbewusst strich sich Lucius über den linken Unterarm.

„Fröstelt es dich?“, hörte er seine Frau fragen. Lucius drehte sich zu ihr. Mit ihren offenen Haaren wirkte sie in seinen Augen gleich zwanzig Jahre jünger.
„Nein.“
„Möchtest du dich noch etwas hinlegen, bevor die Gäste kommen?“
Lucius schenkte ihr einen irritierten Blick. „So alt bin ich ja nun auch nicht geworden.“
„Ich dachte nur …“ Narzissa stockte. „Du hast heute sehr unruhig geschlafen.“
„Hab ich?“ Daran konnte sich Lucius nicht erinnern. „Ich fühle mich ausgeruht. Mach dir keine Gedanken.“ Schnell wechselte er das Thema. „Was ist mit der Küchenhilfe?“
„Hat leider abgesagt. Dafür kommen Susans Eltern früher, um etwas zu helfen.“
Da war es, sein Mienenspiel, das Verachtung ausdrücken sollte. „Es ist mir unangenehm, dass die Gäste meiner Feier in der Küche arbeiten sollen. Ich wünschte zudem“, Lucius nahm ihre Hände in seine, „dass dir das ebenfalls erspart bliebe.“
„Es ist nicht sehr viel Arbeit. Vieles habe ich bestellt, nur wenig bereiten wir selbst zu.“
„Vielleicht sollte ich nochmals einen Hauself beantragen. Wer weiß?“
Narzissa schüttelte den Kopf. „Tu das nicht.“ Es würde ihn aufregen, sollte eine weitere Absage erteilt werden und die würde kommen. „Im Moment helfen Susan und Draco. Ich bin gekommen, um dich zu fragen, ob du auf Charles achten würdest, ihn nachher auch zum Mittagsschlaf hinlegst. Auf dem Küchenfußboden ist momentan nicht der richtige Platz für ihn.“
„Sicher, meine Teuerste. Ich werde ihm die Zeit vertreiben.“ Und sich selbst, dachte er missgestimmt. Am liebsten wäre es Lucius, wenn die Feier schon vorüber wäre.

Genauso unmotiviert wie Lucius begann auch der Tag von Sirius. Schon zum Frühstück war er erstaunlich ruhig, obwohl er sonst immer, wie Anne es gern ausdrückte, einen resoluten Optimismus an den Tag legte. Stets gut gelaunt, immer Zeit für einen Scherz. Heute nicht.

„Warum bist du denn so ein Brummbär?“, fragte sie geradeheraus.
„Bin ich gar nicht!“, rechtfertigte er sich mit kindlichem Schmollmund.
„Geht es um heute Abend?“ Er äußerte sich nicht dazu, weshalb sie nachstocherte. „Wenn du dort nicht hingehen möchtest, warum gehen wir dann?“
„Weil meine Familie es von mir erwartet.“

Es klang schön, fand er, von einer Familie sprechen zu können, die tatsächlich seine war. Gegen Andromeda, Ted, Tonks und Remus hatte er nichts. Narzissa war ihm manchmal noch nicht ganz geheuer und mit Draco hatte er bisher wenig zu tun. Aber Lucius …

„Seit wann interessiert dich, was andere von dir denken? Glaubst du, ich möchte deine schlechte Laune den ganzen Abend über ertragen? Sag ab, wenn es dir so sehr gegen den Strich geht.“
Sirius stieß Luft durch die Nase aus. „Nein, nein, wir gehen hin. Ich werde mich auch benehmen.“
„Kannst du mir wenigstens sagen, warum du so zickig bist?“
Wegen ihres Vorwurfs blickte er verstört auf und schien sich zu fragen, ob Männer zickig sein konnten. „Ich bin nicht zickig! Es ist nur …“ Sirius’ Gesicht zerknautschte sich an unzähligen Stellen, als er eine Grimasse schnitt. „Lucius Malfoy“, begann er langsam, doch die Abneigung konnte er nicht verbergen. „Er ist ein Heuchler! Ein Wolf im Schafspelz.“
„Also das genaue Gegenteil von Remus“, entwich es ihr scherzhaft.
„So ähnlich, ja. Er ist …“ Wie konnte man Lucius Malfoy für jemanden beschreiben, der noch nie mit ihm zu tun hatte? „Er ist ein Blender, ein Scheinheiliger. Du wirst das sicherlich zu spüren bekommen, denn er wird dich nicht ausstehen können. Du bist ein Muggel. Er hasst Muggel. In seinen Augen sind sie keinen Pfifferling wert.“
„Ich mag Pilze auch nicht besonders.“
„Anne, bleib bitte ernst.“
„Wie soll ich ernst bleiben, wenn du dich in solchen Hasstiraden verlierst?“
„Glaubst du mir etwa nicht?“
„Na ja, von Severus hast du auch nie gut gesprochen, aber zu mir war er immer freundlich.“ Bevor er gegenteiligen behaupten konnte, betonte sie nochmals: „Immer, Sirius! Gibt dir das nicht zu denken?“
„Natürlich gibt mir das zu denken“, murmelte er, fuhr sich dabei mit einer Hand über die Stirn. „Den habe ich ganz vergessen, der kommt ja auch. Womit habe ich das verdient?“
„Ich gehe hin! Wenn du nicht möchtest, dann sage es. Ich werde Remus und Tonks fragen, ob sie mich mitnehmen, aber ich möchte mal wieder raus aus dem Haus.“
„Ist ja gut, ich komme mit. Pass aber bitte auf dich auf. Am besten weichst du mir nicht von der Seite. Er kann sehr beleidigend sein. Ich möchte nicht, dass er dir irgendetwas antut.“
„Du reagierst völlig über!“
„Pah“, machte Sirius. „Wirst schon sehen, was für ein Typ Mensch er ist.“ In Rage geredet begann er am ganzen Leib zu zittern. „Das letzte Mal, als ich mit ihm zu tun hatte – richtig zu tun hatte – war im Ministerium. Wir haben gekämpft, gegeneinander. Es war eine persönliche Angelegenheit geworden, bis meine werte Cousine …“

Seine Augen flatterten. Er musste sie schließen. Dem Kampf im Ministerium folgten viele Jahre voller Unsicherheit. Eine surreale Existenz hinter dem Schleier in Form von Gedanken an die Vergangenheit.

Sirius spürte eine Hand an der Wange und öffnete die Augen.

Ihre Stimme war ein Flüstern. „Ich dachte, ihr hättet euch auf Harrys Hochzeit …“
„Kein Wort haben wir gewechselt.“ Sirius wandte sich von ihr ab, um vorzugeben, in einem Schrank nach Kleidung für heute Abend zu suchen, die er längst herausgelegt hatte. Er nuschelte noch etwas, dass sich wie Kanaille anhörte, aber Anne ging nicht mehr darauf ein.

Malfoys Geburtstag war auch woanders ein Thema. Im Hause Bones war gerade die Frage aktuell, ob das blaue oder das gelbe Kleid getragen werden sollte.

Mr. Bones schaute sich die nervösen Handbewegungen seiner Frau noch eine Weile an, bevor er eingriff und versicherte: „Megan, beruhige dich. Beide Kleider sehen gut aus.“
Letztendlich ging es nicht um Äußerlichkeiten. Dem Schwiegervater ihrer Tochter war sie schon über den Weg gelaufen, aber miteinander gesprochen hatten sie noch selten. „Ich weiß nicht, Elliot.“
Sie wusste von seinen Vorurteilen gegenüber Muggeln. „Draco hat sich als freundlicher, junger Mann entpuppt“, begann Elliot leise. „Wir können zumindest hoffen, dass Mr. Malfoy senior sich nicht herausnehmen wird, seiner Antipathie nachzugeben und dich zu beschimpfen. Ich bin mir sicher, dass Narzissa das nicht zulassen würde.“

Megan nickte. Mrs. Malfoy – Narzissa – war auf der Hochzeit der Kinder äußerst freundlich gewesen. Dennoch war die Angst da, einem ehemaligen Todesser gegenüberzutreten. Plötzlich waren die Kleider egal. Megan rannte zu einer Kommode und wühlte in der ersten Schublade.

„Schatz, was suchst du da?“
„Das Pfefferspray gegen Hunde.“
Elliot ging zu seiner Frau hinüber und ergriff ihre zitternden Hände am Handgelenk. „Meinst du wirklich, es zeugt von Entgegenkommen, wenn du Todesser-Abwehrspray einsteckst?“
Obwohl ihr Mann lächelte, war Megan nicht nach Scherzen zumute. „Ich habe Angst, Elliot. Ich habe wirklich Angst. Es war deine Schwester, die man umgebracht hat. Dein Bruder, den die Todesser samt Familie ermordeten.“ Ihr Zittern wurde stärker. „Woher willst du wissen, dass er nicht einer von denen war?“
„Ich …“ Elliot schluckte. Die Erinnerung an seine Geschwister, an die Schwägerin und Nichten, war mit einem Male wieder so präsent, als hätte er erst gestern die schreckliche Nachricht über deren Ableben erhalten. „Das Ministerium hätte ihn nicht freigelassen, wenn er auch nur einen Menschen auf dem Gewissen hätte. Soweit ich weiß, setzte man beim Verhör die Wahrheitsdroge ein.“
Megan nickte. Ganz überzeugt war sie noch nicht. „Mir gefällt auch nicht, dass unsere Tochter in diesem Haus lebt, zusammen mit ihm unter einem Dach. Sie kommt mit ihm nicht gut aus.“
„Susan ist eine erwachsene Frau, Megan. Sie kann Entscheidungen für sich treffen und wenn sie der Meinung ist, es wird ihr zu viel, wird sie entweder ein Wörtchen mit Mr. Malfoy wechseln oder, wenn das nicht möglich sein sollte, die Konsequenzen ziehen.“
Seine Frau nickte, als wollte sie sich selbst gut zureden. „Harry Potter hat sich heute gemeldet“, wechselte sie abrupt das Thema. „Das Geschenk hat er besorgt. Fünfzig Galleonen pro Person.“
„Ich hoffe, Mr. Malfoy weiß das zu schätzen.“

Im Hause Malfoy liefen die Vorbereitungen in der Küche auf Hochtouren. Susans Eltern waren bereits gekommen, unbemerkt von Lucius, der mit Charles im Arm auf einem Sofa saß und aus einem Kinderbuch las.

Wie es sich gehörte, wollten Megan und Elliot den Gastgeber begrüßen, bevor sie in der Küche mit anpackten. Narzissa führte sie in den grünen Salon. Die fröhliche Konversation endete auf der Stelle, als sie das schlafende Kind bemerkten. Mit Rücksicht auf Charles fand die Begrüßung ausnahmslos im Flüsterton statt.

„Lucius, Charles sollte doch seinen Mittagsschlaf halten“, erinnerte ihn Narzissa.
„Aber er schläft doch.“ Demonstrativ ließ Lucius seinen Blick auf das entspannte Gesicht des Kindes fallen, bevor er nochmals seine Frau ansah.
„Wollte er wieder nicht ins Bett?“ Es war eine rhetorische Frage. Narzissa wusste, dass Charles ungern einen Mittagsschlaf hielt. Ihn jetzt hier zu sehen, im Arm ihres Mannes und tief schlafend, brachte sie zum Lächeln.
„Mrs. Bones, Mr. Bones“, Lucius legte das Kinderbuch neben sich auf das Polster und streckte der Dame die Hand entgegen. „Bitte nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich Platz behalte.“
„Ach, das macht gar nichts“, winkte Megan ab. „Guten Tag, Mr. Malfoy und ganz herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.“ Mr. Bones wiederholte die Prozedur seiner Frau.

Zu seinem eigenen Erstaunen ließ man ihn wieder allein. Man schien sich nicht daran zu stören, dass er sich im grünen Salon die Zeit vertrieb, während die Gäste, wobei die Bones’ zur Familie gehörten, in der Küche arbeiteten. Das mochte jedoch auch an den Privilegien eines Geburtstagskindes liegen. In der angenehm ruhigen Atmosphäre des Zimmers, durch dessen offene Fenster die Vögel hineinzwitscherten, lehnte sich Lucius zurück an das Sofa und vergnügte sich dabei, abwechselnd seinen Enkel im Schlaf zu beobachten und nicht mehr in dem Kinderbuch, sondern in der letzten Ausgabe des Tagespropheten zu blättern.

Als ihm der Arm einschlief, legte er Charles vorsichtig auf das Sofa. Damit der Junge im Schlaf nicht fallen würde, schützte er ihn mit einem Zauberspruch, deckte ihn zu und begab sich, nachdem er tief durchgeatmet hatte, in die Küche.

Seine Frau und Mrs. Bones richteten eine kalte Platte an. Draco und Mr. Bones gingen die gelieferten Speisen des Catering-Service eines renommierten Gourmet-Restaurants durch. Seine Schwiegertochter war die Einzige, die eine Schürze trug und Käse schnitt – mit der Hand.

„Gibt es dafür keinen Haushaltszauber?“, fragte Lucius, den bisher niemand bemerkt hatte. Erst jetzt blickte man ihn an, dann hinüber zu Susan.
Seine Schwiegertochter erklärte: „Doch, gibt es, aber der Fachhändler sagte, dass ein Schnittzauber die geschmackliche Qualität beeinträchtigen würde.“

Wäre ihr die Güte der Speisen, die auf seiner Feier serviert werden sollten, egal, hätte sie sich nicht die Mühe gemacht, zu einem Messer zu greifen. Lucius war einerseits milde gestimmt, dass sie so aufmerksam war und die Mehrarbeit in Kauf nahm. Andererseits würde er ihr dafür Dankbarkeit zeigen müssen, aber dazu war er nicht bereit. Deshalb erwiderte er nichts.

„Wo ist Charles?“, wollte sein Sohn von ihm wissen.
„Er schläft auf dem Sofa. Keine Sorge, er kann nicht hinunterfallen.“ Sein Sohn nickte beruhigt und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
Narzissa warf ihrem Mann ein Lächeln zu. „Lucius, möchtest du vielleicht für nachher schon den Wein auswählen?“
Übersetzt hieß das, in den dunklen, schmutzigen Keller zu gehen, durch Spinnennetze zu greifen und staubige Flaschen in die Hand zu nehmen. Lucius rümpfte die Nase, sagte entgegengesetzt seines sichtbaren Ekels jedoch: „Sicher, rot und weiß?“
„Ja, bitte.“

Der Keller war nicht so schlimm, wie er ihn sich vorgestellt hatte. Es roch zwar muffig, aber Narzissa musste erst kürzlich alles gesäubert haben. Die Fackeln erhellten das Gewölbe, in denen die alten Weinregale seines Vaters standen, die der schon von seinem Vater übernommen hatte.

Wahllos griff Lucius zu ein paar Flaschen und betrachtete ihr Etikett. Die besten Weine wollte er seinen Gästen nicht anbieten. Seiner Meinung nach würden sie es nicht zu schätzen wissen, welch hochwertiges Getränk ihre Zunge benetzte. Die Mittelklasse tat es auch, aber davon gab es wenig. Es wiederstrebte ihm, die teuren Flaschen mit durchschnittlichem Volk zu teilen.

„Achtzehnhundert…?“ Lucius drehte die Flasche, hielt sie unter eine der Fackeln, aber das Datum konnte er nicht entziffern.

Aus einem alten Metallbecher, der hier unten stand, zauberte er ein sauberes Weinglas. Den Wein von tiefpurpurroter Farbe wollte er sofort verkosten. Lucius nahm einen winzigen Schluck, rollte ihn über die Zunge und atmete ein, bevor er schluckte. Ein umwerfendes Pfirsicharoma und ein Hauch Zimt war zu schmecken, selbst die Spur von Pflaumen erkannte bei dem trockenen Wein. Lucius leerte das Glas, verschloss die Flasche danach magisch.

Ein anderer Wein wollte ebenfalls probiert werden. Ein Weißer, goldgelb, mit einem frischen Duft nach grünen Äpfeln und einem vollen und lieblichen Geschmack. Ebenfalls ein Trockener, der zu gut für die Gäste war.

Nach einer Weile, die Lucius allein mit den Weinen verbrachte, hörte er die Stimme seiner Frau.

„Hast du die alle geöffnet?“ Ungläubig deutete Narzissa auf die sechs Flaschen.
„Natürlich! Denkst du allen Ernstes, ich möchte mit einem Wein anstoßen, der nach Kork schmeckt? Was würde das für einen Eindruck hinterlassen?“ Lucius roch an dem Wein in seinem Glas und genoss die letzten beiden Schlucke.
„Wie viel hast du getrunken?“
„Nicht zu viel, falls du darauf anspielst.“ Sechs Flaschen, sechs verschiedene Weine – das machte logischerweise sechs Gläser, die nicht gerade bescheiden gefüllt waren.
„Die sechs hast du ausgewählt?“ Weil Lucius nickte, zauberte sie die Flaschen vom Keller in den grünen Salon, um sie später in die Rot- und Weißweinkaraffen umzufüllen. „Severus ist übrigens gerade gekommen.“

Lucius strahlte, doch sein Lächeln verblasste sehr schnell wieder, als er sich vor Augen führte, dass mit Severus auch das Schlammblut anwesend war. Er hoffte innig, sie würde Severus wenigstens einen Moment lang von der Leine lasse, damit er mit seinem alten Freund in Ruhe reden konnte.

Auf den Stufen, die nach oben führten, warnte Narzissa ihren Gemahl vor: „Die Blacks sind auch schon hier. Beinahe alle sind pünktlich.“
„Wie wundervoll! Dann stürzen wir uns mal in einen Krieg, in dem die Schwerter aus Worten geschmiedet wurden.“
„Lucius, ich bitte dich inständig …“
„Keine Sorge. Ich werde mich weder in Impetus noch Lautstärke steigern, sollte es zu unangenehmen Gesprächsthemen kommen.“

Vielleicht war es der Wein, möglicherweise die Aufregung, eine Fehlzündung im Gehirn, alles zusammen oder es hatte völlig andere Ursachen, als mit einem Male Lucius’ Zwerchfell beschloss, eine reflexartige Einatmungsbewegung auszuführen, die zu einem Geräusch führte, das man im allgemeinen Sprachgebrauch gern als Hickser bezeichnete. Narzissa drehte sich erstaunt zu ihm um.

Mit flacher Hand fasste sich Lucius an die Brust und versicherte: „Ich habe wohl falsch geatmet.“

Oben angelangt war der Einzige, der seine Anwesenheit sofort bemerkte, Severus. Seine bessere oder schlechtere Hälfte, wie man es nahm, unterhielt sich mit dem Cousin seiner Frau, Sirius Black. Es schien, als würde Severus einen Sicherheitsabstand zu eben jenem Mann halten, um einem möglichen Gespräch aus dem Weg zu gehen. Severus näherte sich Lucius.

„Alles Gute zum Geburtstag.“
Erleichtert schüttelte Lucius ihm die Hand, legte die andere auf dessen Schulter. „Severus, es ist schön, dass du hier bist. Ich freue mich.“
„Das glaube ich dir sogar.“
„Ganz im Ernst. Wir haben in letzter Zeit kaum die Gelegenheit gehabt …“

Schon wurde erwähnte Gelegenheit unterdrückt, denn Severus’ Verlobte steuerte zielsicher auf ihn zu. Sie hielt ihn also doch an der kurzen Leine, mutmaßte Lucius. Ein Umgang mit ihm war Severus anscheinend nicht gestattet.

„Mr. Malfoy, guten Tag. Ich möchte herzlich zum Geburtstag gratulieren.“

Höflich, wie er war, schüttelte er die entgegengestreckte Hand und bedankte sich. Erstaunlicherweise ließ sie die beiden Männer danach in Ruhe. Noch besser war, dass Severus ihr nicht folgte. Offensichtlich hatte er seine Freiheit behalten.

„Was hast du?“, fragte Severus.
„Ich dachte für einen Augenblick, man hätte dir verboten, mit mir zu reden“, erwiderte Lucius zwar mit schelmischem Lächeln, aber es war deutlich zu vernehmen, dass er es ernst meinte.
„Du müsstest mich kennen. Ich lasse mir von niemandem Verbote auftragen.“
„Ja, nicht einmal vom Dunklen Lord.“
„Warum musst du ihn erwähnen?“ Severus hob beide Augenbrauen, bevor er gelangweilt fragte: „Fehlen dir die alten Zeiten so sehr, dass du ständig an sie erinnern musst?“

Das Beben seiner Unterlippe konnte Lucius spüren, es musste sichtbar sein. Und tatsächlich erwischte er Severus dabei, wie er ihm für den Bruchteil einer Sekunde auf den Mund schaute.

Lucius atmete ruhig durch. „Du hast Recht, es war eine unangemessene Bemerkung.“ Er ließ seinen Blick schweifen, direkt vorbei an seinem Freund. „Oh, nein …“ Severus folgte Lucius’ Blick und sah Sirius, der mit seiner Frau näher kam.
„Lucius!“ Die Abneigung der beiden Männer war auch nicht damit zu verschleiern, dass sie sich beim Vornamen nannten. „Ich möchte mich den Gratulationen anschließen.“ Ein halbherziger Handschlag folgte. „Das ist meine Frau.“ Sirius schaute zu Anne, legte einen Arm um ihre Schulter. „Sie ist ein Muggel.“

Eine absichtliche Provokation. Lucius mochte es ganz und gar nicht, dieses Tatsache noch unter die Nase gerieben zu bekommen. Wahrscheinlich erwartete Sirius nun, dass er sich negativ äußerte, wenigstens aber seine Verachtung mit der Mimik zum Ausdruck brachte. Den Zahn wollte er ihm ziehen. Lucius setzte sein schönstes Lächeln auf und ergriff die Hand der jungen Frau.

„Mrs. Black“, ein galanter Handkuss folgte, „es ist mir eine große Freude, Sie näher kennenzulernen.“ Noch immer hielt er die Hand der Dame in seiner. „Sie müssen mir im Laufe des Abends unbedingt erzählen, wie Sie die magische Welt empfinden. Es ist sicherlich Neuland für Sie.“ Jetzt ließ er die Hand wie in Zeitlupe los, was eindeutig schmeichelnd gemeint war. „Eine aufgeschlossene Dame wie Sie, dazu noch eine so bezaubernde, konnte bisher bestimmt alle Hürden überwinden.“
„Ich …“ Verlegen spielte sie mit ihrer Halskette. „Ja, ich habe mich gut eingelebt. Ich arbeite sogar in der magischen Welt.“
„Nein, wirklich!“ Begeisterung vorzutäuschen war ein Leichtes für Lucius. „Als was, wenn ich fragen darf?“
„Als Hutmacherin bei Stock und Hut.“
Dort wollte Lucius in Zukunft nie wieder einkaufen gehen. „In der Winkelgasse!“ Jetzt schwang sogar Stolz in seiner Stimme mit, was ihm jedoch einiges an Mühe abverlangte. „Eine hervorragende Gegend.“

Sirius’ Blick verfinsterte sich. Er kam nicht dazu, stichelnde Bemerkungen von sich zu geben, denn aus der Küche rief Narzissa: „Sirius?“
„Ja, wir kommen.“ An Lucius gerichtet sagte er: „Wir sehen uns ja noch.“
Er zog Anne hinter sich her. Man konnte noch hören, wie sie zu ihm sagte: „Ich weiß gar nicht, was du hast …“

Ein selbstgefälliges Grinsen zierte Lucius’ Gesicht, als er Severus in die Augen blickte. Er konnte es noch immer.

Im Hause Tonks machte man sich für den Abend bereit. Man besprach Harrys Nachricht.

Wenn pinkfarbene Haare rot wurden, stand Missmut an. „Ich finde, fünfzig Galleonen pro Person sind viel zu viel für diesen Mann.“
„Wir haben das doch aber im Vorfeld geklärt. Es wäre nicht nett, wenn wir Harry jetzt weniger geben als ausgemacht.“ Dann und wann hatte Remus arge Mühe, Tonks zu beruhigen. Zum Glück waren sie gerade bei ihren Eltern, die auch ein Wörtchen mitzureden hatten.
„Es ist der fünfzigste Geburtstag.“ Mit einer Hand strich sich Andromeda das Kleid gerade. „Da ist es angemessen, für das Geburtstagskind ein wenig tiefer in die Tasche zu greifen.“
„Geburtstagskind?“ Tonks schnaufte abfällig. „Warum müssen wir so tun, als wären wir eine intakte Familie?“
„Nymphadora.“ Ted legte eine Hand auf die Schulter seiner Tochter. „Wir, die Familie Tonks“, er zeigte auch auf Remus, „versuchen wenigstens, über Vorurteile hinwegzusehen, freundlich und entgegenkommend zu sein und vor allem Streitigkeiten zu vermeiden. Deine Mutter und ihre Schwester haben alte Bande wieder gefestigt. Allein das gehört belohnt, meinst du nicht?“ Er wartete keine Antwort ab. „Wir sollten mit gutem Beispiel vorangehen und zeigen, dass wir gute Menschen sind, nicht wahr, Töchterchen?“ Tonks schmollte. „Es gibt in jeder Familie ein schwarzes Schaf. Er ist ein Außenseiter. Lucius denkt, wir würden Schande über seine Familie bringen, dabei ist er es, dessen Weste mal eine ordentliche Behandlung mit viel Bleichmittel vertragen könnte.“

Ihrem Vater wollte und konnte sie keine Widerrede leisten. Halt fand sie bei Remus, der von hinten seine Hände an ihre Taille legte und sie zu sich zog, damit sie sich mit ihrem Rücken an ihn lehnen konnte.

„Wollen wir aufbrechen?“, fragte Ted in die Runde.
Andromeda war fast fertig. „Ich hole noch die Blumen für Narzissa und das kleine Geschenk für den süßen Fratz.“
Tonks schüttelte den Kopf. „Damit meinst du hoffentlich Charles.“
Sie fühlte einen Kuss an ihrer Schläfe, gefolgt von einem angenehmen Vibrieren am Rücken, als Remus sprach: „Hast du auch etwas für Nicholas?“
Andromeda strauchelte. „Das habe ich ja völlig vergessen!“
„Ich habe für beide Kinder etwas besorgt, damit es keine Streitigkeiten gibt.“ Wegen Remus’ voraussehender Geste musste Tonks lächeln. Er dachte an solche Kleinigkeiten, dachte immer an die Kinder.
„Bestimmt finde ich noch etwas für Harrys Kleinen“, murmelte Andromeda, als sie die Schränke in der Küche aufriss, um eine Süßigkeit ans Tageslicht zu bringen.
„Schatz“, Ted klang nervös, „ich wollte pünktlich bei den Malfoys erscheinen.“
Andromeda winkte ab und suchte weiter, während die anderen drei geduldig warteten.

In der Zwischenzeit in Hogwarts waren zwei andere Gäste in Aufbruchsstimmung.

Harry und Ginny entschieden kurzfristig, Nicholas umzuziehen. In der feinen Hose fühlte sich der Junge nicht wohl, also zogen sie ihm eine Alltagshose an, die nirgends mehr in die zarten Kinderbeinchen kniff. Harry nahm Nicholas auf den Arm, während Ginny nach der Tasche mit Windeln, Trinkflasche und Spielzeug griff.

„Hast du nicht etwas vergessen, Harry?“ Mit hoch gezogenen Augenbrauen überlegte er, kam jedoch nicht drauf. Vom Tisch nahm Ginny das flache, viereckige Geschenk, in denen sich die Portschlüssel zum Hotel auf Mauritius, ein Umschlag mit Taschengeld und Informationsmaterial zum Ort befanden.
„Das wäre was geworden, wenn ich das Geschenk vergessen hätte“, seufzte Harry. „Gut, dass du dran gedacht hast.“
„Wobbel?“, sagte Ginny in normaler Zimmerlautstärke.
Der Elf erschien. „M’am?“
„Wir sind jetzt weg. Kannst eine Party schmeißen.“
„Das würde ich mir nie erlauben!“
„Aber du dürftest“, konterte sie mit einem Lächeln. „Bis dann, Wobbel.“

In Malfoy Manor waren sie, trotzdem sie überpünktlich losgegangen waren, nicht die Ersten. Kaum war Harry ohne Zwischenfälle aus dem Kamin getreten, wurde er von einer jungen Dame mit schwarzen Haaren angeblickt, die gerade mit Mr. Malfoy sprach und nun zu ihm schaute. Auch Susans Eltern befanden sich im Raum und ein Herr, ebenfalls mit pechschwarzen Haaren, den er irgendwo schon einmal gesehen hatte.

„Mr. Potter.“ Lucius kam auf ihn zu. „Guten Abend.“

Die Begrüßungs- und Glückwunschprozedur, die an diesem Abend bereits mehrmals abgehalten wurde, wiederholte sich auch zwischen Lucius und den neuen Gästen.

Um sich nicht mit Potter unterhalten zu müssen, winkte er seine Gesprächspartnerin heran.

„Ich weiß nicht, ob Sie sich bereits kennen. Das ist Miss Amabilis“, stellte Lucius die junge Dame vor. „Mr. Potter besitzt den Bekanntheitsgrad eines bunten Hundes. Ich kann mir wohl ersparen, ihn vorzustellen.“
„Haben wir uns schon einmal gesehen?“, fragte Harry. Ihr Gesicht kam ihm bekannt vor.
„Ich war auf Ihrer Hochzeit, Mr. Potter. Mr. Krums Frau war so frei …“
„Ach, die Cousine seiner Frau“, fiel es ihm ein. Die Dame nickte. „Ich wusste, ich kenne Sie irgendwoher.“ Er schaukelte kurz das Kind auf seinem Arm. „Mein Sohn Nicholas und“, er schaute zu Ginny, „und meine Frau haben Sie ja auch schon gesehen.“
Marie winkte den Herrn mit den schwarzen Haaren zu sich heran und stellte vor: „Mr. Duvall, mein Verlobter. Auf Ihrer Hochzeit war er mein Begleiter.“

Die Zeit bis zum Essen zog sich für Lucius in die Länge. Die Gäste unterhielten sich prächtig, doch mit ihm wechselte so gut wie niemand ein Wort. Das ein oder andere Mal schien einer der Geladenen darüber nachzudenken, wie er Lucius ansprechen sollte, doch jedesmal entschieden sich die Personen dagegen. Andromeda wagte es, ihn nach dem allgemeinen Befinden zu fragen, erkundigte sich sogar nach möglichen Plänen, wieder einer Arbeit nachzugehen. Ihr kam nicht in den Sinn, dass er damals nur auf Voldemorts Anraten hin im Ministerium beschäftigt war.

Bei Severus’ Verlobter hatte Lucius mehrmals den Eindruck, sie wollte mit ihm sprechen. Ihr Blick war jedesmal, wenn sie den seinen traf, voller Sorge, als würde sie das Schlimmste befürchten.

Seine Taten lagen wie ein drückender Nebel im Salon. Jeder wusste von seiner Anhängerschaft, kannte seine Meinung zu gewissen Themen und seine Aversion gegen Andersartigkeit. Ausnahmslos jeder versuchte, über diese Dinge hinwegzusehen. Neugierig lauschte Lucius einem Gespräch zwischen Sirius und Sid, in welchem es um Gesetzesänderungen ging. Ja, davon hatte Lucius schon gehört. Den Wert anderer Lebewesen heraufzusetzen stellte in seinen Augen eine Entehrung für die Zauberergesellschaft dar. Natürlich verschwieg er seine Ansicht.

Severus war so frei, sich nach einem Gespräch mit Draco und danach mit dem Werwolf einen Drink zu genehmigen. Mit einem weiteren Glas gesellte er sich zu Lucius.

„Warum so still, Lucius. Es ist dein Geburtstag“, sagte sein alter Freund, reichte ihm dabei das Glas.
Mit guter Miene zum bösen Spiel erwiderte er: „Das ist nur die Ruhe vor dem Sturm.“ Mit einem Nicken bedankte er sich für das Getränk.
Severus sah zu einer Dame hinüber und wollte in Erfahrung bringen: „Wer sind die beiden?“
Unauffällig schaute Lucius zu entsprechendem Gast. „Das ist Miss Amabilis, ehemalige Krankenschwester im Mungos. Dort lernte ich sie kennen.“
„Und mögen?“
„Sie ist eine fähige Frau“, umging Lucius die Frage. „Ich ermögliche ihr eine Ausbildung zur Heilerin im Gorsemoor.“
„Das ist äußerst großzügig von dir. Und der Herr neben ihr, wer ist das?“
„Mr. Duvall, mein ehemaliger Beistand.“
„Interessant! Ich hätte nicht gedacht, dass du ihn einlädst.“
Lucius schüttelte den Kopf. „Er begleitet sie. Geladen habe ich ihn nicht. Ich wusste nicht einmal, dass die beiden sich sogar ein Heiratsversprechen gegeben haben.“ Mit einer Hand deutet Lucius auf zwei Sessel, zwischen denen ein kleiner Tisch stand. „Nehmen wir doch Platz.“
Im Sitzen beobachteten sie die anderen Gäste. „Deine Frau und ihre Schwester verstehen sich wieder recht gut, habe ich den Eindruck.“
„Ja“, seufzte Lucius. „Erklären kann ich es nicht.“
„Hat dir Narzissa je erzählt, was ihr widerfuhr? Ich meine, während des Krieges, als sie sich versteckte.“

Lucius musste schlucken. Manchmal hatte Narzissa von dieser Zeit erzählt. Mit glasigem Blick driftete sie in zurückgehaltene Erinnerungen, schilderte von dem kleinen Haus, das Kreacher für sie geschaffen hatte – mitten auf dem sicheren Gelände Hogwarts. Wenn sie davon redete, dann mit betonter Objektivität und auktorialer Erzählform, als gehöre sie nicht zum Erlebten. Manchmal war es befremdlich. Eine Umarmung, das hatte Lucius schnell herausgefunden, wirkte Wunder, holte sie zurück.

Nach einem Schluck Wein sah sich Lucius imstande, Severus zu antworten. „Sie hat eine Menge durchgemacht. Die Einsamkeit hat sie verändert.“
„Zum Guten, wenn du mir diese Meinung gestattest. Das heißt nicht, dass sie früher ein schlechter Mensch war.“
Severus war der Einzige, dem Lucius so eine Äußerung nicht übel nahm. „Was ist mir dir, Severus? Du hast dich auch verändert.“
„Hab ich?“, hakte Severus in der Hoffnung nach, von Lucius eine genauere Beschreibung zu erfahren.
„Komm schon, Severus. Deine gute Beziehung zu Potter. Und mit dem Werwolf scheinst du dich auch prächtig zu verstehen. Nicht zu vergessen dein“, Schlammblut, „deine Verlobte.“
Severus ging einen Moment in sich, bevor er sich an ein Gedicht erinnerte und zitierte: „Die Zeit zerstört und baut Paläste …“
„Streut bunte Blumen auf die Flur.“ Lucius nickte. „Ja, das musste ich auch auswendig lernen. Meine Mutter legte viel Wert darauf, solche Texte zu kennen.“

Severus stutzte, hielt jedoch den Mund. Es war nicht der richtige Augenblick, Lucius darauf aufmerksam zu machen, dass es sich um ein Muggelgedicht handelte.

Ein gebeutelter Seufzer entwich Lucius. „Dann ist es die Zeit? Die Zeit ändert alles.“ Es mangelte an Überzeugung, als Lucius das sagte. „Bei dir, Severus, war es nicht allein die Zeit“, sagte er plötzlich sehr überzeugt. „Ich weiß nichts Genaues, keine Details, aber deine Veränderung ist mir nicht dennoch entgangen. Sogar zweimal habe ich sie miterlebt. Es war ein Trank, nicht wahr?“ Severus blieb stumm. „Mach mir nichts vor. Ich kenne die Bücher, die du gewälzt hast.“
Severus hatte seine Stimme wiedergefunden. „Man merkt, dass du ein Slytherin bist. Immer aufmerksam und stillschweigend. Niemand kann genau sagen, was dir entgangen ist und was du dir merkst. Warum bist du nicht Slytherin genug und streifst, wie das Symbol unseres Hauses, deine Haut ab, um neu zu beginnen?“
„Du weichst mir aus.“
„Darin bist du ebenfalls ein Meister, Lucius. Sag mir, kannst du Miss Amabilis gut leiden?“ Auch diesmal wollte Lucius nichts erwidern. „Weißt du, wozu deine Verschwiegenheit nützlich ist? Um dein eigenes Weltbild nicht zu zerstören. Ich weiß, dass sie halbblütig ist. In einem Gespräch mit Viktor Krum habe ich das erfahren und dennoch förderst du sie, wo du ihre Eltern doch als Blutsverräter bezeichnen würdest. Bloß nichts offen zugeben, Lucius. Du könntest dir selbst ein Bein stellen.“
„Bist du jetzt fertig?“, fragte Lucius gelangweilt. Ein kindlich vergnügtes Kreischen und Lachen drang an seine Ohren. Der Grund war bald gefunden. „Sieh nur, sie macht Affengesichter.“
Severus schaute zu Tonks hinüber, die mit ihrer Fähigkeit als Metamorphmagi nicht nur Charles und Nicholas unterhielt. „Zur Belustigung der Kinder.“
„Sie wäre in einer Freakshow sicherlich das beste Pferd im Stall.“
„Tonks hat eine außergewöhnliche Gabe, Lucius. Wenn jemand in eine sogenannte Freakshow gehört hätte, dann Voldemort.“ Mit fiesem Grinsen fügte Severus hinzu: „Als Schlangenjunge.“
Lucius musste lachen. „Dem man Pettigrew als Futter vorwirft. Ja, das passt wunderbar.“

Kaum sprach man von Futter, wurde auch schon zum Essen gerufen. Es missfiel Lucius, dass nicht wie früher am Tisch bedient wurde. Im Esszimmer war, denn Platz gab es genug, ein Buffet aufgebaut. Selbstbedienung. Es war billig, aber bei der Menge an Gästen die beste Wahl, die Narzissa hätte treffen können. Niemand schien sich daran zu stören, dass er sich selbst auftun musste. Es wurde sogar gelacht und geschäkert, als man die gebotenen Speisen begutachtete. Hummer, Lachs, Krebs und andere Meerestiere. Dem standen edelste Wildgerichte gegenüber, Geflügelkombinationen und etwas, das Lucius nicht zu identifizieren imstande war.

Das Essen selbst war ihm egal. Am Ende des Tisches sitzend fand er mehr Gefallen daran, seine Gäste am Buffet zu beobachten. Die leeren Gläser stachen im plötzlich ins Auge.

„Narzissa, wie steht es mit Getränken?“, fragte er vorsichtig. Sie hatte sich bereiterklärt, sich am heutigen Tage um alles zu kümmern, was ihm nicht das Recht gab, sie wie eine Dienstmagd hin und her zu scheuchen.
Höflich fragte sie die ersten Gäste, die sich mit vollem Teller an den Tisch gesellten: „Was darf ich zu trinken anbieten? Rot- oder Weißwein vielleicht?“
Ted Tonks war ein einfacher Mann, aus einer einfachen Familie. Sein Wunsch hätte Lucius eigentlich nicht verwundern dürfen und dennoch war er baff, als er Ted antworten hörte: „Gibt es auch ein Bierchen?“
„Ich würde auch eines nehmen“, stimmte Sirius mit ein, als er sich neben Ted setzte.

Bier.

Einst neben Met als Getränk der Götter gehuldigt, von den Römern als barbarisches Getränk verpönt, war es in unmythologischen Zeiten schnell zu einem Billiggetränk mutiert, das für den Gaumen von Hinz und Kunz – oder Tonks – völlig auszureichen schien. Sechs Flaschen guten Weines hatte Lucius geöffnet und persönlich verkostet, nur um miterleben zu müssen, dass man Bier wünschte.

„Ja, ich habe welches besorgt“, beteuerte seine Frau. „Dunkel oder hell?“

Lucius schenkte sich etwas Edleres ein. Als das erste Bier am Tisch geöffnet wurde, verlor er seine Lust an dem nach frischen Äpfeln duftenden Wein, denn der muffige Gestank des dunklen Bieres verbreitete sich wie übler Darmwind. Missgelaunt stellte er sein Weinglas ab und stocherte in dem Krebsfleisch herum, während er seinen Blick über die Bauern der Tafelrunde schweifen ließ.

Severus trank Wein, einen roten. Seine Verlobte hielt sich neutral an Wasser. Mrs. und Mr. Bones tranken ebenfalls Wein, Potter schien unschlüssig und seine Herzensdame machte es Granger gleich. Auf der anderen Seite saßen Marie und Duvall, beide mit Weingläsern in der Hand. Andromeda leistete ihrem Gatten Gesellschaft und trank Bier, ebenso wie Nymphadora und Sirius nebst Gattin. Und der Werwolf? Erstaunlicherweise erhielt dessen Geflügelgericht die passende Weinbegleitung. Susan und Draco kümmerten sich zunächst nicht um sich selbst, sondern um Charles, während Potter sein Kind auf dem Schoß sitzen hatte und abwechselnd dem Jungen und sich etwas Hirschbraten gönnte.

Das war also seine Familie. Sein Seufzen über diese Erkenntnis musste gut hörbar gewesen sein, denn Andromeda fragte tatsächlich: „Ist alles in Ordnung? Du wirkst etwas bleich.“
„Das ist meine normale Hautfarbe, liebe Schwägerin.“ Irgendwer schnaufte. Lucius schaute sich schnell um und erhaschte Severus dabei, wie der amüsiert zu ihm hinübersah.

Aus Verlegenheit griff Lucius wieder zu seinem Wein und trank. Weil er wenig dazu aß, spürte er mittlerweile die ausgelassene Beschwingtheit, die sich zaghaft in Übermut verwandeln wollte.

„Wie ich gelesen habe, sollen die neuen Gesetze am 1. September ihre Gültigkeit erlangen“, läutete Lucius ein Thema ein, das jeder der Gäste in seiner Anwesenheit tunlichst vermieden hatte. „Werden in Zukunft alle menschenähnlichen magischen Wesen die gleichen Rechte besitzen wie wir?“
Einige hörten mit dem Kauen auf, andere verlangsamten diese Bewegung nur. Der Erste, der den Mund frei hatte, war Potter. „Ich sehe nichts Schlimmes daran, wenn diese Wesen mehr Rechte bekommen.“
„Ah!“ Lucius hielt sich nicht zurück, die Mimik zum Besten zu geben, die besagte, dass das Gegenüber keinen ebenbürtigen Gesprächspartner darstellte. „Das würde bedeuten, der Heirat zwischen“, er wedelte mit seiner Hand umher, als er ein Beispiel suchte, „einem Kobold und einer jungen Dame stünde nichts mehr im Wege?“
Harry hatte sich mit der Materie nicht gründlich befasst und war nicht zum ersten Mal dankbar, dass Hermine ihm aus der Patsche half und erklärte: „So eine Vereinigung ist äußerst selten.“
„Mag sein, aber wäre sie nun legal?“, hakte Lucius nach.
Hilfe suchend blickte sie zu Sirius, von dem sie wusste, dass er sich umfangreich mit menschenähnlichen magischen Wesen und den Gesetzen auseinandergesetzt hatte. Er brachte Licht ins Dunkel: „Solche Verbindungen, wie Hermine schon sagte, sind so selten, dass sie man über Jahrhunderte hinweg nur von dreien erfahren hat. Da aus solchen Verbindungen nie Nachteile entstanden, weder für die Personen noch für die Öffentlichkeit, hat man keinerlei Einschränkungen vorgesehen.“
„Na, wenn das mal nicht von diesen Kreaturen als Freibrief angesehen wird.“ Ein Schlückchen Wein später sagte Lucius: „Marie, sagen Sie, wie geht es im Gorsemoor voran?“
Die angesprochene Dame strahlte über das ganze Gesicht. „Ganz wunderbar, Lucius.“ Einige Gäste stutzten bei der freundlichen und vor allem so persönlichen Anrede. „Die Heiler dort sind sehr fähig. Ich habe bisher die besten Noten.“
„Freude bringt es auch, hoffe ich?“
„Und wie!“
Hermine fand Interesse an dem Gespräch, wollte jedoch mehr erfahren. „Waren Sie nicht im Mungos beschäftigt?“, fragte sie Marie. „Dort habe ich Sie einige Male gesehen.“
„Ja, das stimmt. Nach einem Zwischenfall wurde ich entlassen. Mr. Malfoy“, Marie schenkte dem Gastgeber ein dankbares Lächeln, „war so freundlich, mir eine Ausbildung zur Heilerin zu finanzieren.“

Lucius war nicht für jedermann durchschaubar. Severus konnte jedoch mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass Lucius dieses Gespräch aus dem Grund begonnen hatte, damit die anderen von seiner guten Tat erfuhren. Erfolgreich hatte er es so gedreht, dass nicht er, sondern Marie diejenige war, die alle anderen darüber informierte. Und es zeigte Wirkung. Tonks’ Gabel fror auf halben Weg zum Mund ein, während Sirius schlichtweg sprachlos war.

„Das ist toll“, ließ Harry verlauten, erntete damit erneut einen Blick von Lucius, mit dem er ihn wegen der wenig aussagekräftigen Bemerkung zu verurteilen schien. Das Wort toll hätte man durch nobel oder anerkennenswert ersetzen können, wenigstens aber mit wundervoll. Harry wollte von sich ablenken und fragte den Herrn neben Marie: „Und Sie, Mr. Duvall, womit verdienen Sie Ihr Geld?“ Nur vage erinnerte sich Harry daran, dass sein Patenonkel mal von Duvall gesprochen hatte.
„Ich bin mittlerweile stellvertretender Leiter der Initiative für die Forderung eines Anti-Diskriminierungsgesetzes für magische und nichtmagische Halbwesen, Mr. Potter.“ Aufgrund einiger fragender Blicke am Tisch wurde Duvall deutlicher. „Wir sind eine allgemeine Anlaufstelle für Menschen und Wesen, die im Alltag auf Ablehnung und Vorurteile stoßen.“
„Ah!“, stieß Lucius mit lächelnden Lippen aus. „Dann würde beispielsweise ein Troll, den ich nicht als Haushaltshilfe einstellen möchte, zu Ihnen kommen und mich als Rassist bloßstellen?“
Mr. Duvall blieb gelassen. „Das, Mr. Malfoy, ist sowohl ein undenkbares wie auch irrationales Beispiel. Durchaus ist die Diskriminierung am Arbeitsplatz ein wiederkehrendes Thema. Ich darf Sie aber beruhigen, denn Trolle zählen aufgrund der von ihnen ausgehenden Gefahr und der nachweislich geringen Intelligenz weiterhin zu den menschenähnlichen magischen Wesen, die nicht uneingeschränkt über Freiheitsrechte verfügen.“
„Aber …“
Duvall nahm sich das Recht heraus, Malfoy das Wort abzuschneiden. „Man würde auch keinem Löwen die uneingeschränkte Freiheit gewähren, in der Stadt zu schalten und zu walten, wie er es für richtig hält.“
„Daaa“, schrie Charles plötzlich.
„Wie recht du hast, mein Junge“, kommentierte Lucius seinen Enkel, wertete damit absichtlich Duvalls Erklärung ab, als läge sie auf der gleichen Ebene wie die eines Kleinkindes.

Verbissen widmete sich Duvall seinem Essen. Er hatte sich fest vorgenommen, sich in kein Streitgespräch verwickeln zu lassen, wusste er doch von Malfoys Einstellung zu anderen Kreaturen.

Durch den Alkohol im Blut fehlten Lucius bereits wichtige Hemmungen, so dass er allen Ernstes fragte: „Wie sieht es mit der seltenen Kategorie der ehemaligen Todesser aus?“ Ausnahmslos jeder schaute zu Lucius, bis auf die beiden Kinder. „In Bezug auf Diskriminierung musste auch ich unangenehme Erfahrungen sammeln.“
„Ich nicht“, warf Severus ein, obwohl es eine Lüge war. Schon auf der Ordensverleihung erfuhr er am eigenen Leib, dass nicht jeder von seiner Unschuld überzeugt war.
„Du, Severus, hast dir offenbar auch die richtigen Freunde gewählt.“ Lucius blickte demonstrativ zu Hermine, dann zu Harry. „Dir würde man sicherlich einen Hauself genehmigen, im Gegensatz zu mir.“

Draco stöhnte, mischte sich jedoch nicht in das Gespräch ein, um weder seinem Vater in den Rücken zu fallen noch seinen Freunden beizustehen. Solange es ging, wollte er neutral bleiben.

Diesmal war Sirius so frei, das Wort zu ergreifen. „Nach Inkrafttreten der neuen Gesetze wird man dir sicherlich einen Hauself gewähren. Das heißt“, er grinste überheblich, „wenn du gewillt bist, die neuen Verträge zu unterzeichnen.“
„Was gibt es denn Neues zu beachten?“, wollte Lucius wissen.
„Die Hauselfen haben mehr Recht bekommen. Ein eigenes Zimmer, eine angemessene Behandlung durch die Meister, Freizeit …“
„Freizeit?“ Lucius hob beide Augenbrauen, wirkte somit in höchstem Maße arrogant. „Haben die Elfen darauf bestanden oder setzte man sich über ihre Meinungen einfach hinweg? Das würde eine Bevormundung darstellen, wenn man gegen ihren Willen solche Privilegien schafft.“
Sirius war auf Konfrontationskurs. „Ich möchte Hauselfen ungern mit Kindern vergleichen, aber in gewisser Weise legen sie manchmal die gleiche Naivität an den Tag. Sie verstehen nicht, dass es falsch ist, von ihren Gebietern geschlagen oder anderweitig bestraft zu werden. Traditionen hin oder her: Hauselfen muss man zu ihrem Glück zwingen.“
„Zwingen!“ Natürlich musste Lucius diesen Begriff wiederholen. „Ist das nicht ein wenig anmaßend? Den Elfen Rechte einzuräumen, die sie gar nicht haben möchten.“
Duvall sprang ein. „Man sollte eigentlich von Zaubererfamilien annehmen, dass sie Lebewesen, egal in welcher Form, mit Respekt gegenübertreten. Und wo wir gerade bei treten sind: Haustiere wurden in der Vergangenheit wesentlich besser behandelt als Hauselfen. Da offenbar einige Damen und Herren nicht wissen, dass das Quälen von Mitgeschöpfen moralisch verwerflich ist, wurde das Gesetz für die Hauselfen in erster Linie für deren Gebieter geschaffen. Den Menschen wird untersagt, die Elfen zu bestrafen oder sie wie Sklaven Tag ein, Tag aus arbeiten zu lassen. Oder würden Sie, Mr. Malfoy, eine Haushaltshilfe treten, weil sie das Essen anbrennen ließ?“

Die Stimmung am Tisch sank gerade gen Nullpunkt. Harry und einige andere wussten, wie Lucius Malfoy seinen damaligen Hauself behandelt hatte. Dobby war häufig getreten und mit einem Stock geschlagen worden. Der arme Elf war eingeschüchtert und verängstigt, obwohl er seinem Gebieter treu bleiben wollte – oder musste. Im Gegensatz zu Dobby war Wobbel zwar ein loyaler Diener, aber gleichzeitig auch ein guter Freund.

Harry durchbrach die Stille und sagte: „Mit Freundlichkeit erreicht man viel mehr als mit Unterdrückung.“
„So so.“ Lucius schmunzelte. „Warum hat das damals niemand dem Dunklen Lord mit auf den Weg gegeben, frage ich mich?“ Mr. Bones zuckte bei der Erwähnung des Dunklen Lords zusammen, hielt jedoch seinen Mund.
Das erste Mal kam Draco zu Hilfe und ergriff Partei. „Weil der Mann geisteskrank war und nicht zugehört hätte.“
„Mmmh“, summte Lucius vorgetäuscht nachdenklich. „Da gebe ich dir sogar Recht, mein Junge. Allerdings ist mir der Geisteszustand von Dumbledore auch nicht geheuer.“
Harry musste lachen, obwohl Lucius ursprünglich mit seinen Worten provozieren wollte. „Tut mir leid, aber ich habe mich gerade an Dumbledores Rede am ersten Schultag erinnert.“
Susan nickte. „Ja, das war lustig! Was hat er nochmal gesagt?“ Sie dachte einen Augenblick nach und zitierte: „Schwachkopf! Schwabbelspeck! Krimskrams! Quiek! Danke sehr!“

Obwohl Lucius eine unangenehme Stimmung verbreiten wollte, lachte plötzlich der gesamte Tisch. Resignierend griff er zu der Karaffe und schenkte sich noch ein Glas ein, ließ seinen Teller weiterhin unangerührt. Mit Alkohol könnte er seine Gäste hoffentlich besser ertragen, vor allem aber die Demütigung, diese Menschen Familie nennen zu müssen. Selbst der Geruch des Bieres störte ihn kaum noch.

„Der Wein ist ausgezeichnet“, sagte irgendwer, was Lucius nur mit einer Hand als mehr oder weniger dankende Anerkennung abwinkte.

Mit bacchischer Freude hielt sich Lucius an dem edlen Tropfen fest. Selbst als abgeräumt wurde und man sich im Zimmer verteilte, um ein wenig zu plaudern, blickte Lucius lieber in sein Glas, als in die Augen der Gäste. Das beschwingte Gefühl samt dem leichten Übermut wollte langsam der Melancholie weichen. Es war nicht von Vorteil, wenn man in angetrunkenem Zustand nachdenklich wurde. Aus eigener Erfahrung wusste Lucius, dass sich sein Wesen bei weiterem Alkoholgenuss in eine andere Richtung verändern würde. Schluck für Schluck trank er sich dem Schalk näher, der ihm im Nacken saß und nur darauf wartete, Schabernack mit den Gästen zu treiben.

In seinem Sessel frönte Lucius dem Wein, als er plötzlich eine Hand an seinem Schenkel fühlte. Sein Enkel. In der anderen hielt er etwas Buntes.

„Mein Engelchen“, grüßte er den Jungen, der daraufhin wie ein ebensolches himmlisches Wesen lächelte. „Was hast du denn da?“ Lucius stellte sein Glas auf den Tisch und nahm das kleine Päckchen in die Hand, dass der Junge ihm entgegenhielt. Ein Blick zu Potters Balg verriet ihm, dass jemand den Kindern ein Geschenk gemacht hatte und dieses hier nicht für ihn war. „Ich helfe dir, es auszupacken.“ Charles setzte er auf seinen Schoß, bevor er das Geschenk von den Schnüren befreite. Eine Ecke des Papieres riss Lucius so weit auf, dass kindliche Hände es gut greifen konnten. „Hier, da muss du ziehen.“ Charles zerfledderte das Papier, gluckste dabei fröhlich. Eine Schachtel kam zum Vorschein und die beinhaltete einen Schokofrosch. „Sieh mal einer an, etwas Süßes.“

Lucius setzte Charles wieder ab. Mit seinem Zauberstab säuberte er vorsichtshalber den Boden, weil er wusste, dass Schokofrösche mindestens einen Sprung schafften. Sein Enkel sollte nichts Schmutziges essen. Neben Charles kniete er sich hin. Zusammen mit den kleinen Kinderfingern öffnete er die Pappschachtel und der Schokofrosch kam herausgehüpft. Charles schrie vor Aufregung und Freude. Aus einer anderen Ecke erklang das gleiche, glückliche Jauchzen. Die Kinder robbten ihrem Schokofrosch hinterher und kamen nebeneinander zur Ruhe.

Seine Aufgabe war erledigt, dachte Lucius, und ließ sich wieder in seinem Sessel nieder. Wie schon vorhin setzte sich jemand in den leeren Sessel nebenan.

„Severus, amüsierst du dich auch?“
„Ich mich schon, aber wie steht es mit dir? Du hältst dich an deinem Glas fest, als wäre es ein Rettungsanker.“
„Es ist auch einer“, stimmte Lucius zu.
„Du trinkst zu viel.“
„Nein, ich trinke zu wenig, denn noch immer überkommt mich das Gefühl der Abscheu, wenn ich Black sehe oder den Wolf.“
Severus schnaufte. „Bei Black kann ich es dir nachempfinden. Ansonsten muss ich dir ganz ehrlich sagen, dass du mir leid tust. Hier hast du die Möglichkeit, über deinen Schatten zu springen.“
„Über meinen Schatten springen, damit ich nicht mehr in dem eines anderen stehe, das meinst du wohl?“ Lucius leerte sein Glas und schenkte sich sofort frischen Wein ein. „Sag, wie würdest du jemanden in deinem Kreise aufnehmen, der voll und ganz deinem Feindbild entspricht? Ich bin derjenige, von dem sie Niederträchtigkeit gewohnt sind. Jemand von gemeinem Kalkül, kalt und berechnend, stellt den Feind dar, Severus. Niemand wird es jemals anders sehen.“
„Na, das wird wohl auch der Grund sein, warum sie so zahlreich erschienen sind.“ Severus hatte nur ein Kopfschütteln für ihn übrig. „Du drängst dich in die Opferrolle. Warum, frage ich mich? Hast du nicht immer deine gesamten Kräfte mobilisiert, um deine Ziele zu erreichen?“
„Pah!“ Nach dem Ausruf musste Lucius leise aufstoßen. „Welche Ziele? Wonach soll ich streben? Potter hat genügend Steigbügelhalter. Er braucht nicht noch einen.“
„Ich sprach von eigenen Zielen. Nicht davon, sich jemandem zu unterwerfen. Du könntest zusammen mit Draco arbeiten. Sein Geschäft läuft bestens, wie ich hörte.“
„Sicher läuft es bestens. Es hat bisher niemanden gekümmert, ob Squibs einem Beruf nachgehen oder nicht. Draco hat eine Marktlücke entdeckt und sie für sich genutzt.“
„Er kommt voll und ganz nach dir, würde ich sagen.“ Für einen Augenblick schien Lucius ein Licht aufzugehen, das konnte Severus an dem starren Blick sehen, der zwar glasig, dennoch nachdenklich auf das Weinglas in der Hand fixiert war. Den Moment wollte Severus ausnutzen. „Du war immer ein Mensch, der seine Lage erfassen konnte, aber du scheinst nicht willens zu sein, deine jetzige Position zu überdenken. Ein Quentchen Widersinn steckt in jedem von uns. Manch einer steht vor dem Spiegel, der einen konkav oder konvex verzerrt. Es liegt an einem selbst zu erkennen, ob man grotesk erscheint.“
„Ach du meine Güte, Severus. Ist es das? Erscheine ich sonderbar?“ Das laute Lachen des Gastgebers lenkte jede Aufmerksamkeit auf ihn. „Dann werde ich mal für Unterhaltung sorgen.“
„Lucius …“

Severus’ Warnung kam zu spät. Sein Freund leerte das Weinglas und stürzte sich mit überheblichem Lächeln in die Menge, rieb sich dabei die Hände.

„Amüsiert sich jeder?“ Niemand antwortete ihm. „Vielleicht kann ich Interesse an einem Spiel wecken?“
Auf der Stelle war Severus bei ihm, falls Lucius gebremst werden müsste. Der Gastgeber schlug vor: „Wie wäre es mit einem unterhaltsamen Zaubererduell? Ich würde Severus und Mr. Black in den Ring schicken. Wetten werden gern angenommen.“
Tonks Haare färbten sich feuerrot. „Zaubererduelle sind verboten! Ich würde auf der Stelle Meldung machen, sollte …“
„Ach, was für eine Spielverderberin“, unterbrach Lucius mit falschem Lächeln. „Dann etwas anderes? Blinder Niffler?“
„Was bitte?“, fragte Harry leise, sodass Hermine ihm eine Antwort geben konnte.
„Ist sowas wie Blinde Kuh.“
„Oder ein Denkspiel?“ Lucius schaute abwechselnd seine Gäste an, die allesamt dem Frieden nicht trauten. „Scharade wäre doch nett.“ Unerwartet klopfte er Sirius auf die Schulter. „Allerdings ein unangenehmes Spiel für alle, die Morologie studiert haben, nicht wahr?“ Sirius war nicht sicher, ob man ihn gerade beleidigt hatte, aber er würde es später erfahren, wenn er im Lexikon nachschaute. „Was unternimmt die feine Gesellschaft heutzutage, um sich zu unterhalten?“ Diesmal war es Ted Tonks, dem er übertrieben freundlich an die Schulter griff. „Karten spielen?“ Lucius ging einen Schritt weiter und erreichte den Tisch, an welchem Marie und Sid Duvall saßen. Er stellte sich direkt hinter Sid und legte beide Hände auf dessen Schultern, was dem Mann sichtlich unangenehm war. „Wusstet ihr eigentlich, dass ihr es diesem Mann zu verdanken habt?“
Einige stutzten. Mr. Bones fragte geradeheraus: „Was haben wir ihm zu verdanken?“
„Dass ich auf freiem Fuß bin, natürlich!“ Lucius machte eine Bewegung, als würde er Sids Schultern massieren. „Ich bin zwar bis heute ratlos, warum es am Ende so schnell vonstatten ging, aber ich will mich keinesfalls beschweren. Grund war wohl, dass man mir am Ende doch nichts anlasten konnte.“ Mit einem leichten Schwenker, der jedem veranschaulichte, dass der Alkohol aus Lucius zu sprechen schien, griff er wahllos zu einem Glas. „War das meines? Ach, egal …“ Schon füllte er es mit Rotwein auf und nippte genießerisch daran. „Ach, Mr. Bones, wo ich gerade Tacheles rede. Mir ist bewusst, dass es etwas gibt, das unausgesprochen zwischen Ihnen und mir in der Luft schwebt. Seien Sie versichert, dass ich weder Schuld noch Mitschuld am Tode von …“
„Lucius!“, fauchte seine Frau.
„Meine Teuerste, bitte unterbrich mich nicht bei einer der wohl wichtigsten Angelegenheiten, die ich geklärt wissen möchte. Es sei denn, Mrs. und Mr. Bones bestehen darauf, dass ich meinen Mund halte.“ Er wandte sich direkt an den Schwiegervater seines Sohnes. „Möchten Sie mir den Mund verbieten?“ Mr. Bones schüttelte den Kopf. „Das habe ich gehofft.“ Lucius holte tief Luft. „Ich werde die Frage, ob ich am Tode Ihrer Schwester und Ihres Bruders Mitschuld trage, gern auch unter Veritaserum beantworten. Severus, hast du zufällig etwas dabei? Es gehörte damals doch zu deiner Standardausrüstung als Spion, nicht wahr?“
„Ich bedaure“, verneinte Severus.
„Dann muss eben mein Wort ausreichen, Mr. Bones. Die Lestranges waren es, alle drei und niemand sonst.“

Jemand holte erschrocken Luft. Narzissa wurde kreidebleich, als sie erfuhr, dass ihre Schwester Schuld am Tode von Edgar und Amelia Bones war. Das Schluchzen hingegen kam von Susan, die von Draco aus dem Raum geführt wurde.

Als Lucius das sah, wurde er für einen Moment wieder nüchtern. „Oh, das tut mir leid. Das … Narzissa, bitte.“
Sie stählte sich innerlich, hob stolz den Kopf. „Deine Ehrlichkeit ist momentan in höchstem Maße taktlos, Lucius.“
„Aber dass ich ehrlich bin“, konterte er, „das sollte man mir hoch anrechnen, wo doch alle ganz anders über mich denken.“ Sein Glas Wein trank er sehr zügig, stellte es mit schlingernder Bewegung zurück auf den Tisch. „Ich habe den Moment für angemessen gehalten, reinen Wein einzuschenken.“

Prompt griff er zum Roten. In diesem Moment kam Draco ins Zimmer zurück, steuerte zielstrebig auf seinen Vater zu und nahm ihm wortlos die Karaffe aus der Hand. Lucius hatte nichts einzuwenden. Er war bereits zur letzten Stufe der Berauschung emporgestiegen. Mehr würde Übelkeit verursachen. Niemand wagte es, den Mund zu öffnen. Elliot war einerseits erleichtert, genau diese Information von Lucius erhalten zu haben, obwohl er den Zeitpunkt im Gegensatz zum Gastgeber eher unangemessen fand.

„Was ist denn das für eine trübe Stimmung hier?“, fragte Lucius leicht lallend. „Ist ja wie auf einer Beerdigung. Liegt womöglich daran, dass die meisten mich lieber tot sehen würden.“
„Jetzt machen Sie mal halblang, Mr. Malfoy“, mahnte Elliot mit kräftiger Stimme, jedoch keinesfalls bösartig. „Wie wir alle wissen, sind Sie vor gar nicht allzu langer Zeit selbst durchs Feuer gegangen.“

Unbewusst griff sich Lucius erst an den linken Unterarm, bevor er beide Arme vor der Brust verschränkte. Momentan fehlten ihm die Worte. Er ließ sich auf den Stuhl neben Marie nieder. Die anderen Gäste begannen wieder, miteinander zu sprechen. Nicht über ihn, nicht über das, was er gesagt hatte, sondern über Alltägliches. Eine Hand an seiner ließ ihn aufblicken. Es war Marie. Sie lächelte ihm zu und dieses freundliche, uneigennützige Entgegenkommen ließ ihn beschämt zu Boden blicken. Unter dem Tisch drückte Marie seine Hand, leistete Beistand wie schon damals im Krankenhaus.

Duvall war so umsichtig, Marie und Lucius allein am Tisch zurückzulassen und ein Gespräch mit Sirius zu beginnen. Noch immer hielt Marie seine Hand, bis er sich sichtlich beruhigt hatte.

„Möchten Sie etwas haben, um nüchtern zu werden?“, fragte sie höflich.
„Nein, die Vorstellung, dass ich mich morgen früh in Grund und Boden schämen werde, ist grausam genug.“
„Ach, so schlimm war das doch gar nicht. Ich denke, das musste einfach mal raus. Fühlen Sie sich jetzt besser? Erleichterter?“ Zu seinem eigenen Erstaunen war es so. Er nickte. „Sehen Sie, Lucius, manchmal hat so ein Ausbruch einen Zweck. Sich einfach mal alles von der Seele reden.“
„Normalerweise hat man dabei höchstens ein Gegenüber.“
„Aber es betraf alle. Jeder sollte es hören.“
„Ich kann von Glück reden, wenn morgen nichts davon im Tagespropheten wiederzufinden ist.“
Marie lächelte. „Das wird nicht passieren. Und sehen Sie mal“, sie blickte zu den Gästen, „niemand ist in Aufbruchsstimmung.“
„Das wundert mich allerdings wirklich.“

Die Tür öffnete sich und Susan trat leise ein. Sie musste geweint haben. Die Erwähnung ihrer ermordeten Verwandten war zu viel gewesen, aber sie gab dem Abend noch eine Chance. Mit einem Male stand jemand anderes neben Lucius.

„Mr. Malfoy?“
„Ah, Mr. Potter.“ Lucius erhob sich und war froh, dass Marie ihm eine helfende Hand reichte, mit der sie ihn stabilisierte. „Sie wollen doch nicht etwa schon gehen? Meiner kleinen Rede sollten Sie nicht allzu viel Beachtung …“
„Nein, nein“, winkte Harry ab, „es geht um etwas anderes.“ Ein viereckiges Päckchen wurde ihm entgegengehalten. „Das ist ein Geschenk von uns allen.“
„Ich befürchtete bereits, man würde mich strafen, indem man mir …“
„Kein Geschenk macht?“, vervollständigte Harry. „Ich habe selbst jahrelang keine Geburtstaggeschenke erhalten und weiß, wie erniedrigend das ist.“
Lucius blickte Harry in die Augen und sah nicht einmal den Hauch eines Scherzes. „Vielen Dank, Mr. Potter.“

An die anderen gerichtete sprach er ebenfalls seinen Dank aus, ohne das Geschenk geöffnet zu haben. Dazu fühlte er sich momentan nicht in der Lage. Harry ging zurück zu den anderen, doch Marie blieb bei ihm.

„Wenn Sie nüchterner wären, würde ich Ihnen gern etwas sagen, dass Sie hoffentlich erfreuen wird“, sagte sie.
„Sie können es mir auch jetzt sagen, Marie. Es gibt nichts, dass mich heute noch, wie man es so schön nennt, umhauen könnte.“
„Ich bin mir da nicht so sicher.“
„Marie, bitte. Ich habe eben meinen Gästen eine Menge zugemutet, habe über Mord gesprochen. Die Aufgaben, die ich als Todesser verrichten musste, härten einen ab, das können Sie mir glauben.“ Marie nickte verständnisvoll, war sich dennoch nicht sicher, ob der Zeitpunkt richtig wäre. „Rücken Sie schon raus mit der Sprache.“
„Ich habe mit Ihrer Mutter gesprochen.“

Sein Herz begann auf der Stelle, das weinverseuchte Blut so schnell durch die Adern zu treiben, dass ihm schwarz vor Augen wurde.


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