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Fanfiction

Harry Potter und die Schatten der Vergangenheit - Der magische Anker

von Muggelchen

Die Nächte im Archiv des Gunhilda-von-Gorsemoor-Sanatoriums waren gezählt. Marie hatte gefunden, was sie seit ihrer Ausbildung hier suchte. Die Akte von Mrs. Malfoy, der Mutter von Lucius. Seite für Seite hatte sie die manchmal schlecht lesbaren Diagnosen und Berichte kopiert. Der letzte Hinweis führte zum Abraham Panagiotis Genesungsheim.

Nicht ein bisschen müde war Marie, als sie den Entschluss fasste, das Heim persönlich aufzusuchen. Heute war Sonntag. Viele Familien würden an diesem freien Tag ihre Lieben besuchen. Marie würde nicht auffallen, wenn sie nach Mrs. Malfoy Ausschau halten würde. Ein Brief mit der Anfrage, ob Abélia Estelle Malfoy noch zu den Patienten zählen würde, wäre zu offiziell. Man hätte Maries Adresse, würde Mrs. Malfoy wahrscheinlich auch darüber unterrichten, dass sich jemand nach ihrem Verbleib erkundigt hatte. Es tat nicht weh, persönlich nach dem Rechten zu sehen. Sollte Mrs. Malfoy nicht mehr unter den Lebenden weilen, wäre das die einzige Information, die sie an Lucius weitergeben wollte. Über die schrecklichen Behandlungsmethoden sollte er nichts erfahren. Sie wollte verhindern, dass Lucius ein schlechtes Gewissen bekommen würde.

Marie nahm den Kamin. Direkt angeschlossen am Pförtnerhaus des Genesungsheims lag ein kleines Gebäude, in welchem den Besuchern sechs Kamine zur Verfügung standen. Um dieses Gebäude zu verlassen, musste man am Pförtner vorbei.

„Guten Tag“, grüßte der alte Mann mit Schiebermütze, der nur kurz von seinem Tagespropheten aufblickte. Höflich grüßte Marie zurück, betrachtete dann die vielen kleinen Schubladen, die eine ganze Wand einnahmen. Einige waren verschlossen. Andere standen offen, und ein Metallblättchen mit einer Nummer hing an ihnen herab. Der Pförtner schien Maries Unbeholfenheit bemerkt zu haben. „Sie legen Ihren Stab einfach in eine der Schubladen, schließen sie und nehmen die Nummer ab. Verlieren Sie sie nicht, sonst bekommen Sie Ihren Stab nicht so einfach zurück.“
„Drinnen ist kein Zauberstab erlaubt?“, fragte Marie überrascht.
„Doch, nur nicht den Besuchern. Die Heiler und das Pflegepersonal dürfen Stäbe mit sich führen, nicht aber Patienten und Gäste“, erklärte der Pförtner höflich. „Es gab ein paar“, er zögerte einen Moment, „Unfälle. Wir hatten mit Besucher zu tun, die wollten sich in Sterbehilfe üben.“
„Oh“, macht sie. Ohne zu Murren legte sie ihren Stab in eine der leeren Schubladen und schloss sie. Erst jetzt konnte sie das metallene Plättchen mit der Zahl an sich nehmen.
„Ich habe Sie hier noch nie gesehen“, stellte der Pförtner nüchtern fest. „Suchen Sie jemand bestimmten?“

Eine Menge Antworten schossen Marie durch den Kopf, aber keine davon wollte sie geben, weil sie eine Lüge als Grundlage hätten. Hilflos klammerte sie sich an die Akte, die sie kopiert hatte, dachte einen Moment nach und fand eine Antwort, die sie reinen Gewissens geben konnte.

„Ich wollte mit Mr. Panagiotis sprechen, wenn es möglich ist.“
„Mit dem Boss persönlich?“, hakte er nach. Als sie nickte, spitzte er kurz die Lippen. „Haben Sie auch einen Termin bei ihm?“
Sie kam ins Stottern. „Nein, hab ich nicht. Brauche ich einen?“
„‘türlich, M’am.“ Ihr Mund formte sich zu einem O, doch bevor sie etwas sagen konnte, hob der Pförtner eine Hand. „Einen Moment bitte, Mrs. …?“
„Miss Amabilis.“
„Mmmh“, summte er, als er ihren Namen auf einem fliederfarbenen Stück Papier notierte. „Aus welchem Grund möchten Sie den Leiter sprechen?“
„Es geht allgemein um Patienten, um Einrichtungen wie diese – damals wie heute.“
„Recherche also?“
Marie nickte. „Kann man so sagen.“
„Gut“, murmelte der Pförtner und schrieb etwas auf das Stück Papier vor sich. Als er fertig war, faltete er es und schickte den Papierflieger auf seine Reise. „Nur einen Moment Geduld. Mr. Panagiotis antwortet in der Regel sofort.“

Auf Mr. Panagiotis war Verlass. Er antwortete zwar nicht per magischen Papierflieger, holte Marie dafür aber persönlich vom Pförtnerhäuschen ab.

„Miss Amabilis?“ Der Herr um die sechzig Jahre streckte ihr die Hand entgegen. Das Lächeln, das bis zu den Augen ausstrahlte und dort in lieblichen Fältchen zur Ruhe kam, machte ihr den Mann sofort sympathisch. Sie schüttelte seine Hand und nickte. „Und für welches Blatt schreiben Sie?“
„Bitte?“
„Sind Sie denn keine Journalistin?“ Die Frage beantwortete er sich selbst. „Entschuldigen Sie, wenn ich den Sachverhalt falsch interpretiert habe. Neben den Verwandten kommen nur wenige Menschen hierher. Für was recherchieren Sie, wenn ich fragen darf?“
Mr. Panagiotis bedeutete ihr, ihm zu folgen. „Ich bin ausgebildete Schwester“, begann Marie, „und habe viele Jahre im Mungos gearbeitet. Zurzeit mache ich im Gorsemoor meine Ausbildung zur Heilerin und meinen Legilimentik-Schein.“
„Ah, Sie scheinen sehr begabt zu sein. Leute wie Sie können wir hier gut gebrauchen oder überlegen Sie, im Gorsemoor zu bleiben?“
Der Leiter der Heilanstalt führte sie zum Eingang, während sie erwiderte: „Erst einmal möchte ich die Ausbildung hinter mich bringen.“
„Verständlich, verständlich. Adina …“ Mr. Panagiotis verbesserte, „ich meine Mrs. Gorsemoor. Sie nimmt nicht häufig Auszubildende auf. Sie scheinen sie beeindruck zu haben.“
„Mag sein“, spielte Marie die Situation hinunter, „es könnte aber auch daran liegen, dass ich das Gorsemoor nicht einen Knut koste.“
„Sie haben einen Gönner?“ Marie nickte, woraufhin Panagiotis nur noch mehr strahlte. „Hach, das ist wie in alten Zeiten. Ich hatte damals auch einen älteren Herrn in meinem Umfeld, der meine Ausbildung finanzierte. Ohne ihn würde ich wohl noch immer in einem dunklen Büro dahindämmern. Hier“, er hielt ihr die Tür auf, „treten Sie ein.“

Hier und da waren Besucher zu sehen, wie Marie es sich gedacht hatte. Alte Menschen wurden von ihren Enkeln und Urenkeln begrüßt. Die Stimmung war allgemein sehr fröhlich. Selbst die Heiler und das Pflegepersonal hatten immer ein Lächeln auf den Lippen. Das schien von Mr. Panagiotis abzufärben.

„Wie kann ich Ihnen also weiterhelfen, Miss Amabilis?“
„Ich bin im Archiv des Gorsemoor über einige Akten gestoßen, die bis ins letzte Jahrhundert reichten. Besonders das Schicksal einer Patientin hat es mir angetan. Die dort beschriebenen Behandlungsmethoden …“
Panagiotis verzog das Gesicht. „Eine Schande für die gesamte Heilerschaft, sage ich Ihnen. Was damals für Schundluder getrieben wurde geht auf keine Kuhhaut.“ Ein kurzes Leuchten in seinen Augen kündigte einen Geistesblitz an. „Lassen Sie mich raten. Für Ihre Abschlussarbeit beim Ministerium haben Sie das Thema damaliger Behandlungsmethoden gewählt.“

Eine Redewendung besagte, Lügen hätten kurze Beine. Die von Marie waren lang und das sollten sie auch bleiben. Das von ihr bevorzugte Thema für die Abschlussprüfung wäre eine Abhandlung über die Wirkung von Vergissmich-Zaubern auf die zentral gelegenen Pyramiden-Neuronen und die magische Einwirkung auf die Myelinscheide gewesen. Diese Materie hatte sie gerade eben verworfen.

„Ja“, bestätigte sie schweren Herzens, „meine Abhandlung befasst sich mit ethisch nicht vertretbaren Therapiemaßnahmen in der Geschichte der Zaubererwelt und den heilerischen Einrichtungen, in denen sie durchgeführt wurden.“ Das könnte, wenn sie es richtig anstellte, die Professoren auch beeindrucken.
„Tatsächlich?“, sagte er mit einem Ausdruck des Erstaunens. „Im ersten Moment machten Sie auf mich eher den Eindruck, als würden sie sich eher für Großhirnrinden unter dem Einfluss von Flüchen interessieren. Maries Lächeln war nur angedeutet und verblasste schnell wieder. „Ich zeige Ihnen gern die Verliese. Wir haben noch Überbleibsel der alten Behandlungsmethoden, inklusive eiserner Fesseln, die in den Wänden eingearbeitet sind.“ Er hielt kurz inne und legte einen Zeigefinger auf die Lippen, als er überlegte. „Ich glaube, in Hogwarts gibt es auch noch Fesseln in den Kerkern. Jedenfalls zu der Zeit, in der ich dort zur Schule ging.“
„Mich würde erst ein wenig Theorie interessieren“, sagte Marie. Einen Raum, der an einen Folterkeller erinnerte, wollte sie jetzt nicht besuchen. „Wie schon erwähnt bin ich auf Akten gestoßen …“
„Ja, ja, ich erinnere mich.“ Mr. Panagiotis zeigte auf die Unterlagen, die Marie sich vor die Brust hielt. „Darf ich?“

Bevor sie ihm die kopierte Akte geben konnte, wurden die beiden unterbrochen. Mit einem Arm hatte eine Schwester einen jungen, apathisch wirkenden Mann untergehakt und steuerte auf den Direktor und Marie zu. Mr. Panagiotis strahlte die beiden an.

„Hallo, Seward“, grüßte Mr. Panagiotis den jungen Mann, der trostlos in die Leere blickte. „Geht es zum Quidditch?“ Die Schwester, die den Patienten, den Marie an die zwanzig schätzte, begleitete, nickte zustimmend. „Dann wünsche ich viel Spaß, mein Junge.“ Erst jetzt bemerkte Marie, dass die Augen des Patienten pechschwarz waren. „Cloris besorgt dir bestimmt wieder gebrannte Mandeln. Die magst du doch.“ Es überraschte Marie, als Mr. Panagiotis mit einer Hand das Gesicht des jungen Mannes umfasste und ihm einen Kuss auf die Wange gab.
„Bis dann“, verabschiedete sich Schwester Cloris.

Marie schaute dem jungen Mann hinterher. Sie hatte eine böse Vorahnung. Er lief schleppend, wurde von der Schwester schon beinahe hinterhergezogen wie ein Hund an der Leine. Dieser junge Mann schien keinen eigenen Willen zu haben.

„Er fiel einem Dementor zum Opfer. Da war er neun Jahre alt“, erklärte der Direktor mit mitleidigem Unterton.
„Das ist scheußlich.“ Eine Sache wollte Marie noch ansprechen. „Ich möchte bestimmt keine Kritik an Ihrem Umgang mit Patienten üben, aber finden Sie nicht, dass Sie etwas zu“, sie suchte nach Worten, „intim mit ihm umgegangen sind?“
„Mmmh“, machte er. „Bei jedem anderen Patienten würde ich Ihnen zustimmen, Miss Amabilis. Aber das dort“, mit einer Handbewegung deutete er zu Cloris und dem Patienten, „ist mein Enkel. Nach dem Überfall habe ich ihn bei mir aufgenommen.“ Panagiotis’ Worte machten Marie sprachlos, also übernahm er kurzerhand die Gesprächsführung. „Mein Sohn ist damit überfordert, deswegen kümmere ich mich um ihn.“ Nach kurzem Zögern fügte er hinzu, als hätte er es vergessen: „Und natürlich auch um alle anderen, die sein Schicksal teilen. Ich suche nach Möglichkeiten, ihn von dem Leiden zu heilen, das er selbst nicht einmal spüren kann. Er fühlt gar nichts. Keine Freude, keinen Zorn. Er verfügt nicht einmal über ein Hunger- oder Schmerzgefühl.“ Mr. Panagiotis begann zu gehen und drehte sich zu Marie, damit sie ihm folgen würde. „Ich bin nur froh, dass das Ministerium davon absieht, diese schrecklichen Dementoren wieder als Vollstrecker einzusetzen. Das ist unmenschlich. Kein Verbrecher hat das verdient, egal wie grauenvoll seine Taten waren. Es ist gut, dass Mr. Weasley nun das Sagen hat. Er ist ein hervorragender Minister.“
„Ja“, flüsterte sie, bis sie sich räusperte und endlich ihre Stimme wiederfand. „Ich bin auf die neuen Gesetze gespannt. Es soll den Werwölfen gegenüber einige Großzügigkeiten geben.“
„Wir haben einen hier“, warf Mr. Panagiotis unerwartet ein. „Einen Werwolf“, verdeutlichte er. „Der Arme ist seit dem Biss in den Nacken rechtsseitig und ab der Hüfte abwärts gelähmt. Er wurde von seiner Familie verstoßen.“

Mr. Panagiotis führte Marie in einen Gemeinschaftsraum, der allerdings nicht gut besucht war, weil die meisten Patienten bei dem schönen Wetter draußen an der frischen Luft ein wenig Abwechslung suchten. Einige ältere Herrschaften trafen sie hier an, deren Knochen für einen Spaziergang zu müde waren. Nur wenige waren allein und lasen ein Buch, wie der Herr in der Ecke oder strickten an einer Jacke, wie die Frau am Fenster.

„Wir legen viel Wert darauf, dass die Familienmitglieder und Freunde die Patienten nicht sich allein überlassen. Soziale Kontakte sind sehr wichtig für die Genesung. Dabei ist völlig egal, welche Leiden die Patienten ertragen müssen.“

Mr. Panagiotis wollte diesen Unterschied festhalten. Während damals viele Menschen in Heime abgeschoben wurden, weil sie ihrer Familie peinlich oder lästig waren, kümmerten sich die Familienangehörigen heutzutage su gut es ging um ihre kranken Onkel, Väter und Schwestern. Man hörte ein helles Kinderlachen. Marie und Mr. Panagiotis schauten zum Verursacher. Ein kleines Mädchen, das von ihrer gebrechlichen Uroma etwas Schokolade geschenkt bekam.

Vorsichtig tastete Marie sich an das Thema Mrs. Malfoy heran. „Werden alle Patienten Ihrer Einrichtung regelmäßig besucht?“
Der Direktor schüttelte den Kopf. „Leider gibt es einige, die verstoßen wurden. Es ist, als hätten sie gar keine Familie mehr. Der Herr da hinten“, er zeigte zu dem alten Mann, der gerade eine Seite des Buches umblätterte, „ist ein Squib, stammte aber aus einer durch und durch reinblütigen Familie. Sein Schicksal hat ihn sozusagen zur Waise gemacht. Er kennt niemanden aus seiner Familie, nicht seine Mutter, nicht seine Geschwister. Ein Trauerspiel.“
„Und die Dame, deren Akte ich kopiert habe?“
„Ah ja“, er nahm von Marie die Akte entgegen und blätterte in ihr. Hier und da verzog er unmerklich das Gesicht, bis sein Mitgefühl unmissverständlich zum Ausdruck kam. „Der Dame geht es ähnlich.“
Maries Herz schlug mit einem Male schneller. „Das heißt, sie lebt noch?“
„Aber sicher. Der Frau fehlt ja nichts weiter. Bis auf ein paar Zipperlein, die man im Alter so bekommt, ist sie kerngesund.“
„Warum ist sie denn hier?“
Mr. Panagiotis schien erst nicht antworten zu wollen, gab sich aber einen Ruck. „Wie schon erwähnt wurden manche Patienten von ihren Familien verstoßen. Mrs. Malfoy hatte keine Chance, nach ihrem langen Krankenhausaufenthalt im Gorsemoor irgendwo eine Anstellung zu bekommen, zumal … Ich denke, Sie sollten mir ihr selbst reden. Mit weiteren Auskünften würde ich gegen die Schweigepflicht verstoßen. Ich bitte Sie nur, gehen Sie behutsam vor. Die alten Tage hat Mrs. Malfoy längst vergessen. Es wäre unverantwortlich, so lange nachzubohren, bis sich womöglich noch ihre Gemütsstimmung verschlechtert.“
„Ich werde mich vorsichtig herantasten, Mr. Panagiotis. Keine Sorge. Wo ist Mrs. Malfoy gerade?“
„Sie wird draußen sein. Auch wenn sie selbst keinen Besuch bekommt, so will sie nie die Freude verpassen, wenn andere Patienten auf ihre Verwandten treffen. Ich begleite sie nach draußen.“

Während Marie an diesem Sonntagmorgen schon früh auf den Beinen war, hatte sich Hermine erst recht spät dazu überwunden, das warme Bett und damit auch Severus zu verlassen, um Frühstück vorzubereiten. Sie ließ ihn nach dem feuchtfröhlichen Abend lieber noch schlafen.

Ohne jegliches Zeitgefühl wachte Severus durch die Sonne auf, die ihm ins Gesicht schien. Mürrisch drehte er sich zur anderen Seite. Sein Kopf schmerzte. Außerdem drückte seine Blase. Beides hinderte ihn daran, noch ein wenig Schlaf zu finden. Nur widerwillig stand er auf und wurde sich erst jetzt des Resultats bewusst, das ein übermäßiger Alkoholgenuss mit sich brachte. Er hatte ein flaues Gefühl im Magen, sein Schädel brummte und das allgemeine Wohlbefinden befand sich weit unter dem grünen Bereich. Allein der Gedanke an Essen verursachte Übelkeit. Einen Moment lang saß er an der Bettkante und konzentrierte sich auf seine Atmung. Er musste sich selbst dazu überreden, endlich aufzustehen, was er nach dem dritten Versuch auch tat. Schleppend bewegte er sich zur Tür, die Hermine geschlossen haben musste, damit der Hund ihn in Ruhe ließ. Das Bad war zum Glück nicht besetzt. Nachdem die Blase Erleichterung erfahren hatte, putzte sich Severus die Zähne, und um das sandpapierartige Gefühl loszuwerden, die Zunge gleich mit. Zurück im Schlafzimmer zog er sich mühsam an. Unterhose, Socken, Hose, Hemd. Danach hatte er von Knöpfen die Nase voll und beließ es bei dem weißen Hemd.

Vorsichtig tastete er sich die Treppe hinunter und spähte in die Küche. Bis auf den frisch durchgelaufenen Kaffee und das hergerichtete Frühstück befand sich hier nichts. Keine Hermine. Aus dem Labor hörte er plötzlich das Klimpern von Glas. Die Tür war angelehnt.

Hermine war gerade dabei, einen frisch gebrauten Trank gegen die Vergiftungserscheinungen durch Alkohol in ein Glas umzuschöpfen, da hörte sie die Tür hinter sich quietschen.

„Guten Morgen, Severus. Wie geht es dir?“
„Mmmh“, brummte er zurück.
„Es wird dir gleich besser gehen.“ Sie hielt kurz das Glas hoch, in das sie noch eine Kelle Zaubertrank füllte. Mit einem Zauberspruch kühlte sie den Trank und hielt ihn ihm entgegen. „Gegen den Kater. Danach frühstücken wir.“
„Ich bekomme nichts runter.“
„Nach dem Trank schon. Er ist unter anderem appetitanregend.“

Hermine behielt Recht. Nach Einnahme des Tranks aß Severus mehr als sonst. Wenn sie ehrlich zu sich war, könnte er ein paar Pfunde mehr vertragen. Seine sonst wallende Kleidung versteckte üblicherweise den dürren Körper, den man nun durch das weiße Hemd deutlich erkennen konnte. Das Frühstück tat ihm gut. Mehrmals blickte er zu Hermine hinüber, schien dabei etwas zu überdenken. Vielleicht, so dachte sie, plante er etwas für heute.

Als sie nach dem Essen an dem Spülbecken stand, legte er unerwartete seine Arme um ihre Taille. Sein Kinn ruhte auf ihrer Schulter. Der Abwasch könnte auch später erledigt werden, entschied Hermine, als sie sich in seinen Armen umdrehte. Sie lächelte ihn breit an. Langsam näherten sich ihre Lippen einander und dann, als beide innerlich übereingekommen waren, mit welcher Aktivität sie den heutigen Tag verbringen wollten, klopfte es an der Ladentür.

„Was dagegen, wenn ich den Störenfried umbringe?“, fragte er mit überfreundlichem Tonfall.
„Ach, das habe ich ja ganz vergessen.“ Sie legte ihre Finger auf die Lippen. „Harry wollte vorbeikommen.“ Man konnte heraushören, dass es ihr leid tat.
Ein gemartertes Seufzen stellte Severus’ Kommentar dar, bevor er anfügte: „Dann solltest du ihm öffnen.“

Vor der verschlossenen Ladentür stand Harry mit Nicholas an der Hand, der seine kleine Nase an die Scheibe presste. Als der Junge Hermine sah, begann er heftig zu winken, was Hermine erwiderte.

„Hallo Harry, hallo Nicholas, mein Süßer.“ Der Junge bekam einen Kuss auf die Wange. Harry hingegen wurde umarmt. „Kommt doch in die Küche.“
Dort trafen sie auf Severus, der gemächlich an seiner vierten Tasse Kaffee schlürfte. „Guten Morgen, Severus“, grüßte Harry.
„Es wird sich noch zeigen, ob der Morgen gut ist“, kam es unwirsch zurück.
Harry blickte unsicher zu Hermine, dann wieder zu Severus. „Stören wir?“
Bevor Severus antworten konnte, verneinte Hermine. „Setz dich, Harry. Ich hole nur meine Tasche.“
Den Moment nutzte Severus, um Harry auszufragen. „Um was geht es denn?“
„Keine Ahnung. Hermine hat Ginny heute früh gefloht, dass ich kommen soll, wenn ich Zeit habe.“

In Windeseile war Hermine zurück. Sie legte einige Unterlagen auf den Tisch. Nicholas fand derweil Interesse an der Klinke der Tür, die zum Keller führte, doch er kam nicht ran, egal wie groß er sich machte.

„So, Harry. Zu deiner gestrigen Frage …“
„Moment!“ Er hielt beide Hände in die Höhe. „Um was geht es?“
„Um das Haus, schon vergessen?“
„Du willst mir erzählen, du hast gestern Abend schon nachgeforscht und hast eine Antwort erhalten? Das ist selbst für dich schnell.“
Gelassen hob und senkte Hermine die Schultern. „Das war doch nichts Schweres, Harry. Ich war in der Bibliothek und …“
„Die haben am Samstag doch ab 18 Uhr geschlossen“, warf Harry misstrauisch ein.
„Ich bin mit den Mitarbeitern dort per Du. Wenn ich anklopfe, haben sie geöffnet.“ Unbeirrt blätterte sie in ihren Unterlagen. „Einen Billy gab es nie.“
„Ha“, triumphierte Harry, „ich hab gewusst, dass das alles Humbug ist.“
„Ist es nicht, es gab nämlich einen William Godwin, und wie du sicherlich weißt, ist Bill, beziehungsweise Billy eine Kurzform von William.“
„Oh.“ Sofort war Harry wieder kleinlaut.
Severus konnte dem Gespräch nicht folgen. „Darf ich kurz fragen, wer William Godwin ist?“
Eine Antwort gab Harry. „Es geht um das Haus, du weißt schon. Das mit dem Haken. Angeblich soll dort ein Geist umgehen, deswegen ist es so billig.“
Den Rest der Erklärung übernahm Hermine. „Als wir gestern bei den Longbottoms waren, hat Harry mir davon erzählt und im gleichen Atemzug gefragt, ob ich mal ‚in meinen Büchern‘ nachschauen kann, ob ich was herausbekomme.“
„Ah, jetzt bin ich im Bilde. Weiter geht’s!“ Severus winkte Hermine zu, damit sie Harry ihre Ergebnisse mitteilen konnte.
„Ich habe mich bei Percy wegen der Regelung informiert. Geister müssen nur registriert sein, wenn sie mehr als insgesamt dreißig Minuten im Jahr zu sehen sind. Entweder ist Billy ein sehr zurückgezogen hausender Geist oder er existiert dort illegal. Ich tippe auf Ersteres.“ Sie schob Harry ein Stück Papier zu. „Dass es in dem Haus nicht mit rechten Dingen zugeht, beweist meines Erachtens diese Liste.“
Harry überflog die Auflistung. „Was ist das? Hier stehen nur Namen und zwar eine ganze Menge.“
„Das ist die Liste aller Vorbesitzer. Wie du sehen kannst“, sie zeigte auf die Daten unter den Familiennamen, „ist niemand länger als ein Jahr dort geblieben, bis auf eine Familie. Diese Familie war die einzige Zaubererfamilie. Sie blieben sechs Jahre, bis die Familienplanung so sehr zuschlug, dass sie wegen Platzmangels umziehen mussten. Die anderen waren allesamt Muggel.“
„Woher weißt du, dass sie wegen Familienzuwachs ausgezogen sind und nicht, weil der Geist ihnen auf die Nerven ging?“, wollte Harry wissen.
„Weil ich sie gefragt habe. Die Familie steht im Flohbuch. Mrs. Spiner hat kürzlich ihr achtes Kind zur Welt gebracht. Damals sind sie noch vor Geburt des fünften ausgezogen. Der Geisterjunge existiert, sagte sie, aber er hätte sie und ihre Kinder nie gestört.“
„Mmmh“, summte Harry nachdenklich. „Und was weiß man über Billy? Ist er in dem Haus gestorben?“
„Dafür musste ich Percy und Kingsley um Hilfe bitten. Diese Unterlagen“, sie reichte ihm Kopien, die heute früh mit einer Eule gekommen waren, als Severus noch selig döste, „waren im Archiv zu finden. William Godwin – Billy – erkrankte an Drachenpocken …“
„Und ist daran gestorben“, vervollständigte Harry.
„Nein, er konnte geheilt werden. Nachdem er entlassen wurde, erlaubte ihm seine Mutter ausnahmsweise, im See zu baden. Er bekam im Anschluss eine schwere Lungenentzündung. Die ganze Familie war an seinem Bett, als er Wochen später starb. Die Mutter konnte es sich nicht verzeihen. Sie wollte ihm nach dem langen Krankenhausaufenthalt nur eine Freude machen.“ Sie reichte Harry ein dünnes Buch. „Hier, das Buch hat einer von Billys Brüdern geschrieben. Ein schönes Märchen, das mich an Peter Pan erinnert. Nicht inhaltlich, aber mit dem Hintergrund, dass der Autor seinen Bruder in Form dieser Geschichte unsterblich machen wollte. Lies die Widmung.“
Harry schlug das Buch mit dem Titel Der magische Anker und las laut vor: „Für William, dessen schützenden Hände das Dach über unserem Kopf sind.“ Harry überlegte kurz. „Das heißt, dass schon der Bruder von dem Geist wusste.“
„Das Buch, das du in den Händen hältst, hat James Godwin ganze 58 Jahre nach Billys Tod herausgebracht. Er hat mit dem Geist seines Bruders Jahrzehnte lang zusammengewohnt. Außerdem besagt die Widmung, dass Billy nicht nur das Haus schützt, sondern das Zuhause. Er ist familienbezogen. Wer dort einzieht, wird von dem Geist des Hauses beschützt.“
Harry schaute Hermine in die Augen. „Würdest du dort leben wollen?“ Er selbst würde bejahen.
„Warum nicht? Ich habe weder was gegen Kinder noch gegen Geister.“
„Und du, Severus?“
Severus wandte seinen Blick von Nicholas ab, der mittlerweile den Stuhl neben Severus erklimmen wollte und dabei seine Anstrengung mit ächzenden Lauten verkündete. „Ich weiß genügend Zaubersprüche, um ungebetene Gäste von bestimmten Zimmern fernzuhalten.“
„War das ein Ja?“
Severus hob eine Augenbraue. „Warum ist dir meine Meinung überhaupt wichtig?“
Harry druckste erst herum. „Na ja, vielleicht kann ich dann Ginny umstimmen.“
„Ein Ratschlag, Harry“, Hermine tippte mit einem Zeigefinger auf das Buch, „lies es zusammen mit Ginny. Sie wird ihre Meinung bestimmt ändern.“
„Ich und lesen“, mäkelte Harry, womit er sich von Hermine einen Rüffel einfing.
„Du wirst doch wohl noch 120 Seiten schaffen.“
„Ist ja gut.“ Das Buch und die Unterlagen steckte Harry ein, was Severus beobachtete.
„Hermine?“ Sie schaute zu Severus. „Du solltest überlegen, dafür Geld zu nehmen.“
„Für Recherchen?“
„Ja, das wäre sicherlich ein guter Nebenverdienst.“
Harry hatte natürlich mitgehört und klopfte mit beiden Händen seinen Umhang ab. „Ich hab nichts bei mir. Schreibst du auch an?“
Ein warmes Lächeln zeichnete sich auf ihren Lippen ab. „Aber sicher, Harry.“
Harry lachte. „Ich frage mich sowieso, wie du so schnell an Informationen kommen konntest.“
„Ach, das war doch keine Herausforderung. Es ging nicht um verbotene Trankzutaten oder um umständliche Arithmantikberechnungen. Ich musste nur wissen, wo ich nachschauen muss, das war alles.“
„Das war alles“, wiederholte Harry ungläubig. „Ich hab’s auch versucht, ehrlich! Ich bin in die Bibliothek gegangen“, er hob beide Hände und ließ sie kraftlos fallen, „und bin gleich wieder rückwärts raus. Die vielen Bücher haben mich einfach eingeschüchtert.“
„Bücher, Harry, sind deine Freunde“, scherzte Hermine.
„Deine Freunde“, verbesserte er. „Ich hätte nicht gewusst, wo ich nachschauen soll.“

Severus hielt sich aus dem Gespräch heraus, weil Nicholas nun endlich neben ihm saß und es wagte, Blickkontakt mit ihm herzustellen – und vor allem aufrechtzuerhalten. Egal wie böse Severus dreinschaute, der Junge blickte nicht weg, grinste ihn stattdessen furchtlos an. Man konnte schon ein paar Milchzähne sehen – und jede Menge Speichel.

„Hast du gesehen“, begann Harry, „dass das Gebäude gegenüber von Gringotts leersteht?“
„Ja“, sagte Hermine lang gezogen, weil sie skeptisch wurde. „Warum interessieren dich Geschäftsräume?“
„Tun sie doch gar nicht“, hielt Harry halbherzig dagegen.
„Ach, dann fällt dir das einfach so auf?“ Weil er lediglich nickte, erzählte sie, was sie darüber wusste. „Das Gebäude gehört der Bank. Sie vermieten es, aber offenbar nicht an jeden. Ich weiß zum Beispiel, dass Zonkos sich um die Räumlichkeiten bemüht hat, um in direkter Konkurrenz mit Weasleys Zauberhafte Zauberscherze zu stehen. Gringotts hat abgelehnt, wie bei jedem anderen auch. Ich frage mich, was die Kobolde vom Mieter erwarten.“
„Meinst du, ich würde die Räume bekommen?“
Mit ihrem Blick nagelte Hermine Harry am Stuhl fest. „Kein Interesse, wie?“

Severus hörte aufmerksam zu, auch wenn Nicholas ständig versuchte, nach seinen Händen zu greifen. Er erinnerte sich an ein Gespräch mit Harry, das gar nicht so lange zurücklag. Das behandelte Thema war die Tatsache, dass Harry wegen Nicholas Zuhause bleiben wollte, weil Ginny bei Eintracht Pfützensee einsteigen wollte. Im gleichen Atemzug erzählte Harry davon, dass es in der magischen Welt keine Kindergärten geben würde. Damals hatte Severus das Gefühl gehabt, Harry hätte irgendwas in genau diesem Moment begriffen, für sich selbst eine Entscheidung getroffen. Jetzt glaubte Severus zu wissen, was Harry damals für einen Gedanken verfolgt hatte.

„Du willst dich selbstständig machen?“, fragte Severus geradeheraus, ließ seinen Blick aber nicht von Nicholas ab, der auf dem Küchentisch versuchte, mit seiner kleinen Hand die Finger von Severus zu fangen, die auf mysteriöse Weise immer schneller waren als er selbst.
„Was?“ Hermine war völlig überrascht, wandte sich an Harry. „Stimmt das?“
„Mann, das ist nur eine Überlegung.“ Verlegen kratzte sich Harry am Hinterkopf. „Ich darf doch wohl noch über etwas nachdenken.“
„Mit was genau möchtest du dich selbstständig machen?“, wollte sie wissen, bis es bei ihr Klick machte. „Eine Art Kindergarten?“ Sie wartete eine Reaktion seinerseits ab, die er mit einem kurzen Nicken gab, gefolgt von einem unsicheren Schulterzucken. „Also deswegen hast du mich ausgefragt, was es außer Heimen noch für Einrichtungen für Kinder gibt.“
„Ich muss mich doch informieren. Erzählt das aber bitte nicht weiter, falls das alles nichts werden sollte.“
Diesmal mischte sich Severus in das Gespräch mit ein. Er schaute Harry direkt in die Augen, als er seine Meinung preisgab. „Warum sollte es nichts werden? Deine Idee ist in der magischen Welt einzigartig. Sicherlich sprichst du die eine oder andere Familie damit an. Fraglich ist nur, ob du Informationen über Muggelgeborene bekommst, bevor sie offiziell ihren Brief von Hogwarts erhalten.“
Leise gestand Harry: „Darüber habe ich schon mit Arthur geredet. Er meint, ich würde Einsicht in die magische Kartei der muggelgeborenen Zauberer und Hexen bekommen.“
Hermine traute ihren Ohren kaum. „Von wegen, du denkst nur darüber nach. So wie es aussieht, planst du schon fleißig.“
„Ich informiere mich doch nur! Das ist ein großer Unterschied“, verteidigte sich Harry.
Plötzlich hörte man Nicholas laut lachen. Er hatte, weil Severus abgelenkt war, endlich dessen Hand gefangen und giggelte deshalb unaufhörlich. Severus schüttelte nur den Kopf. „Darüber freust du dich wohl noch“, sagte er zu dem Jungen, der auf seine fröhliche Art bejahte.
„Wenn er stören sollte …“ Harry bot an, Nicholas auf den Schoß zu nehmen, doch Severus winkte ab.
„Momentan ist er in einem Alter, in welchem er nicht absichtlich auf die Nerven geht. Das kommt erst später“, Severus warf Harry einen bedeutungsvollen Blick zu, „so mit elf Jahren“.

Mit einem vorgetäuschten Schmollen kommentierte Harry die Worte. Unerwartet hörte man ein Geräusch am Küchenfenster. Hermine schaute hinüber.

„Eine Eule? An einem Sonntag?“, fragte sie in den Raum hinein. Mit seinem Stab öffnete Severus das Fenster und eine braunweiße Sperbereule flog bis zum Tisch. Von dem Anblick war Nicholas hellauf begeistert. Er wollte nach dem Vogel greifen, quiekte dabei munter.
„Nicht, Nicholas“, mahnte Harry, bevor er sich an Severus wandte. „Er liebt Tiere.“
Nicholas schlug Töne an, die die Ohren klingeln ließen. Vorsichtig nahm Severus den Brief entgegen. Die Eule erwartete keine Bezahlung und flog wieder davon. „Vom Ministerium“, murmelte Severus. Neugierig öffnete er den Umschlag. „Von Kingsley.“ Es waren einige Seiten Pergament, die Kingsley ihm geschickt hatte. Damit Hermine im Bilde war, erklärte Severus: „Auszüge aus dem neuen Gesetzesbuch. Es handelt sich um die Regelung, zum Wohle der Allgemeinheit mit Blut experimentieren zu dürfen.“ Niemand außer Mr. Worple und der Vampir Sanguini wussten von dem Bluttrank, an dem Severus arbeitete.
Hermine machte sich ein wenig Sorgen. „Warum schickt Kingsley dir das?“
„Er ist Auror, und dazu auch noch ein guter. Er wird es herausbekommen haben. Vielleicht noch damals von Caedes.“
Wie von selbst legte Hermine eine Hand auf die Stelle am Hals, wo sie gebissen wurde. „Erinnere mich bloß nicht an den.“
Severus überflog die Texte. „Ich werde beizeiten meine Papiere fertigstellen, damit ich gleich an dem Tag, an dem die Gesetze in Kraft treten, das Patent für den Bluttrank anmelden kann.“
Harry musste lächeln. „Ist doch schön, dass er an euch denkt.“

Nach einer Weile verabschiedete sich Harry. Zusammen mit Nicholas besuchte er noch Fred und George, die ihrem Neffen Dummheiten beibringen wollten. Zum Glück war Nicholas noch zu klein, um bestimmte Begriffe nachsagen zu können. Ginny würde ihn umbringen, sollte Kotzpastille das erste Wort des Jungen darstellen.

Zuhause wartete ein anderer Weasley auf Harry, doch es handelte sich nicht um Ginny. Die war jetzt erstens eine Potter und zweitens hatte sie sich für heute mit ihrer Mutter verabredet.

„Hi Ron! Was hat dich denn hierher verschlagen?“
Ron schenkte ihm ein nicht ernst gemeintes Lächeln, knetete dabei eine Zeitung mit der Hand. „Weißt du eigentlich, dass du es nur Angelinas Verführungskünsten zu verdanken hast, dass ich dich nicht mehr töten möchte? Heute morgen war das noch mein erster Gedanke.“
Von der Morddrohung nicht im Geringsten aus dem Konzept gebracht zog Harry dem Jungen die Jacke aus und fragte nebenher: „Wieso, was ist denn passiert?“
„Das ist passiert.“

Ron entfaltete die dicke Sonntagsausgabe des Tagespropheten. Auf Anhieb konnte Harry auf dem Bild Viktor Krum erkennen. Die erste Schlagzeile lautete „Spieler aller Welt: Aufgepasst!“. Die Worte verblassten und machten Platz für die Schlagzeile, die Ron heute Morgen wahrscheinlich beinahe einen Herzinfarkt beschert hatte.

Laut las Harry vor: „Viktor Krum – kaum genesen und schon auf dem Besen.“ Ein beklemmendes Gefühl wollte sich in seiner Magengegend ausbreiten, doch er wollte erst in Erfahrung bringen, was der Tagesprophet zu berichten hatte, bevor er seine Sachen packte, um sich auf einer einsamen Insel zu verstecken. Harry nahm die Zeitung entgegen und las: „Wir alle kennen Viktor Krum. Schon mit 18 Jahren war er einer der begehrtesten Quidditch-Stars. Der damalige Sucher der Bulgarischen Nationalmannschaft fing 1994 während der Weltmeisterschaft den Schnatz und machte sich damit vollends einen Namen als vielversprechendes Nachwuchstalent. Als Krum während des Krieges seine alte Schule Durmstrang gegen Todesser verteidigte, stürzte er vom Dach. Die tragische Diagnose: Ein komplizierter Beckenbruch ohne Hoffnung auf vollständige Genesung. Der Traum vom Quidditch schien ausgeträumt. Ganz konnte Krum die Finger jedoch nicht von den geliebten Rennbesen lassen. Sehr bald kooperierte er mit Devlin Whitehorn, dem Firmengründer von Nimbus Rennbesen. Fortan kümmerte sich Krum um neusten Entwicklungen und deren Vermarktung. Mit seiner Ehefrau hat er zwischenzeitlich sechs Kinder in die Welt gesetzt. Erst letzte Woche fühlte sich Krum nach eigener Aussage wieder fit genug, um die Strapazen einer Reise nach Schottland in Kauf zu nehmen, um bei Harry Potters Hochzeit mit Ginevra Weasley, der Tochter des Zaubereiministers, anwesend zu sein (wir berichteten). Aufgrund seiner guten, körperlichen Verfassung ließ er sich nach der Rückkehr erneut von Kopf bis Fuß untersuchen. Die Heiler stellten fest, dass das Becken über die Jahre komplett ausgeheilt ist. Krums erste Handlung war daraufhin, sich bei der Bulgarischen Nationalmannschaft vorzustellen. Man hat ihn mit Handkuss aufgenommen. Viktor Krum ist zurück (weiter auf Seite 3).“

Den Artikel der ersten Seite ließ Harry einen Moment sacken. Jeder würde herauslesen, dass es Viktor schon vor der Hochzeit gut ging. Er war aus dem Schneider.

„Vielen Dank, Harry“, spottete Ron. „Du hast einen Berserker auf die Quidditch-Welt losgelassen.“
„Ein bisschen Konkurrenz schadet euch doch nicht“, spielte Harry die Situation herunter.
„Du hast gut reden, du musst ja nicht gegen eine Mannschaft antreten, die ihn als Sucher hat. Weißt du, gegen wen wir im September spielen?“
Unschuldig dreinblickend fragte Harry: „Bulgarien?“
„Richtig! Oh Mann, wir werden haushoch verlieren“, Ron seufzte, „und das ist deine Schuld.“
Daraufhin musste Harry lachen, weil Ron es nur halb so ernst meinte wie es klang. „Ich finde es gut, dass er wieder spielt.“
„Ich würd’s gut finden“, warf Ron ein, „wenn du wieder spielst.“
„Nein, man würde mich nur nehmen, weil ich eine bekannte Persönlichkeit bin und nicht, weil ich gut spiele.“
„Quatsch“, wiedersprach Ron. „Man würde dich als Unterhaltungskünstler einstellen. Du kannst den Schnatz immerhin mit dem Mund fangen. Wenn das nicht für Belustigung sorgt …“
„Ich hätte das blöde Ding damals fast verschluckt, Ron!“
„Du hast eben alles gegeben, warst mit vollem Einsatz dabei. Du wärst bestimmt ein toller Spie…“
„Ron, ich möchte nicht. Ich habe was anderes im Kopf.“ Ron nickte. Er würde Harry deswegen nicht länger auf den Geist gehen. „Bist du nur gekommen, um mir wegen Viktors Rückkehr zum Sport den Hals umzudrehen?“
„Nah“, machte Ron lang gezogen. „Angelina wollte zu ihren Eltern und, na ja, ich komme mit denen noch nicht so gut klar. Sie hatte nichts dagegen, dass ich mir die Zeit anders vertreibe, also bin ich hergekommen. Und?“ In freudiger Erwartung auf ein kleines Abenteuer schlug sich Ron auf die Oberschenkel und grinste breit. „Was wollen wir unternehmen? Uns im Verbotenen Wald rumtreiben?“
„Du vergisst, dass ich auf Nicholas aufpassen muss. Ich werde ihm nicht von Anfang an Unsinn beibringen“, mahnte Harry.
„Ich würde ihn nicht schonen. Dann kommt er auch viel besser mit seinen vielen Onkeln zurecht.“ Weil Harry den Kopf schüttelte, seufzte Ron. „Dann nehmen wir ihn mit.“
„Geht nicht, er muss gleich seinen Mittagsschlaf halten.“
„Mmmh“, brummte Ron missgelaunt. „Kann der nicht mal ausfallen?“ Wortlos verneinte Harry. „Kann dann nicht einer von deinen Hauselfen auf ihn aufpassen?“
„Das geht nicht. Heute ist Sonntag. Die beiden haben frei.“
Rons Augen wollten aus den Höhlen treten. „Ich höre wohl nicht recht! Den ganzen Tag haben sie frei?“ Harry nickte. Im Gegensatz dazu schüttelte Ron den Kopf. „Er kann doch mal eine Ausnahme machen. Ich habe nicht oft die Zeit, dich zu besuchen, Harry. Das müssen wir ausnutzen. Frag ihn doch mal!“ Ohne Vorwarnung begann Ron, nach Harrys Elf zu rufen. „Wobbel? Wooobellll!“
„Lass es sein.“
„Nein, er kann dir den Gefallen tun – oder mir. Wobbel!“ Der Elf kam nicht und Ron wurde lauter und hackte den Namen in zwei Teile. „Wo-bbel!“
Von seinem Onkel dazu animiert hörte man Nicholas leise sagen: „Obbel.“
„Was sagst du?“, fragte Harry erstaunt nach, ging dabei in die Knie.
„Wobbel“, sagte Nicholas und feixte sich einen, weil er seinen Vater in Erstaunen versetzt hatte.

Ein Geräusch war zu hören, das die Ankunft eines Hauselfs per Apparation ankündigte. Mit glänzenden Augen blickte Wobbel auf Nicholas, der nochmal seinen Namen sagte. Verzückt legte der Elf die Hände ineinander und versuchte dabei, die Krokodilstränen zu unterdrücken, die ihm entweichen wollten. Wobbels Blick fiel auf den seines Herrn. Unerwartet ließ der Elf die Ohren hängen, schaute beschämt zu Boden.

„Ich werde dann mal den Kamin reinigen“, sagte Wobbel und trottete geknickt davon.
„Halt! Bleib hier.“ Sofort machte der Elf kehrt und ging zu Harry hinüber. Er wagte es nicht, ihm in die Augen zu sehen und wappnete sich innerlich für die Schelte, die kommen musste. „Er hat deinen Namen gesagt.“ Harrys Elf nickte, schaute aber noch immer nicht auf. „Freust du dich denn gar nicht?“
„Natürlich freue ich mich, Sir. Es ist mir sogar eine große Ehre. Außerdem ist es von Vorteil, dass der Junge meinen Namen kennt. Nur so kann er nach mir rufen. In möglichen Gefahrensituationen, in die der jungen Mr. Potter hoffentlich niemals geraten wird, wird es sehr nützlich sein.“
Harry lächelte milde. „Ich finde es klasse, dass er sein erstes Wort gesprochen hat. Nur schade, dass Ginny nicht hier war.“
„Dafür hab ich’s gehört“, verkündete Ron stolz.
„Ich bin nur froh“, begann Harry, als er sich direkt an Wobbel wandte, „dass er deinen Namen als erstes Wort gesagt hat und nicht Kotzpastille.“
„Os-ti-le“, sagte Nicholas nach, woraufhin sich Harry erschrocken eine Hand vor den Mund hielt.
„Vergiss das wieder“, riet er Nicholas und fuchtelte dabei wild mit seinen Händen umher, „sonst wächst du nachher noch ohne Papi auf, wenn Mama davon erfährt.“
„Ha“, lachte Ron, „du warst vorhin bei Fred und George, oder?“
„Woher weißt du das?“, fragte Harry mit einem Grinsen auf den Lippen.
„Weil ich ihr Vokabular kenne.“ Ron erhob sich von der Couch und kniete direkt vor dem Elf nieder. „Hör mal, Wobbel. Ich weiß, dass wir einen schlechten Start hatten, weil ich mich über deinen Namen lustig gemacht habe. Aber ich habe mich auch entschuldigt.“ Ron wartete eine Bestätigung ab, die Wobbel ihm mit einem Nicken gab. „Ich wollte dich um etwas bitten. Würdest du, auch wenn du heute frei hast, auf Nicholas aufpassen? Ich wollte mit Harry ein bisschen was unternehmen.“
Wobbel wusste, dass die beiden Freunde sich selten sahen, was an den unterschiedlichen Berufen liegen mochte. „Von mir aus, Sir.“
„Echt?“ Wobbel nickte, woraufhin Ron ihm auf die Schulter schlug. „Danke, Mann. Das ist echt nett von dir.“ An Harry gewandt fragte Ron: „Was wollen wir unternehmen? Uns von Hagrid neue Monster zeigen lassen?“
Der Enthusiasmus seines Freundes brachte Harry zum Lachen. „Von mir aus können wir Hagrid besuchen.“

Die beiden kamen gerade mal bis zur Tür, als eine Eule an die Scheibe klopfte und Einlass begehrte. Harry wurde skeptisch. Er fragte sich, ob Kingsley womöglich auch ihm einige Auszüge aus den Gesetzen schicken wollte, doch zu welchem Thema? Harry nahm den Brief der Eule entgegen. Auch sie wollte, wie die Eule bei Severus, keine Bezahlung haben.

„Von wem ist der?“, wollte Ron wissen.
Den Umschlag öffnete Harry, damit er die Karte lesen konnte. „Malfoy.“
„Was will Draco?“
„Nein, Lucius Malfoy.“ Harry rümpfte die Nase. „Und er lädt Ginny und mich zu seinem“, er stockte kurz, „fünfzigsten Geburtstag ein.“
„Das ist bestimmt eine Falle, Harry“, warnte sein Freund.
„Unfug, warum sollte er mich in eine Falle locken? Ich bin mir sicher, er hat auch Severus eingeladen.“
„Das würde ich ja noch verstehen, aber warum dich?“
Harry atmete tief durch. Mit Lucius Malfoy umzugehen lag ihm noch immer nicht. „Weil ich der Patenonkel seines Enkelsohnes bin. Einen anderen Grund kann ich mir nicht vorstellen.“
„Ich mir schon.“ Höchste Vorsicht schwang in Rons Worten mit. „Pass an dem Abend bloß auf, was du zu dir nimmst. Nicht dass du wie ich im sechsten Schuljahr mir nichts, dir nichts keuchend auf dem Boden liegst, mit Schaum vor dem Mund und …“
„Ron, bitte!“ Sein Freund erleichterte es ihm nicht gerade, eine Entscheidung zu fällen, die Einladung anzunehmen oder abzusagen. „Ich werde mit Ginny drüber reden. Vielleicht auch mit Severus. Er wird sicher Hermine mitnehmen und mit den beiden an meiner Seite – zwei Tränkemeistern, inklusive einer Heilerin – fühle ich mich sicher.“
„Du solltest dir trotzdem einen Bezoar einstecken.“ Weil Harry ihn strafend ansah, sagte Ron noch schnell im Anschluss: „Sicher ist sicher.“

Ron und Harry hatten sich von Hagrid tatsächlich ein paar neue Monster zeigen lassen. Eines davon konnte man nicht einmal einer Spezies zuordnen. Für Harry war dieser Tag einer von denen, von denen er lange zehren würde. Es war wie früher. Unterwegs mit Ron, Gespräche mit Hagrid und auch ein bisschen Unfug treiben, denn Ron war auf die Idee gekommen, sich einige der alten Geheimgänge nochmal anzuschauen.

Am Abend brachte er Ginny dazu, mit ihm am Kinderbett zu bleiben, während er Nicholas – und somit auch ihr – das erste Kapitel aus dem Buch „Der magische Anker“ vorlas.

Die Charaktereinführung des 9jährigen Brigham fand Ginny spannend. Er war arm und lebte unter einer Brücke an einem unbenannten Fluss. Harry wusste, dass der Autor des Buches sein eigenes, kindliches Ego in Brigham untergebracht hatte, auch wenn der nicht aus armem Hause stammte. Bald würde man auf den Charakter treffen, der in Wahrheit den Bruder des Autors verkörperte. Als ein schmales Boot die abendliche Stille in einer englischen Hafenstadt störte, ahnte Harry, dass jetzt Billys Auftritt kam – nur dass der Junge nicht Billy hieß. Harry las weiter, obwohl Nicholas längst schlief, aber Ginny hing ihm an den Lippen.

„Hallo da“, rief ihm der Junge aus dem Boot zu.
‚Bei meiner Seele‘, dachte Brigham, ‚was macht ein Junge ganz allein auf einem Boot?‘

Das hölzerne Gefährt trieb viel langsamer als das Wasser des Flusses, als würde es einer völlig anderen Gewalt gehorchen als der des Stromes. An der Seite hing ein Anker, der gar nicht zu dem kleinen Schiffchen passen wollte. Mit glitzernden Dingen verziert schien er nicht dazuzugehören. Ob dessen Größe kippte das Boot nicht zur Seite. Bei näherer Betrachtung schien der Kahn aus dem Gezweig unbekannter Waldbäume gemacht zu sein.

Der freche Bub winkte ihm zu. „Spring auf, Kleiner.“
„Ich bin viel größer als du“, sagte Brigham und nahm den Jungen mit den Augen maß, „und älter, wenn ich mich nicht täusche.“
„Offenbar auch ängstlicher“, forderte der andere ihn heraus.
„Sei nicht so dreist.“ Seine Füße führten Brigham bis zum Rand der Steine, die ihn vom Fluss und nun vom Boot trennten. Gemächlich ging er nebenher. „Wohin soll dich das Boot tragen? Und warum bist du ganz allein?“
„Ich bin nie ganz allein. Spring auf, wenn du Lust auf ein Abenteuer hast.“

Unter dem mit klarem Wasser beperlten Gesicht machte Brigham einen frohgemuten Jungen aus, in dem er einen Kameraden sehen wollte. Weit weg von Zuhause, so wie er selbst, konnte der jüngste Steuermann der Welt seinen eigenen Weg gehen. Eine freie Fahrt im Hafen, getragen von den Wellen des anliegenden Meeres, die aus unbekannter Ferne zu ihm schwappten, war verlockend.

„Wirf deinen Anker, dann komm ich mit“, sagte Brigham, doch der Junge schüttelte den Kopf.
„Den Anker kann ich nicht werfen. Sobald er den Boden berührt, finde ich mich an einem anderen Ort wieder.“
„Das ist doch gar nicht möglich.“
Der Junge hatte schon die Hälfte der Überführung hinter sich. „Wenn ich es erkläre, ist es für dich zu spät, um aufzuspringen. Überleg nicht so lange, sonst bleibst du hier. Mach schon! Was hast du zu verlieren?“
Brigham sah über seine Schulter. Eine zerfressene Decke, die ihn nachts kaum noch vor der Kälte zu schützen vermochte, lag über den wenigen Dingen, die zu seinem Hab und Gut zählten. Es war nicht viel. Genau genommen war es nichts und da leuchtete es ihm ein. „Ich hab nichts zu verlieren.“
„Worauf wartest du dann?“
„Wie heißt du?“, wollte Brigham erst wissen, bevor er einen Fuß auf das fremdartige Boot setzen wollte.
„Ich bin Wilfred.“ Der junge Captain hielt Brigham eine Hand entgegen. „Wenn du möchtest, zeige ich dir einen See aus Bäumen, ein Schloss aus Regentropfen und auch die gigantischen Berge tief unten im Meer. Du wirst nichts mehr vermissen, wenn deine Augen diese Wunder bestaunen.“

Brigham ließ alles zurück, was er besaß und sprang auf das Boot. Mit einem Finger bedeutete Wilfred ihm, dass er sich setzen sollte, dabei lächelte sein neuer Freund ihn an.

„Halt dich fest, wir gehen auf die Reise.“ Wilfred löste die Halterung, die den Anker hielt.
„Wir werden hier anhalten, wenn der Anker auf dem Grund Halt findet.“
„Du sollst dich festhalten!“

In dem Moment, als der Anker auf die Kiesel traf, verschwamm die Umgebung. Brigham blinzelte einige Male und jedesmal, wenn er für den Bruchteil einer Sekunde die Augen öffnete, sah er einen anderen Ort. Schneebedeckte Ufer, dunkle Schluchten und Täler mit vieltausend strahlenden Blumen. Als das Boot an einem Ort zur Ruhe kam, fand sich Brigham Aug in Aug mit einem riesigen Mammut wieder – eines jener Urgiganten, die er ausgestorben glaubte.


Das erste Kapitel war zu Ende. Harry schloss das Buch, da begann Ginny mit ihm zu meckern.

„Du kannst doch jetzt nicht aufhören!“
„Nicholas schläft schon. Ich möchte nicht, dass er durch meine Stimme wieder wach wird.“
Ginny winkte ab. „Wenn er dich hört, wird er weiterschlafen.“
„Oh, vielen Dank. Heißt das, meine Stimme ist einschläfernd?“
Demonstrativ gähnte Ginny, wofür sie einen Klaps auf den Po bekam. „Lies weiter. Das war doch erst der Anfang. Ich will wissen, was es mit den Bergen unter dem Meer auf sich hat. Außerdem mag ich es, wenn du vorliest.“
„Ich bin müde“, log Harry, um sich noch mehr bitten zu lassen.
„Komm schon … Ich bin mir sicher, der Anker ist eine Art Portschlüssel.“ Es wirkte. Ginny umgarnte ihn und zog ihn aufs Bett. „Das Buch ist doch nicht so dick. Wie viele Seiten hat es?“
„Hundertzwanzig.“
„Die schaffen wir. Nun mach schon.“

Die ersten Abenteuer der beiden Jungen bargen einige witzige Momente. Manchmal musste sich Ginny eine Hand vor den Mund halten, um Nicholas nicht zu wecken. Ein anderes Mal konnte Harry vor lauter lachen nicht mehr weiterlesen. Die Jungen erinnerten ihn an jemanden. Ginny sprach seinen Gedanken aus.

„Weißt du was? Ron und du – ihr könntet das sein! Genauso frech, genauso waghalsig und abenteuerlustig.“
„Nicht so laut“, sagte Harry leise. Er hatte sich endlich erholt und schlug das neue Kapitel auf. Sie waren bereits in der Mitte der Geschichte angelangt, die für ein Kinderbuch typisch aufgebaut war. Nach der Einführung der Charaktere folgte der stetige Spannungsbogen. Jeden Moment müsste der Höhepunkt kommen, dachte Harry. Ginny hatte sich an ihn gekuschelt, doch ihr Blick haftete nicht auf den Seiten, sondern schweifte verträumt im Zimmer umher. Leise räusperte er sich, bevor er weiterlas.

Nicht die Abendwinde trugen sie über das Wasser, nicht die Strömung des Sees. Es war, wie Brigham langsam zu verstehen glaubte, etwas Besonderes an diesem Boot. Doch mit noch viel größerer Eigentümlichkeit war der Anker gesegnet. Anstatt eine Fahrt anzuhalten, trug er einen hinfort an Orte, die es nicht geben konnte. Es war wie Zauberei. Wilfred war ihm ein guter Freund geworden und wichtiger noch, ein kundiger Führer in den fremden Welten, in denen Säbelzahntiger anschmiegsam wie Katzen waren und Libellen einem Streiche spielten. Nie war Brigham glücklicher gewesen. Sein Freund hatte Recht behalten. Er vermisste nichts mehr. Die Brücke, unter der er gelebt hatte, war nur noch eine blasse Erinnerung gegen die lebendigen Abenteuer.

„Das Boot trägt nie mehr als zwei“, sagte Wilfred zu der jungen Gewitterhexe, die sie gerade aus den Händen eines aufgebrachten Mobs befreit hatten. Anstatt sich für die Hilfe zu bedanken, begann sie vor Wut zu toben. Wilfred packte Brigham am Arm und zog ihn ins Boot, gerade noch rechtzeitig, bevor ein Blitz genau dort einschlug, wo Brigham gestanden hatte. Der Zorn der Hexe bedeckte den Himmel mit unheilvoll schwarzen Wolken. Ein unirdisches Grollen war zu vernehmen, als Wilfred das Boot losmachte und es mit einem Fuß vom Ufer abstieß. Hier waren sie sicher. Gefahr drohte nur an Land, niemals auf dem Wasser.

Sie ließen sich treiben und schlugen sich dabei die Bäuche mit köstlichen Früchten voll, als Brigham unerwartet fragte: „Warum trägt es nie mehr als zwei Menschen? Hier“, er zeigte in die geräumige Mitte, „könnte doch noch jemand sitzen.“
„Nie mehr als zwei“, flüsterte Wilfred und machte dabei einen traurigen Eindruck. „Ich habe es versucht.“
„Was ist passiert?“

Wilfred antwortete nicht, sondern blickte verzückt ins Wasser, als würde dort in den Wellen ein Frieden hausen, nach dem er sich sehnte.

„Warum hast du mich mitgenommen?“, wollte Brigham wissen.
Wilfred horchte auf und stellte eine Gegenfrage. „Warst du glücklich ohne mich und ohne die Reisen, die ich dir schenke?“
Lange musste Brigham nicht überlegen. „Ich glaube nicht, dass ich den nächsten Winter unter der Brücke überlebt hätte.“
„Dann habe ich dir sogar das Leben gerettet?“, scherzte Wilfred, der seinen Blick vom Wasser endlich lösen konnte. „Wollen wir weiter?“
„Nein, lass uns erst schlafen.“

Mitten in der Nacht wachte Brigham auf. Der Sternenhimmel zeigte seine volle Pracht. Einen Moment lang bewunderte er den kleinen Bären, der sich nicht still verhielt, wie er es von früher kannte, sondern auf der schwarzen Leinwand hin und her tollte, dabei den kleinen Wagen umstieß. Mit einem Lächeln auf den Lippen setzte er sich auf und beugte sich über den Rand des Bootes, um einen Schluck zu trinken, da blickte er für einen kurzen Moment in ein helles Gesicht, das gleich darauf in den Tiefen des Wassers verschwand. Von diesem Anblick ganz erschreckt weckte er Wilfred, dem die Geschichte keine Angst einjagte. Dennoch ließ er sich dazu überreden, den magischen Anker zu werfen, um eine neue Reise anzutreten.


„Was war das?“, fragte Ginny. „Das Gesicht? Da werden doch wohl keine Inferi im Wasser sein.“
„Das ist ein Kinderbuch!“
„Was war es dann?“
„Meine Güte, bist du neugierig. Na ja“, Harry überblickte den Rest, „wir haben noch ein Drittel vor uns. Wollen wir morgen weiterma…“
„Ach, ich bin noch nicht müde“, machte Ginny ihm weis. „Lies weiter. Ich will wissen, warum in dem Boot nur zwei Platz haben.“
„Weil ein Mädchen den beiden wohl die Leviten gelesen hätte, als sie den sprechenden Vogel des Zwergenkönigs befreit haben.“
„Das sagst du nur, weil du Hermine vor deinem inneren Auge siehst“, neckte sie ihn, doch sie hatte Recht. Hermine hatte ihm das Buch gegeben. Zwar gefiel es Ginny, aber bisher war nichts passiert, dass sie davon überzeugen könnte, ein Haus mit einem Geist zu kaufen.
„Lies!“
„Mensch, du bist schlimmer als Nicholas. Der schläft wenigstens irgendwann ein.“

Die weiteren Abenteuer der Jungen wurden immer mysteriöser. Das Gesicht im Wasser war noch einmal aufgetaucht. Die Freundschaft der beiden wurde auf eine harte Probe gestellt, als Brigham ein junges Mädchen mitnehmen wollte.

Mit erhobenen Händen verweigerte Wilfred den beiden den Zutritt auf das Boot. „Sie kann nicht mit. Nie mehr als zwei!“
Brigham nahm das verängstigte Mädchen an die Hand. „Man wird sie dafür lynchen, dass sie uns Zutritt zum Orakel gewährt hat. Wir können sie nicht zurücklassen!“
„Du verstehst nicht …“ Wilfred hatte keine Zeit für Erklärungen. Am Hügel nahe beim Fluss tauchten Reiter auf. Die vielen Speere zeigten nicht mehr alle gen Himmel, sondern auf Brigham, Goldeva und Wilfred.
„Ich werde hier bleiben“, verkündete Brigham selbstsicher.
„Nein! Die Insel ist klein. Ihr werdet euch nicht verstecken können.“ Die Reiter kamen näher, was Wilfred nicht entging. Es blieb keine Zeit. „Steig ein!“
„Es tut mir leid, ich kann nicht. Ich bleibe hier und werde sie beschützen. Ich bin es ihr schuldig. Wir sind es ihr …“
„Das wird dein Tod sein“, flüsterte Wilfred. Sein Blick fiel auf das Wasser, von dem das Boot getragen wurde. Er musste sich entscheiden. „Nie mehr als zwei“, sagte Wilfred ein letztes Mal, bevor er ausstieg. Ohne ihn anzusehen deutete er auf das Boot, in welches Brigham und Goldeva steigen sollten. Sie zögerten nicht.
„Jetzt du“, sagte Brigham und reichte ihm die Hand. Wilfred schüttelte den Kopf, doch als er den Lärm hinter sich hörte, das Klirren der Schwerter, die aus der Scheide gezogen wurden und die kämpferischen Rufe des Heeres, da wurde ihm angst und bange.

Hier an Land oder auf dem Boot. Am Ende war es egal. Wilfred beugte sich dem Schicksal. Er drehte sich zu Brigham und Goldeva, die Hand in Hand auf ihn warteten, ihm hineinhelfen wollten.

Wilfred ergriff Brighams Hand und lächelte traurig. „Du warst wie ein Bruder für mich.“ Das Boot beschützte die Reisenden auf wundersame Weise, doch nur zwei von ihnen. „Vergiss mich nicht.“

Die Tragweite der Worte verstand Brigham nicht. Er zog seinen Freund zu sich, damit die Ersten der fliegenden Speere ihn nicht verletzen würden. Kaum hatte Wilfreds Fuß das Astwerk längst verstorbener Bäume berührt, wurde die Hand, die Brigham hielt, eiskalt.

Aus einer Ahnung heraus, dass es die letzten Worte sein würden, die Wilfred hören würde, versicherte Brigham: „Ich vergess dich nicht.“

Einen Windhauch später war Wilfred so wenig greifbar wie das Wasser um sie herum. Sein Freund verging vor seinen Augen. Wilfreds schemenhafte Gestalt sickerte durch den hölzernen Boden und leistete dem Mädchen Gesellschaft, das vor langer, langer Zeit das gleiche Schicksal erlitten hatte, die dritte im Bunde zu sein. Zusammen mit ihr trug Wilfred das Boot auf dem Fluss des Schweigens fort.

An diesem traurigen Tag sprach Brigham kein Wort mehr. Stattdessen lauschte er dem Wasser, das mit zarten Wellen an die Seiten des Bootes schlug und wie das Flüstern zweier Stimmen anzuhören war. Von dem Verlust seines Freundes erholte er sich nur schwer. Goldeva tröstete ihn, während sie auf dem Wasser trieben.

Manchmal, wenn Brigham mitten in der Nacht aufwachte und dem kleinen Bär dabei zusah, wie er in den großen Wagen klettern wollte, da hörte er das Lachen zweier Kinder. Und wenn er über den Rand des Bootes schaute, erhaschte er einen flüchtigen Blick auf das durch die Wellen verschwommene Gesicht seines Freundes, der zusammen mit dem unbekannten Mädchen über Goldeva und ihn wachte. Die beiden stellten die Kraft dar, die das Boot auch gegen eine Strömung steuern konnte. Obwohl Brigham wusste, dass er nie ganz allein war, waren die Wunder dieser fantastischen Welt ohne Wilfred nur noch halb so schön.


Die Geschichte war zu Ende, doch Harry brachte es nicht übers Herz, das Buch schon zu schließen. Immer wieder las er die letzten Sätze. Er kannte weder Billy noch dessen Bruder, der das Kinderbuch im reifen Alter geschrieben hatte, aber für beide empfand er mit einem Male so viel wie für einen Freund. Vielleicht war das so, weil Harry den Hintergrund kannte. Weil er wusste, dass Wilfred zum Geist geworden war und auf seinen Freund aufpasste – dass Billy gestorben war und nach seinem Tod auf seinen Bruder geachtet hatte, selbst als der schon längst erwachsen war.

„Für ein Kinderbuch finde ich das Ende viel zu traurig“, hörte er Ginny sagen. Er selbst war noch immer in Gedanken versunken. „Harry?“
„Mmmh?“ Erst als er die Nase hochzog, wurde ihm klar, wie gerührt er war und das Ginny das nicht entgehen konnte.
Sie nahm Harry das Buch aus der Hand und legte es hinter sich, damit sie sich an ihn schmiegen konnte. „So traurig?“
Harry schluckte den Kloß hinunter, den er in seinem Hals verspürte, aber er wollte einfach nicht weggehen. „Ja, ich fand’s traurig“, gestand er mit leiser Stimme. „Und ich muss nochmal auf die Toilette“, lenkte er sich ab. Als er aufstand, fiel sein Blick auf die Uhr. „Es ist schon halb vier!“
„Vorlesen dauert immer länger als selbst lesen, Harry.“
„Meine Güte, bin ich froh, dass ich arbeitslos bin und morgen nicht früh raus muss.“
„Nicholas wird uns schon wecken“, winkte Ginny ab, die sich nichts vormachte, mit einem so kleinen Kind lange schlafen zu können.

Als Harry auf der Toilette war, drehte sich Ginny um und fühlte das Buch im Rücken. Sie griff danach, um es wegzulegen. Der Zustand des Bandes erweckte ihre Aufmerksamkeit. Es schien sehr alt. Um nachzusehen, ob das Jahr der Veröffentlichung darin verzeichnet war, schlug sie den Deckel auf, blätterte eine Seite weiter. Die Widmung stach ihr ins Auge.

„Für William“, las sie leise, „dessen schützenden Hände das Dach über unserem Kopf sind.“


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