Forum | Chat | Galerie
 
Startseite | Favoriten
Harry Potter Xperts
Harry Potter Xperts
Startseite
Newsarchiv
Link us
Sitemap
Specials
Shop
Buch 7
Buch 6
Buch 5
Buch 4
Buch 3
Buch 2
Buch 1
Lexikon
Lustige Zitate
Gurkensalat
Hörbücher
Harry, A History
Steckbrief
Biographie
Werke
Erfolgsgeschichte
Interviews
Bilder
Harry Potter & Ich
JKRowling.com
Film 7, Teil 1 & 2
Film 6
Film 5
Film 4
Film 3
Film 2
Film 1
Schauspieler
Autogramme
Galerie
Musik
Videospiele
Downloads
Lesetipps
eBay-Auktionen
Webmaster
RSS-Feed
Geburtstage
Gewinnspiele
Twitter
Fanart
Fanfiction
User-CP
Quiz
Währungsrechner
Forum
F.A.Q.
Ãœber uns
Geschichte
Impressum

Fanfiction

Harry Potter und die Schatten der Vergangenheit - Wo Licht ist, ist auch Schatten

von Muggelchen

Eines Abends ging Hermine mit Severus einige geschäftliche Dinge durch. Es war sterbenslangweilig, Braupläne aufzustellen. Immer wieder mussten sie bis spät in die Nacht schuften, um alle Bestellungen rechtzeitig fertig zu haben. Severus’ hatte ein Händchen dafür, einen Arbeitsplan effektiv zu gestalten. Er wusste genau, wann welchem Gebräu weniger Aufmerksamkeit geschenkt werden musste. Seine Pläne waren kompliziert. Die zu brauenden Tränke waren nicht einfach nacheinander aufgelistet. Abschwelltrank, Trank der Lebenden Toten, Gripsschärfungstrank. Nein, jeder Handgriff war haarklein kalkuliert. Hermine warf einen Blick auf ihre morgige Arbeit. Der Abschwelltrank musste nach dreißig Minuten für 25 Minuten auf kleiner Flamme köcheln. In dieser Zeit sollte sie sich bereits um den Gripsschärfungstrank kümmern. Wenn der für fünfzehn Minuten ziehen sollte, hätte sie eine Viertelstunde Zeit, den Abschwelltrank abzufüllen und das Wasser für den Trank der Lebenden Toten aufzusetzen. Das Wasser für den Schlaftrunk sollte bereits kochen, wenn der Gripsschärfungstrank abfüllfertig war.

„Severus?“
„Mmmh?“ Er ging seinen eigenen Plan durch und wandte seinen Blick nicht von dem Stück Pergament ab.
„Es wäre nett, wenn du wenigstens eine Toilettenpause einplanen könntest.“
Hier schaute er endlich auf und zwar mit ernster Miene. „Mit dem Plan hast du nicht einmal Zeit, während der Arbeit etwas zu trinken. Wieso musst du dann auf die Toilette?“
Ehrlichkeit währt am längsten, dachte Hermine, als sie ohne mit der Wimper zu zucken antwortete: „Weil ich meine Tage habe.“

Sie sah lediglich, wie sein Adamsapfel kurz unter dem Kragen hervorlugte, als er kräftig schlucken musste. Ohne ein Wort zu sagen nahm er ihr den Plan aus den Händen und überflog ihn, um eine Lücke zu finden. Es fand sich keine.

„Sag einfach Bescheid“, riet er ihr. „Dann werde ich für dich einspringen.“ Nochmals überblickte er seinen Plan und bemerkte, dass es keine Möglichkeit für ihn gab, seinen Arbeitsplatz zu verlassen, um bei ihr weiterzubrauen. Damit würde er riskieren, einen der eigenen Tränke zu verpatzen. „Oder du machst erst den Gripsschärfungstrank fertig und beginnst danach mit dem Trank der …“
„Wir sind überlastet, Severus“, unterbrach sie ihn. Die hörbare Resignation konnte er mit ihr teilen.
Ein Geistesblitz seinerseits. „Ich könnte Miss Greengrass fragen, ob sie täglich ein paar Stunden länger machen möchte, natürlich bezahlt. Sie könnte uns mit vorbereitenden Arbeiten zur Hand gehen“, er überlegte kurz, „Zutaten schneiden, Wasser aufsetzen und dergleichen.“
„Wann soll sie das denn machen? Sie könnte höchstens morgens um sieben bei uns auf der Matte stehen, zwei Stunden vorbereiten und dann kommen bereits die ersten Kunden. Außerdem macht sie noch die Buchführung.“
„Wir werden uns etwas überlegen“, versprach er.

Mitten in der Woche blieb keine Zeit für persönliche Belange. Das Brauen ging oftmals bis spät in die Nacht hinein. Nicht selten fielen sie morgens um drei ins Bett, um ein paar Stunden zu schlafen, damit sie ab sieben Uhr den neuen Tag beginnen konnten. Höchstens am Wochenende fand sich etwas Zeit, doch selbst da brauten sie Tränke, um in der folgenden Woche nicht in Arbeit zu ertrinken. Zu den vernachlässigten persönlichen Belangen zählten für Hermine nicht nur Freunde, sondern auch ein Essen auswärts, ein Besuch beim Friseur oder … Sex. Zu ihrem Bedauern hatte sich in den letzten Wochen keiner dieser Wünsche erfüllt und sie befürchtete, dieser Zustand würde noch eine ganze Weile andauern.

„Wir könnten am Wochenende …“, begann Severus, doch Hermine hielt eine Hand in die Höhe.
„Ich muss am Samstag die Bestellungen aufgeben.“
„Kann das nicht jemand anderes machen?“
„Wer denn bitteschön?“, machte sie ihm mit scharfem Ton deutlich. Das war keine Aufgabe, die nur ein paar Stunden dauerte. Der ganze Tag wurde dafür benötigt.
Severus atmete tief durch. „Für Freitagabend haben sich Mr. Worple und Mr. Sanguini angemeldet. Es wird diesmal etwas länger dauern“
Sie nickte, verzog dabei jedoch den Mund. „Meine Eltern haben gefragt, ob wir sie Sonntag besuchen, weil wir letztes Mal abgesagt haben.“

Schon war das Wochenende wieder verplant, dachte Hermine zähneknirschend. Sie schaute traurig drein.

„Ich, ähm, könnte versuchen“, begann Severus zögerlich, „das Treffen mit Worple und Sanguini auf Samstag zu legen, wenn du die Bestellungen machst. Dann hätten wir den Freitag für uns.“
„Für uns? Wohl eher zum Brauen.“ Hermine presste die Lippen zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust, als wollte sie sich selbst trösten. „Ich bin müde“, seufzte sie. „Ich geh hoch.“

Severus sah ihr nach. Allein in der Küche ging er nochmals die Braupläne durch. Mehr dürfte es nicht werden, dachte er, denn dann würden sie die Arbeit nicht mehr schaffen. Hätte Mr. Popovich zum vergangenen Vollmond nicht ausgeholfen, wäre die gesamte Arbeit liegengeblieben, die neben dem Wolfsbanntrank angefallen war. Sie benötigten dringend Hilfe. Severus würde sich sogar bereit erklären, jemanden einzustellen. Von Hermines Liste strich er den Trank der Lebenden Toten und setzte ihn auf seine Liste ganz nach unten. Somit würde er morgen eine Stunde länger im Labor arbeiten als Hermine.

Als er ins Schlafzimmer kam, lag Hermine bereits im Bett. Sie musste sofort eingeschlafen sein, nachdem ihre Wange das Kissen berührt hatte. Severus zog sich um und legte sich neben sie. Der Preis, den sie beide für eine gut laufende Apotheke zu zahlen hatten war der, keine Zeit mehr zu haben. Gedankenverloren rutschte Severus näher an Hermine, die mit dem Rücken zu ihm lag. Sein Arm fand den Weg um ihre Taille, die Hand ruhte auf ihrem Bauch. Anstatt einzuschlafen wurde er von seinen Gedanken wachgehalten. So viele Dinge waren noch zu erledigen. Sein Bluttrank, um den er sich dank der vielen Arbeit in der Apotheke kaum noch kümmern konnte. Die Unterlagen, die er für die Patentanmeldung benötigte, musste er auch noch zusammenstellen. Darüber hinaus wollte er sich mit Draco wegen der Vergabe von Lizenzen für den geschmacklich veränderten Wolfsbanntrank unterhalten. Es war Hermines Idee gewesen, anderen Apotheken die Verwendung des Aromastoffs zu genehmigen. Die Lizenzen mussten billig bleiben, sollten nur wenige Knut kosten, weil die Gewinnspanne für den Wolfsbanntrank vom Ministerium festgelegt war. Mehr als elf Galleonen konnte man damit nicht verdienen. Es würde sich jedoch herumsprechen, dass die Granger Apotheke für den guten Geschmack verantwortlich wäre. Kostenlose Werbung. Das bedeutete noch mehr Kunden. Severus vergrub seine Nase in Hermines Nacken und stöhnte leise. Mehr Kunden, mehr Arbeit. Es war ein Teufelskreis. Das konnte so nicht weitergehen. Mit den Lizenzen für den Wolfsbanntrank, so hoffte Severus, würden sich die Kunden wieder auf andere Apotheken verteilen.

Konversationen am Frühstückstisch konnten genauso abwechslungsreich wie die Mahlzeiten sein, die man für einen guten Start in den Tag zu sich nahm. Manche Gespräche begannen friedlich und blieben es auch. Manche konnten aber in einer Katastrophe enden.

Die Fähigkeit, Gefühle eines anderen Menschen nachempfinden zu können, konnte selbst zum Einsatz kommen, wenn man etwas über das Leben einer Person erfuhr, die man noch nie gesehen hatte. Das Schicksal fremder Personen, zu denen man keinerlei Beziehung pflegte, konnte durchaus berühren.

Das größte Einfühlungsvermögen, dachte Ginny während des Frühstücks, hatten Zwillingsbrüder inne. Fred und George schienen so eng miteinander verbunden, so dass sie ohne verbale Verständigung wussten, was in dem anderen vorging. Eine ähnlich inniges Verständnis bestand häufig zwischen einer Mutter und ihren Kindern, aber auch zwischen sehr guten Freunden, für die man die Hand ins Feuer legen würde, ja, sogar für sie sterben würde, weil das Leben des anderen genauso viel bedeutete wie das eigene. Ein intensives Band dieser Art hatte sich schon vor langer Zeit um Harry und Ginny gelegt und sich so festgezurrt, dass man nicht mehr wusste, wo der eine aufhörte und der andere begann. Sie waren eins, Herz und Seele.

Es war nicht die Geschichte der beiden Freunde Brigham und Wilfred, die Ginny gestern daran gehindert hatte einzuschlafen, sondern Harrys Versuch, sie dezent dazu zu bringen, ihre Meinung über den Hauskauf zu ändern. Die Widmung in dem Kinderbuch war eindeutig. Wilfred … Ginny verbesserte in Gedanken. Nicht Wilfred, sondern William war der Geist, der Junge, der sich selbst opferte, um seinen besten Freund zu beschützen. Anfangs war Ginny nicht klar gewesen, wie viel Harry dieses Haus bedeutete, doch jetzt, als sie Zeit zum Nachdenken hatte, konnte sie es dank ihrer engen Verbundenheit mit ihm selbst fühlen. Dieses Haus stellte für ihn die perfekte Verkörperung eines Zuhauses dar. Es begann als reines Traumgebilde. In all den Jahren seines Lebens, von klein auf, hatte dieses Gebäude sich vor seinem geistigen Auge geformt. Stein für Stein hatte Harry es in seiner Fantasie gebaut und ausgeschmückt, während er in der Besenkammer auf schöne Träume hoffte. Das Haus seiner Vorstellung existierte in der Realität. Er hatte es gesehen, und er wollte es haben. Ginny wäre die Letzte, die einen solchen Traum zerstören wollte. Und wenn sie ehrlich zu sich war: Sollte alles vor die Hunde gehen, dann konnte man immer noch ein neues Haus suchen.

Am Frühstückstisch fragte Harry mit unschuldigem Gesichtsausdruck, wie ihr das Märchen gefallen hätte. Hintergrundinformationen behielt er für sich. Vielleicht erstaunte ihn ihre Antwort deshalb.

„Ich will das Haus nochmal sehen“, sagte sie, bevor sie in ihr Brötchen biss.
„Echt? Warum?“
„Weil ich es mir kaum angesehen habe. Ich habe es bei der Führung längst abgeschrieben. Mich interessierte nur noch, wann der Makler wohl mit der Sprache herausrückt.“

In diesem Moment strahlte Harry eine so einzigartige Zufriedenheit aus, dass Ginny ganz warm ums Herz wurde. Allein ihre Bereitschaft, sich dieses Haus ein weiteres Mal anzusehen, machte ihn glücklich.

„Nehmen wir diesmal Nicholas mit?“ Harry wollte wissen, wie das Haus samt Umgebung auf das kindliche Gemüt wirkte.
„Mach erst mal einen Termin mit Mr. Chapman aus. Nicholas muss seinen Mittagsschlaf halten, sonst nörgelt er.“

Die ganze Zeit über lächelte Harry, was auf alle Lebewesen in seiner Umgebung abfärbte. Nicholas war bestens gelaunt, als er die Federn vom Boden sammelte, die Hedwig beim Putzen verloren hatte. Die gute Laune machte auch vor dem kleinen Fawkes nicht Halt, der zwar nicht laut, dafür beständig eine wohlklingende Melodie anschlug. Selbst Hedwigs Stimmung war auf dem Höhepunkt. Liebevoll knabberte sie erst an Harrys Finger, dann an seinem Ohr. Als Nicholas all die weißen Federn beisammen hatte, legte er sie behutsam auf den Tisch, bevor er sich zu Shibby auf den Boden setzte und zu den Bauklötzen griff. Harry beobachtete ihn, während der Tee in seiner Tasse langsam kalt wurde. Er war in Gedanken versunken.

„Harry?“
„Mmmh?“ Er schaute zu Ginny hinüber und nahm endlich einen Schluck.
Es war ihr nicht entgangen, dass er verträumt zu Nicholas geschaut hatte und sprach es unverblümt an. „Du warst eben so weit weg.“
Harry nickte. „Ich habe mir nur gedacht, dass Nicholas viel öfter mit anderen Kindern zusammen sein sollte. Ich hab mal gelesen, das würde für die soziale Entwicklung sehr wichtig sein.“
„Gelesen?“, hakte sie nach.
Er schmunzelte. „Als ich als Kind mal alleine im Haus war, hab ich darüber was im Fernsehen gesehen. Eine Dokumentation über die Entwicklung und Erziehung von Kindern. Damals ist mir das erste Mal eingeleuchtet, dass mein Onkel und meine Tante bei mir irgendwas falsch machen.“ Harry war nicht schlecht gelaunt, sondern grinste, als er das sagte. „Es würde Nicholas gut tun, regelmäßig mit anderen Kindern zu spielen, anstatt nur von Erwachsenen und Elfen umgeben zu sein.“
„Wir könnten doch Susan öfters besuchen.“
Harry schnaufte amüsiert. „Klar, das wird Opa Malfoy richtig freuen.“ Nachdenklich schüttelte er den Kopf. „Charles würde auch was davon haben, mit anderen Kindern zusammen zu sein.“
„Meine Mum hat Bill und Charlie ab und zu bei Nachbarn gelassen, wenn sie mal einkaufen musste oder einfach ihre Ruhe haben wollte. Die hatten zwei Jungs in ihrem Alter. Sie hat das Gleiche für ihre Nachbarin getan.“
„Ja, das hat sie mir erzählt. Aber irgendwie …“ Harry hob die Schultern und ließ sie langsam sinken, als er ausatmete. „Es muss doch eine andere Möglichkeit geben. Etwas Geregeltes.“

Eindringlich sah Ginny ihn an, sagte jedoch nichts. In ihrem Kopf überschlugen sich seine Aussagen. Sie zählte eins und eins zusammen, wollte den Rest aber von ihm hören.

„Was Geregeltes?“, fragte sie nach. „Wie soll sowas denn deiner Meinung nach aussehen?“
Er spitzte die Lippen, als würde er sich gerade eben zum ersten Mal Gedanken darüber machen, was natürlich nicht der Fall war. „Man könnte sich eine Örtlichkeit mieten, wo Eltern ihre Kinder für ein paar Stunden hinbringen. Gegen einen geringen Preis, versteht sich. Irgendwie muss sich das ja finanzieren. Die Kosten für die Räumlichkeiten und einen weiteren Betreuer müssen irgendwie reinkommen. Die Eltern könnten Geld fürs Essen dalassen. Entweder kocht man selbst oder man lässt es fertig liefern. Das würde allerdings wieder mehr kosten, wenn man das Essen woanders kauft.“
Für Ginny hörte es sich bereits sehr durchdacht an. „Ein weiterer Betreuer?“, griff sie eine seiner Aussagen auf. „Wer wäre denn der Erste?“ Harry konnte nichts gegen das Lächeln unternehmen. Die Mundwinkel hoben sich von ganz allein. „Aha!“, machte Ginny, als hätte sie ihn bei irgendwas ertappt.
„Ist nur eine vage Idee“, winkte er ab.
„Weißt du was, Harry?“
„Was?“
„Lass Draco mal deine vage Idee durchrechnen. Ich bin mir sicher, er kann dem puren Gedanken ein festes Fundament geben.“
Vor lauter Staunen machte Harry ganz große Augen. „Dann hättest du nichts dagegen?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Warum sollte ich denn etwas dagegen haben, wenn du dafür sorgst, dass dir die Decke nicht auf den Kopf fällt? Du hast nichts dagegen, dass ich professionell Quidditch spielen möchte. Es ist nur fair, wenn du machen kannst, was du für richtig hältst.“
„Das finde ich klasse, Ginny!“

Der heutige Tag konnte für Harry nicht schöner beginnen. Erst Ginnys Einverständnis, das Haus ein zweites Mal zu besichtigen und dann ihre positive Meinung zu seiner Idee, einen Ort zu schaffen, an dem kleine Zauberer und Hexen aufeinandertreffen würden.

„Ich flohe erst Mr. Chapman an und dann mach ich mit Nicholas das Bild fertig.“ Harry griff zu Tisch und zeigte Ginny besagte Bild, das Nicholas mit seinen Wachsmalfarben geschaffen hatte.
„Was ist das?“, fragte sie irritiert.
„Schau doch mal richtig hin!“
„Das ist ein kleiner Kreis auf einem großen Kreis, der auf zwei Strichen steht.“
Er schnalzte vorwurfsvoll mit der Zunge. „Sei nicht so fantasielos. Das ist Hedwig.“ Als die Schneeeule ihren Namen hörte, schuhute sie freundlich.
„Oh ja, jetzt wo du es sagst.“
„Ginny, wirklich …“ Er schüttelte den Kopf, grinste jedoch dabei. „Da werde ich mit Nicholas zusammen die Federn draufkleben. Das wird das kuscheligste Bild, das wir jemals gemalt haben.“
„Das er jemals gemalt hat“, verbesserte Ginny.
„Hey, ich hab geholfen, die Füße unten dranzumachen!“

Ginny musste laut lachen und ließ Harry seinen Spaß.

Wie aber bereits erwähnt konnten manche Gespräche während des Frühstücks in einer Katastrophe enden.

Hermine bemerkte zu spät, dass sie ein Thema begonnen hatte, das zu einem Desaster führte.

„Du hast was?“, fragte Severus mit fehlendem Verständnis nach.
„Weil wir so viel Arbeit haben, habe ich einen Bewerber zu einem Gespräch …“
„Ohne mich darüber zu informieren?“, blaffte er sie an. Wütend legte er die Gabel auf den Tisch und trat in Hungerstreik.
„Du hast selbst gesagt, dass wir überlastet sind und Hilfe gebrauchen können. Popovich wird nicht immer für uns da sein.“
„Sag den Termin ab!“
Sein Tonfall ließ keine Widerrede zu, doch gerade das wollte sich Hermine nicht gefallen lassen. „Nein, er kommt heute Abend nach Feierabend. Ich möchte mit ihm sprechen.“ Um Severus neugierig zu machen, erwähnte sie: „Seine Referenz ist außerordentlich …“
„Und das soll mir imponieren?“, fiel er ihr ins Wort. Severus stand auf und wollte offenbar die Küche verlassen, doch an der Tür drehte er sich nochmals um. „Jeder Giftmischer kann Empfehlungen ausstellen. Mir ist völlig egal, was andere Tränkemeister über jemanden schreiben. Schließlich kann man sich alles erkaufen.“
Sie versuchte, ihn mit sanfter Stimme zu beruhigen. „Severus …“
„Nichts da!“ Er ließ sich nicht einlullen. „Der Mann kommt mir nicht ins Haus!“
„Ich habe da auch noch ein Wörtchen mitzureden. Mir gehört die Hälfte des Geschäfts.“ Es war ein Fehler gewesen, ihn darauf aufmerksam zu machen. Sie konnte sehen, wie die Muskeln in seinem Unterkiefer sich verspannten. „Willst du die Unterlagen, die er geschickt hat, nicht einmal ansehen?“
„Nein!“
„Fein.“
„Fein!“, giftete er zurück. „Ich will mit dem Bewerber nichts zu tun haben. Regel du das! Aber wenn du es tatsächlich wagen solltest, jemanden ohne mein Einverständnis einzustellen …“
„Das würde ich nie tun. Ich will nur mit ihm reden. Ich weiß gar nicht, warum du dich so aufregst.“
„Warum ich mich …?“

Fassungslos schüttelte er den Kopf. Sie hatte ihm nicht einmal von der Bewerbung erzählt und stellte ihn nun vor vollendete Tatsachen. Ein fremder Mensch, den sie für heute eingeladen hatte. Wahrscheinlich würde sie sogar hier in der Küche das Gespräch führen, in der privaten Umgebung, und den Bewerber womöglich noch bewirten. Severus hatte nicht einmal die Zeit gehabt, sich innerlich auf diese Situation vorzubereiten. Er hasste es, nicht informiert zu sein. Selbst in der Zeit seiner Flucht war er über die Aktivitäten der Todesser und der Auroren wenigstens durch die Zeitungen unterrichtet. Die Bewerbungsunterlagen waren von Hermine jedoch ganz offensichtlich unterschlagen worden. Jetzt war es egal, dachte er. Wer auch immer heute Abend vorbeikommen würde müsste damit rechnen, von ihm nicht freundlich behandelt zu werden.

„…phob“, hörte er sie murmeln.
Mit einem Male war er am Tisch und baute sich bedrohlich vor ihr auf. „Was war das?“ Sie wollte ihre Gedankengänge nicht kundtun, weshalb er seine Frage wiederholte, diesmal jedoch mit Nachdruck. Er bleckte die Zähne. „Was“, er ließ eine lange Pause, „war das eben?“
Hermine seufzte und gab sich einen Ruck. „Ich sagte, es ist schade, dass du so soziophob bist.“
Sein Blick verfinsterte sich. „Soziophob?“

Sie würde es gern rückgängig machen – das gesamte Gespräch anders beginnen. Hätte sie nur einen Zeitumkehrer.

„Soziophob“, grummelte er verärgert. „Als soziophob wird jemand bezeichnet, der Furcht davor hat, auf Menschen zu treffen. Willst du damit sagen, ich hätte Furcht? Ich?“
„Severus, ich möchte mich entschul…“
Er unterbrach sie mit herrischer Stimme. „Ein soziophobisch veranlagter Mensch erleidet Angstzustände, Panik, Herzrasen, Schweißausbrüche. Als Heilerin solltest du das eigentlich wissen“, höhnte er, „oder war die Anmerkung ausschließlich als Beleidigung gedacht?“ Hermine presste die Lippen zusammen. Momentan wäre jedes Wort ein falsches. Daher hielt sie den Mund und hörte ihn an. „Zittern, Beklemmungen, Atemnot“, zählte Severus beinahe fröhlich auf. „Ich garantiere dir, dass dein Bewerber unter diesen Symptomen leiden wird, sollte er mir versehentlich über den Weg laufen.“

Mit diesen Worten stürmte er aus der Küche, ließ den fast unangerührten Teller zurück. Es half nichts, ihm hinterherzurufen. Severus wollte nicht mit ihr sprechen.

Die morgendliche Mahlzeit war besonders in den letzten Tagen von stets freundlichen Worten und zaghaften Berührungen begleitet. Heute war der erste Tag seit langem, an dem sie sich nicht freute, gleich mit ihm im Labor zusammenzuarbeiten. Hermine hatte genügend Kostproben davon erhalten, wie unerträglich er werden konnte, wenn er sich schlecht behandelt fühlte. Es war gut möglich, dass er der Meinung war, hintergangen worden zu sein.

Als sie sich um den Abwasch kümmerte, spielte sie das Gespräch in Gedanken nochmals nach, bis zu dem Punkt, an dem alles schiefgelaufen war. In ihrer Fantasie konnte sie diesen Fehler beheben und Severus sogar dazu bringen, dem Bewerbungsgespräch freudig entgegenzufiebern. Wunschträume. Einer von vielen.

Sie rechnete damit, Severus im Labor anzutreffen, doch das war menschenleer. Ein Blick in den Verkaufsraum bestätigte, dass Daphne anwesend war und gerade die Apotheke öffnete.

„Hast du Severus gesehen?“, wollte Hermine wissen.
„Ist gerade mit dem Hund raus.“
„Ah, danke.“ Hermine rang sich ein Lächeln ab, um vorzutäuschen, dass alles in Ordnung war. Daphne wusste ja nicht, dass Severus bereits vor dem Frühstück mit Harry draußen war.

Im Labor begann Hermine allein mit dem ersten Trank. Irgendjemand hatte tatsächlich einen Plappertrank bestellt. Vermutlich sollte der auf einer Party zum Amüsement beitragen. Zum Lachen war Hermine war nicht. Zwar war sie erleichtert, als Severus eine Dreiviertelstunde später ins Labor kam und mit den Tränken auf seiner Liste begann, aber das änderte sich wieder, als Hermine feststellte, dass er nicht mit ihr sprach. Auf Fragen bekam sie keine Antwort. Er schenkte ihr nicht einen einzigen Blick, sondern braute stur seinen Trank.

Für Hermine war die Situation unerträglich, aber keinesfalls unbekannt. Damals, als sie noch bei ihm in der Lehre war, kam es nach einem Streit häufig zu solchen Situationen. Um den Arbeitstag wenigstens ein bisschen angenehm zu gestalten, begann Hermine einfach zu reden, genau wie damals. Sie hatte nie ihren Mund gehalten.

„Ich würde gern wieder nach Japan.“ Keine Reaktion seinerseits, also plapperte sie einfach drauf los. „Als ich das Buch gelesen habe, dass die Schüler dir geschenkt haben, musste ich dran denken. Du weißt schon, das von Takeda. Das riesige Gewächshaus, all die Farben.“ Sie seufzte. „Das war wunderschön.“ Emotionslos schnitt Severus seine Zutaten. „Nach alldem, was geschehen ist, bin ich wirklich urlaubsreif. Ich würde gern mit dir verreisen.“ Ohne eine helfende Hand im Labor konnten sie die Apotheke nicht einmal für ein Wochenende verlassen. Beiden war das klar und so sah Severus keinen Grund, sie auf diesen Umstand aufmerksam zu machen. „Ich habe in dem Geschichtsbuch das Kapitel über dich gelesen.“ Sie lächelte, auch wenn ihr wegen fehlernder Resonanz nicht danach war. „Ich finde, der Autor hat dich und deine Rolle im Krieg wunderbar getroffen. Als Quellen gab er übrigens Interviews mit Arthur und Kingsley an.“ Die geschnittenen Zutaten warf Severus in seinen Kessel, strafte Hermine mit Nichtbeachtung. Mittlerweile zweifelte sie an sich und hoffte, ihn nicht so sehr verärgert zu haben, dass er in der Beziehung mit ihr womöglich einen Fehler sehen würde. „Wir könnten auch nach Tibet reisen und uns den Chinesischen Raupenpilz mal genauer ansehen. Es heißt, er hätte magische Kräfte. In der Muggelmedizin wird er schon seit dem 15. Jahrhundert als Tonikum genutzt. Außerdem wäre es doch schön, mal zusammen in den Bergen zu wandern.“

Jetzt hatte sie eine Reaktion bekommen. Severus blickte sie einen Moment lang an, bevor er die Flamme unter seinem Kessel klein stellte und zu ihr hinüberging. Er roch an dem Plappertrank, den sie braute.

„Hermine, du musst wirklich nicht von allem probieren, das du für die Kunden herstellst.“ In ihren Augen machte er Dankbarkeit für die wenigen Worte aus, die er mit ihr wechselte. Er schämte sich für sein Verhalten.
„Wenn er nachher kommt, dann möchte ich, dass du einen Blick auf ihn wirst.“
„Hermine …“
„Nein, lass mich ausreden.“ Er nickte, so dass sie Severus ihre Idee schilderte. „Wenn er dir auf den ersten Blick schon nicht gefällt, werde ich trotzdem das Gespräch führen, aber mehr auch nicht. Solltest du Interesse haben, können wir danach miteinander reden. Sieh ihn dir nur mal an.“
Diesmal war es Severus, der die Lippen zusammenpresste. An dem Kompromiss konnte er nichts bemängeln. Hermine überließ ihm das letzte Wort.
„Von mir aus.“
„Schön!“ Ihr breites Lächeln zeigte ihm, dass der Streit vergessen war. „Ich hätte es dir sagen müssen. Es tut mir wirklich leid. Ich dachte nicht, dass du dich so sehr ärgern würdest.“
Völlig aus dem Zusammenhang gerissen erklärte er ihr den wirklichen Grund für sein mürrisches Verhalten. „Ich habe Briefe beim Eulenpostamt abgeholt. Während des Krieges …“ An seiner Körpersprache erkannte sie, dass er sich bei dem Thema unwohl fühlte.
„Was für Briefe?“
„Nachsendungen. Als ich vogelfrei war, war ich für keine Eule zu erreichen. Die Briefe wurden in verschiedenen Postämtern gesammelt und …“
Somit war geklärt, warum Severus heute so spät gekommen war, dachte Hermine. „Ist was Schlimmes dabei?“
„Ich habe nicht alle geöffnet.“
„Bist du denn gar nicht neugierig?“

Severus atmete tief durch. Neugierig war er durchaus, aber etwas hielt ihn davon ab, sich mit bestimmten Postsendungen zu befassen. Er schüttelte den Kopf, bevor er zurück an seinen Platz ging.

„Wir hinken ein wenig mit der Arbeit hinterher.“ Die Ruhe in seiner Stimme war vorgetäuscht. Hermine konnte ein leichtes Beben in ihr ausmachen. Die erhaltenen Briefe sprach sie vorerst nicht mehr an, obwohl sie vor Neugierde fast platzte. Sie war froh, dass er wieder mit ihr sprach, dass wieder alles normal war.

Während Hermine und Severus dem Begriff Vollbeschäftigung eine völlig neue Definition gaben, genossen Harry und Ginny das Leben ohne Arbeit.

An den eisernen Toren von Hogwarts hatte Ginny arge Mühe, Nicholas zu hüten. Immer wieder wollte er ausbüxen und die ihm fremde Umgebung auskundschaften.

Wie schon das erste Mal führte die zweite Reise zum Traumhaus über den Katalog, für den Harry von Mr. Chapman eine neue Codenummer bekommen hatte. Ginny hielt Nicholas auf dem Arm und berührte Harry, als der seinen Stab auf das Bild legte und den Zauber sprach.

Die Reise hatte Nicholas gut überstanden. Er war sichtlich davon angetan, plötzlich an einem anderen Ort zu sein. Noch mehr war er von dem davonflatternden Kranich begeistert, dem er seine Arme entgegenstreckte.

„Wo ist Mr. Chapman“, fragte Ginny.
„Wir können uns das Haus alleine ansehen. Er meinte, weil wir es bereits kennen, ist eine weitere Führung nicht vonnöten.“
Ginny schnaufte. „Vielleicht war es ihm nach seiner letzten Nummer auch nur peinlich, nochmal Rede und Antwort zu stehen.“
Harry grinste. „Sieh es dir an“, forderte er. „Gefällt dir, oder?“
„Von außen schon mal sehr gut.“ Endlich blickte sich Ginny ein wenig um. Bäume, Büsche, Blumen. „Schöne Gegend, aber die habe ich beim ersten Mal auch schon bewundert.“
„Dann lass uns ins Haus gehen.“

Es war abgeschlossen, aber Harry hatte von Mr. Chapman den Spruch erhalten, um die Tür öffnen zu können. Drinnen ließ Ginny den Jungen wieder runter.

„Zum Glück ist es noch hell draußen.“ Nach wie vor schien die Sonne ins Haus und hüllte die Räume in warmes Licht. „Hier unten ist gleich die Küche“, Harry stürmte in den Raum und präsentierte ihn Ginny. „Hier werde ich später stehen“, er stellte sich an den Herd, „um Frühstück zu machen.“ Harry strahlte über das ganze Gesicht, während er so tat, als würde er eine Pfanne über der Muggelherdplatte schwenken. „Und da“, er deutete mit einem Finger in eine Ecke, „sitzen Nicholas und du an einem großen Tisch.“ Den er noch besorgen würde, denn die Räume waren unmöbliert. „Und?“
„Harry, das Rührei brennt an“, scherzte Ginny.
„Oh!“ Harry gab vor, einen Schalter zu betätigen und die Pfanne auf einer der kühlen Platten zu stellen. „Gehen wir ins Wohnzimmer.“ Als er an Ginny vorbeiging, sagte er: „Wir haben übrigens einen Anschluss für ‘nen Fernseher!“
„Der explodieren wird, wenn du in seiner Nähe zauberst“, warnte Ginny, die sich noch gut an Schilderungen von Hermine erinnern konnte, die mit ein paar kleinen Unfällen im Haus ihrer Eltern zu tun hatten.
„Ach“, winkte er ab, „da fällt mir schon was ein. Komm schon!“ Freudig erregte wedelte er mit seinen Händen, damit sie ihm folgen würde. Nicholas war als Erster bei ihm. Harry nahm ihn an die Hand. Im Wohnzimmer angelangt zeigte er auf den Kamin. „Der wird demnächst ans Flohnetzwerk angeschlossen. Dann können alle Freunde uns besuchen.“ Nicholas versuchte, nach dem alten Blumentopf zu greifen, der in der Haltung zu finden war, in der normalerweise die Schale mit dem Flohpulver aufbewahrt wurde. „Wir haben sogar genug Platz für eine Couch, die um zwei Ecken geht.“

Ginny schaute sich diesmal das Haus genauer an. Es gefiel ihr. Sie hielt auch nach dem Geist Ausschau, jedoch nicht mehr so konzentriert wie beim ersten Besuch. Das Haus wirkte sehr gemütlich und heimelig.

„Wollen wir in den Keller gehen?“, fragte Harry.
Ginny schüttelte den Kopf und blickte zur Tür. „Ich muss mir den Ofen nicht ansehen. Gehen wir nach oben.“

Die Führung des Hauses übernahm Harry. Er hatte sich offenbar einige wichtige Aspekte gemerkt, die Mr. Chapman bei der ersten Führung von sich gegeben hatte – und die Harry jetzt zum Besten gab.

„Das hier“, er tippte auf die angelehnte Tür, „wird Nicholas’ Zimmer werden.“ Er kniete sich vor den Jungen hin. „Willst du dein Zimmer sehen?“
„Haaa“, rief der Kleine und warf die Arme in die Luft.
„Schätze, das war ein Ja.“ Sachte stieß Harry die Tür auf und ließ Nicholas den Vortritt. Der rannte blind drauf los und fiel hin prompt hin. „Nicht so eilig.“ Sofort war Harry bei ihm und half ihm auf. Um ihn abzulenken, zeigte er ihm die Aussicht. „Von hier aus kannst du den See sehen. Wer weiß … Vielleicht wohnt da auch ein Krake, mit dem du dich anfreunden kannst.“
„Kake“, imitierte Nicholas das Wort.
Harry schaute über seine Schulter hinüber zu Ginny und grinste. „Hoffen wir, dass er das kleine c nicht so schnell lernt.“
Sie lächelte zurück, betrachtete gleich darauf den großen Raum. „Schade, dass du die Zimmer schon verteilt hast, Harry. Das hier wäre auch ein tolles Elternschlafzimmer.“

Nicholas presste seine kleine Nase an die Scheibe, konnte auch nicht davon lassen, sie abzulecken. Die glatte, kalte Oberfläche fand er interessant. Harry wandte sich an Ginny. Er sah so fröhlich aus, dass sie ihre Entscheidung bezüglich des Hauskaufs gefällt hatte. Als Harry nochmals zu Nicholas hinüberblickte, dessen kleine Hände die Scheibe befühlten, rutschte ihm für einen Moment das Herz in die Hose. Ein Geist saß neben Nicholas. Die durchsichtige Gestalt beobachtete den kleinen Jungen. Beim zweiten Hinsehen tat Harry die Situation als ungefährlich ab. Der Geisterjunge saß im Schneidersitz vor dem Fenster und lächelte freundlich.

„Psst“, machte Harry leise zu Ginny. Als er ihre Aufmerksamkeit erlangte, nickte er zu Nicholas und dem Geist hinüber.
Ginny wusste nicht, warum Harry so angespannt schien. „Was, Harry?“, fragte sie, zog dabei die Schultern leicht in die Höhe.
„Siehst du ihn denn nicht?“
„Klar, Nicholas zeigt mir gerade, wie oft ich später hier die Fenster putzen muss.“
Um sich zu vergewissern, dass der Geist nicht mehr da war, schaute Harry zum Fenster, doch der Junge – Billy – war noch immer zu sehen. Er schaute seiner Frau in die Augen. „Du siehst nichts Außergewöhnliches?“
„Harry?“ Ginny wurde skeptisch. „Siehst du wieder mehr als andere?“ Er schluckte und nickte im Anschluss. Ihre Stimme war leise, als sie fragte: „Siehst du den Geist?“
„Ja.“
„Beschreib ihn“, forderte Ginny.

Harry musterte Billy. Die Haarfarbe eines Geistes war schwer zu bestimmen, aber er schätzte sie sehr hell – womöglich blond. Das Haar war auf jeden Fall heller war als das vom Blutigen Baron.

„Er sitzt auf dem Boden. Ich weiß nicht, wie groß er ist. Er schaut Nicholas bei seiner Erkundungstour zu und scheint darüber amüsiert. Und er trägt einen hellen Matrosenanzug mit so einem eckigem Kragen am Rücken.“
„Exerzierkragen“, warf Ginny ein.
Harry nickte, zeigte dann auf seinen eigenen Oberarm. „Am Ärmel ist ein kleiner Anker eingestickt. Auf dem Kopf hat er eine dunkle Mütze. Das Haar darunter ist leicht gewellt.“ In dem Moment fand Nicholas an der Fensterfront die Klinke der Tür, die zum Balkon führte. Es war nicht verschlossen. „Er steht auf“, beobachtete Harry den Geist. „Normale Größe für einen Neunjährigen, würde ich sagen.“ Nicholas schob die Tür auf und tastete sich ins Freie. „Er geht ihm nach.“
„Ja, und das sollten wir auch, damit er keinen Unsinn anstellt“, unterbrach Ginny. „Warum kannst du ihn sehen und ich nicht?“
„Frag mich nicht, ich habe keine Ahnung.“

Auf dem Balkon standen mehrere Blumenkübel. Die Pflanzen in ihnen wuchsen wild, waren aber keinesfalls verwelkt. Durch die typischen Witterungen in Schottland wurden sie regelmäßig auf natürliche Weise gewässert. Nicholas zupfte an einem der Zweige. Billy kniete sich neben ihn und schaute der kindlichen Neugierde zu. Während Ginny die Aussicht genoss, betrachtete Harry das Zusammenspiel zwischen Geist und Kind. Von Nicholas ungesehen flatterte ein gelber Schmetterling heran und nahm hinter ihm auf der hölzernen Balustrade Platz. Billy zeigte mit einem Finger auf das Insekt und Nicholas – zu Harrys Verwunderung – folgte dem Fingerzeig und drehte sich um.

„Ich glaub’s ja nicht“, murmelte Harry.
„Was?“ Ginny schaute zu Harry, dann zu Nicholas.
„Er kann ihn sehen, Ginny. Ich bin mir ganz sicher. Nicholas kann ihn sehen!“
„Das ist doch gar nicht mögl…“
„Wenn ich es dir doch sage!“

Nicholas versuchte, nach dem Schmetterling zu greifen, doch der schlug mit seinen zitronengelben Flügeln und flog in Richtung Harry. Der Geist und Nicholas schauten dem Schmetterling voller Bewunderung nach. Als der dicht an seiner Wange vorbeiflog, hatte Harry das erste Mal Blickkontakt mit Billy. Der Geist erschrak, riss die Augen auf. Ertappt stand Billy auf und ging langsam rückwärts, direkt durch das Glas der Fenster. Harry rannte ins Zimmer hinein, doch keine Spur mehr von Billy.

„Du musst dich nicht verstecken, Junge.“ Er meinte es ernst. Wenn sie schon ein Haus mit einem Geist kaufen würden, könnte man sich auch vorher kennenlernen. „Billy?“
„Harry, was ist denn nur los?“ Ginny kam mit Nicholas auf dem Arm zurück ins Zimmer.
„Er ist wieder weg.“
„Du hast ihn wirklich gesehen?“ Auf ihre Frage hin nickte Harry. „Ich würde zu gern wissen, warum.“
„Nicholas hat auf ihn reagiert, Ginny. Ich glaube wirklich, er kann ihn sehen.“ Vor seinem inneren Auge ließ Harry das Ereignis Revue passieren. „Es sah beinahe aus, als würde sich ein großer Bruder um einen kleinen kümmern.“
„Du musst mir den Geist nicht mehr schmackhaft machen, Schatz. Wir nehmen das Haus, wenn du es noch immer haben möchtest.“

Sein Glück konnte Harry noch gar nicht fassen. Er fragte nicht nach, sondern nahm Ginny in den Arm und küsste sie – mehr mit den Zähnen als mit den Lippen, denn er musste die ganze Zeit über lächeln.

Den Geist sahen sie während der weiteren Besichtigungstour nicht noch einmal. Nach dem Haus war nochmal das Grundstück an der Reihe, auch der See, bevor sie nachhause apparierten.

„Ich werde Hermine einen Brief schreiben.“ Bei der Aussicht auf einen angenehmen Flug in die Winkelgasse breitete Hedwig ihre Flügel aus und zeigte ihre Bereitschaft. „Vielleicht hat sie eine Erklärung dafür, warum ich den Geist sehen konnte.“
„Frag sie, wann wir uns mal wieder sehen können.“
„Ich glaube, die beiden haben im Moment alle Hände voll zu tun. Die Apotheke läuft einfach zu gut.“
„Dann müssen sie jemanden einstellen“, riet Ginny. „Sonst machen sie sich noch kaputt.“

Sofort setzte sich Harry mit Schreibfeder und Tintenfass an den Tisch, um Hermine einen Brief zu schreiben. Plötzlich tauchte Nicholas vor ihm auf. Der Junge setzte sich Harry direkt gegenüber und beobachtete, was sein Vater trieb. Harry tauchte seine Feder ins Tintenfass und schrieb. Auf der Stelle griff Nicholas zu einer von Hedwigs Federn, die noch auf dem Tisch lagen. Harry schob ihm ein Blatt Pergament zu. Die unbehandelte Feder der Eule sog sich auf der Stelle mit Tinte voll. Auch Nicholas’ Finger wurden ganz schwarz, aber den Jungen störte es nicht. Er ahmte Harry nach und kritzelte Formen auf sein Pergament. Während Harry den Brief schrieb, schaute er immer wieder zu Nicholas hinüber, der es ihm gleichmachen wollte.

Am Ende gab es einen formvollendeten Brief von Harry an Hermine und ein paar Kritzeleien, unzählige Fingerabdrücke und Tintenklekse von Nicholas an seine Patentante. Voller Stolz zeigte der Junge sein Werk. Harry schmunzelte.

„Wollen wir Tante Hermine deinen ersten Brief mit meinem zusammen schicken?“
„Daaa“, erwiderte Nicholas, ließ das Pergament bei seinem Vater auf dem Tisch und betrachtete sich die schwarzen Hände.
„Ginny?“ Als sie von ihrem Buch aufblickte, zeigte Harry auf Nicholas. „Ich glaube, er sollte sich mal die Hände waschen, bevor hier überall Handabdrücke …“
„Ach herrje, was habt ihr denn nur angestellt?“

Ginny ging mit Nicholas ins Badezimmer, während Harry ein P.S. unter seinen Abschiedsgruß setzte und seinen Brief samt der Zeichnungen von Nicholas in einen Kuvert steckte.

„Hedwig?“ Sie war sofort bei ihm und streckte ihm ihr Bein entgegen. „Kannst es gar nicht erwarten, wieder mal rauszukommen, richtig?“ Hedwig war nicht mehr die Jüngste. Harry hatte sie geschont, wo es nur ging, aber dadurch war der Vogel nur depressiv geworden. Ein oder zwei weite Entfernungen die Woche waren für die Schneeeule noch zu meistern. Der Brief war schnell an dem Bein befestigt. „Du weißt ja bereits, wo es hingehen soll. Zu Hermine in die Winkelgasse.“

Hedwig schuhute fröhlich und machte sich auf den Weg. Ihre Flügel trugen sie schnell, und die Winde meinten es gut mit ihr.

Verblüffend am menschlichen Wesen war die Fähigkeit, die Gefühle des anderen nachempfinden zu können. Aus kleinsten Abweichungen der Mimik konnte Hermine erkennen, dass Severus sich zwar aufs Brauen konzentrierte, ihm aber immer wieder etwas anderes durch den Kopf ging. Wahrscheinlich die Briefe – oder einer von ihnen. Nach dem Bewerbungsgespräch würde sie ihn darauf ansprechen, wenn es sich ergab.

Am Abend positionierte sich Severus an der Labortür, um zufällig hinauszutreten, wenn der Gast eintreffen würde. Er hörte Hermine reden, als sie den Bewerber hereinführte. Es gab keine Möglichkeit, im Vorfeld die Stimme des Gastes zu hören, um vielleicht schon eine erste Einschätzung zu erhalten. Es behagte ihm überhaupt nicht, sich mit fremden Menschen abgeben zu müssen, wo er seine Zeit viel besser verbringen könnte, zum Beispiel im Bett – mit Hermine. Severus lauschte ihrer Stimme, bevor er sich ein Herz nahm und in den Flur trat.

„Oh, guten Abend, Professor Snape“, grüßte ihn der junge Mann sehr enthusiastisch. Severus kannte ihn bestens.
„Mr. Foster.“ Beinahe hätte er die letzte Silbe eine Oktave höher gesprochen, doch das Offensichtliche wollte er nicht als Frage betonen. „Sie“, ein unsicherer Blick zu Hermine, die ihm zunickte, „wollen also die Ausbildung zum Tränkemeister hier absolvieren?“
„Ja, Professor Snape, das würde ich wirklich gern.“ Ein nervöses Lächeln huschte über Gordians Lippen.
„Dann“, Severus öffnete die Tür zur Küche, „treten Sie doch bitte ein. Wir haben einiges zu bereden.“ Gordian trat durch die Tür, die Severus ihm offenhielt. An der Tür berührte Severus Hermines Arm und flüsterte: „Warum hast du mir das nicht gesagt?“
„Du wolltest es nicht hören“, flüsterte sie zurück, grinste dabei. „Aber du verstehst jetzt hoffentlich, warum ich bei der außergewöhnlichen Referenz nicht einfach ablehnen konnte.“
Einer seiner Mundwinkel zuckte amüsiert. Besagte Referenz für Mr. Foster stammte von ihm. „Nach dir, Hermine.“

In der Küche wartete Gordian geduldig – und er war auch etwas steif. Der junge Mann wollte keinen Fehler machen, keinen schlechten Eindruck hinterlassen.

„Nehmen Sie bitte Platz“, bat Severus. Der junge Mann gehorchte aufs Wort und nahm den erst besten Stuhl, der in der Nähe war. So dürfte es, wenn es nach Severus ginge, weitergehen. Endlich jemand, der das tat, was man ihm sagte. „Darf ich fragen, warum Sie sich gerade hier beworben haben?“
„Ich war schon in der Schule von Ihrem Können schwer beeindruckt“, gestand Gordian.

Hermine konnte sich gemächlich zurücklehnen, denn Severus übernahm das gesamte Gespräch. Schon nach Gordians Antwort war sie sich sicher, dass Severus nicht nein sagen würde. Wer hörte es nicht gern, dass man einen jungen Menschen beeindruckt hatte?

Mit der Zeit verlor Gordian seine Befangenheit. Dem jungen Mann lag viel an dieser Stelle, das war während des Gesprächs deutlich geworden. Gordian gab sich aber auch reichlich Mühe, nicht wie ein unsicherer Junge zu wirken. Er war immerhin Hogwarts’ jüngster Schulabgänger, hatte noch keine Erfahrungen mit Gesprächen dieser Art.

„Haben Sie sich auch woanders beworben?“, fragte Severus.
„Nein, Sir. Die anderen Tränkemeister stellen keinen Wolfsbanntrank mehr her und gerade den möchte ich lernen.“
„Warum?“
Gordian fühlte sich wie in der Schule. „Weil er schwierig herzustellen ist. Ich möchte damit vertraut sein.“
Die Bewerbungsunterlagen ging Severus kurz durch, bevor er aufblickte. „Wegen Ihres Alters werde ich beim Ministerium nachfragen, ob es irgendwelche Einschränkungen gibt.“
„Ich habe mich bereits erkundigt, Sir. Das Alter ist für die Stelle als Lehrling bei einem Tränkemeister nicht wichtig. Hauptsache, ich habe einen bestandenen Schulabschluss. Hier“, er reichte Severus eine Mappe, „sind Informationen vom Ministerium, die das bestätigen.“
„Dann müssen wir uns nur noch über die Vertragsform einigen.“

Von Gordian aus herrschte Stille. Er blinzelte einige Male, auch öffnete er den Mund, schloss ihn aber wieder, bevor er eine dumme Frage stellen konnte.

„Wäre Ihnen Vertragsform C angenehm?“, fragte Severus.
„Ich …“ Gordian schaute Hilfe suchend zu Hermine hinüber, dann wieder zu Severus. Vorsichtig fragte er nach: „Ich hab den Job?“
„Habe ich das nicht eben deutlich zum Ausdruck gebracht?“ Severus hob eine Augenbraue und genoss einen Moment lang das Gefühl, Gordian damit tatsächlich einzuschüchtern. „Von Ihren Fähigkeiten bin ich bereits unterrichtet. Fehlt noch die Vertragsform.“
„Ich wäre auch mit H zufrieden.“ Bei dieser Form würde Gordian noch draufzahlen müssen, wussten Severus und Hermine.
„Darüber reden wir noch“, machte Severus dem jungen Mann Hoffnung. „Eines bedarf noch der Klärung, Mr. Foster. Galt Ihre Bewerbung meiner Geschäftspartnerin oder mir? Sie benötigen für das Ministerium einen bestimmten Tränkemeister, der Ihre Ausbildung überwacht.“
„Ich hätte gern Sie als meinen Meister, Sir.“
„Gut, Sie hören von uns.“

Nachdem Gordian gegangen war, sprach Severus mehr als Hermine über den Bewerber und welche Bereicherung der junge Mann für die Apotheke sein würde.

„Sicher“, begann Severus, als er ein Abendessen zubereitete, „er muss erst angelernt werden, aber leichte Tränke kann er für die Apotheke bereits brauen. Mr. Foster schien Gefallen daran zu finden, dass er mit seiner Ausbildung bei uns gleichzeitig einen Einblick in die Arbeit eines wirtschaftlich orientierten Unternehmens erhält.“
„Also war es doch nicht so schlecht, dass ich ihn eingeladen habe.“
Bevor Hermine den glücklicherweise gut verlaufenden Abend als Anlass nehmen würde, nochmals in dieser Richtung aktiv zu werden, schritt er ein. „Du wirst mich das nächste Mal im Vorfeld informieren.“
„Zu Befehl!“, gab sie zurück, salutierte dabei.
„Du nimmst mich nicht ernst“, stellte er daraufhin trocken mit.
„Natürlich nehme ich dich ernst. Manchmal muss man dir aber einen Tritt in den Hintern geben.“
„Mir? Wenn ein Hintern einen Tritt verdient hat, dann ist das ja wohl deiner.“
„Meiner?“ Sie drehte sich um und strich mit einer Hand über die Gesäßhälfte. „Warum denn das?“
Sie tat es schon wieder, dachte er. Sie reizte ihn mit voller Absicht. „Genau deswegen“, erwiderte er.

Als es am Küchenfenster klopfte, lehnte sich Hermine extra so über die Arbeitsfläche, dass ihr Gesäß sich einladend ihm zuwandte. Durchs gerade eben geöffnete Fenster kam Hedwig herein.

„Oh, eine Nachricht von Harry.“ Hermine nahm den Brief ab und bemerkte dabei, dass das Bein der Schneeeule zitterte. Auch das schnell klopfende Herz konnte man unter den dichten Federn pochen sehen. Hedwig atmete schnell, hechelte geradezu, wenn Vögel überhaupt hecheln konnten. „Du armes Mädchen. Die lange Strecke von Hogwarts bis London. Das müssen“, Hermine rechnete kurz im Kopf, „über 470 Meilen gewesen sein. Hier, trink erst einmal ein Schlückchen.“
„Was schreibt er?“
Hermine öffnete den Brief und las vor: „Liebe Hermine, ich würde dich gern besuchen. Bei einer zweiten Hausbesichtigung habe ich Billy gesehen. Ginny schwört, sie konnte den Geist nicht sehen.“
„Ah, seine Wahrnehmung spielt wieder verrückt“, kommentierte Severus den Brief. „Wann will er kommen?“
Hermine überflog den Brief. „Heute um 23 Uhr.“
Severus blickte auf die Uhr. „Es ist 22:55 Uhr. Dann können wir in fünf Minuten mit ihm rechnen? Warum hat er dir nicht gefloht?“
„Weil man uns beide während der Arbeitszeit nicht über den Kamin erreichen kann, denn der befindet sich oben im Wohnzimmer, nicht im Labor.“
„Er hätte den Vogel nicht schicken müssen, um uns Bescheid zu geben, dass er in fünf Minuten vorbeikommt. Das ist völliger Blödsinn.“ Ein fieses Grinsen breitete sich plötzlich auf Severus’ Gesicht aus. „Ach, ich vergaß beinahe: Gryffindor. Das erklärt natürlich sein Handeln.“
„Sei mal nicht so frech“, schalte sie ihn mit einem Lächeln, bevor sie Hedwig auch noch etwas Futter gab. „Hedwig hat sich bestimmt über den Flug gefreut, oder?“ Der Vogel blickte von seinem Schälchen auf und nickte, jedenfalls sah es für Hermine so aus. „Siehst du?“

Oben hörte man ein lautes Knallen, dann ein Rumpeln, das den Gast ankündigte. Beide schauten nach oben, obwohl man Harry schwerlich durch die Decke ausmachen konnte.

„Hermine?“, rief es von oben.
Sie ging zur Tür und lugte hinaus. „In der Küche, Harry.“

Es hörte sich an, als würde ein Pferd die Treppen hinuntergaloppieren. Beschwingt steuerte Harry die Küche an, an deren Tür er Hermines Kopf ausmachen konnte.

„Hi Hermine“, grüßte er breit grinsend, „ich hoffe, Hedwig hat die Nachricht überbracht?“
„Ja, komm rein und setzt dich.“ Weder Hermine noch Severus sprachen an, dass Hedwig erst von fünf Minuten gekommen war. „Aber auf deinem Nachhauseweg nimmst du sie über den Kamin mit, oder? Du kannst das arme Mädchen nicht in der Dunkelheit nachhause schicken.“
„Klar nehm ich Hedwig mit.“ Harry ließ sich auf der Küchenbank nieder, direkt gegenüber von Severus.
Hermine setzte sich so, dass sie Severus zu ihrer Linken hatte, Harry rechts. Sie nahm das Thema des Briefes auf und fragte: „Du hast geschrieben, dass du den Geist sehen konntest, aber Ginny nicht?“
„Ist komisch, oder? Ich habe ihn wirklich deutlich gesehen, genauso wie die Geister in Hogwarts.“
„Und Ginny hat absolut nichts bemerkt?“, fragte Hermine verwundert nach. „Nicht einmal einen Umriss? Oder ein Leuchten?“
„Sie schwört, sie hat gar nichts gesehen. Das Beste aber ist“, Harry hob einen Zeigefinger, „dass Nicholas ihn auch gesehen hat.“
Hier meldete sich Severus zu Wort. „Was lässt dich das denken?“
„Weil Billy“, für Severus erklärte er, „der Geist heißt so. Billy hat auf einen Schmetterling hinter Nicholas gezeigt und er hat sich auch tatsächlich umgedreht!“
„Das kann Zufall gewesen sein“, tat Severus dieses Ereignis ab.
„Das erklärt aber nicht, warum ich ihn sehen konnte.“
Hermine nickte, dachte dabei an damalige Auslöser für Harrys Wahrnehmungsproblem. „Warst du zu dem Zeitpunkt verärgert?“
„Kein Stück“, kam wie aus der Pistole geschossen. Harry lehnte sich zurück, streckte die Beine und erwischte versehentlich Severus’ Fuß. „Oh, Entschuldigung.“ Ein zufriedenes Lächeln war bei Harry auszumachen, als er erklärte: „Ich habe mich eher gefreut. Darüber gefreut, dass Ginny das Haus nochmal sehen wollte, dass wir es vielleicht doch kaufen.“
„Und?“, hakte Hermine nach. „Was hat sie gesagt?“
Sein Strahlen war eigentlich Antwort genug, doch er drückte sich auch verbal aus. „Wir nehmen es.“
„Das ist schön. Hat ihr die Geschichte gefallen?“
Severus kam nicht mehr ganz mit. „Was für eine Geschichte?“
„Na, ich habe doch dieses Buch gefunden, als ich über den Geist recherchiert habe.“
Severus erinnerte sich dunkel. „Von dem Bruder geschrieben.“
„Richtig.“ Sie wandte sich an Harry. „Hat ihr also gefallen?“
„Ja, aber ich glaube, das war nicht der Grund, warum sie es sich überlegt hat. Ich denke vielmehr, sie wollte mir diesen Wunsch erfüllen.“
„Ist doch schön! Ich gratuliere.“
„Noch ist es ja nicht gekauft. Aber ihr seid jetzt schon zur Einweihungsparty eingeladen.“ Weil Severus die Nase rümpfte, stocherte Harry nach. „Du kommst doch auch, Severus?“ Das Brummen hörte sich nach vielleicht an.
„Zurück zu dem Geist.“ Severus lenkte das Gesprächsthema wieder in andere Bahnen. „Schildere die Begegnung.“

Ohne auch nur eine Kleinigkeit auszulassen erzählte Harry von der Besichtigung des Hauses, von dem Geist und selbst von dessen Kleidung. Der Blickkontakt mit Billy und dass der Geist auf Harry mit Rückzug reagierte, war gleichermaßen seltsam und interessant.

„Es scheint, als wollte er nicht stören“, vermutete Hermine laut. „Soweit ich weiß, haben mindestens zwei Familien das Haus gesegnet und explizit dem Geist befohlen, sich zurückzuziehen.“
„Offenbar ein gehorsamer Junge“, scherzte Severus. „Aber die Tatsache, dass du ihn sehen konntest …“ Mit einem Finger fuhr sich Severus über das Kinn. „Wie hell war es zu dem Zeitpunkt?“
„Hell! Ich meine, taghell. Die Sonne hat das ganze Zimmer geflutet. Der Geist ist sogar rausgekommen auf den Balkon und ich konnte ich deutlich sehen.“
„Sonne …“, murmele Hermine gedankenverloren.
Severus wollte noch einige Informationen Harry erhalten. „Wie durchsichtig war der Geist?“
„Sagte ich doch, genau wie Sir Nicholas. Ich habe keinen Unterschied festgestellt.“
„Der Geist ist durch das Glas der Fensterscheibe zurück in den Raum geschwebt?“ Auf Severus’ Frage hin nickte Harry. „Mmmh“, machte der Tränkemeister. „Und du warst zu dem Zeitpunkt in guter Stimmung?“
„In richtig guter Stimmung“, beteuerte Harry grinsend.
„Licht …“, hörte man eine nachdenkliche Hermine zu sich selbst sagen.
Wie üblich musste man Hermine dazu auffordern, ihre Gedankengänge preiszugeben, was diesmal Harry übernahm. „Eine Idee, Hermine?“
Als sie ihren Namen hörte, zuckte sie zusammen, so vertieft war sie in ihrer Überlegung. „Noch nicht, aber irgendwie formt sich da gerade was.“ Mit einem kreisenden Zeigefinger deutete sie auf ihren Kopf. „Ich habe noch nicht alles zusammen, aber ich bin mir sicher, dass es irgendwann Klick machen wird.“
„Und bis es soweit ist“, warf Severus ein, „kann Harry uns vielleicht verraten, ob zwischenzeitlich Ähnliches passiert ist. Hast du irgendwann mal wieder jemanden nicht sehen können?“
„Nicht, dass ich mir darüber im Klaren wäre.“
Severus stöhnte. „Du bist ein außergewöhnlich hartnäckiger Fall, Harry.“
Mit hängenden Schultern stimmte Harry zu. „Ja, ich weiß. Ich bin der Irre, der Leute ausblenden kann oder Unsichtbares sieht.“
„Es passiert in geschlossenen Räumen“, dachte Hermine laut nach, „und im Freien. Du hast auch einmal einen getarnten Demiguise gesehen, nicht wahr?“
„Ja, bei Luna.“
„Und du hast einmal die Magiefarben der Schüler gesehen, einfach so.“
Harry nickte. „Das war bisher das schönste Erlebnis.“
Wieder bekam Hermine diesen abwesenden Blick. „Licht“, sagte sie nochmals.
„Hermine, jetzt ist genug“, schimpfte Severus. „Wirf uns deine Gedankenhäppchen vor. Vielleicht können wir daraus“, Severus schaute skeptisch zu Harry hinüber und verbesserte, „vielleicht kann ich daraus etwas machen.“
Sie zögerte im ersten Moment, begann dann aber: „Sonne, Licht, Magiefarben, Korpuskel.“

Sofort überlegte Severus, ob er mit diesen Stichpunkten irgendetwas anfangen konnte. Als Hermine zu Harry schaute, fühlte der sich aufgefordert, etwas zum Thema zu sagen. Er schaute hilflos drein.

„Hund, Katze, Maus?“ Ein Schulterzucken untermauerte seine Hilflosigkeit. „Ich habe wirklich keine Ahnung, Hermine. Ich weiß, ich bin keine große Hilfe.“
„Musst du auch nicht sein, Harry. Überlass das Wissenschaftliche mal uns und du kümmerst dich um die ganzen Tiere, die du aufgezählt hast“, nahm Hermine ihn auf den Arm.
„Ich glaube, ich weiß, was dir im Kopf umgeht“, sagte Severus zu Hermine. Gleich darauf sah er Harry in die Augen, aber nicht wie ein Freund, sondern wie ein Heiler. „Harry, würde es dir ausmachen, mir eine Gewebeprobe deiner Netzhaut zu überlassen?“
Harry schien schockiert, was man an seinen weit aufgerissenen Augen ausmachen konnte, womit er nur noch mehr Sicht auf das begehrte Objekt freigab. „Was bitte?“
„Nein“, winkte Hermine ab, „ich glaube nicht, dass das auf organischer Ebene nachweisbar ist.“
„Mit einer Negativprobe hätten wir aber Gewissheit“, gab Severus zu bedenken.
Wenig begeistert weigerte sich Harry. „Ich will keine Gewebeprobe von meinem Auge abgeben!“
„Nicht doch vom Auge“, korrigierte Severus, „nur von der Netzhaut.“
„Ist nicht! Vergiss das schnell wieder.“
„Harry?“
Er schaute zu Hermine hinüber und verschränkte die Arme vor der Brust – Abwehrhaltung. „Ich gebe keine Proben, weder vom Äußeren noch vom Innern meines Körpers!“
Sie musste grinsen. „Ich wollte dich eigentlich nur fragen, ob du nochmal meinen Farbtrank nehmen würdest.“
„Klar, wenn es der gleiche Trank ist, den ich schon einmal genommen habe.“
Diese Aussagen bestätigte Hermine mit einem Kopfnicken. „Und außerdem würde ich gern, dass du demnächst mal mit zu meinen Eltern kommst.“
„Warum das?“ Harry wurde stutzig. Hermines Eltern waren Zahnärzte. „Ich gebe auch keinen Zahn her.“
„Ich habe da etwas völlig anderes im Kopf. Ich will nur testen, ob du etwas sehen kann, das man normalerweise nicht sieht.“ Bevor er fragen konnte, was sie meinte, fügte sie hinzu: „Außerdem möchte ich wissen, ob du den Zustand absichtlich herbeiführen kannst. Hast du schon mal meditiert, um Dinge sehen zu können, die unsichtbar sind?“
Harry schnaufte. „Ich habe nichts, was unsichtbar ist. Wie soll ich überprüfen, ob ich das nach einer Meditation sehen kann? Ich könnte mich höchstens bei Luna einquartieren und mit ihrem Affen üben, aber ich glaube, Neville und Ginny hätten was dagegen.“
Severus fiel etwas ein, das er sofort zur Sprache brachte. „Du hast den Tarnumhang. Wirf ihn deiner Frau über und übe ein wenig.“

Gesagt, getan.

Am nächsten Tag wollte Harry sein Experiment durchführen. Es mangelte nur an einem wichtigen Bestandteil: Ginny. Sie war mit Freundinnen unterwegs. Shoppen. Höflich, wie sie immer war, hatte sie sogar gefragt, ob er mitkommen wollte, doch er verspürte keine Lust, sechs Damen beim Schuheinkauf zu beobachten und sagte daher dankend ab.

Nicholas saß auf der Couch und betrachtete sich ein Bilderbuch, das er von vorn bis hinten, dann wieder von hinten nach vorn und nochmals von vorn begann. Die bewegten Bilder faszinierten den Jungen. Da kam Harry eine Idee. Er würde erst meditieren – was auch immer Hermine damit meinte – und dann würde er Nicholas den Tarnumhang überwerfen.

In seiner Kindheit hatte Harry einige Folgen der Serie Kung Fu gesehen. Er war sich sicher, dass Kwai Chang Caine einige Male meditierte, bevor die bösen Buben eins auf die Nuss bekamen. Das waren die Szenen, in denen er sich im Schneidersitz auf den Boden setzte, die Fingerkuppen aneinanderlegte und die Augen schloss. Hinsetzen, entspannen und in sich gehen. Schwer dürfte das nicht sein, dachte Harry. Er setzte sich auf den Boden und scheiterte prompt am Schneidersitz. Die Beine wollten ihm nicht gehorchen. Als er sie in die richtige Position gebogen hatte, bekam er einen Krampf in der Wade und stellte sich sofort wieder hin.

‚Verflixt!‘, dachte er. Er durfte nie jemandem erzählen, dass er beim Sitzen versagt hatte.

Harry machte es sich gemütlicher und zwar auf der Couch gegenüber von Nicholas, der noch immer mit seinem Buch beschäftigt war. Seine Hände legte Harry locker auf den Schenkeln ab. Als er sich wohlfühlte, schloss er die Augen. Sofort fiel ihm auf, dass es wahnsinnig schwer war, sich auf nichts zu konzentrieren. Es ging einfach nicht. Immer war irgendetwas in seinen Gedanken, dass ihn von der Meditation ablenkte. Harry versuchte, sich auf eine Farbe zu konzentrieren. Er schwankte dabei zwischen weiß und schwarz. Bei schwarz pendelte sich die Farbe vor seinem inneren Auge ein.

Nach etwa fünf Minuten verglich er unbewusst Gegenstände, die von schwarzer Farbe waren. Eine Erinnerung an den Fernseher der Dursleys rückte in den Vordergrund. In ihm lief Kung Fu. In seiner Naivität – nicht die kindliche, sondern die zu glauben, Vernon würde Verständnis für ihn aufbringen – fragte Harry, ob er eine Kung Fu-Schule besuchen dürfte. Vernon lachte. ‚Kung Fu? Dieser asiatische Mist? Ich zahle doch kein Geld, damit man dir beibringt, wie ein Hampelmann herumzuzappeln. Dudley, komm mal her.‘ Harrys Cousin kam auf der Stelle. ‚Zeig mal deinem Cousin, wie man treten kann. So wie Bruce Lee das immer macht.‘ Dudleys schwere Beine konnten sich nicht im 90 Grad-Winkel vom Körper abheben, und so graziös wie bei den Fernsehstars sah es nicht ein bisschen aus. Trotzdem schaffte Dudley es, gegen einen kleinen Tisch zu treten, der bei der Last auch noch zu Bruch ging. Natürlich war das Harrys Schuld, denn man musste ihm ja zeigen, dass man kein Geld ausgeben musste, um treten zu lernen.

Mit einem Male öffneten sich Harry Augen. „Woher kam denn das eben?“, fragte er sich selbst. Die Erinnerung stammte aus seinem siebten Lebensjahr, und er glaubte sie längst verschollen. Mit dem laienhaften Versuch einer Meditation hatte er sie ans Tageslicht gebracht. Harry streckte sich kurz, legte danach die Hände wieder auf die Schenkel. „Puh, dann auf ein Neues.“

Schwarz. Er stellte sich schwarz vor, bis ihm bewusst wurde, dass er rot sah und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Das Sonnenlicht, das ins Wohnzimmer schien, machte für ihn die Farbe seiner Augenlider sichtbar. Er bemerkte sogar, wenn eine Wolke vorbeizog, denn dann wurde es etwas dunkler. Vorbei war der Glaube, sich eine Farbe vorstellen zu können, solang man eine andere vor Augen hatte. Harry entschied, sich gar nichts mehr vorzustellen und auf das innere seiner Lider zu starren. Anstatt seinen Geist zu leeren, wie er es bei Okklumentikübungen immer getan hatte, begann er eine Diskussion mit sich selbst. Beziehungsweise gab er sich Instruktionen, um schneller zum Ziel zu gelangen.

‚Ich will, dass es einsetzt‘, sagte er in Gedanken zu sich selbst. ‚Ich will, dass ich Nicholas nicht mehr sehen kann.‘ Plötzlich sträubte sich sein Innerstes gegen diese Aussage. Es wäre ein Albtraum, den Jungen nicht mehr sehen zu können. Mit seinen eigenen Worten hatte er sich aus dem Zustand einer mittleren Trance zurückgeholt. Er blickte auf und sah Nicholas, der sich mittlerweile auf die Couch gelegt hatte. Wahrscheinlich war er müde. Die kleinen Augen waren nur noch halb offen.

„Bist du müde?“, fragte er den Jungen und stand auf. Den Tarnumhang hatte er über der Lehne abgelegt. Harry griff danach und bedeckte Nicholas, dessen Augen letztendlich zufielen. Harry gab sich einen Ruck und zog die Decke über den Kopf. Der Knabe war nicht mehr zu sehen. „Okay, keine Panik. Die Tür ist verschlossen, ich bin allein. Nicholas ist hier und hat nur meinen Umhang um, während er schläft. Es kann nichts passieren.“

Leise, damit er Nicholas nicht wecken würde, ging Harry wieder zur anderen Couch, nahm die bewährte Position ein und schloss die Augen. Für einen Moment war Harry von der Frage abgelenkt, ob es richtig war, seinen Sohn in dieses Experiment zu involvieren. Einen weiteren Moment später versuchte er, an nichts zu denken – die schwierigste Aufgabe überhaupt. Wenn Erinnerungen aufblitzen wollten, vergrub er sie schnell wieder; nur die schönen, die wollten oft bleiben: Wie er Ron das erste Mal im Hogwarts-Express traf. Der erste Kuss von Ginny. Quidditch-Höhepunkte. Sirius, der am Leben war. Plötzlich erinnerte sich Harry an einen Moment aus der Schule, als Snape ihn wegen fehlenden Respekts wutentbrannt vormachte, wie er das Wort an seinen Lehrer zu richten hatte. Harry grinste, als er in Gedanken seine zugegebenermaßen freche Antwort hörte: ‚Sie brauchen mich nicht Sir zu nennen, Professor.‘

‚Okay, Harry‘, sagte er in Gedanken zu sich selbst. ‚Sammle dich, beruhige dich. Denke an nichts. Und vor allem: Höre auf, mit dir selbst zu reden. Das macht keinen guten Eindruck.‘

Hin und wieder wollte ein Geräusch seine Konzentration stören. Harry, der mittlerweile doch auf eine der Übungen zurückgegriffen hatte, die er während seines Okklumentik-Studiums erlernte, blockte alle äußeren Einflüsse ab und richtete seine Aufmerksamkeit auf sich selbst. Jede aufkommende Erinnerung schob er zurück in seinen Geist. Die letzte Erinnerung, die er wieder in die Tiefen seines Unterbewusstseins drängte, zog ihn unerwartet mit. Überrascht stellte er fest, dass er sich an einem Ort wiederfand, der auf sonderbare Weise unheimlich war, weil er ihn das erste Mal betreten hatte. Dennoch schien ihm diese Örtlichkeit vertraut. Es war dunkel, trotzdem heimelig und vor allem ruhig. Das hier, dachte Harry, stellte offenbar die letzte erreichte Stufe seiner Meditation dar. Er schaute sich um. Wie in Aquarien gesperrt konnte er einen Blick auf verschiedene Erlebnisse seines Lebens werfen, aber sie nahmen seinen Geist nicht mehr ein. Er konnte sie mit Abstand betrachten.

Als Harry versuchte, einen Fuß vor den anderen zu setzen, bewegten sich die Aquarien neben ihm und huschten an ihm vorbei wie die Landschaft am Fenster eines Zugabteils. Seine Beine bewegten sich jedoch kein bisschen. Er kam zu dem Schluss, dass er sich in diesem Ort durch Gedankenkraft fortbewegen konnte. Es war viel zu interessant hier, als dass er einen Gedanken daran verschwendete, die Meditation abzubrechen, um das eigentliche Experiment durchzuführen.

Die hellen Aquarien mit Erinnerungen, die ihm noch sehr präsent waren, wichen bald einigen finster aussehenden Türen. Gerade als er eine Tür öffnen wollte, bemerkte er weiter hinten die Umrisse eines großen Tieres. Harrys Herz begann zu pochen. Das Tier schien das zu hören, denn es drehte sich zu ihm um. ‚Verdammt!‘, sagte er in Gedanken. Diesmal war sich Harry sicher, dass das Tier ihn gehört hatte, denn es kam langsam auf ihn zu. ‚Verdammt, verdammt, ver…‘

„Verdammt!“, sagte er laut, als er wieder bei sich war. Sein Herz raste noch immer, während er sich fragte, was das gewesen sein könnte. „Das wird wohl heute nichts mehr.“ Harry ging hinüber zu Nicholas und wollte die Decke vom Kopf ziehen, da griff er ins Leere. „Was …?“ Seine Hand berührte die Sitzfläche. Hier war kein Kind mehr. „Ach du sch…“ Es klopfte. Aus purem Reflex sagte er: „Herein.“
Remus und Sirius traten ein. „Hallo Harry“, grüßte sein Patenonkel. „Ich dachte, wo ich schon gerade Remus besuche, könnte ich auch …“ Sirius hielt inne, weil Harry seltsame Bewegungen mit seinen Armen machte, als würde er die Luft abtasten.
„Macht bitte die Tür zu.“ Der Aufforderung kam Remus nach. Sirius hingegen näherte sich seinem Patensohn und wurde deshalb harsch dazu aufgefordert: „Beweg dich nicht!“ Wie angewurzelt blieb Sirius noch im Gehen stehen, die Beine einen halben Schritt auseinander.
„Sagst du uns auch, was los ist?“
„Ich habe Nicholas verloren!“
„Wie …?“ Sirius lachte kurz auf. „Wie kann man ein Kind einfach so verlieren?“
Mittlerweile kroch Harry am Boden entlang, als würde er Topfschlagen spielen, nur dass man ihm nicht die Augen verbinden musste. „Er hat meinen Tarnumhang.“

Remus, der noch immer bewegungslos an der Tür stand, schaute sich im Wohnzimmer um. In diesem Moment hörte man ein leises Giggeln.

„Psst! Habt ihr das gehört?“ Remus spitzte die Ohren, aber das Kinderlachen war verschwunden.
Sirius’ Lachen hingegen konnte man gut hören, bevor er sagte: „Der Kleine amüsiert sich prächtig über die dummen Erwachsenen.“ Ein Seufzer entwich ihm. „Würde ich jedenfalls tun, wenn ich er wäre.“
Harry blickte sich um, was Blödsinn war, denn er konnte Nicholas ja nicht sehen. „Woher kam das Kichern?“
Remus zuckte mit den Schultern. „Ich bin mir nicht sicher.“ Ein Geistesblitz. Aus seiner Tasche zog Remus einen Streifen Schokolade und wickelte ein Ende des Papiers auf. Mit der Süßigkeit winkte er hin und her. „Hier, Nicholas. Ein Stückchen Schokolade! Mmmm“, machte er, damit seine Worte auch von Kinderohren verstanden wurden.
„Damit wirst du ihn nicht hinterm Ofen hervorlocken, Remus.“ Harry schüttelte den Kopf, stand wieder auf. „Weil Ginny nicht da war, haben wir uns zum Mittag zwei Desserts gegönnt.“
„Schade.“ Gerade wollte Remus die Schokolade wegpacken, da sah er Sirius’ schmachtenden Blick. Er hielt seinem Freund das Stück entgegen. „Willst du?“
„Aber sicher, danke!“
Harry war noch immer verzweifelt. „Was mach ich jetzt nur?“
„Es gibt Zaubersprüche“, merkte Sirius an, „mit denen kann man solche Probleme lösen.“
Remus war anderer Meinung. „Ach, wozu gleich mit dem Stab wedeln? Lass ihm doch den Spaß. Ich würde vorschlagen, wir setzen uns erst einmal ganz vorsichtig. Irgendwann wird es ihm langweilig und er wird allein wieder zum Vorschein kommen.“

Harry, Sirius und Remus tasteten sich vorsichtig zu den Sitzmöglichkeiten vor, um nicht versehentlich auf Nicholas zu treten. Gegenüber von seinen Gästen blickte sich Harry immer wieder am Boden um. Vielleicht würde er einen unbedeckten Fuß sehen, eine Hand oder Haare.

„Harry“, begann Remus amüsiert, „es wird schon nichts passieren.“
„Es könnte ja sein, dass ein Stück von ihm unbedeckt ist.“
Sirius schnaufte belustigt. „Wenn ich mich recht entsinne, wart ihr damals zu dritt unter dem Umhang.“ Weil Harry nickte, sagte Sirius: „Es passen wahrscheinlich sechs Kinder von Nicholas’ Größe auf einmal unter den Tarnumhang.“
Harry seufzte. „Ich hoffe, das macht er jetzt nicht öfters, wo er weiß, dass man ihn damit nicht sehen kann.“
„Ach“, winkte Remus ab. „Er hat keine Ahnung, dass er unsichtbar ist, Harry. Das ist für ihn eine normale Decke. Du kennst doch die Spielchen von Kindern. Das ist genauso wie“, Remus bedeckte beide Augen mit den Händen, „‘Jetzt siehst du mich nicht mehr‘.“
„Ach du meine Güte!“, rief Sirius vorgetäuscht überrascht. „Remus, wo bist du nur hin?“ Langsam ließ Remus die Hände sinken und blickte mit verborgenem Lächeln in die schelmisch funkelnden Augen seines Freundes. „Ah“, machte Sirius erleichtert, „da bist du ja wieder.“

Von gegenüber hörte man Harry lachen – und dieses Lachen bekam ein kindliches Echo. Sofort schaute sich Harry um. Keine Spur von Nicholas. Mit einem Seufzer lehnte er sich zurück und versank im Polster.

„Was kann ich für euch beide tun?“, fragte Harry. „Was zu trinken?“
„Nein“, winkte Sirius ab. „Wir wollten nur …“
„Du wolltest!“, verbesserte Remus.
Sirius stöhnte und begann von Neuem. „Ich wollte nur fragen, ob du Malfoys Einladung annimmst.“
„Warum nicht? Ich habe Ginny gefragt und sie hat zugesagt. Sie freut sich schon besonders auf Susan und Charles.“
Sirius schien die Welt nicht mehr zu verstehen. „Ehrlich? Ihr wollt hingehen?“ Voller Unverständnis schüttelte er den Kopf. „Das ist Lucius Malfoy!“
„Der Mann deiner Cousine“, setzte Harry noch oben drauf.
„Danke, dass du mich daran erinnerst.“ Sirius seufzte theatralisch. „Er ist trotzdem ein Arschloch.“
„Sirius!“, schalte ihn Remus. „Bitte nicht solche Ausdrücke. Hier ist ein kleines Kind anwesend.“
„Aber keines, das ich sehen kann“, rechtfertigte sich Sirius.
Harry meldete sich zu Wort. „Remus hat Recht. Nicholas spricht schon ein paar Wörter nach. Schimpfwörter sollten wenn möglich noch nicht zu seinem Wortschatz gehören.“
Leicht nach vorn gelehnt fragte Sirius nach: „Tatsächlich? Er kann schon sprechen?“
„Nur nachahmen“, stellte Harry richtig. „Ich glaube nicht, dass er weiß, was die Worte alle bedeuten. Er weiß aber, was sich hinter ‚heia machen‘ verbirgt – und das mag er gar nicht.“ Aus irgendeiner Ecke hörte man ein Nörgeln. „Siehst du! Er mag es nicht.“
„Ach Harry“, Sirius schien uneins mit sich selbst, „ich weiß nicht, ob ich mir das antun möchte. Zu Lucius Malfoy gehen? Sein Geburtstag ist mir schnurz. Der Mann ist mir völlig egal. Ich will nicht, dass sich das rumspricht und die Leute glauben, ich wäre sein bester Kumpel oder so.“
„Hey“, meckerte Remus, „ich dachte, ich bin dein bester Kumpel.“
Seinen Patenonkel hätte Harry gern dabei, also schlug er vor: „Geh doch einfach mit Anne hin. Ted und Andromeda werden bestimmt auch da sein. Die bösen Leute sind auf jeden Fall in der Minderheit.“
„Die bösen Leute“, wiederholte Sirius mit verzogenem Mund. Er schnaufte herablassend. „Von mir aus komme ich, aber ich kann für nichts garantieren.“
„Du kannst versuchen, den ganzen Abend über nett zu bleiben“, riet Harry, der sich noch immer nach Nicholas umschaute.
Die Sorge wurde von Remus bemerkt, aber noch viel mehr interessierte ihn etwas anderes. „Wie ist es eigentlich dazu gekommen, dass der Kleine den Umhang hat?“
„Ich … ähm“, stockte Harry. „Es fing damit an, dass ich meditieren wollte.“ Die Augenbrauen seiner beiden Gäste schossen wie abgesprochen in die Höhe. „Na ja, Hermine hat gesagt, ich soll das mal versuchen. Wegen der ‚Leute-nicht-sehen-können-Sache‘.“
„Mmmh“, machte Remus nachdenklich. „Das erklärt das aber nicht ganz.“
„Ich dachte, wenn ich Nicholas unsichtbar mache, hätte ich ein Ziel, das ich erreichen kann. Hat nicht hingehauen.“ Einen Moment lang war er in Gedanken, bevor er sich mitteilte. „Ich habe was Komisches erlebt.“
„Was?“, fragte Sirius sofort nach.
„Als ich die Augen geschlossen habe und mich konzentrierte, da habe ich ein Tier gesehen.“
„In Gedanken?“
Harry nickte. „Das war echt gruselig.“
Auch Remus hatte Interesse an diesem Gespräch. „Was für ein Tier war das?“
„Ich weiß es nicht, aber es hat mich gehört. Als es auf mich zu kam, habe ich Angst bekommen und habe die Augen aufgemacht.“
Sirius’ Neugierde war geweckt. „Eine Ahnung, wie groß es war?“
Harry schüttelte den Kopf. „Es war überall dunkel. Ich weiß nicht, wie weit weg es war. Ich kann es nicht einschätzen.“ Für ihn völlig untypisch war Sirius still und überlegte, was Harry skeptisch machte. „Warum willst du das so genau wissen?“
„Weil ich glaube“, sagte Sirius vollkommen ernst, „dass du womöglich deinem Animagus gegenübergestanden hast.“
„Wirklich?“
Diesmal zuckte er mit den Schultern. „Bei mir war es ganz ähnlich. Nur dass der Hund mich umgerannt hat, als ich ihn gefunden habe. Hat sich offenbar sehr gefreut.“
„Ich habe eine Idee!“, brach es aus Harry heraus. „Sirius, würdest du dich bitte in Tatze verwandeln?“

Sirius gehorchte aufs Wort. Schon saß ein großer, schwarzer Hund neben Remus. Wie Harry es geahnt hatte, war Nicholas von dem Tier hin und weg.

„Woah“, hörte man den Jungen rufen. Ein paar unsichere Schritte später war der Tarnumhang von ihm abgefallen. Mit ausgestreckten Armen tapste Nicholas aus Tatze zu.
„Dachte ich’s mir.“ Harry schlug auf einen seiner Schenkel. „Dass ich nicht früher drauf gekommen bin. Mit Tieren kann man ihn anlocken.“ Remus und Harry sahen dabei zu, wie Nicholas nach einem Ohr von Tatze griff und leicht daran zog. Als es Tatze zu viel wurde, schüttelte er nur den Kopf. „Hermine hat gesagt, ihre Eltern hätten Kaninchen. Das wird was werden, wenn er die das erste Mal sieht.“
„Ah“, Remus wandte sich an Harry, „ihr besucht die Grangers?“
„Ja, glaub ich jedenfalls. Hermine hat mich eingeladen, weil sie irgendwas testen will. Und als ich das Ginny erzählt habe, hat sie sich selbst und Nicholas auch gleich eingeladen. Hermine weiß davon noch gar nichts. Ich hoffe, das ist in Ordnung.“
„Das ist es bestimmt.“

Als sich unerwartet die Tür öffnete und Ginny eintrat, waren alle Augen auf sie gerichtet. Einen Augenblick lang blieb sie verdutzt im Türrahmen stehen und betrachtete das Bild, das sich ihr bot.

„Hallo Schatz“, grüßte sie erst Harry. „Hallo Remus.“ Ihr Blick fiel auf den Hund. „Hi Tatze, und runter von der Couch!“ Mit einem Winseln hopste Tatze auf den Boden, womit er Nicholas zum quieken brachte.
Harry betrachtete seine Frau. „Wo sind die Tüten?“
„Was?“ Mehr als einen Umschlag hielt Ginny nicht in der Hand.
„Schuhe! Du willst mir doch nicht sagen, du hast kein einziges Paar gekauft.“
„Ich war gar nicht einkaufen, Harry. Das war gelogen.“ Mit einem Grinsen klärte sie ihn auf. „Ich war mit Ron bei dem Ärzteteam von Eintracht Pfützensee. Heute war nämlich mein Gesundheitscheck. Eigentlich dachte ich, dass man mir gleich heute sagt, ich wäre im Team. Damit wollte ich dich überraschen, aber ich muss auf die Ergebnisse noch ganze sechs Wochen warten. Sechs Wochen!“
Sie seufzte und ließ sich neben Harry aufs Sofa fallen. „Und weißt du, warum?“
„Warum?“
„Weil das Ärzteteam nach Bulgarien fliegt, um sich Krums Hüfte anzusehen. Kannst du dir das vorstellen?“ Sie musste grinsen. „Viktors Hüfte ist interessanter als Harry Potters Frau.“
„Dafür sind deine Hüften für mich interessanter“, besänftigte er sie mit einem Lächeln auf den Lippen.

Liebevoll schlug sie ihm zweimal aufs Knie. Ihre Hand ließ sie dort ruhen und blickte zu Nicholas. Der Junge tippte vorsichtig auf die feuchte Hundenase, strahlte dann seine Mutter an und fasste sich an die eigene Nase.

„Ja, das ist die Nase“, lehrte sie ihn.

Als Nicholas nochmals die Hundeschnauze berühren wollte, leckte Tatze seine Finger. Nicholas zog die Hand zurück und lachte. Als der Hund sich plötzlich zurück in Sirius verwandelte, was Nicholas so überrascht, dass er rücklings auf sein Gesäß fiel. Sirius half dem Jungen auf.

„Was führt euch eigentlich her?“, wollte Ginny wissen, blickte dabei abwechselnd zu Sirius und Remus.
„Ach, Sirius war nur neugierig, ob ihr beide auch zu Malfoys Geburtstag geht.“
„Klar“, sagte sie zu Remus, „warum auch nicht? Er wird sich hüten, irgendwelche Gemeinheit zu verteilten. Ansonsten wird man ihm nämlich Zunder geben, besonders aus den eigenen Reihen.“
„Habt ihr eine Idee für ein Geschenk?“
Ginny schaute kurz zu Harry, bevor sie Remus antwortete: „Das wird schwierig. Ich habe Susan gefragt und offenbar kennt sie ihren Schwiegervater noch immer nicht so gut, dass sie mir wenigstens einen Denkanstoß geben konnte.“
Harry fiel etwas ein. „Er steht auf Schwarzmagisches.“
„Was wir nicht besorgen werden“, hielt Ginny dagegen, „weil eine Aurorin anwesend sein wird, die das sicherlich sofort konfisziert.“
„Tonks wird bestimmt nicht …“ Aufgrund Ginnys Blick ließ er von der Idee ab. „War ja nur ein Vorschlag.“
Sie strich über sein Knie. „Wenn keine Kinder im Haus wären, würde ich ihm auch was Schwarzmagisches schenken, aber ich will es nicht verantworten, solange Charles da wohnt.“

Harry verstand, was Ginny meinte. Bei den Vorbereitungen der Hochzeit von Draco und Susan hatte Wobbel die schwarze Magie gespürt, die das Haus vergiftet haben soll. Mit allem, was er bisher erlebt hatte, unter anderem auch der leichte Magietransfer, der mit Hilfe von Hermines Trank sichtbar war, konnte er Ginnys Befürchtungen nachvollziehen. Dunkle Magie konnte die Menschen um sich herum langsam vergiften.

„Man könnte ihm“, Sirius hielt einen Finger in die Höhe, „Aktien von einem Muggelkinderheim schenken.“
„Was ist denn das für ein Quatsch?“, fragte Remus. „Seit wann gehen Muggelkinderheime an die Börse?“
„Aber du verstehst die Idee, die dahinter steckt?“
Remus nickte. „Und ich finde sie nicht gut. Dann könntest du ihm gleich einen Tritt in den Hintern schenken.“
„Vielleicht mache ich das sogar! Ist auf jeden Fall günstiger.“
In das Gespräch mischte sich Harry ein. „Ich finde nicht, dass man Malfoy mit einem fragwürdigen Geschenk provozieren sollte.“
„Wie schade.“ Sirius spielte den Enttäuschten. „Dann fällt der Modellbausatz von Askaban auch flach?“
Remus seufzte. „Sirius, bitte …“
„Wie wäre es dann mit einem Gutschein vom Honigtopf?“
Das Lachen kam von Ginny. „Ich glaube nicht, dass er sich darüber freuen würde.“
„Nicht?“, täuschte Sirius Unverständnis vor. „Albus würde Purzelbäume schlagen.“
„Aber nur, wenn sein Rücken das mitmacht“, warf Remus ein. „Mal ernsthaft: Ich habe mit Tonks und meinen Schwiegereltern in spe gesprochen und trotz etwas Hilfe von Narzissa haben wir absolut keine Idee, was man diesem Mann schenken kann.“
„Mmmh“, summte Harry gedankenverloren. „Ich werde mich vor der Feier noch mit Draco treffen, um was, ähm, zu besprechen. Ich werde ihn mal ausfragen.“
„Mach das, Harry“, stimmte Remus zu. „Es kann ruhig etwas Teures sein. Ich bin mir sicher, du erweist jedem der Geladenen einen Gefallen damit, wenn sie sich an dem Geschenk beteiligen dürfen.“
„Also was Großes, wo jeder was zugibt?“ Der Gedanke gefiel Harry. „Okay, das wird machbar sein.“

Um ein Geschenk für jemanden zu finden, mit dem man nicht gerade gut Freund war – den man früher sogar als Feind bezeichnet hatte –, war keine leichte Angelegenheit. Harry hätte noch genügend Zeit, um sich umzuhören, vor allem aber, um Draco zu fragen.

Als sich Remus und Sirius verabschiedeten, passte Sirius einen Moment ab, in dem er ein paar Worte mit Ginny wechseln konnte. Während Remus und Harry miteinander sprachen, hielt Sirius Ginny das Schreibset von Hermine unter die Nase.

„Könntest du es ihr bringen? Ich“, peinlich berührt schlackerte er mit dem Kopf, „hab’s vergessen.“
„Du hast es die ganze Zeit bei dir gehabt?“
„Ich sagte doch, ich hab es vergessen. Tu mir doch bitte den Gefallen und gibt es ihr zurück. Wäre nett, wenn du nicht erwähnen würdest, dass ich es spazieren getragen habe.“
Ginny lachte, nahm das Schreibset. „Jetzt soll ich das auch noch auf meine Kappe nehmen.“
„Dir wäre sie nicht böse. Wenn Severus allerdings davon Wind bekommen würde, werde ich mir ewig anhören müssen, dass Gryffindors nichts als einen luftleeren Raum im Kopf haben. Du weißt ja, wie er ist.“
„Ist ja nur ein Schreibset. Ich gebe es ihr, wenn wir uns bei den Grangers sehen.“
Sirius war erleichtert. „Vielen Dank!“
„Sirius, kommst du?“, rief Remus.

Einen Sonntag im Sommer konnte man auf verschiedenste Weise verbringen. Manche besuchten einen abgelegenen See, um in ihm zu baden. Zu ihnen gehörten Lucius und Narzissa. Bis zur Mittagszeit brachten sie ihrem Enkel das erste Mal das Vergnügen des Planschens näher. Dieser Tag löste eine Unbeschwertheit aus, die Lucius verloren glaubte. Hinter dem Begriff Freiheit verbarg sich viel mehr als nur aus dem Gefängnis entlassen worden zu sein. Mit dem heutigen Badetag war er der wirklichen Freiheit wieder greifbar näher gekommen, denn er empfand Freude am Leben – besonders als er Narzissa nassspritzte.

Der sonnige Tag wurde auch von anderen genutzt. Der Wald hinter dem Anwesen von Mr. Lovegood wirkte so märchenhaft, dass er als Erklärung für Lunas ganz besondere Liebeswürdigkeit herhalten könnte. Zusammen mit Neville wanderte sie gemächlich durch die Gegend. Sie waren nicht allein. Colin und Dennis begleiteten sie, um ein paar schöne Natur-Motive für einen Kalender zu suchen, den sie im nächsten Jahr herausbringen wollten. Luna hoffte, dass einer der beiden vielleicht sogar den Sprechenden Fisch im See fotografieren würde. Dann gäbe es endlich einen Beweis.

Von kleinen Fischen zu großen Monstern.

Am Loch Ness tummelten sich ein paar Touristen. Die Kamera immer bereit für einen verschwommenen Schnappschuss eines Stück Holzes oder anderen Treibguts, das man der Presse teuer verkaufen konnte. Unter den Besuchern befand sich Pansy, die sich ohne Krücken fortbewegen konnte. Dass ihre Beine an dem Abend nach Harrys Hochzeit so schmerzhaft gekribbelt hatten und sie am nächsten Morgen plötzlich laufen konnte als wäre nichts gewesen, erklärte ihr der sichtlich fassungslose Heiler kurzerhand mit einer spontanen Regeneration der noch verletzten Nerven und Muskeln, um sich nicht die Blöße geben zu müssen, dass er keine wissenschaftlich fundierte Erklärung für die Genesung hatte. An sich selbst bemerkte Blaise lediglich, dass die winzige Narbe am Kinn verschwunden war. Es war jedoch egal, dass sein Gesicht nun kein Überbleibsel aus Kriegstagen mehr trug. Das einzige Andenken an den Krieg trug er gerade auf dem Arm. Berenice strich über die ersten Stoppeln des heranwachsenden Bartes, den er ihr zuliebe wachsen ließ.

Auch die ganz harten Jungs ließen sich von den herrschenden Temperaturen nicht abschrecken. In einer Halle versammelten sich unzählige Besucher um einen Boxring. Darunter war Kingsley, der sich trotz angemessener Kleidung zwischen all den Muggel verloren fühlte. In der Menge machte er Geoffreys aus, der von Joel begleitet wurde. Als er Geoffreys die Hand reichte, fiel ihm eine Sache sofort auf.

„Sie tragen gar keine Uhr“, sagte Kingsley mit hörbarer Bewunderung.
Verlegen rieb sich Geoffreys die Stelle am Handgelenk. „Ich dachte, heute zählt für mich nur eine Zeit und das ist die Dauer des Kampfes.“
Joel schlug seinem Vater auf die Schulter. „Das ist die richtige Einstellung, Dad.“ Nachdem sie sich gesetzt hatten, stieß Joel seinen Vater mit dem Ellenbogen an. „Los, sag’s ihm.“
„Ja, ja“, Geoffreys mochte es nicht, gedrängt zu werden. Er wandte sich an Kingsley. „Ich wollte es eigentlich nach dem Kampf erzählen.“ Er lehnte sich nach vorn und sagte dicht an Kingsleys Ohr. „Der Premierminister persönlich hat mit mir gesprochen. Das MI5 will mich zurück. Für eine neue Einheit, die eng mit Ihrer Welt zusammenarbeitet. Kann man sich das vorstellen?“
„Ich kann“, bestätigte Kingsley mit einem angedeuteten Lächeln.
„Sie haben da nicht zufällig Ihre Finger im Spiel?“

Die Antwort hörte Geoffreys nicht mehr, denn die Zuschauer applaudierten, als die muskelbepackten Boxer den Ring betraten. Er würde es sicher später erfahren. Jetzt wollte er sich erst einmal dem Sport widmen.

Marie hatte für diesen Sonntag die Verabredung mit Sid auf den Nachtmittag verschoben, weil sie vormittags nochmals das Panagiotis-Heim aufsuchte. Der zweite Sonntag. Das zweite Gespräch mit Mrs. Malfoy.

Draußen auf der Bank, zwischen all den Kindern der anderen Besucher, fand Marie die alte Dame, aber nicht allein. Eine ältere Frau leistete ihr Gesellschaft. Als Marie sich der Bank näherte, hörte sie die andere Dame zu Mrs. Malfoy sprechen.

„Da ist wieder die hübsche Dame von letztem Sonntag. Sie hat ihre schwarzen Haare diesmal hochgesteckt“, erklärte die Heimbewohnerin.
Mrs. Malfoy hörte aufmerksam zu. Ihr Blick war unbeweglich auf die Kinder gerichtet, deren fröhliches Gelächter sie vernehmen konnte. „Miss Amabilis, richtig?“
„Ja, Mrs. Malfoy.“
„Kommen Sie, setzen Sie sich neben mich.“ Die andere Patientin ließ die beiden allein, so dass Mrs. Malfoy frei sprechen konnte. „Mr. Panagiotis erzählte mir, Sie schreiben Ihre Abschlussarbeit über damalige Behandlungsmethoden in Heilstätten?“
Marie log nicht. Ihre Überlegung, Vergissmich-Zauber und deren Auswirkung auf das Gehirn zu behandeln, hatte sie längst verworfen. „Ja, das stimmt. Im Archiv des Gorsemoors bin ich auf …“ Sie hielt inne, weil Mrs. Malfoy die Nase rümpfte.
„Das Gorsemoor war ein Albtraum“, flüsterte die betagte Dame.
„Ich möchte wirklich nicht, dass Sie an schlimme Tage erinnert werden.“
Mrs. Malfoy schüttelte den Kopf, bevor sie sich mit leblosen Augen Marie zuwandte. „Der schlimmste Tag war der, als mein Mann sein wahres Gesicht zeigte. Diesen Tag kann ich sowieso nicht vergessen. Nach all den Jahren … Es ist, als wäre es gestern gewesen. An jedes seiner Worte kann ich mich erinnern. Sie haben mehr geschmerzt, als …“ Mrs. Malfoy legte eine Hand aufs Herz, als wolle sie damit den Schmerz vertreiben.

Marie wusste nicht viel von dem Schicksal der alten Dame. Nur einmal hatte Lucius gegenüber Professor Puddle erwähnt, dass seine Mutter ihre Magie verloren haben soll. Zumindest hatte Puddle das in Lucius’ Krankenakte vermerkt. Dass die alte Dame während ihres Aufenthalts im Gorsemoor-Sanatorium auch erblindete, erfuhr Marie bei ihrem ersten Besuch vor einer Woche. Ein Schicksal, das ihr Sohn beinahe mit ihr geteilt hätte.

„Ihr Ehemann hat Sie eingewiesen?“, fragte Marie zaghaft nach.
Ohne auf die Frage einzugehen wollte Mrs. Malfoy wissen: „Haben Sie vor, Ihre Abschlussarbeit als Buch herauszugeben?“
„Wenn es interessant genug wird, dann will Mrs. Gorsemoor für eine Veröffentlichung sorgen.“
„Es wird interessant werden. Sie müssen sich nur dazu bereiterklären, dem Sachtext eine persönliche Note zu verleihen. Nicht nur die damaligen Verhältnisse in den Heileinrichtungen sollten behandelt werden, sondern all die vermaledeiten Umstände, die das überhaupt ermöglicht haben. Gesellschaftskritische Inhalte sind heute kein Tabuthema mehr, Miss Amabilis. Behandeln Sie ein persönliches Schicksal, einen bestimmten Fall.“
„Sie meinen Ihren Fall?“ Weil Mrs. Malfoy nickte, erklärte sich Marie bereit. „Es spricht nichts dagegen, biografische Elemente einzuarbeiten.“
„Dann hoffe ich, Sie haben starke Nerven, mein Kind.“ Mrs. Malfoy tastete nach ihrer Gehhilfe, einem weißen Stock, der zu der edel gekleideten Frau passte. Marie half ihr auf. „Wir sollten uns in mein Zimmer zurückziehen. Ich habe das Bedürfnis, mir alles von der Seele zu reden.“

Marie bot Mrs. Malfoy ihren Arm an, um sie ins Gebäude zu führen. Die Schilderungen, die sie an diesem Tage mit handschriftlichen Notizen festhielt, bewegten sie zutiefst. Es begann mit der niederschmetternden Erkenntnis, nicht mehr zaubern zu können. Ein Gendefekt, der damals noch hätte behandelt werden können. Anstatt zu helfen, sah Abraxas Malfoy den Ruf der Familie in Gefahr. Er entledigte sich seines Problems auf die einfachste Weise und schob seine Frau ab. Von Familie und Freunden getrennt, unfähig den Stab zu führen, verfiel Mrs. Malfoy verständlicherweise in Depressionen. Die Behandlungsmethoden aus der Sicht eines Heilers waren für Marie schon schwer nachzuvollziehen, doch mit dem Einblick in die Gedanken der Patientin rührte die Ungerechtigkeit zu Tränen.

Mrs. Malfoy sprach an diesem Tag das erste Mal über ihren Sohn und darüber, wie schlecht sie sich fühlte, den Jungen beim Vater lassen zu müssen.

Auch ein anderes Mitglied der Familie Malfoy redete sich gerade etwas von der Seele. Lucius war dabei weder leise noch gut gelaunt.

„Lucius“, Narzissa versuchte, ihn zu beruhigen. „Wenn dir die Gästeliste nicht zusagt, warum hast du die Einladungen überhaupt rausgeschickt?“
„Als hätte ich eine Wahl gehabt!“, warf er ihr vor. „Wer hat denn die Gästeliste verfasst?“ Narzissa blickte zu Boden, was ihm Antwort genug war. „In einem Anflug von Harmoniebedürftigkeit habe ich auch noch zugestimmt.“
Seine Frau seufzte. „Dann wäre es besser, die Einladungen zurückzuziehen, Lucius. Du könntest eine plötzliche Unpässlichkeit als Grund angeben.“
„Pfft“, entwich es ihm. „Was für einen Eindruck würde ich denn damit hinterlassen? Nein, ich werde es ertragen, ganz wie du es von mir erwartest.“ Wütend nahm er auf einem Sessel im grünen Salon Platz, stützte einen Ellenbogen auf die Lehne und begann – für ihn völlig untypisch – an einem Fingernagel zu knabbern.
„Wie ich es erwarte?“, wiederholte Narzissa ungläubig.
„Du hast darauf bestanden, dass ich die Familie einlade. Dabei ist dir vollkommen egal gewesen, ob ich mit denen etwas zu tun haben möchte oder nicht.“ Unruhig rutschte er auf dem Sessel herum, bevor er wieder aufstand. „Andromeda mag ja noch erträglich sein, aber ihr Gatte …“ Er schnaufte. „Ein Muggelgeborener, der mich hasst.“
„Das ist nicht wahr“, hielt Narzissa dagegen.
„Fällt dir denn nichts auf, Teuerste?“ Weil sie den Kopf schüttelte, erklärte er: „Unter unseren lieben Verwandten sind Menschen, die wir damals nicht mal mit der Kneifzange angefasst hätten. Dieser Werwolf! Nicht zu vergessen deine Nichte, die Aurorin.“ Für Tonks war er seiner Meinung nach noch immer ein Todesser, auch wenn er das dunkle Mal nicht mehr trug. „Aber viel schlimmer, und das werde ich dir nicht verzeihen, dass du mich dazu bewegt hast, ist dein Cousin und dessen Frau!“ Kopfschüttelnd ging er auf und ab, sein Gesicht rot vor lauter Aufregung. „Ein Muggel! Ein Muggel in meinem Haus!“ Narzissa ersparte es sich ihn darauf hinzuweisen, dass das Haus nicht mehr ihm gehörte. Lucius kam jedoch selbst drauf und ergab sich der Selbstverspottung: „Ach nein, es ist ja nicht mehr mein Haus. Es gehört unserem Sohn, der nebenbei erwähnt ein Halbblut geheiratet hat. Ihre Mutter, ebenfalls ein Muggel. Weißt du, wie ich mich dabei fühle, wenn ich nur nach eurer Pfeife tanzen muss?“
„Lucius, bitte …“
„Bitte was? Ich soll mich nicht aufregen? Aber ich rege mich auf!“ Zum Ende hin war er lauter geworden. „Potter! Granger!“ Eine Blumenvase wurde vom Tisch gefegt. „Die würden mich lieber in Askaban verrotten sehen.“ Er ging zum Fenster und verschränkte die Arme vor der Brust, damit nicht versehentlich noch andere Gegenstände zu Bruch gehen würden. „Ich kann nur hoffen, dass alle genug Grips haben zu wissen, dass sie hier unerwünscht sind und deshalb der Feier fern bleiben, ansonsten ...“
„Was?“
„Ansonsten sollte ich mir vielleicht einen Strick zum Geburtstag wünschen.“
„Jetzt übertreibst du aber wirklich, Lucius.“

Vor der Tür zum grünen Salon lauschte Draco den Worten seines Vaters. Dass sich Susan anschlich, bemerkte er erst, als sie eine Hand auf seinen Arm legte.

„Streiten Sie wieder?“, fragte Susan leise.
Draco presste die Lippen zusammen und nickte. „Vielleicht hätte er sein Geburtstag in diesem Jahr besser ausfallen lassen.“
„Er muss es ja irgendwann mal lernen.“ Aus ihren Worten hörte er ein wenig Traurigkeit heraus. Erst als Draco Susan an die Hand nehmen wollte, bemerkte er, dass der Platz schon besetzt war. Sie hatte Charles an die Hand genommen. Mit der anderen rieb sein Sohn sich die Augen. „Gerade aufgestanden?“
„Nein, bereit für das Mittagsschläfchen, würde ich sagen“, korrigierte Susan.
Charles streckte seine Hand nach Draco aus. Er wollte hochgenommen werden, was Draco ihm nicht abschlagen wollte. „Dann werden wir dich mal ins Bettchen bringen.“ Susan folgte den beiden die Treppe hinauf. „Harry hat sich übrigens für nächste Woche angemeldet.“
„Wann kommt er? Du weißt, ich muss bis 18 Uhr arbeiten.“
„Er kommt schon zum Mittag.“

Susann seufzte. Sie war die Einzige im Hause Malfoy, die das Haus verlassen musste, um Geld zu verdienen. Dennoch machte ihr der Beruf Spaß, aber er war bei weitem nicht mehr so aufreibend wie zu Kriegszeiten. Auf einer Seite ein gutes Zeichen. Die Abteilung für magische Strafverfolgung hatte eine Verschnaufpause verdient.

Mit dem Familienleben waren unzählige Menschen beschäftigt, manche von ihnen damit sogar überfordert.

Severus litt zwar nicht unter Soziophobie, aber dennoch machte sich eine für ihn spürbare Veränderung bemerkbar, die er vor Hermine zu verbergen versuchte. Die Heilung seiner Seele brachte offenbar nicht nur Vorteile mit sich. Was ihn früher völlig kalt gelassen hätte, brach mit einem Male unkontrolliert über ihm zusammen. Der bevorstehende Besuch bei ihren Eltern löste auf emotionaler Ebene Stress aus. Seine eigene, überhöhte Erwartungshaltung an sich selbst machte ihm darüber hinaus zu schaffen. Der Grund für die seelische Belastung war die Tatsache, dass er für die Grangers nun nicht mehr nur den Geschäftspartner der Tochter darstellte, sondern den Verlobten. Die letzte Gelegenheit, bei der er den Grangers gegenübergetreten war, war die Hochzeit von Harry gewesen. Von ihrer Tochter hatten sie dort zwischen Tür und Angel von der Bindung erfahren. Nun stellten sich bei Severus unerwartet gewisse Befürchtungen ein, die er sich nicht näher erklären konnte, aber sie hatten auf jeden Fall mit der Erwartungshaltung ihrer Eltern zu tun. Das war das Problem, dachte er entnervt: Er wusste nicht, was sie von ihm erwarteten. Womit er jedoch rechnete waren Fragen seitens Mr. Granger – Joshua –, die möglicherweise unangenehm tief in die Privatsphäre eindringen könnten. Für Severus war das private Leben schon immer etwas wohl Behütetes, geradezu etwas Heiliges gewesen, daher benötigte es in seinem Fall nicht einmal pikante Fragen, die dazu führen würden, sich angegriffen zu fühlen.

„Severus?“ An der Tür zur Küche riss Hermine ihn aus seinen Gedanken.
„Das ist mein Name.“
„Harry ist hier“, sagte sie mit gedämpfter Begeisterung, die nicht ihre eigene widerspiegelte, sondern seine vorhersehen wollte. „Mit Ginny und Nicholas.“
„Ah“, stocksteif erhob er sich von seinem Stuhl und trat in den Flur. Er betrachtete die kleine Familie, die die Treppe hinunterkam. „Ein Familienausflug. Wie wunderbar!“, sagte er humorlos. „Dann machen wir das Ganze doch komplett.“ Er zog seinen Stab und sprach einen Accio. Die Leine des Hundes kam angeflogen – und hinter ihr her rannte der Hund aufgeregt die Treppe hinunter. Severus leinte ihn an. „Jetzt können wir gehen.“
Über Severus’ Handlung erstaunt fragte Hermine ihren Kater: „Willst du auch mitkommen?“

Fellini schien verstanden zu haben. In Windeseile machte er kehrt und rannte durch die Luke in der Tür ins Freie.

„Kater müsste man sein“, hörte Hermines Severus murmeln. Seine Aussage missfiel ihr.
„Warum? Weil du dann nicht mit zu meinen Eltern müsstest?“, fragte sie ein wenig giftig, so dass zumindest Harry die leichte Spannung zwischen den beiden bemerkte.
„Nein, weil ich dann ich wenigstens gefragt worden wäre.“
Hermine machte keine Szene. Als erwachsener Mann könnte er selbst entscheiden, ob er mitkommen wollte oder nicht. Sie richtete das Wort an Ginny und Harry. „Gehen wir.“ Severus ließ sie die Wahl, ob er folgen wollte.

Nachdem sie über den Tropfenden Kessel eine Seitenstraße der Muggelwelt betreten hatten, schlug Hermine vor, das kurze Stück bis zum Haus ihren Eltern zu laufen.

„Ich bin für eine Wanderung durch Muggellondon nicht angemessen gekleidet“, warf Severus ein. Er war der Einzige in voller Zauberermontur, inklusive des leichten Sommerumhangs – in schwarz, versteht sich.
„Das haben wir gleich.“ Harry zog seinen Stab. Noch bevor Severus Gelegenheit bekam, seinen Einspruch kundzutun, trug er eine schwarze Hose und ein schwarzes T-Shirt, was er sofort bemängelte. Außerdem schmerzte der Zauberstab, der jetzt unter dem Shirt aus dem Hosenbund lugte und ihm in die Rippen stach.
„Lange Ärmel bitte.“
„Wir haben 27° Celsius!“, erinnerte Harry ihn an die Temperaturen des heutigen Tages.
„Dann werde ich wohl zurückgehen müssen, um mich umzukleiden.“ Harry seufzte. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie ungestört waren, zauberte er die Ärmel von Severus’ Shirt lang. „Und bitte etwas mehr Kragen.“
Dem Wunsch kam Harry nach, konnte sich aber nicht verkneifen zu sagen: „Du wirst eingehen wie eine Primel.“
„Seit wann kennst du dich mit Blumen aus? Der Blütenstaub welcher Primelart beinhaltet einen Wirkstoff, der für eine bessere Blutgerinnung sorgt?“
„Ähm …“ Kalt erwischt, dachte Harry.
Hermine übernahm den Part und half ihm, wie früher so oft, aus der Patsche. „Die gelbe Aurikel. Können wir jetzt bitte?“

Auf dem Weg durch einen kleinen Park lief Harry etwas langsamer, damit Severus’ aufschließen konnte. Als sie auf gleicher Höhe gingen, wartete Harry einen Augenblick, falls Severus danach war, den Anfang zu machen. Es kam nichts.

„Ist es denn in Ordnung“, begann Harry leise, „dass wir heute mitkommen?“
„Ja“, kam es sofort zurück, „dann stehen meine Chancen besser, von Mr. Granger nicht unter Dauerbeschuss genommen zu werden. Dafür im Voraus schon einmal meinen herzlichen Dank.“
Harry runzelte die Stirn. „Ich dachte, ihr versteht euch ganz gut.“
„Wir verstanden uns einigermaßen, als ich derjenige war, der die Hälfte der Apotheke übernommen hat.“
Harry konnte sich nicht vorstellen, was in Severus’ Kopf vorging. „Und das soll sich jetzt geändert haben?“, fragte er unsicher.
„Ich habe keine Ahnung“, blaffte Severus zurück.

Weil Severus so gereizt war, ließ Harry ihn in Ruhe, keineswegs aber allein. Er lief neben ihm her. Irgendwann wechselte die Leine den Besitzer, so dass Harry genau wie damals den Hund führte. Auf diese Weise hatten sie sich näher kennengelernt. Severus würde es zwar nie zugeben, aber Harrys Anwesenheit hatte eine beruhigende Wirkung auf ihn.

Das Haus der Grangers war bald erreicht. Sie passierten bereits den kitschigen Zwerg im Vorgarten, den Severus’ Hund erst einmal beschnüffeln musste. Die Vordertür öffnete sich, noch bevor sie die Stufen erreicht hatten. Mrs. Granger strahlte und war darüber erfreut, Harry und Ginny auch mal wieder zu Gesicht zu bekommen. Bei der Begrüßung „Hallo Kinder“ zog Severus lediglich eine Augenbraue in die Höhe.

„Guten Tag, Severus.“ Jane schüttelte ihm die Hand und blickte ihm, wie es sich gehört, dabei in die Augen. Mit dem warmen Blick, den sie ihm schenkte, fühlte er sich willkommen. Das Problem war aber auch nie Hermines Mutter gewesen. „Kommt doch alle rein, oder geht besser gleich ums Haus in den Garten.“
Hermine war verzückt. „Wir essen im Garten?“
„Das Wetter müssen wir doch ausnutzen. Außerdem hat dein Vater das Auslaufgitter für die Kaninchen aufgebaut.“

Severus war sich nicht sicher, wie lange Harry samt Familie bei den Grangers bleiben würde. Fest stand, dass der heutige Tag keinen reinen Familienbesuch darstellte. Severus befürwortete die Anwesenheit von Harry. So müsste er nicht befürchten, unentwegt den Fragen der Schwiegereltern in spe ausgeliefert zu sein. Andererseits könnte es unangenehm werden, sollte Joshua Themen ansprechen, die Severus’ Privatbereich aufs Äußerste verletzten. Noch viel unerfreulicher wäre es, sollte sich Severus dazu veranlasst sehen, Joshua vor allen anderen in seine Grenzen zu weisen.

Gerade wo Severus an Hermines Vater dachte, kam der auch schon ums Haus herum und begrüßte als Erstes seine Tochter auf die bekannte, herzliche Weise. Zu Severus Erstaunen bekam Harry nicht nur einen Händedruck. Joshua Granger zeigte mit einer Hand auf Harrys Schulter, wie angetan er von dem Besuch war. Besagte Hand legte sich einmal kurz in väterlich liebevoller Geste auf Harrys Nacken, dann zwischen die Schulterblätter, um den jungen Mann in Richtung Garten zu weisen. Nachdem Harry an Hermines Vater vorbeigegangen war, fiel Joshuas Blick auf Severus. Das breite Lächeln reduzierte sich auf eine normal höfliche Mimik.

„Severus.“ Joshua nickte ihm zu. Für Severus war schwer einzuschätzen, warum man ihn mit einem Kopfnicken abspeiste, während Harry all den Ausdruck des Willkommens erfahren durfte. Hermines Vater hob die Hand und wies den Weg, während Severus noch darüber nachgrübelte, wie willkommen er bei Joshua war. Die Ahnung beschlich ihn, dass Joshua nach einiger Zeit des Nachdenkens zu dem Schluss gekommen sein muss, dass Severus zwar ein tüchtiger und somit gern gesehener Geschäftspartner der Tochter war, nicht aber den bevorzugten Typus des Schwiegersohns verkörperte. Harry kam diesem Typus offensichtlich viel näher. Aufgeschlossen, immer freundlich und im Großen und Ganzen das, was Harry immer sein wollte: normal. Severus hingegen griesgrämig, mundfaul und reserviert.

Von den Kaninchen war Nicholas hin und weg. Harry, der Hund, ebenfalls. Beide liefen begeistert am Gitter des Geheges umher und versuchten, eines der Kaninchen durch den Zaun hindurch zu berühren. Auch wenn ihm das fröhliche Geschrei des Kindes nach einer halben Stunde bereits auf die Nerven ging, sagte Severus nichts, denn er war froh, unsichtbar zu sein. Konversation in einer gemütlichen Runde lag Harry und er war es, der die Grangers unterhielt, sie über Neuigkeiten unterrichtete und dann und wann einen Witz zum Besten gab. Severus wurde in Ruhe gelassen und konnte sich seinem Kaffee widmen.

„Harry?“ Es war Hermine, die nach der Einnahme von Kaffee und Kuchen seine Aufmerksamkeit erlangen wollte.. „Ich wollte doch einen Test mit dir machen.“
Hermines Vater runzelte die Stirn. „Was denn für einen Test, Schätzchen?“
„Ach, ich will nur was überprüfen. Dafür brauche ich mal euren Fernseher.“
„Du weißt ja, wo er steht.“

Mit Harry und Hermine verabschiedete sich leider auch die gemütliche Stimmung am Kaffeetisch. Stille kehrte ein. Severus’ einzige Hoffnung war Ginny, doch ihr lagen Gespräche offenbar weniger, obwohl sie immer nett antwortete, wenn Jane oder Joshua das Wort an sie richteten. Es dauerte nicht lang, da landete Joshuas Blick auf Severus.

„Und, Severus?“ Joshua schlug sich auf die Oberschenkel und rieb seine Handflächen auf dem Stoff der Hose. Ein schlechtes Zeichen, befürchtete Severus. Jeden Moment würde man ihm mit einer Nachttischlampe ins Gesicht leuchten und ihn mit Fragen bombardieren.
Zu allem Übel verabschiedete sich der Good-Cop, denn Jane erhob sich. „Ich werde mal den Tisch abräumen.“
„Ich helfe Ihnen.“ Für Ginny kam die Gelegenheit, sich ebenfalls zurückziehen zu können, gerade richtig.

Die beiden Frauen hatten im Nu den Tisch geräumt und verschwanden in der Küche. Severus hatte seinen Blick auf den Hund gerichtet. Er musste grinsen, als Harry Nicholas umrannte, weil er am Zaun entlang einem davonhoppelnden Kaninchen nachjagte. Das Bild der kindlichen Unbeschwertheit weckte in Severus keine Erinnerungen an die eigene Kindheit. Die harsche Stimme von Joshua hingegen schon. Der war lauter geworden, weil Severus schon zweimal nicht auf die Nennung seines Namens reagiert hatte.

Severus wandte sich mit distanzierter Gelassenheit an seinen Gastgeber. „Entschuldigen Sie, ich war wohl einen Moment in Gedanken. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“
„Ich fragte, ob mit der Apotheke alles gut läuft.“
„Alles bestens, danke der Nachfrage.“

Joshua wartete, doch mehr Informationen bekam er nicht. Severus war nicht in der Stimmung.

Im Haus erging es Harry ähnlich. Er war nicht in der Stimmung, die Augen zu schließen und einen Moment lang in sich zu gehen. Hermine hatte ihn auf die Couch im Arbeitszimmer ihrer Eltern gesetzt und verlangte von ihm das Unmögliche.

„Bitte, Harry. Konzentriere dich darauf, mehr sehen zu können als andere Menschen.“
Harry schüttelte den Kopf. „Das funktioniert so nicht, Hermine. Ich habe es ausprobiert, habe sogar meditiert – ich glaub zumindest, dass das als Meditation durchgehen würde. Ich konnte Nicholas trotz Tarnumhang nicht sehen.“
„Der Affe bei Luna trug keinen Tarnumhang.“
„Racker.“
„Wie bitte?“
„Der Affe reißt Racker. Und auch wenn er keinen Tarnumhang getragen hat: Du hast selbst gesagt, aus den Haaren dieser Tiere webt man solche Umhänge.“
Das war wahr, dachte Hermine. „Und was war mit den Farben der Schüler? Die konntest du alle sehen, obwohl du sie nicht hättest sehen dürfen.“
„Das war ein blöder Zufall, den ich nicht ein Stück beeinflussen konnte. Ich habe mich in dem Moment an die eigene Schulzeit erinnert und das hat so ein wohliges Gefühl ausgeslöst.“ Mit einer Hand fuchtelte er in der Nähe seines Bauches herum. „Ich habe mich einfach gut gefühlt. Ich weiß nicht, wie ich das reproduzieren kann.“
„Indem du an was Schönes denkst?“, wollte Hermine ihn motivieren. „Der Test, den ich machen möchte, wird sehr wahrscheinlich nicht funktionieren.“
„Warum sitzen wir denn überhaupt hier?“
„Ich will es trotzdem ausprobieren.“
„Erklärst du mir auch, was du vor hast?“ Bevor sie den Mund öffnen konnte, bat er: „Leicht verständlich.“
„Also gut, Harry. Bei dir tritt die Wahrnehmungsveränderung immer nur teilweise ein, niemals vollständig. Woran ich noch lange zu knabbern haben werde ist der Tag, an dem du die beiden Männer in der Winkelgasse sehen konntest, aber sonst niemanden mehr. Dafür habe ich keine Erklärung. Eine Theorie habe ich nur dafür, dass du manchmal Dinge sehen kannst, die niemand sonst sieht. Die Magiefarben zum Beispiel.“ Harry nickte, woraufhin Hermine fortfuhr. Er würde sie schon stoppen, sollte er nicht mehr folgen können. „Man geht davon aus, dass Magie genau wie Licht aus Korpuskeln besteht.“
„Jetzt wird’s mir zu hoch.“
„Ich schraube ein wenig zurück“, versicherte Hermine. „Licht ist unsichtbar.“
„Aber …“ Seinen Einspruch schluckte er hinunter, denn als er genauer darüber nachdachte, schien sie Recht zu haben.
„Nehmen wir“, sie zeigte nach vorn, „den Fernseher. Tageslicht fällt auf ihn und es wird von dem Gerät absorbiert wird. Der Fernseher strahlt im Gegenzug andere Photonen aus, deswegen siehst du ihn. Wenn aber nichts da ist, was das Licht absorbiert, dann sieht man auch nichts. Die Demiguise können auf magische Weise verhindern, dass ihr Fell Licht absorbiert oder abgibt, also sieht man sie nicht mehr.“
„Und wie machen die das?“
Hermine schüttelte den Kopf. „Ich sollte es einfach halten, Harry. Wenn ich jetzt mit der Biologie der Affen und deren magischer Fähigkeiten anfange …“
„Schon gut, erzählt einfach weiter.“
„Wenn etwas unsichtbar ist, ist es nur für das menschliche Auge nicht wahrnehmbar, aber ein anderes könnte es sehen.
„Darf ich eine Frage stellen?“
„Klar.“
„Du sagst, ein anderes Auge könnte es sehen, obwohl ein menschliches es nicht sieht?“
Hermine nickte. „Eine Schlange zum Beispiel. Die bezeichnen wir als blind, aber sie kann mehr sehen als wir, Harry. Sie sieht Wärme.“
Über seiner Nasenwurzel bildete sich eine dreieckige Falte. „Das Ganze wird doch wohl nichts damit zu tun haben, dass ich ein Parselmund bin?“
„Ich, ähm, das habe ich noch gar nicht bedacht. Möglich wäre einiges.“ Sie machte sich die gedankliche Notiz, Harrys Fähigkeit, mit Schlangen sprechen zu können, zu berücksichtigen. „Aber zurück zum Sehen. Umgebungsbedingungen spielen in Bezug auf Licht und Sichtbarkeit natürlich eine große Rolle – in physikalischer Hinsicht. Wir müssen im Gegensatz zu Muggeln aber auch die magischen Einflüsse berücksichtigen. Dass Zauberer und Hexen tagtäglich naturwissenschaftliche Unmöglichkeiten vollbringen, muss ich wohl nicht extra hervorheben. Wir können die Gravitation beeinflussen, formen eine beliebige Masse nach unserem Wunsch, krümmen Raum und Zeit ...“ Harry hatte verstanden, so dass sie die Aufzählung nicht fortführte. „Trotzdem gibt es natürlich auch in unserer Welt Atome, Moleküle, Teilchen und Wellen. Mein Farbtrank kann einen Teil der magischen Teilchen und Wellen sichtbar machen, weil er sich einfach an sie haftet.“
„Und bunt macht“, warf Harry ein.
„Nicht ganz. Die Teilchen in meinem Trank sind farbneutral. Sie legen sich um die Magieteilchen und wirken“, sie fuchtelte mit den Händen umher, „in etwa wie ein Wassertropfen, der Licht brechen kann. So siehst du die einzelnen Farben, aber nicht mein Trank macht das alles bunt, sondern die Intensität der Magie.“
„Hermine, ich glaube, ich bin heute nicht sonderlich aufnahmefähig.“
„Ich bin aber noch lange nicht auf den Punkt gekommen.“
Harry schüttelte den Kopf. „Ich versteh es nicht. Ehrlich nicht. Tut mir leid.“

Sie seufzte, bevor sie unerwartet den Fernseher anschaltete. Ein Nachrichtensprecher unterrichtete von einem Einbruch auf David Beckhams Anwesen, was Hermine so interessant fand, dass sie auf der Stelle durch die anderen Sender schaltete. Ein Cartoon, eine Werbesendung, eine Soap-Opera, andere Nachrichten, noch eine Werbesendung, eine Dokumentation, eine Werbesendung und ein Dauerverkaufssender. Mit dem Programm wäre ein Fernseher sicherlich keine Bereicherung für die Zaubererwelt.

Diesmal seufzte Harry. Ohne dass Hermine es bemerkte, schloss er die Augen. Er glaubte zwar nicht, dass sich etwas tun würde, aber er versuchte sich zu konzentrieren. Ein wenig von dem, was sie erklärt hatte, glaubte er sogar zu verstehen, was daran liegen mochte, dass er sich ausgeglichen fühlte. Die Aufregung des heutigen Tages bestand nur darin, als Gast der Familie Granger an einem anderen Ort zu sein. Ein Ort, der ihm gefiel. Es war ihm möglich, zu entspannen. Das Haus von Hermines Eltern war ähnlich gebaut wie sein Traumhaus, nur dass hier die Nachbarn gleich hinter den Zäunen lebten. Mit Herzklopfen erinnerte sich Harry an den Geist, den er in seinem zukünftigen Haus gesehen hatte. Ohne es aufhalten zu können, schossen ihm einige Momente durch den Kopf, bei denen er Leute nicht sehen konnte. Sirius, Remus, die Quidditch-Spieler. In diesem Augenblick fand Harry für sich selbst heraus, dass er es lieber mochte, Dinge zu sehen, die andere nicht sehen konnten. Die Titelmelodie einer Fernsehserie ließ ihn die Augen öffnen. Kung Fu.

„Die 105. Wiederholung“, nörgelte Hermine.
„Ich hab die 68. Wiederholung gesehen, komplett“, behauptete er grinsend. Im Fernsehen setzte sich Caine gerade hin, um in sich zu gehen. Mit ausgestrecktem Finger zeigte Harry nach vorn. „Das habe ich nicht hinbekommen.“
„Was?“
„Schneidersitz“, erwiderte er. „Kann ich nicht. Stelle ich mich zu blöd an.“
Hermine lächelte. „Falls es dich tröstet, Harry, ich kann es auch nicht.“

Bei der folgenden Werbepause schaltete Hermine weiter. Harry bemerkte unten am Fernseher, genau dort, wo der rote Punkt leuchtete, wenn Hermine die Fernbedienung betätigte, ein bläuliches Licht. Er dachte sich nichts dabei. Erst als es mit der Zeit grünlich wurde, fragte er sich, ob er ihr das mitteilen sollte.

„Siehst du da unten das Licht?“ Um es genauer zu zeigen, stand er auf und kniete sich vor den Fernseher.
„Das ist der kabellose Empfänger am Fernseher.“
„Weiß ich doch. Ich wundere mich nur, warum es erst blau war und jetzt grün.“
„Wie bitte?“ Hermine sprang von der Couch und hockte sich neben Harry. Beide blickten auf die dunkelrote Fläche aus Plastik. „Das ist rot.“
„Den roten Punkt sehe ich auch aufleuchten, wenn du drückst, aber in der Nähe hier“, mit dem Finger zeichnete er einen Umriss in die Luft, „wird es grün.“
Die Freude, die Hermine empfand, konnte sie nicht verbergen. „Das ist genau das, was ich meine, Harry! Ich glaube, du kannst mehr Licht sehen als andere Menschen.“
„Mehr Licht?“
„Vielleicht sogar das ganze Lichtspektrum!“
„Hermine?“
Sie atmete tief ein und aus, bevor sie auf die rote Abdeckung am Fernseher tippte. „Das hier unten, Harry, ist nichts anderes als ein Infrarotempfänger. Du scheinst das Licht zu sehen, wenn es von der Fernbedienung auf den Fernseher trifft und zurückgeworfen wird.“
„Warum aber blau und grün?“
Sie hob und senkte die Schultern, spitzte dabei die Lippen. „Ich habe keine Erklärung. Vielleicht hat das damit zu tun, dass der Fernseher langsam wärmer wird. Das könnte heißen, du siehst Infrarotlicht eventuell in Falschfarben. Ich habe keine Ahnung, wie es aussehen muss, wenn man wirklich Wärme sehen kann. Ich werde in die Bibliothek gehen müssen.“
Diese Aussage amüsierte Harry. „Im Zweifelsfall …“
„… geh in die Bibliothek!“, vervollständigte sie den Satz, der sie zum Schmunzeln brachte. „Möglich wäre es, dass sich deine Netzhaut tatsächlich verändert hat.“
„Du bekommst keine Probe.“
Sie lachte. „Ich will dir höchstens in die Augen schauen, Harry.“ Daraufhin klimperte er mit den Wimpern, weshalb sie nur noch mehr lachen musste. „Ach, Harry“, sie schien völlig überwältigt, „stell dir vor, dass das noch weiter gehen könnte. Der Mensch sieht nur ein Fitzelchen von dem gesamten Lichtspektrum. Es gibt noch viele andere Bereiche. Verschiedene Wellenlängen und Frequenzen. Infrarot könnte nur der Anfang sein. Es könnten noch Mikrowellen folgen, UKW oder Kurzwellen.“
„Ich bin doch kein Radio“, sagte er vorgetäuscht empört.
Wieder lachte sie. Hermine war in bester Stimmung. „Ich meine damit nicht, dass du das hörst, aber stell dir vor, du könntest diese Wellen sehen!“ Ihre Augen funkelten. „Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Du als Zauberer wirst sicher alt genug werden, diese Fähigkeit in den Griff zu bekommen. Vielleicht erschließt sich der wahre Sinn dahinter erst viel später. Nützlich war es dir schon ein paar Male.“
„Das kann doch aber nicht nur mit dem Licht zusammenhängen“, warf er skeptisch ein.
„Das habe ich auch nie behauptet. Ich muss nur noch dahinterkommen, was bei dir alles mit reinspielt. Gerade weil deine Emotionen diese Fähigkeit beeinflussen, wie wir ja bereits wissen. Aber das, was ich heute erfahren habe, ist schon mal ein Anfang. Darf ich mir die Erinnerung an heute im Denkarium ansehen? Am besten die Erinnerungen an all deine Wahrnehmungsveränderungen. Ich möchte mir ein genaues Bild davon machen.“

Beide schauten sich einen Moment lang an, bevor Hermine den Fernseher ausschaltete. Ein letztes Mal sah er das grünliche Licht.

„Warum hast du vorhin noch geglaubt, der Test würde nicht funktionieren?“, wollte er wissen, nachdem er aufgestanden war.
„Weil auch ich Wärme ausstrahle. Wenn du die Wärme der Infrarotfernbedienung sehen kannst, warum dann nicht meine?“ Sie deutete auf den ausgeschalteten Fernseher. „Oder die Wärme von dem Gerät?“ Ihre Überlegung war nicht von der Hand zu weisen. „Deswegen meinte ich auch vorhin, dass die Veränderung deiner Wahrnehmung bisher niemals vollständig eingetreten ist. Es hat sich immer nur auf einen Punkt konzentriert, nie auf dein komplettes Sichtfeld.“ Auf dem Weg nach unten ließ sie ihn an ihren Überlegungen teilhaben. „Stell dir nur vor, was du mit dieser Fähigkeit, solltest du sie eines Tages beherrschen, alles anstellen könntest. Häuser unter Fidelius könntest du mit Leichtigkeit aufspüren. Über Desillusionszauber könntest du hindurchsehen. Du wärst bestimmt ein perfekter Auror! Du könntest noch vor allen anderen Wärmequellen in Gebäuden erkennen.“
„Das prädestiniert mich auch prima als Feuerwehrmann. Hast du denn eine Erklärung, warum ich manchmal Menschen nicht mehr sehen konnte?“
„Mmmh“, machte sie, als sie in die Küche trat, in der ihre Mutter und Ginny den Abwasch erledigten. „Das waren überwiegend Momente, in denen du missgestimmt warst oder Angst hattest. Vielleicht war es eine magische Reaktion auf den Stress? Das trat kurz nach dem Krieg auf, oder?“ Harry nickte, was sie mit Bedacht nachahmte. „Wann war es das letzte Mal?“
„Beim Quidditch, als die Spieler und Zuschauer nur noch Schatten waren. Ich konnte sie auch nicht mehr hören. Da war ich aber nicht missgestimmt.“
„Es war dein Wunsch gewesen?“
Harrys Kopf schlackerte uneins hin und her. „Ja. Vielleicht. Ich weiß es nicht.“
„Wir werden schon noch dahinterkommen.“ Hermine blickte sich in der Küche um sah erst jetzt die beiden Frauen beim Abwasch. Sie war hörbar in Alarmbereitschaft, als sie ihre Mutter fragte: „Ist Papa etwa ganz allein mit Severus draußen?“

Geschlossen gingen die vier zurück in den Garten, brachten dabei etwas frisches Obst und Getränke mit. Severus und Joshua unterhielten sich, obwohl Harry feststellen musste, dass es für ihn mehr nach einer Frage-und-Antwort-Stunde aussah – und Hermines Vater war der Quizmaster. Es war immer schwer, sich sofort an einem Gespräch beteiligen zu können, wenn man nicht wusste, um was es ging, also hörte jeder erst einmal zu.

Zu Severus’ Entsetzen kamen die anderen Gäste in genau dem Moment zurück, als er sich dagegen sträubte, Joshua – wie er Mr. Granger nennen musste – Informationen über seine Eltern zu geben. Das Thema war ihm unangenehm. Der Tod von Eileen Snape hatte Joshua im ersten Moment mundtot gemacht. Nach anfänglicher Befürchtung, womöglich ins nächste Fettnäpfchen zu treten, fragte er dennoch nach dem werten Vater. Severus fühlte alle Augenpaare auf sich ruhen. Selbst Harry interessierte es, was aus Tobias Snape geworden war, dessen wütende Stimme er in einer von Severus’ Erinnerungen gehört hatte. Kaum jemand würde verstehen, warum Severus seinen Vater in die Hände von Muggelpflegern gegeben hatte und diesen Entschluss bis heute kein bisschen bereute.

„Zum Verbleib meines Vaters möchte ich mich nicht äußern.“
Joshuas Augenbrauen schossen in die Höhe. „Heißt das, er ist noch wohlauf?“
„Ich habe keine Ahnung, ob er …“ Als Severus bemerkte, dass er durch zusammengebissene Zähne sprach, womit seine gereizte Stimmung nicht verbergen konnte, hielt er kurz inne. „Ich sagte bereits, dass ich mich dazu nicht äußern möchte.“
Joshua war anderer Meinung. Auch wenn er leise zu Severus sprach, konnten zumindest Harry und Hermine ihn gut hören. „Es ist doch kein Verbrechen, wenn man wenig Kontakt zu seinen Angehörigen hat. Ich habe mich auch mal mit meiner Mutter zerstritten. Wir haben zwei Jahre nicht mehr miteinander geredet, bis …“
„Ich habe seit Jahrzehnten gar keinen Kontakt mehr zu ihm und strebe nicht an, das zu ändern. Er ist dort gut aufgehoben, wo er jetzt ist.“
„Und wo ist er?“

Der Gedanke an die Briefe aus der Nachsendung schob sich in den Vordergrund. Ein Brief von vor sechs Jahren war dabei. Severus hatte ihn noch nicht geöffnet. Auf dem Umschlag stand als Absender das Pflegeheim. Irgendwann während des Krieges, zu einer Zeit, als Severus und Draco sich auf einem Bauernhof versteckt hielten, hatte das Pflegeheim aus bisher unbekannten Gründen versucht, ihn zu kontaktieren. Der Umschlag mit den durchgestrichenen Adressen machte deutlich, dass man ihn erst nach Spinner’s End geschickt hatte. Das Haus war zu dem Zeitpunkt schon von Todessern dem Boden gleichgemacht worden, so dass das Postamt den Brief nach Hogwarts weiterleitete. Weil sich dort ebenfalls kein Empfänger fand, lagerte man ihn für viele Jahre im Posteulenamt zwischen, wie wahrscheinlich unzählige andere Briefe in der magischen Welt auch, deren Empfänger verschollen oder untergetaucht waren.

Einen rettenden Strohhalm hatte Harry zu bieten, denn er lenkte ab und fragte: „Wer hat denn Nicholas in den Auslauf gesteckt?“
„Ich war so frei“, erwiderte Severus.
„Er ist doch kein Kaninchen.“
„Du hast doch wohl auch ein Laufgitter für ihn Zuhause, oder etwa nicht?“ Weil Harry nickte, sah sich Severus in seiner Entscheidung, Nicholas über den Zaun gehoben zu haben, bestärkt. Außerdem konnte er auf diese Weise nicht ausbüxen. Der Junge hatte vorhin angefangen zu weinen, weil er die Tiere nicht anfassen konnte. „Jetzt fühlt er sich wohl“, brachte Severus es auf den Punkt.

Alle schauten gleichzeitig zu Nicholas. Der Junge saß völlig fasziniert auf einer Decke, umgeben von flauschigen Kaninchen, die an der Möhre in seiner Hand mümmelten. Selig lächelnd tätschelte er das eine oder andere Tier. Er brauchte nur die Hand ausstrecken. Kein Zaun trennte sie mehr.

Das vorherige Thema war für Joshua längst nicht erledigt. „Wo lebte Ihr Vater zuletzt, als Sie ihn gesehen haben?“
Verbissen erwiderte Severus: „In einem Pflegeheim.“

Es sollte endlich Ruhe sein, dachte er. Die Information reichte. Es war mehr, als er aus seinem Privatleben zu erzählen bereit war. Niemand hatte davon Kenntnis. Hermine erfuhr es lediglich aus einer der Erinnerungen, die sie gesehen hatte, und Albus wusste sowieso immer alles. Aus freien Stücken hatte Severus diese Tatsache nie preisgegeben. Man sollte ihm hoch anrechnen, dachte er, dass er es gleich vor fünf Personen offenbart hatte. Es war eine Premiere. Und es war genug.

„Verstehen Sie mich nicht falsch, Severus“, Josh verspürte eine diebische Freude, häufig Severus’ beim Namen zu nennen, „aber ich kann nicht nachvollziehen, warum Sie ihn noch immer nicht besucht haben. Ich kann mir vorstellen, dass Sie Ihren Vater schützen wollten.“ Von seiner Tochter hatte Joshua das Wichtigste über Severus’ Rolle im Kampf gegen Voldemort erfahren. „Das ist durchaus verständlich, aber der Krieg ist vorbei.“
„Vielleicht ist er längst verstorben.“ Severus’ gleichgültige Aussage konnte falscher nicht sein. Hermines Vater schien seinen Ohren kaum zu trauen.
„Sie wissen das nicht einmal?“
„Mr. …“ Severus seufzte. Die persönliche Anrede ließ er vollständig weg. „Dieser Abschnitt meines Lebens geht niemanden etwas an.“
Josh ließ sich nicht abwimmeln. Er wählte seine nächsten Worte mit Bedacht. „Hatten Sie eine schlechte Kindheit?“
„Papa!“, mahnte Hermine vom Stuhl gegenüber.
„Liebling, ich will das doch nur verstehen. Für mich ist das unvorstellbar.“ Er schaute seine Tochter eindringlich an. „Und ich hoffe doch stark, dass du dir daran kein Beispiel nimmst. Wenn ich alt und runzelig bin, möchte ich nicht in einem Heim landen und jeden Tag auf Besuche meiner Tochter hoffen, die sowieso nie kommen wird.“
„Du solltest mich eigentlich kennen, Dad.“

Die ganze Situation war Harry unangenehm, weil er wusste, dass sie Severus unangenehm war. Auch Ginny wusste nicht recht, wie sie reagieren sollte. Einzig Hermines Mutter blieb die Ruhe in Person. Sie schenkte Severus ein Glas Wasser ein, lächelte ihm freundlich und auch entschuldigend zu.

„Vielen Dank, Jane. Und auch vielen Dank für die beiden vorzüglichen Kuchen. Es ist ein Jammer, dass Sie die Fähigkeit, solche Leckereien auf den Tisch zu zaubern, nicht an die werte Tochter vererbt haben.“
Von dem Kompliment leicht errötet erklärte Jane: „Als Kind hat sie es schon nicht gemocht, mit der Spielzeugherdplatte zu spielen, die ihr Onkel ihr geschenkt hat. Stattdessen wünschte sie sich einen Detektiv-Koffer. Sowas kennen Sie vielleicht. Mit Fingerabdruck-Set und Handmikroskop.“
„Das Handmikroskop war blöd“, warf Hermine ein. „Das hat überhaupt nichts vergrößert.“
„Weswegen dein Vater dir auch das ausrangierte von der Arbeit mitgebracht hat.“

Hermine lächelte ihrem Vater zu. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, von überall im Haus Proben genommen zu haben, um sie unter dem Mikroskop zu bewundern. Die Probe von ihrer Matratze hatte allerdings dafür gesorgt, dass Hermine bei all den Milben dort nicht mehr schlafen wollte, bis ihre Mutter ihr ein Buch über diese ungebetenen Gäste in die Hand drückte. Mit der beinahe zu Ende gelesenen Lektüre war Hermine beruhigt auf ihrem Bett eingeschlafen.

Joshua Granger gingen in diesem Moment wahrscheinlich die gleichen Erinnerungen durch den Kopf. Sein seliger Gesichtsausdruck konnte das erahnen lassen. Nichtsdestotrotz wandte er sich wieder den Themen zu, die ihn interessierten.

„Zurück zu Ihrem Vater …“
Severus schloss die Augen und massierte mit Daumen und Zeigerfinger die Nasenwurzel. Aufkommende Kopfschmerzen konnte er jetzt wirklich nicht gebrauchen. „Wissen Sie was, Joshua?“ Severus klang gestresst. „An Ihrer Familie kann man die Wunder der Vererbung bestens aufzeigen. Von Ihrer reizenden Frau“, er blickte kurz zu Jane, „hat Hermine die Fähigkeit erlangt, einfühlsam auf Mitmenschen einzugehen. Auch den Wunsch nach stetiger Fortbildung möchte ich den Genen Ihrer Gattin zuschreiben. Die Veranlagung zur genießbaren Lebensmittelzubereitung blieb leider auf der Strecke.“ Severus winkte mit einer Hand, als wollte er eine Fliege vertreiben. Somit zeigte er, dass der Punkt nicht ins Gewicht fiel. „Stattdessen hat Hermine von Ihnen, Joshua, die Kunst der unangenehmen Fragestellung geerbt, gewürzt mit einer Portion Lästigkeit und einer Prise Hartnäckigkeit. Ich kann über diese manchmal regelrecht nervtötenden Eigenschaften von Hermine hinwegsehen. Diese mit viel Zeit und Geduld erlernte Nachsicht meinerseits lässt mich hoffen, auch mit Ihnen eines Tages zumindest auf normaler Basis halbwegs gut auszukommen.“

Nach seiner Rede, bei der sich Severus nicht ein einziges Mal im Ton vergriffen hatte, nahm er sein Glas Wasser. Die anderen tauschten gegenseitig Blicke aus. Severus rechnete damit, dass Hermine die Erste wäre, die das Schweigen brechen wollte. Stattdessen hörte er ihren Vater.

„Jane, bin ich wirklich so schlimm?“, fragte Joshua mit einem leicht amüsierten Unterton in der Stimme. Jane nickte. Als Joshua zu Hermine schaute und von ihr eine Antwort erhoffte, kam diese ebenfalls in Form eines Nickens. „Hach“, machte Joshua bestürzt, aber seine gute Laune fand er schnell wieder. Er wandte sich an seinen Gast und lächelte. „Von meiner Seite aus haben Sie nichts zu befürchten, Severus. Ich werde versuchen, mich im Zaum zu halten. Ansonsten denke ich, werden wir gut miteinander auskommen, denn wenn es etwas gibt, dass ich über alle Maße schätze, dann ist das Ehrlichkeit.“

Joshua unterließ es, Severus weiterhin über die Eltern zu befragen. Stattdessen erkundigte er sich über Einzelheiten, was die Apotheke betraf. Bei dem Gespräch bekam Harry mit, dass der ehemalige Schüler Gordian Foster bei Severus als Lehrling anfangen würde.

Trotz der bis zum Ende hin netten Unterhaltungen mit den Grangers war Severus weiterhin missgestimmt. Das änderte sich auch nicht, als er mit Hermine zusammen gegen halb sechs die Apotheke betrat. Schnurstracks ging er nach oben und beschäftigte sich im Wohnzimmer mit unwichtigen Dingen, nur um nicht mit ihr reden zu müssen. Hermine ließ ihn.

In Hogwarts hingegen begann das Leben erst. Nicholas war von seinem Erstkontakt mit Kaninchen völlig überdreht. Harry hatte Mühe, dem Jungen die Schuhe auszuziehen, weil er am Boden entlangrobbte.

„Bleib hier“, sagte Harry, kniete sich dabei auf den Boden und griff nach einem Schuh. „Du riechst schon selbst wie ein Kaninchen.“ Ein Schuh war ausgezogen, der zweite folgte auf der Stelle.
Ginny kam gerade von der Toilette zurück. „Gehst du mit ihm baden oder soll ich?“ Das Wasser lief bereits, das konnte Harry hören.
Anstatt Ginny zu antworten, fragte er Nicholas: „Na, willst du mit Papa baden gehen, der immer so tolles Spielzeug mit in die Wanne nimmt? Oder mit Mama, die nur darauf achtet, dass du auch hinter den Ohren sauber wirst?“
„Hey“, beschwerte sich Ginny mit einem Grinsen auf den Lippen. „Ich nehme auch das Schiffchen mit in die Wanne.“
„Mag sein.“ Harry löste die Schnalle von Nicholas Latzhose. Mit hörbarem Stolz fügte er hinzu: „Aber du machst nicht so tolle Dampfergeräusche wie ich.“
Ginny versuchte, ernst zu bleiben, aber ihre Mundwinkel hatte sie nicht unter Kontrolle, als sie erwiderte: „Stimmt, ich bin kein geprüfter Diplom-Dampfschiffgeräusche-Imitator. Ich lasse dir den Vortritt.“

Als Nicholas auf dem Boden entlangkroch, musste Harry nur die Hosenbeine festhalten und schon war die Hose ausgezogen. Es hatte sich eingebürgert, die Taschen von Nicholas’ Kleidung zu überprüfen, bevor man sie zur Wäsche gab. Todesmutig griff Harry in die linke Hosentasche der Latzhose und zog, nachdem er Schlimmstes befürchtete, nur ein paar Grashalme, einen Stein und ein Stück angeknabberte Karotte heraus. Mit einem Evanesco schickte er den Fund ins magische Nirvana. In der rechten Hosentasche wartete der Schrecken. Ginny beobachte Harry dabei, als er die Nase rümpfte.

„Was zum Henker ist das?“ Harry zog die geballte Faust heraus und öffnete sie. „Ach, du meine Güte! Weißt du, womit Nicholas sich die Taschen vollgestopft hat?“ Von ihrer Position aus konnte Ginny es nicht erkennen. Mit vor Ekel verzogenem Gesicht musterte Harry die runden, bräunlichen Kugeln. „Kotbällchen!“
Ginny legte eine Hand auf die Brust. „Dann hast du jetzt auf jeden Fall auch ein Bad nötig. Nachher bringen wir ihn zu Madam Pomfrey. Nicht dass er davon auch was gegessen hat. Wer weiß, was da für Bakterien drin sind.“

Etwas später saß Ginny auf der Couch und ging die Informationen durch, die man ihr nach der Untersuchung bei Eintracht Pfützensee gegeben hatte. Bis ins Wohnzimmer konnte sie Harrys hallende Dampfergeräusche hören und das Lachen von Nicholas. Sie musste lächeln, denn sie erinnerte sich daran, dass ihre Brüder für die gleiche Unterhaltung gesorgt hatten, wenn sie ihre Schwester badeten.

Auch in der Winkelgasse wurde ein Bad genommen. Das kühle Wasser sollte Severus bei den herrschenden Temperaturen ein wenig abkühlen. So lange wie heute war er selten draußen gewesen. Nicht nur die frische Luft hatte ihn ermüdet, sondern auch die Unterhaltung mit Joshua. Severus wusste, dass er einen schlechten Eindruck hinterlassen haben muss. Für viele Menschen bedeutete die Familie alles. Selbst die Malfoys legten mehr Wert auf harmonische Verhältnisse als Severus. Ihm war sein Vater egal. Severus seufzte und tauchte seinen Kopf einen Moment lang ins frische Wasser. Wenn sein Vater ihm so gleichgültig war, warum, fragte sich Severus, musste er dann ständig an dessen Verbleib denken? Der Brief war sicherlich der Auslöser gewesen. Zusätzlich die Fragerei von Hermines Vater. Früher hätte er sich mit solchen Überlegungen nicht aufgehalten, doch jetzt fragte er sich, ob er richtig handelte, wenn er seinen Vater so behandelte, als wäre er tot.

Das Klopfen an der Badezimmertür riss ihn aus seinen Gedanken.

„Ja?“
Die Tür öffnete sich einen winzigen Spalt, so dass Hermine ihn zwar besser verstehen, aber nicht sehen konnte. „Ich hole mir noch ein Eis bei Fortescue's. Möchtest du auch eines?“
Severus überlegte einen Augenblick. Ihm war nach Koffein. „Einen Eiskaffee.“
„Gut, bin gleich wieder da.“

Die Zeit ohne Hermine nutzte er, um sich für den frühen Abend etwas Leichtes anzuziehen. Er wollte ihren Fragen aus dem Weg gehen, die mit Sicherheit kommen würden. Es war schlimm genug, dass Joshua ihn dazu gebracht hatte, über seinen Vater nachzudenken. Der gehörte zu den Themen, die Severus nicht mal mit der Beißzange anfassen wollte. Sein Vater war tabu. Erlebnisse mit ihm würde er mit niemandem teilen. Er müsste sich mit irgendetwas beschäftigen, dachte Severus, als er vor dem Spiegel seine Haare kämmte. Irgendein Buch käme ihm gelegen. Hermine würde es nicht wagen, ihn ständig beim Lesen zu unterbrechen.

Als Hermine von Fortescue's zurückkam, fand sie Severus im Wohnzimmer. Er las das Geschichtsbuch, das ihm die Schüler zum Abschied geschenkt hatten. Wortlos stellte sie ihm den Eiskaffee vor die Nase und setzte sich ihm gegenüber. Er rang sich ein Danke ab, griff zu und schlürfte die kühle Erfrischung, während seine Augen auf den Seiten ruhten. Es wirkte. Hermine sprach nicht mit ihm, informierte ihn nur darüber, dass sie heute etwas früher schlafen gehen würde. Severus ließ ihr zwei Stunden Vorsprung. Auf diese Weise konnte er sicher gehen, dass sie bereits schlafen würde, wenn er sich neben sie legte.

Im Schlafzimmer war es warm. So leise wie möglich trat er ans Bett heran.

„Mmmh“, summte Hermine verschlafen. „Machst du bitte das Fenster auf?“
„Das Fenster ist auf.“
„Mir ist warm. Kannst du Durchzug machen?“

Über den Flur ging er hinüber zu Hermines verlassenem Schlafzimmer und öffnete dort das Fenster. Mit einem Zauber sorgte er dafür, dass Türen und Fenster offen bleiben würden. Dennoch tat sich nichts. Keine frische Brise. Es war völlig windstill. Zu warm zum Schlafen. Severus versuchte es trotzdem.

Kaum hatte Severus die Augen geschlossen, fand er sich ohne bewussten Übergang in einem dunklen Raum wieder. Es dauerte einen Moment, bis er sich darüber klar wurde, wohin ihn der Nebel des Schlafes geführt hatte. Er befand sich im Keller von Spinner’s End. In diesen Räumlichkeiten hatte seine Mutter die gängigen Salben und Tränke gebraut, die in keinem anständigen, magischen Haushalt fehlen durften. Den Duft der verarbeiteten Zutaten verband er mit diesem Keller und mit den schönen Momenten im Leben. Vielleicht hatte er aus diesem Grund in Hogwarts die Kerker für seine Arbeit gewählt. Das Haus Snape war zwar nie ein Vorbild für andere Haushalte gewesen, denn es wurden keine alten Traditionen gepflegt, aber dennoch oder gerade deswegen fühlte Severus sich hier wohl. Die Gerüche waren heimisch. Er war Zuhause.

„Mein Junge“, hauchte eine Frauenstimme. Als sich Severus umdrehte, sah er seine Mutter, die sich ihm mit offenen Armen näherte. Sie drückte ihn an sich. Die Vertrautheit ließ ihn die Augen schließen und tief durchatmen. Sie war die Verkörperung der guten Seite seiner Kindheit. Severus wollte ihr, wenn auch nur im Traum, ins Gesicht sehen. So löste er die Umarmung und drückte sie leicht von sich, doch es war nicht Eileen Prince, die ihn anlächelte. Es war Jane, die gleich wieder zurück an den Arbeitstisch ging. Nicht um einen Trank zu brauen, sondern eine wohlriechende Suppe zu kochen.

Vom Erdgeschoss hörte Severus eine Melodie, gespielt auf einer Flöte. Süßeste Töne lockten, und er drehte den Kopf, um zu sehen, woher sie kamen. Oben an der Kellertreppe stand die Tür zur Küche offen. Sonnenlicht erhellte den Absatz. Severus wollte hinaufsteigen. Als er einen Fuß auf die hölzerne Stufe der Kellertreppe setzte, begann es unangenehm laut zu krachen. Das Holz unter ihm verwandelte sich in hellen Marmor. Eine Kettenreaktion war ausgelöst worden, bis die gesamte Treppe sich auf edle Weise verändert hatte. Severus ging die ersten Stufen hinauf, hörte noch immer die Musik von oben. Nach der Hälfte des Weges sah er sich mit einem Hindernis konfrontiert. Er konnte nicht weitergehen. Sein Vater lag betrunken auf den Stufen und versperrte ihm den Weg. Sein Oberkörper war ans Geländer gelehnt, die angewinkelten Beine an die gegenüberliegende Mauer gestützt. Tobias Snape war in einen schwarzen Talar gekleidet, der von der harten Arbeit auf dem Bau beschmutzt war. Anstelle der Gattin umarmte er eine fast leere Weinflasche.

Im Rahmen der Tür erschien unerwartet Hermines Vater, der ihn heiter heranwinkte. „Komm doch hoch.“ Das war leichter gesagt als getan. Der Aufstieg war mühsam. Severus konnte nicht über seinen Vater hinübersteigen, ohne ins Wanken zu geraten. Als er direkt vor dem Betrunkenen auf den harten Marmor trat, versank er mit dem Fuß auf der plötzlich morastigen Stufe. Allein konnte er das Bein nicht mehr befreien. „Hey“, hörte er von oben. Joshua warf ein Seil hinunter, das Severus zu fassen bekam. Nun konnte er mit Leichtigkeit seinen Vater und die umliegenden, nachgebenden Stufen überwinden. Die letzten nahm Severus ohne Hilfe.

Endlich oben in der sonnengefluteten Küche angelangt, die ganz anders als die Küche in Spinner’s End aussah, wurde er von Joshua empfangen. Der hielt in beiden Händen dunkle, wohlriechende Kaffeebohnen und präsentierte sie Severus. „Einen Kaffee?“
„Ja, bitte.“
Die Quelle der Flötenmusik war schnell ausgemacht. Hermine saß am Küchentisch, direkt am weit geöffneten Fenster, und spielte das Instrument. Als sie ihn bemerkte, legte sie die Flöte beiseite und näherte sich ihm. Sie griff zu einem Besen und reichte ihn Severus. „Du solltest mal die Kellertreppe fegen.“
„Später“, erwiderte Severus, der sich in der Küche umsah. Jane und Ginny standen am Herd und kochten. Von dem Kuss, den Hermine ihm unerwartet gab, war er im ersten Moment überrascht.

Ein helles Kinderlachen war mit einem Male zu hören. Nicholas lief grinsend um einen Stuhl herum, immer im Kreis, bevor er sich auf den sauberen Boden setzte und ausgelassen mit einer hölzernen Lok spielte. Unbewusst dachte Severus, dass eine Person noch fehlen würde, damit der Traum komplett sei. In genau diesem Moment kam Harry durch die Tür herein. Er grüßte alle freundlich. Nachdem er Nicholas’ Kopf gestreichelt hatte, nahm er den Jungen auf den Arm und reichte ihn Severus.

„Nimmst du ihn kurz?“, fragte Harry und drückte Severus ein weißes Kaninchen in den Arm. Das Tier war im ersten Moment aufgeregt und trat mit den Hinterbeinen aus. Severus drückte es an sich und streichelte es, genoss das weiche Fell des Kaninchens, dessen Herz bald nicht mehr so aufgebracht pochte.

Das dumpfe Grollen eines Donners kündigte ein Gewitter an. Ein Blitz folgte. Draußen wurde es stürmischer. Severus gab das Kind zurück an Harry, um zum Fenster zu eilen. Als er es schloss, blitzte für einen Moment sein Spiegelbild im Glas wider, doch es war nicht sein Gesicht. Zu seinem Entsetzen starrte ihn das grimmig Gesicht von Tobias Snape an.

Ein weiterer Donnerschlag. Eine unsanfte Landung.

Sofort griff Severus nach dem Stab unter seinem Kopfkissen, bis er erkannte, dass er sich im Schlaf so sehr gewälzt haben musste, dass er aus dem Bett gefallen war. Das Gewitter war nicht geträumt. Endlich wehte ein frischer Wind ins Zimmer und vertrieb die stickige Sommerluft. Ein Blick zur Seite verriet, dass Hermine weiterhin selig schlummerte. Severus seufzte. Mit seiner neuen Seele war die Fähigkeit zurückgekommen, erlebte Situationen im Traum aufzuarbeiten. Nicht nach jeder Nacht, aber in regelmäßigen Abständen konnte sich Severus an die seltsam skurrilen Geschichten erinnern, die entweder der Feder eines opiumsüchtigen Schauspielautors entsprangen, der seine Werke mit einem komplizierten Legilimentik-Zauber an einem Schlafenden ausprobierte oder direkt – was der Wahrscheinlichkeit viel näher kam – von seinem eigenen, verkorksten Unterbewusstsein inszeniert wurden.

Mit einer Hand fuhr sich Severus über das Gesicht, rieb sich den Schlaf aus den Augen. Draußen begann ein Unwetter zu toben. Der Wind wurde heftiger und war viel zu kalt, als dass er zum Schlafen noch angenehm sein konnte. Behutsam zog er die Decke über Hermines entblößte Taille, damit sie sich nicht verkühlen würde. Das Fenster im Schlafzimmer lehnte er an, damit der beginnende Regen nicht hereinwehen konnte.

Im verlassenen Schlafzimmer gegenüber schloss er das Fenster. Zugluft wurde viel zu oft unterschätzt. Mit einem steifen Hals braute es sich schlecht.

Von dem Sturz aus dem Bett und dem Unwetter war Severus hellwach. Er begab sich nach kurzer Überlegung nicht zurück ins Schlafzimmer, sondern ins Wohnzimmer. Harrys Ohren drehten sich, dann hob er den Kopf und fiepte.

„Schlaf weiter“, riet Severus mit ruhiger Stimme. Der Hund gehorchte, obwohl der von dem Gewitter ebenfalls geweckt worden war. Severus stellte sich ans Fenster und beobachtete den Himmel. Bei jedem Blitz sah er die schwarzen Wolken, die sich trotz des Windes kaum bewegten. Blitze, Donner, Sturm, Regen. Ein Naturschauspiel, das ihm als Kind immer imponiert hatte. Als Jugendlicher entsprach ein Gewitter oft seiner Stimmung und als Erwachsener war ihm das herrschende Wetter stets gleichgültig gewesen. Bis jetzt. Dieses Unwetter stellte für Severus einen Übergang vom Traumdasein in den Wachzustand dar, was den Traum für ihn viel realer machte.

Es würde bestimmt eine ganze Weile regnen. Vielleicht so lang und stark, hoffte Severus, dass sie morgen mit weniger Kunden rechnen könnten. Mit einem Schwung seines Stabes entzündete er einige Lichter, bevor er sich auf die Couch setzte. Severus war sich uneins, was er jetzt tun könnte, um nicht in Langeweile zu ersticken. Der Traum beschäftigte ihn, ohne dass er es wollte. Mit jedem Blitz sah er sich selbst, als er das Fenster in der Küche schließen wollte, sah im Glas das Gesicht seines Vaters als das eigene. Severus schnaufte, wollte damit die Spielereien seines Unterbewusstseins ins Lächerliche ziehen. Er war nicht wie sein Vater, und er würde es niemals werden. Die symbolische Gegenüberstellung missfiel ihm. Wäre es möglich, den verborgenen Teil seiner Psyche abzusondern und zu personifizieren, würde Severus es auf der Stelle tun. Nur so könnte er sein Unterbewusstsein auf seine typisch bissige Art zusammenstauchen und für die Beleidigung – Severus empfand es als solche – den Fehdehandschuh vor die Füße werfen.

Man musste den Traum nicht unbedingt deuten, dachte Severus, um zu verstehen, was der Keller seines Ichs ihm mitzuteilen versuchte. Vieles würde man mit einem gesunden Menschenverstand interpretieren können, doch eine Sache machte ihn neugierig. Die Flöte. Sicherlich ein phallisches Symbol, mutmaßte Severus. Weil Hermine im Traum das Instrument spielte, sah sich Severus wissbegierig genug, um in einem Buch nachzuschlagen, das er normalerweise nicht einmal zu seinem Besitz zählen würde. Hermine hatte sich den Band, den sie damals für seine Traumdeutung in Hogwarts benutzt hatte, vor einiger Zeit angelegt: Oneirologie. Das Buch befand sich im Wohnzimmerschrank, gleich neben der Sammlung von Lockharts Lebenswerk. Bücher, die einem unangenehm waren oder ein schlechtes Bild auf einen werfen konnten, platzierte man nicht für jedermann sichtbar. Die Schwarte griff er sich, um ein wenig in ihr zu blättern.

F wie Flöte war bald gefunden.

„Natürlich“, seufzte Severus. Die Form einer Flöte war eindeutig phallisch, stand in diesem Sinne für die männliche Potenz. Schon in der Mythologie brachte man mit ihr Gesellschaftlichkeiten in Verbindung. Für einen Moment blitzte zeitgleich mit dem Unwetter ein Gedanke auf, der Severus in Gestalt eines wollüstigen Satyrs zeigte, welcher über eine Wiese hüpfte und Hermine in orgiastischer Leidenschaft nachstellte. Eine Flöte im Traum zu sehen spielte auf sexuelle Bedürfnisse an. Severus war sich nur nicht klar darüber, ob die eigenen gemeint waren oder die der Person, die die Flöte gespielt hatte.

Er rümpfte die Nase. Das waren Dinge, mit denen er sich nicht beschäftigen wollte. Bedürfnisse dieser Art waren zwanzig Jahre lang nicht vorhanden. Jetzt waren sie präsent, das stand für Severus fest, aber mit ihnen umzugehen musste er lernen. Sie waren vollkommen anders als er sie aus seiner Jugend kannte. Sie waren viel tiefer verwurzelt, von größerer Bedeutung und vor allem waren sie nicht mehr beliebig zu befriedigen. Als junger Mann hätte er sicher nicht lange gezögert, wenn ihn eine Dame in der Nokturngasse angesprochen hätte, je nachdem, wie erschwinglich sie gewesen wäre. Dieser Gedanke bescherte ihm heute eine Gänsehaut. Offenbar kam mit dem vorangeschrittenen Alter tatsächlich die dritte und letzte Stufe der Tobias-Snape-Skala zum Tragen: der Verstand. Er wollte nicht irgendeine.

Vielleicht stand die Flöte aber auch für etwas anderes. Erst die Einbeziehung aller anderen Symbole könnte eine aufschlussreiche Übersicht bringen. Sibyll wäre stolz auf ihn, würde sie sehen, dass ihr ehemaliger Kollege sich aus freien Stücken intensiv mit seinem Traum beschäftigte. Es gab wenige Dinge, die man sonst um halb drei morgens unternehmen konnte.

Von Hermine wusste er, dass jede Kleinigkeit, die ihm von seinem Traum im Gedächtnis geblieben war, Klarheit geben konnte, also begann er mit dem dunklen Keller. Das Buch riet ihm, Licht ins Dunkel zu bringen, weil er sich mit einer Situation konfrontiert sah, die seine Seele gefährden würde. Severus atmete tief durch. Das fehlte ihm gerade noch, dachte er entmutigt. Er blätterte nach hinten zum Buchstaben Z. Das Zuhause stand für die Wiederkehr der Werte, die einem als Kind vermittelt wurden. Weil er sich wohl gefühlt hatte, war der erste Schritt im realen Leben bereits getan. Die Mutter stand zudem nicht nur in seiner Realität für das Gute. Sie verkörperte seinen emotionalen Mittelpunkt. Das Verhältnis zu ihr würde auf alle Beziehungen im Leben Einfluss haben. Der Punkt erleichterte Severus. Er hatte seine Mutter immer geliebt. Die Treppe als Verbindung der verschiedenen Gebiete seines Charakters symbolisierte den Aufstieg zu einer neuen Bewusstseinsebene. Das überraschte ihn nicht. Gefühlskälte gehörte der Vergangenheit an. Natürlich nahm er jetzt seine Umwelt anders wahr, besonders emotionell, auch wenn er das nicht zu zeigen bereit war. Probleme beim Aufstieg gab es in Form seines Vaters, der ihm den Weg versperrt hatte. Der Vater: Sinnbild für Autorität. Severus schnaufte nochmals. Er hatte keinen Respekt vor ihm, weder damals noch heute. Die offensichtliche Trunkenheit stand für Enttäuschungen seelischer Art. Schwierig wurde es bei dem auffälligen Merkmal der Kleidung. Unter Talar fand Severus keinen Eintrag, wohl aber bei dem Begriff Pfarrer, der ihm in einer logischen Assoziation sofort durch den Kopf schoss. Ein Gottesmann wollte auf das schlechte Gewissen hinweisen, was der Schmutz auf der Kleidung noch unterstrich. Severus presste die Lippen zusammen, fühlte sich von sich selbst zu Unrecht verurteilt.

Ein Blitz schlug in weiter Ferne ein. Der Krach war dennoch so laut, dass Fellini von seinem Fensterplatz sprang und die sichere Nähe von Severus suchte. Direkt neben Severus kuschelte sich der Kater an den Schenkel und rollte sich zum Schlafen ein. Der Blitzeinschlag erinnerte ihn an das Geräusch, das er im Traum wahrgenommen hatte, als sich die Stufen in Marmor verwandelten. Krach war mit Unannehmlichkeiten verbunden, las Severus. Das harte, edle Gestein warf Severus auch noch Hartherzigkeit vor.

Er wusste nicht, ob er weiterhin die Symbole nachschlagen wollte. Noch nie hatte ein Buch es gewagt, ihm den Spiegel vorzuhalten. Es waren gerade mal zehn Minuten vergangen und trotzdem fühlte sich Severus so ausgelaugt wie nach fünf Stunden Gesprächstherapie mit Hermine. Der halbe Traum war bereits nachgeschlagen. Eines hatte Severus gelernt: Selbst wenn man von Träumen wenig hielt, brachten deren Deutung einen dazu, über bestimmte Dinge nachzudenken, die man normalerweise zu ignorieren versuchte. Gespräche über Tobias Snape blockte Severus stets ab, aber sein Unterbewusstsein nahm kein Blatt vor den Mund. Und die Sache mit der Flöte? Wenigstens bis zu Hermines Erscheinen wollte er noch kommen, also schlug er bei Moor auf. Erneut stieß Severus auf Schuldgefühle, die um seinen Vater herum angesiedelt waren, weil er nur dort mit den Füßen versunken war. Im Traum kam ihm Joshua Granger zu Hilfe. Severus fragte sich, wo er nachschlagen müsste. Ein Freund war der Mann nicht. Nach kurzer Überlegung fand Severus das Wort Schwiegervater. Das kam seiner Beziehung zu dem Mann am nächsten. War der Schwiegervater gut gelaunt, durfte man mit einer angenehmen familiären Atmosphäre rechnen. Endlich etwas Gutes, dachte Severus erleichtert. So wie er Joshua vom Wesen her einschätzte, würde der nie absichtlich Ärger bereiten. Das Seil, das Joshua ihm zugeworfen hatte, symbolisierte darüber hinaus ein Bündnis, mit dessen Hilfe Severus seine Ziele erreichen könnte.

„Was für Ziele?“, fragte Severus in den Raum hinein. Eine Antwort gab ihm weder der Hund noch Fellini, der im Halbschlaf damit begonnen hatte, den Milchtritt an Severus Oberschenkeln auszuüben. Zum Glück kamen die Krallen nicht durch das Nachthemd hindurch, sonst wäre es schmerzhaft gewesen.

Im Traum war die Küche sein Ziel gewesen, ein Ort der Veränderung. Ähnlich wie beim Tränkebrauen fertigte man in diesem Raum aus verschiedenen Zutaten etwas ganz Neues. Von der hellen Sonne hatte er damals bereits geträumt und auch diesmal war Harry anwesend. Severus zwang sich, bei der Deutung chronologisch vorzugehen und keinen Punkt auszulassen. Die Kaffeebohnen, die Joshua ihm angeboten hatte, versprachen häusliches Glück. Ein weiteres Indiz dafür, dass Joshua ihm das Leben nicht schwermachen würde. Aufmerksamer las Severus über die Musik, die er im Traum gehört hatte, denn wenn die angenehm war – und das war sie – könnte sie womöglich das Ziel darstellen, welches vorhin angesprochen wurde. Als Severus jedoch las, was die wohl klingende Melodie bedeutete, sträubte sich sein Innerstes. Das konnte unmöglich sein Ziel sein, dachte er, als er die Erklärung las. Er, der gemeine Ex-Lehrer und der ehemalige Todesser, der über Leichen gehen musste, um Harrys Bestimmung nicht zu gefährden, würde sicherlich Reichtum anstreben, Wissen und Macht, aber laut der Traumdeutung visierte er ein ganz anderes Ziel an. Etwas völlig Harmloses. War es wirklich sein Wunsch, Harmonie im Leben zu erlangen? Das war etwas, das er nie habt hatte. In seiner Jugend stand das Streben nach Macht und gesellschaftlichem Ansehen hoch im Kurs. Mit seiner Anhängerschaft bei Voldemort waren diese Ziele zum Scheitern verurteilt. Man strebte immer das an, das einem verwehrt blieb. Severus gestand sich ein, dass er seine Ruhe haben wollte. Ein schöner Alltag, genügend Zeit für sich selbst, für seine Forschung und Zeit mit einer festen Partnerin an seiner Seite waren die Dinge, die jetzt nicht nur erfüllbar waren, sondern auch nach seinem aufregenden und gleichzeitig deprimierenden Leben wie Balsam auf Geist und Seele wirkten. Ungern gab er der Traumdeutung Recht, aber all seine Wünsche könnte man mit Harmonie gleichsetzen. Die Sehnsucht nach Normalität. Eine Sehnsucht, die Severus mit Harry teilte, denn dem ging es genauso.

Das schwere Buch auf seinem Schoß ließ er einen Moment ungeachtet. Seine Hand fand das Fell des Kniesels, der bei der ersten Berührung am Kopf laut zu schnurren begann. Severus’ Blick wanderte zu seinem Hund, der seinen Korb vernachlässigte und stattdessen mit dem Rücken auf dem Sessel lag – die vier Beine in alle Richtungen von sich gestreckt. Obwohl er ein Kuvasz war, fühlte er sich pudelwohl. Severus schaute zum Fenster. Das Gewitter war noch immer unverändert – voll im Gange. Regen peitschte an die Scheiben, schnell aufeinander folgende Blitze erhellten die Nacht. Im Gegensatz zu damals spiegelte das Unwetter nicht seine Gemütslage wider. Alles hier im Raum strahlte Frieden aus, nicht zuletzt die beiden Tiere. Das Wohnzimmer würde sich ohne das Wissen, dass er es mit Hermine teilte, anders anfühlen. So wie seine Räume in den Kerkern, die von ihrer Anwesenheit profitierten, mit ihr an Leben gewonnen hatten und mit ihrem Abschied wieder trostlos geworden waren.

Severus hielt sich den Traum vor Augen. Die Küche, die Musik. Beides hatte er als Veränderung im Leben und den Wunsch nach Harmonie entschlüsselt. Er überlegte, was als Nächstes gekommen war. Der Besen, erinnerte er sich, mit dem er die Kellertreppe fegen sollte. Er schlug, während er weiterhin den Kniesel kraulte, das Buch wieder auf und blätterte zum Buchstaben B. Mit einem Besen wurde man laut Deutung dazu aufgefordert, gewisse Angelegenheiten zu bereinigen. Da es sein Vater gewesen war, der auf den Stufen lag, war klar, was der Traum ihm sagen wollte. Er sollte den geistigen Müll kehren, tätig werden und Ordnung hineinbringen. Severus las eine Stelle darunter. Für Frauen trat der Besen wieder als phallisches Symbol in Erscheinung, das diesmal nicht nur für sexuelle Bedürfnisse stand, sondern für deren Vernachlässigung. Wieder war sich Severus nicht sicher, ob er damit gemeint war oder Hermine, weil sie es gewesen war, die ihm den Besen gegeben hatte. Möglicherweise projizierte er sogar seine eigenen Ansichten in den Traum. Severus empfand es als Tatsache, dass Hermine diesbezüglich den Kürzeren zog. Über das Küssen waren sie bisher nicht hinausgekommen. Für ihr junges Alter war sie äußerst verständnisvoll und geduldig. Mehr als Anspielungen oder freche Hinweise mit Körpereinsatz kamen von ihr nicht. Ihre Bereitschaft hatte sie mehr als einmal offengelegt. Jetzt war er am Zug, und damit kam die Unsicherheit zurück, der Severus bisher genauso aus dem Weg gegangen war wie ihr. Nach zwanzig Jahren der körperlichen Abstinenz war er tatsächlich gehemmt, geradezu verlegen, wenn es sich um intime Kontakte drehte. Ihm machte es jedoch noch mehr zu schaffen, dass Hermine darunter zu leiden schien. Zwar zeigte sie es nicht, aber es war nicht von der Hand zu weisen, dass sich einiges an sexueller Spannung zwischen ihnen aufgebaut hatte, die bisher hoffnungslos auf eine Entladung wartete.

Jetzt, in genau diesem Moment, konnte Severus sowieso nichts dagegen unternehmen. So entschloss er sich, die restlichen Symbole seines Traumes nachzuschlagen. Das Lachen von Nicholas war ihm deutlich im Gedächtnis geblieben. Schon im Traum hatte es ihn an Freude erinnert und genau das las er bei der Deutung nach. Nicholas’ kindliches Spiel stand zudem für Zufriedenheit, das Spielzeug für eine bevorstehende, glückliche Heirat. Severus fiel ein Stein vom Herzen, dass wenigstens sein Unterbewusstsein keine Zweifel daran hegte, was er für Hermine empfand. Im Anschluss hatte Harry ihm kein Kind gereicht, sondern ein Kaninchen. Es überraschte Severus nicht, dass dieses Tier für Fortpflanzung und Fruchtbarkeit stand, aber hier war auch die Fellfarbe von Bedeutung. Weiße Kaninchen würden als eine Art Führer den Weg zur spirituellen Welt zeigen.

„Sibyll würde vor Freude in die Hände klatschen“, murmelte Severus, schüttelte dabei verachtend den Kopf. Traumdeutung wurde seiner Meinung nach völlig überbewertet. Die Menschen kamen auch ohne sie aus. Er konnte jedoch nicht leugnen, dass es einen gewissen Unterhaltungswert mit sich brachte zu wissen, dass manch einer sein gesamtes Leben nach diesem ganzen Humbug ausrichtete. Sibyll verließ ihren Turm nicht, bevor sie nicht eine Tasse Tee zu sich genommen und aus dem Satz ihre Zukunft gelesen hatte.

Weil er das Kaninchen gestreichelt hatte, schaute Severus noch bei entsprechendem Verb nach. Der Text der Deutung hielt ihm vor Augen, dass er mit seiner kompletten Seele wieder ein ganz normaler Mensch mit normalen Gefühlen war. Im Traum eine Person oder ein Tier zu streicheln zeigte das neu gewonnene Mitgefühl für andere Lebewesen, drückt aber auch den eigenen Wunsch nach Zärtlichkeit aus.

Severus fühlte sich ertappt. Nie hätte er gedacht, dass er sich einmal mit seinen eigenen Bedürfnissen auseinandersetzen würde. Sein Leben hatte er damals in Dumbledores Hände gelegt, hatte alles getan, um Harry vorzubereiten. Eigene Bedürfnisse waren dank des Ewigen Sees für lange Zeit nicht mehr vorhanden, bis auf das Bedürfnis, seine Abneigung bestimmten Personen gegenüber regelmäßig zum Ausdruck zu bringen. Beinahe hätte er den Kuss vergessen, den Hermine ihm gegeben hatte. Er war kurz gewesen, hatte ihn überrascht. Im Traum geküsst zu werden bedeutete, dass die Person einem Hochachtung entgegenbrachte, man von ihr sehr geschätzt wurde. Severus musste lächeln. Genauso empfand er auch für sie.

Ein Glas kaltes Wasser musste her, bevor Severus weiterlesen wollte. Im Wohnzimmer war es noch immer warm. Gefühlte 30 Grad Celsius. Nachdem er sich etwas zu trinken besorgt hatte, öffnete er trotz des stürmischen Wetters das Fenster. Sofort war Fellini bei ihm, der sich aufs Fensterbrett setzte. Damit das Tier nicht versehentlich hinausfallen würde, versah Severus die Öffnung mit einem Schutzzauber. Einen Moment lang blieb Severus bei dem Kater und blickte hinaus. Angenehm frische Luft wehte herein. Severus mochte den Geruch von nasser Erde. Der Regen reinigte die Luft, machte das Atmen zu einem Vergnügen. Fellini war ein Angsthase. Beim nächsten Blitz sprang er von der Fensterbank und hüpfte auf die Rückenlehne des Sessels, auf dem Harry sich wälzte.

Das Unwetter erinnerte Severus an das Ende seines Traumes. Das Gehör, im Zustand des Schlafes noch immer wach und aufnahmefähig, musste das tatsächliche Gewitter in den Traum eingearbeitet haben. Dennoch wollte er nachsehen, also nahm er wieder Platz. Zuerst blätterte er zu dem Wort Donner, denn das war das Erste, das er im Traum vernommen hatte. Wenn man sich am Tage über etwas sehr geärgert hatte, konnte dieser Ärger im Traum noch nachhallen. Das Einzige, was Severus wirklich wütend gemacht hatte, war die Fragerei von Joshua, auch wenn der sich im Nachhinein dafür entschuldigt hatte. Damit hatte das Buch auf seinem Schoß das erste Mal Severus’ volle Zustimmung. Nach dem Blitz hatte sich der Himmel im Traum sofort verdunkel. Da er jedoch keine Wolken gesehen hatte, schlug er sofort bei Gewitter nach. Jetzt konnte er dem Buch wieder nur Geringschätzung entgegenbringen. Es wollte ihn mit dem Unwetter auf eine Situation im Leben hinweisen, die ähnlich wie eine steinerne Mauer niedergerissen werden sollte, um an das zu gelangen, was sich dahinter verbarg. Mit der Situation waren ignorierte Spannungen gemeint. Severus wusste genau, dass das Buch seinen Vater meinte. Das Gewitter im Traum wollte ihn dazu anhalten, eine Angelegenheit zu bereinigen, damit die Luft wieder klar werden würde. Er hasste es, dass die Traumdeutung ihn ständig an seinen Vater erinnerte. Es war jedoch er selbst, der diese Gedankenverknüpfung erstellte, denn unter Gewitter stand mit keinem Wort etwas von einem Elternteil.

Severus schaute zum Tisch hinüber. Dort lag, noch immer geschlossen, der vom Eulenpostamt nachgesandte Brief. Nicht einmal Hermine hatte ihn geöffnet, obwohl Severus ihn in der Hoffnung offen herumliegen ließ, dass sie ihre Neugierde nicht zügeln könnte. Zu seinem Bedauern bewies sie, dass sie seine Privatsphäre schätzte. Severus fragte sich, was in dem Brief wohl stehen würde. Vielleicht wollte das Pflegeheim ihn lediglich über das Ableben seines Vaters informieren, was bereits vor einigen Jahren gewesen wäre. Severus zwang sich, nicht darüber nachzudenken. Stattdessen blätterte er weiter in dem Werk über Oneirologie.

Der Blitz – das Zeichen für ein Ärgernis – begleitete auch das letzte Szenario, in welchem Severus als eigenes Spiegelbild das seines Vaters sah. Sein Vater hatte ihn oft wütend gemacht. Er war ein ungebildeter Mann, ein Prolet und ein aggressiver Mensch, wenn er Alkohol im Übermaß zu sich genommen hatte. Das Buch riet ihm im Bezug auf das Spiegelbild, sich mit einem Schatten zu versöhnen.

Von einem Geräusch aufgeschreckt blickte Severus zur Tür. Er hörte die Toilettenspülung, dann das Geräusch nackter Füße auf dem Holzboden. Ein Kopf mit ungezähmten Haaren lugte ins Wohnzimmer. Nachdem Hermine ihn gesehen hatte, lächelte sie und trat herein. Sie ging schnurstracks zum offenen Fenster und genoss die frische Brise, so wie er den Anblick genoss, den sie in ihrem kurzen, gelben Schlafanzug mit den weißen Rüschen abgab. Die schönste Raute entsprang nicht der Mathematik, sondern dem weiblichen Rücken. Als Hermine sich streckte, um sich vom Wind abkühlen zu lassen, lüftete sich ihr Hemd und gewährte ihm einen Blick auf die obersten drei Punkte der Michaelis-Raute. Die Grübchen in ihrer symmetrischen Anordnung nahmen ihn gefangen. Regungslos starrte er die kleinen Vertiefungen an, die eine erotische Wirkung auf ihn ausübten.

Hermine blickte über ihre Schulter und erwischte Severus bei seiner gedankenverlorenen Observation. Erst als sie sich ihm näherte, blickte er kurz weg, fragte sie aber gleich im Anschluss: „War es dir zu kalt?“
„Nein“, sie setzte sich neben ihn, „es war mir zu laut.“ Das Buch in seinen Händen entging ihr nicht. Es war bei S aufgeschlagen. „Schlecht geträumt?“, fragte sie mit mitfühlender Miene.
„Nein, nur“, eine kurze Pause folgte, „geträumt.“
„Muss interessant gewesen sein, wenn du schon nachschaust.“
Diesen Satz deutete er als Hinweis, den Traum zu schildern, wozu er nicht bereit war. „Ein, zwei Dinge wollte ich nachlesen.“
„Ach ja? Du hältst das doch für Quatsch.“
„Du doch auch“, hielt er sofort dagegen.
Sie nickte. „Es kann trotzdem spannend sein. Man beschäftigt sich mehr mit seiner momentanen …“ Der Satz musste unterbrochen werden, weil sie kräftig gähnen musste. „Entschuldige.“ Ein sanftes Lächeln. „Ich meine, man hält sich seine Lebenssituation mehr vor Augen, auch wenn das meiste Stuss ist, was dort steht.“ Einen kurzen Moment zögerte sie, bevor sie wissen wollte: „Kam ich drin vor?“
„Ja“, erwiderte er knapp.
„Ich hoffe mal stark, ich war nett.“
Hermine gab ja doch keine Ruhe, dachte Severus, also warf er ihr einen Happen vor die Füße. „Erwähnte dein Vater nicht einmal, du hättest als Kind Blockflöte gespielt?“
„Hat er das gesagt?“ Weil Severus nickte, gab sie es zu. „Ja, es stimmt. Ich hab’s nicht gemocht.“
„Dein Vater sagte, du wärst nicht besonders gut gewesen.“
Hermine grinste. „Ich gestehe: Ich wollte meinen Eltern weitere Qualen ersparen und hab das Ding eingemottet.“ Erst jetzt wurde sie skeptisch. „Das hast du geträumt?“
„Ich nehme an, die Information deines Vaters habe ich im Traum lediglich so verarbeitet, wie ich sie von ihm …“
„Ich habe in deinem Traum Blockflöte gespielt?“ Es kribbelte ihr in den Fingern. „Darf ich?“, fragte sie und deutete zeitgleich auf das Buch auf seinem Schoß.
„Nein.“
„Es ist mein Buch. Ich werde sowieso irgendwann nachschauen“, gestand sie mit einem Augenzwinkern.
Das war auch wieder wahr, dachte er und reichte ihr das Buch, doch er hielt er eine Hand auf den Deckel. „Bevor du nachsiehst, wollte ich dich etwas fragen, etwas Persönliches.“
„Schieß los“, forderte sie locker auf.
„In unserer Beziehung“, er stockte, riss sich jedoch zusammen, „fehlt es an einer gewissen …“ Er kam aus dem Konzept, weil sie ihn verängstigt ansah. „Hör erst zu“, riet er. Sie nickte. „Es mangelt bisher noch an einer bestimmten Interaktion, die von vielen Paaren fälschlicherweise als wichtigster Aspekt einer Partnerschaft angesehen wird.“ An ihren Augen konnte er die Erleichterung erkennen, als sie verstand, was er zu sagen versuchte. „In dieser Hinsicht wollte ich dich fragen, ob dir das zu schaffen macht.“
Erst hob sich ganz kurz eine ihrer Augenbrauen, dann spitzte sie die Lippen und schüttelte den Kopf. „Was nicht ist, kann ja noch werden.“

Weil er nur nickte und seine Hand zurückzog, hielt Hermine die Angelegenheit für erledigt. Sie schlug das Buch auf und sah bei Flöte nach.

„Ah“, machte sie nach einem Moment. „Jetzt verstehe ich auch deine Frage.“ Sexuelle Bedürfnisse. „Aber du warst der Träumer, Severus, nicht ich.“ Hermine schloss das Buch und beugte sich nach vorn, um es auf dem Tisch abzulegen. Sie sah den noch immer verschlossenen Brief von dem Pflegeheim seines Vaters und nahm ihn in die Hand, legte ihn jedoch wieder zurück. Danach blickte sie ihm in die Augen. Ihre Lippen öffneten sich langsam.

Severus hatte aufmerksam verfolgt, wie sie den Brief angesehen hatte. Jeden Moment würde die Frage kommen, die er – wahrscheinlich auch neunzig Prozent aller Männer – nicht ausstehen konnte. Die Frage, die nie korrekt zu beantworten war. Severus wollte nicht über den Brief sprechen, er wollte ihr stattdessen den Wind aus den Segeln. Bevor die Worte über ihre Lippen kommen konnten, drehte er den Spieß um und stellte die verhasste Frage.

„An was denkst du gerade?“ Er hatte es geschafft, er war schneller gewesen.
Ihr verdutzter Gesichtsausdruck hätte ihn beinahe zum Lachen gebracht, wenn sie nicht auf der Stelle geantwortet hätte: „An Sex.“ Damit hatte er nicht gerechnet. Jetzt war er derjenige, der sie sprachlos anblickte. Sie setzte ihrer Antwort noch die Krone auf, als sie schüchtern lächelte und sagte: „Und ich habe auch wieder mal Lust dazu bekommen, Flöte zu spielen.“ Sie errötete bei ihrer eigenen Zweideutigkeit, lächelte aber tapfer weiter, womit sie ihn ansteckte. „Ich weiß nur nicht, ob ich es noch kann“, fügte sie unsicher an.

In diesem Augenblick fiel jede Scheu von ihm ab. Ihre eigene Unsicherheit gab ihm Kraft. Wie ihre Vorliebe für Zaubertränke teilten sie sich offensichtlich auch jene spezielle Befangenheit, für die es keinen Grund gab.

„Vielleicht“, er nahm ihre Hand in unmissverständlich romantischer Geste, „sollten wir uns ins Schlafzimmer zurückziehen, um gemeinsam ein wenig“, er küsste ihren Handrücken, „zu musizieren?“

Die Sonne ging auf, aber nicht draußen, wo das Gewitter tobte, sondern in ihren Augen.


Wenn Du Lob, Anmerkungen, Kritik etc. über dieses Kapitel loswerden möchtest, kannst Du einen Kommentar verfassen.

Zurück zur Übersicht - Weiter zum nächsten Kapitel

Twitter
HPXperts-Shop
Buch: Der Heckenritter von Westeros: Das Urteil der Sieben
Top-News
Suche
Updates
Samstag, 01.07.
Neue FF von SarahGranger
Freitag, 02.06.
Neue FF von Laurien87
Mittwoch, 24.05.
Neue FF von Lily Potter
Zitat
Viele professionelle Lektoren in Deutschland haben die phantastische, witzige und originelle Schreibweise von J. K. Rowling entweder nicht wahrgenommen oder haben dafür keine Sensibilität.
Rufus Beck