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Fanfiction

Harry Potter und die Schatten der Vergangenheit - Träume und Schäume

von Muggelchen

„Bist du fertig, Ginny?“ Harry versuchte, für das Treffen mit dem Makler seine Haare zu bändigen, doch sie hielten all seinen Versuchen, für etwas Ordnung zu sorgen, stand.
„Ja“, hörte er hinter sich. Als er sich umdrehte, sah er Ginny, die fertig angezogen auf ihn wartete, dabei seine Haare grinsend betrachtete. „Lass doch mal deine Frisur in Ruhe“, riet sie.
„Ich möchte nur einen guten Eindruck hinterlassen.“
Sie schnaufte. „Das wird vermutlich dein Name erledigen, nicht deine Haare.“
„Dann können wir?“

Ginny nickte. Sie hakte sich bei Harry unter, als sie beide den Weg vor die Tore Hogwarts antraten. In einer Hand hielt Harry den Immobilienkatalog. Kaum hatten sie die eisernen Tore passiert, schlug Harry den Katalog auf.

„Ich hoffe, das klappt so, wie Mr. Chapman es erklärt hat.“ Als Harry die Spitze seines Stabes auf das Bild richtete, umfasste Ginny seinen Arm nur noch fester. Harry sagte: „Codenummer 2.“

Die Welt um sie herum begann zu verschwimmen. Es fühlte sich nicht wie die Reise mit dem Portschlüssel an, obwohl Mr. Chapman meinte, der Zauber basiere auf den gleichen Grundladen. Ginny und Harry hielten sich fest umklammert, während die Umgebung sich schleierhaft verwandelte. Mehr Bäume tauchten auf, wodurch es dunkler wurde. Nach wenigen Sekunden hatten sie festen Boden unter den Füßen. Harrys Blick war sofort auf sein Traumhaus gerichtet. Das Wetter meinte es gut mit dem Anwesen. Sonnenstrahlen schmeichelten dem alten Manor Cottage.

„Da ist es“, sagte Harry ehrfürchtig und nickte in die Richtung des Hauses. Anstatt ebenfalls hinüberzusehen, nahm Ginny den Katalog in die Hand und schaute sich das Bild vom Haus an, was Harry irritierte. „Was soll das?“, beschwerte er sich. „Jetzt kannst du es in natura sehen.“
„Hier steht, dass sich das Haus am Wald befindet, nicht dass es direkt im Wald steht.“
Harry schaute nach oben. Die Äste wiegten sich im Wind, Vögel zwitscherten und die Sonne vollführte Schattentänze auf seinem Gesicht. „Ich find’s schön!“
„Und wenn es ein Verbotener Wald ist?“ Ginny zog eine Augenbraue in die Höhe, als sie auf eine Antwort wartete.
„Ich habe mich bei Percy erkundigt. Es gibt in Perth and Kinross keine Reservate für Zentauren. Es gab hier nie Berichte über wilde Werwölfe, Riesenspinnen, Vampire, Sabberhexen oder sonst welche Kreaturen. Und außerdem …“ Harry hielt inne, weil er etwas knacken hörte. Sofort drehte er sich um. In seinem Gesicht spiegelte sich kindliche Freude wider, als er mit dem Finger in einer Richtung zeigte und flüsterte: „Sieh doch, sieh doch! Ein Kranich.“
„Toll, Harry“, entgegnete sie unbeeindruckt. „Lass uns zum Haus gehen. Mr. Chapman wartet bestimmt schon.“

Das Haus stand in einer kleinen Lichtung. Man konnte sehen, dass die vielen Bäume dem Gebäude nicht die Sonne nehmen würde.

„Wir sind hinter dem Haus gelandet“, stellte Ginny fest. Die Überreste eines ehemals gepflegten Gartens stachen ins Auge. Die Pflanzen wucherten Wild. „Um den Garten kümmerst du dich aber.“
„Wir nehmen das Haus?“, fragte er hellauf begeistert, denn es hätte ja sein können, dass Ginny auf einmal davon genauso eingenommen war wie er, wo sie es jetzt live sehen konnte.
„Lass und doch erst einmal mit Mr. Chapman sprechen.“

Harry war ganz froh, dass Ginny ihn an die Hand nahm. Auf diese Weise konnte er nicht fallen, denn er hatte nur Augen für sein Traumhaus, nicht für den unebenen Boden.

„Ah, da sind Sie gelandet“, hörte man eine fremde Männerstimme rufen. Ein drahtiger Herr mit graumelierten Haaren kam auf sie zugelaufen. Wäre Freundlichkeit ein Prüfungsaspekt, müsste Mr. Chapman diesen Punkt bei seiner Ausbildung zum Immobilienmakler mit Bravour bestanden haben. Das aufs Gesicht gepflasterte Lächeln stach das von Gilderoy Lockhart mit Leichtigkeit aus, dachte Ginny. „Mrs. Potter.“ Mr. Chapman schüttelte Ginnys Hand. „Und Mr. Potter. Es ist mir eine Ehre.“ Nach der Begrüßung begann Chapman mit Smalltalk. „Mit dem Katalogzauber weiß man nie, wo man auf dem Grundstück landen wird. Und? Gefällt Ihnen die Gegend?“
„Spitze!“
Harrys Ausruf kommentierte Ginny mit einem strafenden Blick. „Das Grundstück soll zweitausend Quadratmeter groß sein“, erinnerte sie sich an die Auflistung im Katalog.
„Ja, das stimmt. Soll ich Ihnen erst das Haus zeigen oder möchten Sie das Grundstück ansehen?“
„Das Haus“, bestimmte Ginny und fuhr Harry damit über den Mund.
„Gut, dann folgen Sie mir bitte.“

Mr. Chapman ging voran. Als der Makler die Stufen einer kleinen Terrasse erreichte, bemerkte Harry etwas aus den Augenwinkeln.

„Mr. Chapman?“ Als der Mann sich umdrehte, schaute Harry in eine bestimmte Richtung. „Wer sind die Leute da?“
Chapmans Kopf schnellte herum. Er sah die drei Gestalten und seufzte. „Das sind Angler. Ich habe denen schon mehrmals gesagt, sie mögen bitte um das Grundstück herumgehen, wenn Sie zum See wollen.“
Völlig hingerissen wiederholte Harry: „Zum See?“
Chapman kam die Stufen hinunter. „Ja, ein beträchtlicher Teil des Grundstücks beinhaltet ein Wassergrundstück. Steht das nicht im Katalog?“
„Nein.“ Harry strahlte bis über beide Ohren, doch auch davon ließ sich Ginny nicht beindrucken.
„Wenn Sie mich einen Augenblick entschuldigen würden?“ Mit zusammengekniffenen Augen schaute Chapman zu den drei Personen. „Ich möchte denen nur eben …“
„Ich übernehm das“, warf Ginny. Sie zwinkerte Harry zu. „Sieh du dir schon das Haus an. Ich stoße gleich hinzu.“
„Ach, Mrs. Potter“, hielt Chapman sie auf. „Das sind Muggel, nur damit Sie’s wissen.“
„Danke.“

Im Haus führte Mr. Chapman Harry zunächst in die geräumige Küche.

„Der alte Herd, den man noch befeuern musste, wurde gegen einen Elektroherd ausgetauscht.“ Mr. Chapman zeigte auf besagtes Objekt. „Er wurde noch nie benutzt, funktioniert aber tadellos.“ Um das zu präsentieren, drehte Chapman an einem der Knöpfe und hielt eine Hand über die Herdplatte. „Hier fühlen Sie selbst.“ Auch Harry spürte die aufkommende Wärme, bevor Mr. Chapman den Knopf wieder auf Null drehte. „Das Haus liegt zwar abgelegen, aber es nicht von der Außenwelt abgeschnitten. Sie haben ein Telefon, Internetanschluss, Strom- und Wasserversorgung.“
„Internetanschluss? Das Haus steht in einem Katalog für Zauberer und Hexen.“
Mr. Chapman nickte. „Es gehörte einmal Muggeln, irgendwann auch einem Squib. Auf diese Weise kam unsere Welt mit dem Haus in Kontakt.“
„Warum will der Squib es verkaufen?“
„Oh nein, Mr. Potter, da verstehen Sie etwas miss. Der Herr ist schon vor langer Zeit verstorben. Er hatte keine Verwandten und so kam das Haus in Besitz des Zaubereiministeriums, das uns damit beauftragt hat, es zu veräußern.“
Jetzt wurde Harry hellhörig. „Der Mann ist aber nicht hier im Haus gestorben, oder?“
„Nein, er verlebte die letzten Jahre im Mungos und verstarb dort in Frieden. Das ist schon lange her.“
„Wie lange?“, hakte Harry nach.
„Das war vor etwa neunzig Jahren.“
Harry ließ nicht locker. „Seitdem steht das Haus leer?“
„Ach, wo denken Sie hin? Zwei Muggelfamilien lebten nach dem Herrn schon hier.“

Während Harry durch die Räume im Erdgeschoss geführt wurde, ging Ginny über den moosbewachsenen Boden. Auf ihrem Weg sah sie ein Eichhörnchen. Wenn der Hauskauf nur von der Umgebung abhängen würde, hätte sie längst unterzeichnet. Als sie den drei Personen näher kam, sah sie, dass nur der leicht untersetzte Herr erwachsen war. Wahrscheinlich ein Vater mit seinen Söhnen.

„Entschuldigung?“ Die drei hörten sie, weshalb sie stehenblieben und warteten. Alle trugen Rucksäcke über den Schultern. Der Erwachsene hielt einen viereckigen Behälter aus Plastik in der Hand.
„M’am?“
„Guten Tag, Sir“, grüßte Ginny. Den beiden Jungen, den großen schätzte sie um die fünfzehn Jahre, den jüngeren an die zehn, nickte sie zu. „Sie gehen gerade angeln?“
Der Mann lächelte, blickte dann demonstrativ auf seine Uhr. „Es ist fast Mittag. Wir kommen vom Angeln. Waren schon um sechs Uhr unten.“
„Und? Was gefangen?“
„Natürlich! Drei Hechte. Mein Jüngster hat heute seinen ersten großen gefangen. Ich schätze, der bringt an die neun Kilo auf die Waage“, lobte der Mann stolz.
Der Junge wurde rot im Gesicht und blickte zu Boden. Sein Vater hingegen schaute zu dem Haus, bevor er Ginny in die Augen blickte. „Wollen Sie das Grundstück kaufen?“
„Vielleicht?“, gab sie unentschlossen zur Antwort. Es war der ältere der beiden Söhne, der große Augen machte, was Ginny nicht entging. „Kommen Sie hier öfters vorbei?“
„Während der Angelsaison schon.“
Ihre Chance war gekommen, das Gesprächsthema nach ihren Vorstellungen zu gestalten. „Können Sie mir irgendwas über das Haus erzählen?“
Der Mann begann freundlich zu lachen. „Sie trauen dem Makler wohl nicht.“
Ginny grinste verschmitzt. „Sagen wir mal, ich könnte mir gut vorstellen, dass er nicht alles sagt, was eventuell wichtig wäre.“
„Na ja“, begann der Mann, „das letzte Pärchen kannte ich. Mr. und Mrs. Jackson. Wo wir gerade bei Namen sind …“ Er stellte den Plastikbehälter auf den Boden und streckte ihr die Hand entgegen. „Mein Name ist Bartlett, Steve Bartlett. Das sind meine Söhne“, er zeigte zum älteren, „Keith und“, dem jüngeren legte er eine Hand auf die Schulter, „Ian.“
„Freut mich, Sie kennenzulernen. Mein Name ist Ginevra Potter.“
„Oi, ein schöner, alter Name. Ihre Eltern waren nicht zufällig Freunde der König-Arthur-Sage?“
„Weiß nicht, aber wenn ich es mir recht überlege …“ Sie grinste. „Mein Vater heißt Arthur.“
Steve lachte amüsiert auf. „Sie gefallen mir, Mrs. Potter. Die Jacksons waren auch sehr nette Leute. Beide haben uns erlaubt, in ihrem Teil des Sees zu fischen. Haben dafür ab und an einen Hecht von uns bekommen.“
„Wann sind die Jacksons ausgezogen?“
„Das war …“
Weil sein Vater so lange überlegte, half der älteste Sohn auf die Sprünge. „Muss vor acht Jahren gewesen sein.“
„Ja, richtig“, stimmte der Vater zu. „Seit dem steht’s leer.“
„Ist ja auch kein Wunder“, murmelte der jüngere.
„Was war das bitte?“, fragte Ginny höflich nach.
Der Junge wollte nicht wiederholen, was er gesagt hat, aber sein Bruder begann zu erzählen und zwar mit flüsternder Stimme. „In dem Haus geht ein Geist um.“
Sein Vater schnaufte. „Mach der Frau keine Angst.“ Er wandte sich an Ginny. „Ich hab da nie was gesehen oder gehört.“
„Aber wir!“, beteuerte der Ian.
Ginnys Neugierde war geweckt. „Was habt ihr beide denn dort erlebt?“

Keith hielt sich zurück, obwohl Ginny glaubte, dass er mehr zu erzählen hatte. Sein jüngerer Bruder kam der Aufforderung nach. Er wollte seine Geschichte loswerden.

„Einmal, als wir eines Morgens am Haus vorbeigegangen sind, stand ein Junge am Fenster. Er hat mir zugewunken. Das war echt gruselig!“
„Was ist denn an einem Jungen gruselig, der einem zuwinkt?“, fragte Ginny nach.
Ian atmete ganz aufgeregt, als er darauf antwortete. „Na, er war durchsichtig!“

Für Ginny war der Haken an dem Traumhaus gefunden, es sei denn, die Kinder hatten eine zu lebhafte Fantasie. Fehlte noch das Erlebnis von Keith, doch der schien anfangs nichts sagen zu wollen. Sein kleiner Bruder übernahm auch das.

„Und als Keith mit seinen Freunden mal in dem Haus war, da haben die ihn alle gesehen: Billy!“, behauptete Ian.
Der Vater lächelte milde. „Glauben Sie nicht alles, Mrs. Potter.“
„Es ist aber wahr!“, verteidigte sich Keith.
„Ach, das glaubt ihr nur, weil Oma euch schon Gruselmärchen über das Haus erzählt hat“, winkte Steve ab, bevor er sich an Ginny wandte. „Meine Mutter hat mir schon diese Geschichten erzählt. In meinen Augen nicht unbedingt Gutenachtgeschichten.“
Ginny nickte Steve zu, wollte aber mehr wissen und richtete das Wort an Keith. „Was du damals mit deinen Freunden gesehen?“
„Zuerst gar nichts, aber jeder hat was gefühlt, was ganz Kaltes, als ob uns jemand anfassen würde. Meine Freundin war der Meinung, ein Gesicht gesehen zu haben. Das Gesicht eines Jungen – nicht mehr. Es schwebte in der Luft. Wir sind sofort rausgerannt.“
Ginnys Augenbrauen zogen sich zusammen. „Billy? Woher kommt der Name?“
„Meine Mutter hat ihn so genannt“, erklärte Steve. „Sie hat dem Hirngespinst einen Namen gegeben.“
„Mmmh“, machte Ginny nachdenklich. Sie würde den Makler auf jeden Fall fragen. „Aber warum sind die Jacksons ausgezogen?“
„Das haben sie nie genau gesagt. Ich glaube einfach, es war ihnen hier zu langweilig. Man muss weit fahren, um zum nächsten Supermarkt zu gelangen“, versuchte Steve zu erklären.
Keith war anderer Meinung. „Ich wette, sie haben es auch gespürt. Wenn man da lebt, muss man mitbekommen, was da abläuft. War sogar mal ein Team hier, das das Haus untersucht hat.“
Weil Ginny die Augenbrauen hob, spielte Steve die Situation runter. „Von wegen Team. Das waren ein paar Leute, die mit Kassettenrekordern bewaffnet mit Luft sprachen. Nicht sehr seriös, wenn Sie mich fragen.“
„Die haben aber was gefilmt!“, warf Ian aufgeregt ein. „Kann man sich im Internet ansehen.“
Steve warf seinem jüngeren Sohn einen erstaunten Blick zu. „Wie kommst du dazu, dir solchen Unsinn im Internet anzusehen? Ich habe doch eine Kindersicherung installiert.“ Ian grinste seinen Vater frech an. „Darüber reden wir Zuhause, Junge.“ Ein Blick auf die Uhr. „Wo wir gerade von Zuhause sprechen.“ Steve hob den Kopf und schaute Ginny an. „Meine Frau wartet sicher auf uns. Es gibt heute, wie man nur unschwer erraten kann, Hecht.“ Steve lächelte breit. „Sollten Sie das Haus nehmen, wäre es uns eine Freude, Ihnen dann und wann einen fangfrischen Fisch zu bringen. Wir wären dann nämlich, wenn man das so sagen kann, Ihre direkten Nachbarn. Zwanzig Kilometer in die Richtung“, er zeigte hinter sich, „steht unser Haus.“
„Ich werde mir das Haus erst einmal von innen ansehen. Auf Wiedersehen.“

Als Ginny das Haus betrat, betrachtete sie als Erstes die Küche. Der Herd sah seltsam aus. Sie fragte sich, ob man das Feuer in der Klappe entzündet, doch als sie die öffnete, bemerkte sie nur einen Hohlraum mit Blechen darin. Sie schloss die Ofentür wieder und schlenderte zurück in den Flur. Von oben hörte sie Stimmen, so dass sie die Treppen nahm.

„Und das hier“, hörte sie Mr. Chapman sagen, „ist der Raum, der immer als Hauptschlafzimmer genutzt wurde. Wie Sie sehen, verfügen Sie über eine Heizung. Im Keller befindet sich der Ofen. Zeige ich Ihnen gern im Anschluss.“

Ginny war ins leer geräumte Zimmer gekommen. Bewusst schaute sie in jede Ecke, falls der ungebetene Untermieter sich zeigen würde. Zunächst ließ sie Mr. Chapman alles erklären. Er zeigte die anderen Räume. Bei jedem Zimmer war Harry nur noch begeisterter.

„Sieh mal, Ginny. Man kann von hier den See sehen! Wäre doch ein klasse Kinderzimmer für Nicholas.“ Er strahlte über das ganze Gesicht. Es tat ihr jetzt schon leid, dem Spuk ein Ende zu bereiten, doch noch wollte sie Mr. Chapman die Chance geben, den Geist von sich aus anzusprechen. „Und hier, Ginny“, Harry öffnete eine Tür, „der Balkon geht fast rund ums Haus!“
„Wenn Sie mir zum Badezimmer folgen möchten?“
Harry gehorchte aufs Wort und trabte aufgeregt hinter Mr. Chapman her. „Ein Whirlpool! Ginny, schau mal.“
„Und wofür ist der gut?“
Mr. Chapman erklärte zur für Zauberer und Hexen unbekannte Luxuswanne: „Die Jacksons haben ihn eingebaut und hiergelassen. Wenn Sie den nicht übernehmen möchten …“
„Doch, klar!“, warf Harry ein. „Funktioniert er denn auch?“
„Selbstverständlich, Mr. Potter.“
Ginny kam sich vernachlässigt vor. „Was ist das denn nun?“
„Da wird Luft ins Wasser geblasen. Hübsche Massage“, erklärte Harry. „Genau das Richtige zum Entspannen, wenn du vom Quidditch heimkommst.“
„Ach“, Mr. Chapman wandte sich an Ginny, „Sie spielen als Profi?“
„Noch nicht, aber hoffentlich dieses Jahr.“ Skeptisch betrachtete sie die große, runde Wanne, in der vier Sitznischen zu sehen waren.
„Und wie Sie sehen“, Chapman deutete auf eine Ecke, „steht auch eine Duschkabine zur Verfügung, falls es mal schnell gehen soll.“ Mr. Chapman wandte Lächeln Nummer 16 aus dem Handbuch für Geselliges Beisammensein mit Kunden an. „Gehen wir runter“, bat er, „dann zeige ich Ihnen die Gästetoilette.“

Mr. Chapman ging voran, so dass Harry kurz mit Ginny allein reden konnte. Seine Begeisterung war nicht zu übersehen.

„Das Haus ist ein Knaller! Allein die Lage. Wir könnten uns doch ein Boot kaufen, Ginny, und damit gemeinsam auf dem See rudern.“ Er nahm ihre Hand. „Und Weihnachten können wir hier feiern. Es ist groß genug, dass deine ganze Familie hier Platz hat, plus ein paar Freunde.“

Sie schenkte ihm ein zurückhaltendes Lächeln, denn innerlich hatte sie dieses Haus bereits abgeschrieben. Mit einem Geist zusammen wohnen stellte nicht die Erfüllung ihrer Träume dar. Nüchtern betrachtet war das Haus eine Wucht, das musste selbst sie zugeben. Der Preis machte es nur noch sympathischer, dennoch kam es nicht infrage.

Mr. Chapman zeigte den geräumigen Keller mit seinem großen Ofen. Nochmals zurück im Erdgeschoss bemerkte Ginny den Kamin.

„Ist der ans Flohnetzwerk angeschlossen?“, wollte sie wissen.
„Nein, aber man kann die Verbindung jederzeit wieder beim Zaubereiministerium beantragen.“

Alle drei starrten den Kamin an, als hätten sie nie zuvor einen gesehen. An der Halterung neben dem Kamin hatten die Vorbesitzer anstatt einer Schale mit Flohpulver kurzerhand einen Blumentopf untergebracht. Die Pflanze darin war welk.

„So“, Mr. Chapman rieb sich die Hände, „noch einen kleinen Rundgang übers Grundstück?“
„Gern“, stimmte Harry zu.

An der Natur gab es absolut nichts zu beanstanden. Ginnys mütterlicher Blick suchte nach Orten, die für Nicholas risikoreich sein könnten, aber hier gab es keine Schluchten, in die er stürzen könnte. Wasser war natürlich immer eine Gefahrenzone. Ginny schalt sich selbst, daran überhaupt noch einen Gedanken zu verschwenden, denn dieses Haus würde nicht ihres werden.

Harrys Blick schweifte über die zarten Wellen. Zum Baden war der See bestimmt auch im Sommer zu kalt. Spaß machte Wasser trotzdem, bei jedem Wetter. Vielleicht fror der See im Winter sogar zu und man konnte Schlittschuhlaufen, schoss es Harry durch den Kopf. Wieder kam ihm der Gedanke an ein Boot. Schon jetzt sah sich Harry zusammen mit Nicholas auf dem See herumrudern, wahlweise mit Ron, der den Kahn wie irre zum Schaukeln bringen würde, während beide wie vorpubertäre Schuljungen dabei giggelten.

„Wie heißt der See?“, fragte Harry mit verzückter Stimme.
„Das ist Loch Kennard“, verkündete der Makler schwärmerisch, weil er von dem Anblick selbst sehr angetan war.

Man ging zurück in den Vorgarten. Mr. Chapman wirkte sehr selbstsicher, als er Harrys entspannten Gesichtsausdruck betrachtete.

„Und?“
Bevor Harry auf Mr. Chapmans stark abgekürzte Frage, ob er das Haus kaufen wollte, vorschnell antworten würde, stellte Ginny die Gegenfrage: „Wann hatten Sie vor, uns von Billy zu erzählen?“
Mr. Chapman schaute in die Richtung, in der Harry vorhin die Angler gesehen hatte. Beinahe rechnete der Makler damit, dass die drei dort stehen würden, womöglich noch mit dem Finger auf ihn zeigten und ihn wegen des geplatzten Geschäfts auslachten. „Der tut nichts zur Sache.“
„Ich finde schon, dass Sie ihn zumindest hätten erwähnen müssen“, zischte Ginny gereizt.
Harry verstand nur Gleis 9 ¾. „Wer ist Billy?“
„Das sind Märchen. Ich habe ihn nie gesehen“, beteuerte Mr. Chapman, ließ Harry bei seiner Konversation völlig außen vor.
Ginny presste verärgert die Lippen zusammen. „Andere haben ihn gesehen.“
Harrys Kopf schnellte zwischen Ginny und Mr. Chapman hin und her. „Wen gesehen?“
„Billy“, wiederholte Ginny. Weil Harry damit nichts anfangen konnte, erklärte sie: „Ein Geist soll hier hausen. Die Bartletts haben mir davon erzählt?“
„Wer?“ Harry kam sich vor wie im falschen Film.
„Unsere Nachbarn.“
Gerade wollte Harry den Mund öffnen und am liebsten drei Fragen auf einmal stellen, da kam ihm Mr. Chapman zuvor. „Mrs. Potter, ich versichere Ihnen …“
Sie schnaufte verächtlich. „Sie können mir versichern, was Sie wollen. Wenn Sie solche wichtigen Informationen bei einem Verkaufsgespräch zurückhalten, dann …“
„Es ist kein Geist beim Ministerium gemeldet. Ich habe überhaupt nichts Unrechtes getan.“
„Es wäre aber nett gewesen, das zu erwähnen“, zischte Ginny ihn an. Sie wandte sich an Harry. „Komm, wir gehen.“
Gegen ihre Hand wehrte er sich, wenn auch nur halbherzig. „Moment! Was ist hier gerade passiert?“
„Das erzähle ich dir Zuhause.“

Bei dem Wort Zuhause blickte Harry automatisch auf sein Traumhaus. Er hatte das ungute Gefühl, die Blase wäre geplatzt. Es hatte sich ausgeträumt.

„Falls Sie es sich überlegen möchten, Mr. Potter“, begann Mr. Chapman so ruhig wie möglich, „dann können Sie mich jederzeit kontaktieren.“
„Ich … Ja, mach ich …“ Ginny zog ihn an der Hand hinter sich her, bevor sie zur Seit-an-Seit-Apparieren nach dem nur etwa 45 Kilometer entfernten Hogwarts ansetzte. „Gin…“

Es war, als würde jemand ihm die Luft aus der Lunge quetschen. Das Apparieren dauerte nicht lange. Während der erste Teil ihres Namens am Loch Kennard zurückblieb, sprach Harry den letzten, als sie vor den Toren Hogwarts’ ankamen.

„…ny?“ Harry holte tief Luft. „Erklärst du mir bitte“, er klang sauer, „was da eben passiert ist?“
„Auf dem Weg zu Schloss.“ Die Tore öffneten sich von ganz allein und ließen die beiden passieren.
„Ich höre?“
„Der Grund, warum das Haus so preiswert ist“, begann sie ruhig, damit Harry hoffentlich etwas von ihrer Gelassenheit übernehmen würde, „ist ein Geist. Es spukt. Das letzte Pärchen ist offenbar deswegen ausgezogen.“
„Es …?“ Er wollte es nicht aussprechen. Das war also der Haken, dachte er. Ein Geisterhaus. „Wer hat das erzählt?“
„Der Angler, du erinnerst dich?“ Harry nickte, so dass sie fortfuhr: „Die beiden Jungen haben sich furchtbar erschrocken.“ Harry hörte einfach nur zu. Nach Reden war ihm nicht zumute. Er fühlte sich, als hätte er jemanden verloren, als würde er trauern. „Schon die Großmutter von dem Mann hat Gruselgeschichten erzählt. Wie es aussieht, haust der Geist schon eine ganze Weile dort. Das heißt, in der Gegend ist man darüber informiert. Ich weiß nicht recht, ob es das ist, was ich mir unter einem Zuhause vorstellen.“ Schlürfenden Ganges ließ sich Harry von Ginny über den Rasen führen. Sein Blick war auf den Boden gerichtet. Er war sich so sicher gewesen und dann das. „Aber das Haus ist schön“, sagte sie plötzlich.
An diesem einen Funken Hoffnung klammerte er sich fest. „Meinst du nicht, du könntest es dir nochmal überlegen.“
Abrupt hielt sie an, traute ihren Ohren kaum. „Du würdest es trotzdem kaufen?“ Es klang wie eine Schelte, weswegen er den Mund hielt und sich wieder von ihr führen ließ.

Sie durchquerten bald den Halbbogen, der ins Schloss führte. In seinem Kopf wiederholten sich immer nur zwei Worte: Geist, Haus, Geist, Haus, Geist, Haus. Irgendwann kam er aus dem Takt und hatte ein ganz anderes Wort im Kopf. Er grinste.

„Hey, wir hätten dann unseren eigenen Hausgeist, Ginny.“ Allein ihr scharfer Blick wies ihn zurecht. Erneut ließ Harry den Kopf hängen. Sie waren bereits im Eingangsbereich des Schlosses angelangt. Es war erschreckend ruhig ohne die ganzen Schüler. Gespenstig ruhig.

„Wie alt soll der Geist denn sein?“, wollte er wissen.
„Keine Ahnung. Soll ein Junge sein.“
„Wir wollten doch später sowieso noch mehr Kinder haben. Was …?“
Sie fuhr ihm über den Mund. „Kinder, die man anfassen und knuddeln kann, Harry. Lebendige Kinder!“
Er seufzte theatralisch laut. „Du möchtest es dir nicht einmal überlegen, oder?“
„Was gibt es da zu überlegen, frage ich dich?“
Nebenher bemerkte Harry, wie Sir Nicholas ihnen entgegenschwebte. „Hi, Nick“, grüßte Harry betrübt, aber dennoch mit der notwendigen Anstrengung, höflich zu klingen.
„Hallo Harry“, kam es freundlich zurück. Nochmals musste er seufzen.

An der Tür zu ihren Räumen hielten beide inne, weil Wobbel mit Nicholas an der Hand von der anderen Seite kam. Das Timing seines Elfs war wie immer perfekt.

„Ah, Madam, Sir“, grüßte Wobbel freudestrahlend. Nicholas zog eine hölzerne Ente hinter sich her, die jedes Mal, wenn das Rad eine Umdrehung gemacht hatte, den Kopf zurückzog und leise quakte. Ein Geschenk von Percy.
„Wo kommt ihr denn her?“, wollte Harry in Erfahrung bringen.
„Nicholas wollte unbedingt Mr. Krake füttern.“
„So so, Mr. Krake“, Harry ging in die Knie und wurde gleich darauf von Nicholas angegrinst. „Na, mal sehen, wann ihr so dicke miteinander seid, dass ihr euch mit Vornamen anredet.“
Wobbel musste lachen, öffnete derweil die Tür zu den Räumen. „Und, Sir? Wie war die Besichtigung?“ Das Schweigen des frisch gebackenen Ehepaares versprach nichts Gutes, dachte der Elf.
„Wir schlafen eine Nacht drüber“, erklärte Ginny kurzerhand und trat ein.
Als Harry ihr folgte, wagte er zu fragen: „Heißt das, wir überlegen es uns nochmal?“
„Nein, das heißt, dass du morgen nicht mehr so schlecht gelaunt sein wirst.“
„Ich bin doch nicht schlecht gelaunt“, hielt er gekränkt dagegen. „Ich bin enttäuscht, das ist alles.“
Für Wobbel schilderte Ginny die Sachlage. „Der Typ wollte uns übers Ohr hauen.“ Plötzlich musste Harry schmunzeln, was Ginny bemerkte. „Was ist?“
„Der wollte mich reinlegen!“, sagte er viel zu fröhlich. „Verstehst du nicht? Ich bin immerhin der Harry Potter und der wollte mir trotzdem das Haus aufschwatzen.“
„Das findest du wohl auch noch gut?“, fragte Ginny ungläubig.
Harry hob und senkte die Schultern, bevor er sich auf die Couch setzte. „Irgendwie schon. Endlich wurde ich mal behandelt wie jeder andere Mensch auch.“
Völlig perplex schüttelte Ginny den Kopf. „Das kann nicht dein Ernst sein.“

Wobbel hielt sich aus dem Gespräch heraus, doch seine Ohren verfolgten den Inhalt genau. Er hörte weiterhin zu, während er Nicholas die Jacke auszog.

„Ich verstehe trotzdem nicht, was so schlimm daran sein soll, Ginny. Ich meine, sieh dich doch mal hier im Schloss um! Was glaubst du, wie ich mich das erste Mal erschrocken habe, als Sir Nicholas diesen hier“, Harry nahm eine Handvoll seines Haares und zog seinen Kopf zur Seite, „gemacht hat.“
„Sir Nicholas ist aber auch bei der Geisterbehörde des Ministeriums registriert, Harry. Wäre Billy registriert, hätte Percy dir davon erzählt.“
„Dann frage ich ihn einfach nochmal, ob er vielleicht was übersehen hat.“
Ginny schüttelte den Kopf. „So pingelig, wie der ist, übersieht er solche Details nicht.“
„Wir könnten das Haus doch exorzieren lassen.“
Ginnys Stirn legte sich in Falten. „Was bitte?“
„Ach, war nur so eine Idee“, murmelte er verlegen. „Ich bin trotzdem der Meinung, dass wir das Haus nicht einfach …“
„Harry, bitte.“ Ginny klang erschöpft. „Lass es für heute sein. Ich möchte nicht darüber diskutieren.“
Wie von einer Feder hochgeschossen sprang Harry von der Couch. „Aber ich möchte!“
„Dann aber nicht mit mir.“
„Fein!“ Wütend stürmte er zur Tür und verschwand auf dem Flur.

Irritiert blickte Ginny auf die Stelle, an der Harry eben noch gestanden hatte, schaute dann betrübt zu Wobbel hinüber. Plötzlich öffnete sich die Tür erneut und Harry lugte herein.

„Ist dir klar“, sagte er völlig gelassen, „dass das unser erster Ehekrach ist?“ Zögerlich nickte Ginny. „Und den werden wir überstehen wie alle anderen, die womöglich folgen werden.“ Er musste grinsen. „Ich gehe spazieren. Vielleicht bis zu Hagrid.“
„Okay, Harry.“ Als Harry zum zweiten Mal die Tür geschlossen hatte, schaute Ginny zu Wobbel und zuckte mit den Schultern. „Manchmal habe ich das Gefühl, dass irgendwas bei ihm“, sie deutete ungenau auf ihren Kopf, „falsche Signale sendet.“ Die Arme ließ sie wieder fallen. „Erst freut er sich, dass man ihm Informationen vorenthalten hat und jetzt darüber, dass wir uns streiten.“
„Ach“, winkte Wobbel ab, „das ist kein Streit. Das ist eine kleine Meinungsverschiedenheit. Wie ich herausgehört habe, geht es um einen Geist?“

Mit Ginny sprach Harry an diesem Tag nicht mehr über das Haus, dafür aber mit Hagrid, der nur meinte, dass Hogwarts doch voll mit Geistern wäre.

In der Apotheke in der Winkelgasse war am Freitag eine Menge los. Popovich war eine große Hilfe beim Brauen des Wolfsbanntranks gewesen. Seine Bezahlung bestand in den Antworten, die Severus ihm auf seine vielen Fragen bezüglich des Unterrichts in Hogwarts gab. Einer von Severus’ Ratschlägen war, die Schüler immer an der kurzen Leine zu halten. Wenn man ihnen so wenige Freiheiten wie möglich gestattete, so seine Theorie, machten sie weniger Unfug. Popovich schien gerade dieser Ratschlag nicht besonders zu gefallen. Letzten Endes musste er selbst einen Weg finden, sich als Lehrer zu etablieren. Keinesfalls wollte Popovich als Kopie von Snape erscheinen. Sein alter Mitschüler hatte zudem gute Hinweise geben können, wie man die Sicherheit der Schüler beim Tränkebrauen in der Klasse gewährleisten konnte. Besonders dafür war er dankbar.

„So“, Popovich stellte den sauberen Kessel an seine Stelle. „Das waren drei aufreibende Tage. Unter Zeitdruck habe ich lange nicht mehr gebraut.“
„Sie waren eine große Hilfe“, bedankte sich Hermine.
„Oh, ich muss mich bei Ihnen bedanken, Miss Granger. Jahrelang habe ich nur zusehen müssen, wenn die Prüflinge etwas gebraut haben. Mit dem Wolfsbanntrank bin ich ins kalte Wasser gestoßen worden. Jetzt fühle ich mich bei der Arbeit wieder sicher.“ Popovich reichte ihr die Hand und verabschiedete sich. „Die Sommerferien sind lang. Falls Sie nächsten Monat meine Hilfe benötigen …“ Popovich schaute zu Severus hinüber.
„Wir werden uns gern bei Ihnen melden, Mr. Popovich“, bestätigte Severus, der sich gerade die Hände abtrocknete.

Es war kurz vor acht Uhr abends. Daphne war alle Voranmeldungen durchgegangen. Jeder Kunde war hier gewesen. Die Apotheke konnte geschlossen werden. Mit verspäteten Kunden musste man nicht mehr rechnen. Trotzdem hatte man den Eingang der Apotheke bis elf Uhr für Notfälle mit einem Zauberspruch versehen, falls irgendein Werwolf seinen Trank bei einer der anderen Anlaufstellen nicht bekommen haben sollte. Solche Dinge konnten passieren. Es war nicht auszuschließen, dass ein Tränkemeister beispielsweise ins Mungos eingeliefert wurde und seine Kunden auf dem Trockenen saßen. Für Notfälle gab es immer einen kleinen Kessel mit zwei Portionen Wolfsbanntrank. Hermine stellte die Flammen unter dem Notkessel aus und machte den Inhalt per Zauber haltbar.

„Dann verabschiede ich mich mal.“ Mit ausgestreckter Hand kam Popovich auf Severus zu, der sie ergriff und kräftig schüttelte.
„Ich werde Sie zur Tür begleiten.“

Kaum hatte Popovich die Apotheke verlassen, sah Severus jemanden auf der Straße. Es war Remus. Er kam aus der Richtung, wo sich der Tropfende Kessel befand. Severus blieb solange an der offenen Tür stehen, bis Remus die Stufen bis zu ihm hinaufkam.

„Wie du siehst“, begann Remus angespannt, „bin ich hier.“
„Das weiß ich zu schätzen, Remus. Tritt ein.“

Der Keller war hergerichtet. Für einen Werwolf viel zu luxuriös. Hermine hatte eine alte, aber saubere Couch in den großen Verschlag gestellt, damit Remus es sich – als Mensch oder Wolf – etwas gemütlich machen konnte. Severus führte ihn hinunter, zeigte ihm den Ort, an dem er zu Vollmond verweilen sollte.

„So viel Mühe hättet ihr euch gar nicht machen müssen“, sagte Remus in dem Moment, als Hermine die Stufen zum Keller hinunterkam. Sie hatte einen Korb dabei, auf den Remus kurz deutete. „Was ist das?“
„Ich dachte, falls du Hunger bekommst …“
Remus lächelte milde. „Ich bin nicht hier, um mir den Bauch vollzuschlagen.“

Er fasste sich an besagte Körperstelle, aber nicht, weil er Appetit bekam. Der Fluch machte sich bereits mit starker Übelkeit bemerkbar. Auf seiner Stirn lag eine dünne Schicht Schweiß, weshalb sein Gesicht glänzte. Als er sich an die Wand lehnte, krümmte sich sein Oberkörper leicht nach vorn, als würde es zu viel Kraft kosten, aufrecht zu bleiben.

„Tonks wollte noch vorbeikommen“, informierte Remus die beiden Gastgeber. „Ich weiß nur nicht, wann. Sie ist noch mit Kingsley in Peninver unterwegs.“
„Peninver?“, fragte Hermine nach.
„Man vermutet dort noch ein paar Menschen, die von dem Ende des Krieges womöglich nichts wissen. Ein Zufluchtsort, von dem Zabini, Parkinson und Goyle gesprochen haben. Ob er existiert, weiß man nicht.“ Remus holte tief Luft, als würde ihn das Sprechen anstrengen. „Könntet ihr für Tonks die Tür aufhalten?“
„Klar, machen wir“, beteuerte Hermine.
„Na dann …“ Remus riss sich zusammen und richtete sich auf, streckte den Rücken. „Ich werde mich in mein Appartement begeben. Vielen Dank für den Zimmerservice.“

Das kleine Bastkörbchen versuchte mit aller Mühe, eine ähnlich entspannte Atmosphäre zu schaffen wie bei einem Picknick – und versagte dabei. Remus stellte es neben die Couch, blickte sich danach in dem Raum um. Die Kellerfenster waren vergittert. Durch sie würde der Vollmond in den Verschlag scheinen. Ein Schauer lief Remus über den Rücken. Seine größte Angst wurde noch immer durch diesen Himmelskörper dargestellt.

„Remus?“ Severus wartete, bis Remus ihn ansah. „Wann dürfen wir heute Nacht vorbeischauen?“
„Nach Mitternacht.“ Remus hatte geflüstert. Er hatte die Befürchtung, seine Hoffnung hätte sich um diese Uhrzeit längst zerschlagen. Der kleine Funke wollte bis zuletzt aber nicht erlöschen.
„Dann lassen wir dich jetzt allein.“ Severus zog die hölzerne Tür hinter sich zu, verschloss sie aber nicht.
Darüber erstaunt fragte Remus: „Möchtet ihr nicht abschließen?“
„Wozu?“ Severus drehte sich um. „Es besteht doch keine Gefahr.“
„Und wenn das Elixier irgendetwas in meinem Körper angestellt hat und der Trank nicht wirkt?“

Dieses fiktive Szenario entbehrte jeder Logik, aber es war auch nicht die Logik, die aus Remus sprach, sondern die Angst, für etwas Schlimmes verantwortlich zu sein, wenn er morgens aufwachen würde.
Severus sprach die Bedenken seines Freundes nicht an, sondern zog seinen Stab und schützte mit einem starken Zauber die Türen und Fenster des Raumes.

„Zufrieden?“
Remus nickte. „Danke.“

Weder Hermine noch Severus konnten ans Schlafengehen denken. Sie machten es sich nicht im Wohnzimmer, sondern in der Küche gemütlich, weil die näher am Keller lag. Nur manchmal hörte man ein Husten von unten. Beide hofften, sie würden auch die Verwandlung hören, wenn sie vonstatten gehen würde.

Hermine war bedrückt, was Severus daran ausmachen konnte, dass sie ruhig war. Sonst nutzte sie jede Gelegenheit für eine Unterhaltung, doch diesmal blieb sie stumm, sagte nur Danke, als Severus ihr eine Tasse Tee reichte. Er selbst zog Kaffee vor. Probleme mit dem Schlafen hatte er wegen nächtlichen Koffeinkonsums noch nie.

„Ich hoffe“, sagte Hermine leise. Mehr nicht, denn alles andere konnte sich Severus denken. Immer wieder lauschten sie den Geräuschen, die aus dem Keller drangen. Hermine konnte sich noch gut an das erste Mal erinnern, als sie Remus’ Verwandlung beiwohnte. Erst das Licht des Vollmonds hatte sie hervorgerufen. „Ist es das Licht?“, fragte sie plötzlich.
„Wenn du mich an deinen Gedankengängen teilhaben lässt, damit ich dir folgen kann, werde ich deine Frage sicherlich beantworten können.“
„Ich frage mich, ob die Verwandlung zum Werwolf durch das Licht verursacht wird, das der Mond zurückwirft. Was wäre, wenn man einen Werwolf in einem Raum einsperrt, der über keinerlei Fenster verfügt?“
Jetzt verstand er ihre Überlegung. „Das müsste man ausprobieren. In der Theorie kann man diese Situation nicht klären.“

Das Warten war für Hermine fast unerträglich. Sie fand keine Ruhe, um sich über andere Dinge Gedanken machen zu können. Die Zeit zog sich elend in die Länge. Nach gefühlten fünf Stunden war nur eine vergangen. Hermine seufzte. Nicht einmal Severus begann ein Gespräch, denn er selbst überdachte die gesamte Situation.

Warten.

Der Mond schien bald durch die Küchenfenster. Der Hund, der bisher brav unter dem Tisch gelegen hatte, kam hervorgekrochen. Harry spitzte die Ohren und blickte mit steifem Körper in Richtung Kellertür. Nur seine Ohren bewegten sich minimal hin und her. Hermine und Severus beobachteten das Tier und fragten sich, was Harry mit seinem guten Gehör wohl wahrnehmen würde. Es waren Geräusche, die für den Hund nicht alltäglich waren. Vorsichtig ging Harry einen Schritt vor, blieb wieder stehen. Es war noch nicht Mitternacht. So gern Hermine auch nachsehen wollte – sie zwang sich, am Tisch auszuharren. Remus sagte, erst nach Mitternacht könnten sie nach dem Rechten sehen.

Dir Uhr zeigte halb zwölf. Auf ihrem Stuhl rutschte Hermine unruhig herum, als säße sie auf glühenden Kohlen. Severus kannte das Gefühl. Ihm erging es nicht anders. Wäre Remus geheilt, würde das Elixier des Lebens noch einmal zum Einsatz kommen müssen. Es wäre Arthurs Pflicht, zum Wohl der Zauberergesellschaft allen Werwölfen die gleiche Behandlung zugute kommen zu lassen. Die Frage war nur, wie? Man könnte behaupten, einen Trank gefunden zu haben, der den Fluch aufhebt. Diese Erklärung würde den Werwölfen vollkommen ausreichen, nicht aber den anderen Tränkemeistern. Die würden nachhaken, würden Fragen stellen oder womöglich besagten Heiltrank untersuchen. Am Ende würde alles wieder auf Harry zurückfallen und er wäre in Gefahr, weil er den Stein der Weisen besaß.

Ein tiefes Brummen kam aus Richtung Keller. Vor Schreck ging Harry einen Schritt zurück, winselte dabei und schaute hilfesuchend zu seinem Herrchen auf. Die Geräusche waren dem Hund nicht geheuer. Severus ahnte, was das bedeutete. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass sie bald nach unten gehen dürften. Ein herzzerreißendes Jaulen hallte bis in die Küche hinauf. Hermine legte eine Hand über die Augen. Ihre Hoffnung war zerstört. Ihr ganzer Körper bebte, aber sie weinte nicht.

„Es ist gleich soweit, Hermine. Du musst nicht mit nach unten kommen.“
Die Hand fiel kraftlos auf den Tisch. „Ich möchte aber“, sagte sie mit ernüchterter Stimmlage.

Zehn Minuten nach Mitternacht ging Severus voran. Die schmalen Stufen nahm er langsam, geradezu vorsichtig. Die vorletzte knarrte, doch er übersprang sie nicht. Remus sollte hören, dass er Besuch bekam.

Durch die Ritzen des Verschlages konnte man ein großes, mit Fell überzogenes Wesen sehen, das auf der Couch lag und schwer atmete. Die Verwandlung war anstrengend, obwohl sie nicht viel Zeit beanspruchte. Vielleicht gerade deshalb. Wenn sich in weniger als drei Minuten der Körper auf diese Weise veränderte, musste das mit unerträglichen Schmerzen verbunden sein, musste viel Energie kosten. Der Werwolf war erschöpft. Seine Ohren drehten sich nach hinten, als er die Schritte hörte, aber er bewegte sich ansonsten nicht, atmete nur hastig. Was konnte man in so einem Moment sagen?

„Tonks war noch nicht hier.“ Hermine schaffte es nicht, ihre Enttäuschung zu verbergen. „Wenn sie kommt, bringen wir sie her, okay?“ Die Antwort des Werwolfs war ein ermattetes Seufzen, wie Severus es von seinem Hund kannte, wenn der sich müde auf einen Sessel legte. Hermine musste kräftig schlucken. So sehr hatte sie sich gewünscht, dass diesem lieben Freund die große Last genommen werden würde. Es blieb ein Wunsch. Unerfüllt.

Severus ergriff zaghaft Hermines Oberarm und führte sie nach oben. Sie gab sich arge Mühe, nicht in Tränen auszubrechen. Dennoch war ihre bedrückte Stimmung aus ihren trägen Bewegungen herauszulesen, aus dem gesenkten Haupt und der Stille der sonst so aufgeweckten, jungen Frau. Sie litt, weil ein Freund litt. Nicht weil die Verwandlung Schmerzen bereitet hatte, sondern weil seine Hoffnung auf ein normales Leben so schnell wie eine Seifenblase zerplatzt war. Der Fluch war kein körperliches Gebrechen, war nicht vom Elixier des Lebens geheilt worden.

Einvernehmlich blieben Severus und Hermine in der Küche. Mit ihren Gedanken waren sie bei Remus. Hermine hatte die Beine auf die Küchenbank gelegt und sich an Severus gelehnt. Auf diese Art fand sie etwas Schlaf, den er ihr gönnte. Dank seines Stabes konnte er sich alles herbeirufen, was er benötigte, ohne sie zu wecken. Der Hund schien ebenfalls zu schlafen, doch Harrys Ohren verrieten, dass er hellwach war.

Gegen fünf Uhr morgens, die Vögel zwitscherten bereits seit einer Stunde, kam Tonks. Sie war blass, sichtlich müde und abgekämpft. Für Remus hielt sie sich auf den Beinen, um zu feiern oder zu trösten – auf jeden Fall, um bei ihm zu sein.

„Morgen, Severus“, flüsterte Tonks leise.
Hermine wachte dennoch auf. „Morgen, Tonks.“
Für einen Moment betrachtete Tonks die beiden, bis sie die Antwort letztendlich aus den Gesichtern lesen konnte. Es wäre auch zu schön gewesen. „Ist er unten?“
„Ja, wir begleiten dich.“ Hermine stand auf, schüttelte sich den Schlaf aus den Gliedern. „Hier.“

Diesmal ging Hermine voran. Tonks und Severus folgten. Man hörte jemanden schnaufend atmen. Nachdem Hermine die Tür zum Verschlag geöffnet hatte, fiel ihr Blick auf Remus, jetzt wieder Mensch. Nur mit einer Decke über dem Schoß saß er zusammengekauert auf der Couch. Seine Kleidung lag ordentlich zusammengelegt über der Rückenlehne. Die eigenen Arme waren um seinen nackten Oberkörper geschlungen. Remus zitterte. Die kraftzehrende Rückverwandlung war daran schuld. Mühevoll hob er den Kopf. Als Tonks sich ihm näherte und vor ihm in die Knie ging, senkte er den Kopf so tief, dass nicht einmal sie sein Gesicht sehen konnte. Er schämte sich jedes Mal.

„Guten Morgen, mein Schatz.“ Die vertraute Begrüßung ließ ihn die Nase hochziehen. Sie strich ihm über die braunen Haare, in denen sich graue Strähnen abzeichneten. Ein heftiges Ausatmen seinerseits ließ sie die Augen schließen. Tonks konnte es nur schwer ertragen, wenn er solche Pein ertragen musste.
„‘s tut mir so leid“, kam gequält über seine Lippen, bevor er nochmals die Nase hochzog.

Er würde weiterhin einmal im Monat zum Tier werden, bis zum Ende seines Lebens. Seine Sorge galt nur ihr. Und auch der Familie, die sie mit ihm gründen wollte. Tonks setzte sich neben ihn und umarmte ihn, wiegte ihn sanft hin und her. Ein Seufzer entwich ihm, bevor er heftig und unregelmäßig einatmete.

Vor der Tür hatte Hermine alles beobachtet, auch wenn sie nichts von dem Geflüster verstanden hatte. Es benötigte keine Worte, die beiden zu verstehen, denn die Gesten sprachen für sich. Remus verdammte sich aufgrund seines Fluchs selbst und mache sich Gedanken über eine gemeinsame Zukunft. Tonks hingegen zeigte ihm, dass es nichts gab, dass sie beide auseinanderbringen könnte. Sein Fluch gehörte zu ihm. Das hatte sie schon vor langer, langer Zeit akzeptiert.

An ihrer Schulter spürte Hermine einen leichten Stoß. Severus hatte sie berührt. In gleicher Hand hielt er ein Taschentuch, das er ihr reichte. Erschreckt tastete sie ihr Gesicht ab und bemerkte die Tränen. Dabei hatte sie sich fest vorgenommen, nicht zu weinen.

„Danke“, flüsterte sie, nahm das Taschentuch und tupfte sich über die Augenlider.
„Gehen wir hoch“, schlug er leise vor, damit Tonks und Remus nicht länger gestört werden würden.

In der Küche nahm Hermine das erste Mal nach langer Zeit eine Tasse Kaffee. Sie fühlte sich einigermaßen ausgeruht. Am heutigen Samstag würde der Arbeitstag wie immer um neun Uhr beginnen. Am ersten Wochenende der Ferien erhoffte man sich einen ruhigen Arbeitstag.

Nach einer halben Stunde hörte man die Stufen der Kellertreppe knarren. Remus kümmerte sich nicht um seinen Stolz und ließ sich von Tonks stützen, als sie die Küche betraten.

Severus nutzte den Moment und sagte: „Ihr bleibt zum Frühstück.“ Er hatte sich nicht einmal die Mühe gegeben, den Satz als Frage zu betonen.
„Nein“, winkte Remus ab, „ich werde lieber …“
„Willst du uns etwa erzählen, du hättest keinen Hunger?“, fuhr ihm Severus über den Mund. Remus Magen knurrte die Antwort zurück, woraufhin Severus einseitig grinste. „Dann geh du nachhause und lass den Magen hier, denn der kann offenbar ein Frühstück vertragen.“

Als es klopfte – es war gerade mal kurz vor sieben – blickte Hermine verwundert aus dem Küchenfenster. Severus war über den Gast gar nicht überrascht. Schnurstracks ging er in den Flur und durchquerte den Verkaufsraum, um die Tür zu öffnen.

Remus schaute ihm hinterher. Als er nicht mehr zu sehen war, fragte er an Hermine gerichtet: „Wer ist das?“
„Ich habe keine Ahnung. Scheinbar liefert der Mann was.“ Aus dem Fenster konnte sie nicht viel erkennen.

Ächzend ging Remus einen Schritt nach vorn und kam ins Wanken, woraufhin Tonks ihn zur Küchenbank führte, damit er Platz nehmen konnte. Severus war schnell wieder zurück. In seinen Händen hielt er zwei große, weiße Papiertüten, die er auf die Arbeitsfläche legte. Neugierig lugte Hermine in eine der Tüten hinein.

„Du hast Frühstück organisiert?“, fragte sie erstaunt.
„Ja, ich ging davon aus, dass Tonks und Remus noch bleiben.“ Er öffnete einen Schrank, um das Kaffeepulver herauszuholen. „Wie es aussieht, können wir die Hälfte davon wegwerfen.“ Mit seinen Worten erreichte Severus genau das, was er erreichen wollte. Er schürte bei Remus ein schlechtes Gewissen wegen der Ausgaben, viel mehr aber noch wegen der Absage, nicht zum Essen bleiben zu wollen.
„Wenn ihr extra …“ Remus deutete auf die Tüten mit dem Zeichen des in der Winkelgasse ansässigen Bäckers. Er fand es rührend, dass man sich so sehr um sein Wohlergehen kümmerte. „Das wäre wirklich nicht nötig gewesen. Ich muss aber zugeben, dass ich Hunger habe.“ Sein Magen bestätigte die Aussage mit einem weiteren Knurren. Mit einer Hand beruhigte Remus seinen nach einem kräftigen Frühstück schreienden Bauch.

Remus’ Bewegungen waren lahm, so langsam wie in Zeitlupe. Mit zittriger Hand gönnte er sich erst eine Tasse Tee, während Hermine mit einer oberflächlichen Unterhaltung begann, damit es nicht so still war. Sie unterhielt sich mit Tonks, während Severus und auch Remus die Gesellschaft genossen, ohne sich aktiv am Gespräch zu beteiligen. Als Remus sein Brötchen aufschneiden wollte, fiel ihm das Messer aus der zittrigen Hand. Sofort hatte Tonks es aufgehoben und ihm gereicht. Die beiden tauschten einen Blick miteinander aus, den weder Hermine noch Severus deuten konnten.

„Ach, was soll’s, Remus. Warum verstellen?“ Tonks griff nach dem Brötchen und teilte es. Sie bedachte beide Hälften mit Butter und Käse und legte das fertige Essen auf den Teller vor ihm. Verlegen betrachtete Remus sein Frühstück, griff letztendlich zu. Für Hermine und Severus erklärte Tonks: „Seine Hände tun nach der Rückverwandlung weh.“
„Nicht nur die Hände“, warf er kleinlaut ein.
„Alles tut ihm weh“, korrigierte sie. „Deswegen nehme ich ihm so gut es geht jede Arbeit ab.“
Hermine schüttelte sanft den Kopf. „Ihr braucht euch wirklich nicht zu rechtfertigen. Ginny schneidet Harry auch manchmal das Brötchen auf, oder er ihr. Ich finde, das ist eine liebevolle Geste.“
Bevor Tonks etwas erwidern konnte, fragte Severus mit ernster Stimme: „Und warum komme ich dann nicht in diesen Genuss?“
Hermines Augenbrauen wanderten nach oben. „Du hast doch zwei Hände.“
„Die in der Zwischenzeit im Tagespropheten blättern könnten.“
„Ich glaub’s ja“, beschwerte sich Hermine grinsend.

Die ganze Zeit über hatte Remus kaum etwas von sich gegeben, aber jetzt musste er laut lachen.

Das erste Mal erlebte Severus, warum Remus nach der Rückverwandlung indisponiert war. Jede Bewegung war eine Qual. Remus erklärte die Schmerzen mit dem Gefühl eines Ganzkörpermuskelkaters, begleitet von mittelschwerer Übelkeit und Kopfschmerzen. Deshalb musste Severus ihn damals als Lehrer vertreten und nicht, weil Remus sich ein schönes Leben machte und einfach nur ausspannen wollte. Der Werwolfsfluch musste wie eine temporäre Behinderung klassifiziert werden, wie das Ministerium es vor Jahren bereits getan hatte. Jeder Arbeitgeber war verpflichtet, einem angestellten Werwolf kurz vor und nach Vollmond freizugeben.

Wie erhofft verlief der Samstag ruhig. Nachdem Remus und Tonks nach Hogwarts gefloht waren, um das Wochenende gemeinsam zu genießen, hatten sich Hermine und Severus ins Labor begeben, während Daphne sich um die Kunden, den Verkauf und die Bestellungen kümmerte. Weil es nicht viel zu brauen gab, war Severus derjenige, der diese Arbeit übernahm. Hermine hingegen nutzte die Zeit, um Dinge zu ordnen und sauberzumachen. Wenn sie sich bückte, um etwas unter einem Tisch hervorzuholen, um etwas wegzuräumen oder schwer erreichbare Ecken per Hand auszufegen, weil ein verzauberter Besen eine Gefahrenquelle im Labor darstellte, dann ertappte sich Severus dabei, wie er auf ihr Gesäß starrte.

Viele Weisheiten hatte Tobias Snape nicht an seinen Sohn weitergegeben, doch an ein paar der Dinge, die nicht im Zustand der Trunkenheit über seine Lippen gekommen waren, konnte sich Severus erinnern. So sagte sein Vater eines Tages am Frühstückstisch, als man über einen Nachbarsjungen sprach, dass die Lust der Kinder in den Füßen steckte, die der Jugendlichen in den Lenden und die der Reifen im Kopf. Nachdem am heutigen Tag zum unzähligen Mal Hermines Hinterteil den absoluten Blickfang im Labor darstellte, fragte sich Severus ernsthaft, ob nach Erreichen der höchsten Stufe der Tobias-Snape-Skala die Lust auch wieder eine Etage nach unten gleiten könnte. Er musste bejahen. Das Begehren war da und wurde mit jedem Schwung der weiblichen Hüften angesprochen. Eine Tortur. Severus war jedoch mehr als nur stolz auf sich, dass die Lust nicht zur Lüsternheit wurde. Diese Kontrolle unterschied den Menschen – die meisten jedenfalls – von den Tieren. Unbewusst versuchte Hermine, seine Kontrolle zu durchbrechen. Mittlerweile schrubbte sie per Hand eine Stelle am Boden, an der sie vorhin versehentlich eine Ampulle hatte fallen lassen. Die kreisende Hüftbewegungen verlangten ihm viel ab. Doch selbst als Severus all seine Konzentration auf das Brauen lenkte, brachte es keine Besserung. Severus stellte einen Verhütungstrank her, um die Regale wieder aufzufüllen. Vermutlich reichte die Intelligenz einer Schmeißfliege aus, um sich denken zu können, was die Damen und Herren nach Einnahme des Trankes zu tun gedachten. Severus seufzte. Insgeheim wünschte er sich, die Lust würde gleich ganz hinunter in die Füße rutschen, dann könnte er wenigstens der Versuchung davonrennen – und hätte auch noch Freude dabei.

Bald waren die Gefäße mit den Verhütungstränken abgefüllt. Kurz zuvor war Hermine mit dem Putzen fertig geworden. Die Haare klebten an ihrer Stirn und am Nacken. Auf ihren Wangen lag ein rosiger Schimmer. Sie war außer Atem. Manch einer, der sie jetzt so sehen würde, könnte für ihr Erscheinungsbild eine andere Ursache verantwortlich machen als die tatsächliche. Es fehlte nur noch der Schlafzimmerblick – nicht der aufgesetzte, sondern der natürliche. Für den ihren wollte er sich bei Gelegenheit verantwortlich zeichnen. Vielleicht, so hoffte er, gab es heute eine Gelegenheit.

„Ich gehe nach oben“, sagte sie, woraufhin er erleichtert ausatmete. „Ich muss duschen“, nebelhafte Bilder formten sich in seinem Kopf, „und den Schweiß von meinem Körper waschen.“

Einen klitzekleinen Moment lang war er versucht, sich für ihre geistige Vorgabe zu bedanken. Für die Szenen, die ihre Worte in seinen Gedanken formten, hätte er sich in Jugendjahren noch geschämt. Stattdessen schnaufte er eine Bestätigung, sie gehört zu haben. Hermine ging und ließ ihn mit seinen Aufräumarbeiten allein, somit auch mit der Lust, die nicht dazu zu überreden war, die Position zu wechseln. Sie blieb mittig und nahm darüber hinaus an emotionaler Bedeutung zu. Als er sich dabei erwischte, wie er in einer Fantasie über ein äußerst bildhaftes Duschszenario schwelgte, wurde er sich durch eine Regung seines Körpers schlagartig über eine Sache bewusst: er war keineswegs alt. In diesem Moment war Severus ausgesprochen froh, nicht mehr in Hogwarts zu leben. Sicherlich hätte Albus sein mit beschwingten Gefühlen bis zum Bersten angeschwollenes Herz nicht nur erkannt, sondern auch angesprochen und dazu passend eine heitere Geschichte über die fünf Jahreszeiten zum Besten gegeben – den zweiten Frühling inklusive. Darauf konnte Severus gut und gern verzichten. So wie für Harry die größte Angst die Furcht vor der Angst selbst darstellte, war Severus’ größte Unsicherheit das Wissen um die eigene Unsicherheit. Es war albern, wenn man sich vor Augen führte, was für gewichtige Entscheidungen er bereits im Leben getroffen hatte, was er alles erleben musste. Unsicherheit war in diesen Momenten nie ein Thema gewesen, aber jetzt ... Es gab Dinge im Leben, die verlernte man nicht, wie das Fahrradfahren, das Besenfliegen oder das Schwimmen. In Herzensangelegenheiten sah das offenbar anders aus, jedenfalls für Severus. Nach so vielen Jahren der notwendigen Abstinenz hatte er verlernt, die Signale seines Körpers richtig zu deuten. Nur eine Regung konnte er korrekt interpretieren. Von wegen zweiter Frühling, dachte er abschätzig. Es fühlte sich wie Hochsommer an.

Severus entschloss sich dazu, nach oben zu gehen und seine Chancen auszukundschaften. Eine Wolke heißen Dampfes schlug ihm entgegen, als er die Badezimmertür vorsichtig öffnete. Hermine war nicht mehr hier, wofür er dankbar war, denn die Instinkte, die ihn leiteten, hatten ihn vergessen lassen, sein Kommen mit einem Klopfen anzukündigen. Ein Rascheln kam aus ihrem Schlafzimmer, welches sie nicht mehr nutzte, seitdem sein Bett in der Apotheke untergebracht war. Gerade wollte er klopfen, da ging die Tür auf.

„Oh, Severus!“ Sie strahlte ihn an, so dass ihm noch wärmer wurde. „Wolltest du etwas?“

Hermine ging um ihn herum und steuerte das Wohnzimmer an. Langsam folgte er ihr. Im Wohnzimmer fand sie, was sie suchte. Leicht gebückt stand sie über ihrer großen Handtasche und kramte darin herum. Ihr nach hinten geschobenes Gesäß war ihm zugewandt. Beinahe hätte er gefragt, ob sie das mit Absicht tun würde, da blickte sie wieder auf und drehte sich um. Was auch immer sie sagen wollte, es blieb ihr im Hals stecken, als sie seinen Blick bemerkte. Den Moment nutzte Severus, um sich ihr nicht nur in Bezug auf die Distanz zu nähern. Kaum war er bei ihr, umfasste er zaghaft ihren Oberarm mit seiner rechten Hand, während die linke sich an ihren Nacken legte. Es benötigte nur einen ganz leichten Druck und Hermine gab nach. Ohne Widerworte ließ sie sich nach vorn navigieren, bis sich ihre Lippen trafen. Zu seinem Bedauern hielt sie den Kuss kurz. Von seinem Hochgefühl schien sie nicht einmal etwas zu ahnen. Mit beiden Händen strich sie ihm über die schmale Brust, lächelte ihn dabei verträumt an.

„Das Angebot steht noch“, sagte sie plötzlich.
‚Angebot?‘, wiederholte er in Gedanken. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. So ein Angebot hatte sie ihm nie unterbreitet.
Severus’ Schweigen hielt ihr vor Augen, dass er sich nicht zu erinnern schien, also gab sie ihm genügend Informationen, um die Situation zu erklären. „Ich habe doch erzählt, dass ich am Wochenende die Longbottoms im Mungos besuche. Harry kommt auch mit.“

Das war mit dem Angebot gemeint. Severus verzog den Mund. Das Gefühl, dass ihn jetzt übermannte, hatte Ähnlichkeit mit einem Gefühl, das er aus seiner Kindheit kannte. Ein heißer Sommertag. Es waren Ferien, was nicht allzu wichtig war, denn schulpflichtig war er noch lange nicht. Severus sah diese Erinnerung deutlich vor sich. Mit seinen kleinen Händen hatte er eine Sandburg gebaut, hatte Türme errichtet und mit einer Glasscheibe Fenster in den Sand geritzt, damit es am Ende so aussehen würde wie das Schloss, in dem er später einmal zur Schule gehen würde. Es war perfekt gewesen. Das größte, beeindruckendste Kunstwerk, das jemals aus der Hand eines fünfjährigen Jungen geschaffen worden war. Dann kam das abrupte Ende, die Ernüchterung in Form einer Welle, die sein Traumschloss in Sekunden überflutete und nichts weiter zurückließ als einen Hügel aus Matsch. Das damalige Gefühl der Enttäuschung, wenn auch aus einem völlig anderen Grund, war dem jetzigen Gefühl sehr ähnlich.

„Woran denkst du?“, hörte er ihre Stimme fragen. Hermines Hand strich über seine Wange.
„An eine Sandburg.“
Hermines Augenbrauen beschlossen, dem Haaransatz persönlich einen guten Tag zu wünschen. „Das ist …“ Trotzdem sie irritiert war, musste sie lächeln. „Das Thema“, ihr Zeigefinger klopfte auf sein Brustbein, „möchte ich später gern noch einmal aufgreifen. Hört sich nach Spaß an.“
„Mmmh“, brummte er leicht missgelaunt.
„Und? Möchtest du mitkommen?“
„Nein, ich werde mich anderweitig beschäftigen.“
Hermine nickte verständnisvoll. „Du könntest endlich deine Geschenke auspacken. Die von den Schülern und Kollegen.“
„Das könnte ich“, bestätigte er. Eine kalte Dusche stellte den alternativen Zeitvertreib dar.
„Dann werde ich mal …“

Sie nickte zum Kamin hinüber und erst jetzt ließ er ihren Nacken los, ließ sie gehen. Sie warf sich ihre Tasche über die Schulter und ging ein paar Schritte, doch sie blieb kurz stehen und bückte sich, um ein Hosenbein glattzustreichen.

Da war er wieder, der Hintern, der ihn den ganzen Tag über geneckt hatte. Eine Strafe für die Verlockung und die Stimulans wäre seiner Meinung nach angemessen.

Plötzlich spürte Hermine einen Schlag auf ihrem Gesäß. Mit der flachen Hand hatte Severus ihr nicht gerade zaghaft, aber auch nicht zu rabiat einen Klaps verpasst. Erschrocken fasste sie sich an den besagten Körperteil und blickte ihn über die Schulter hinweg mit großen Augen an.

„Wir sind verlobt“, erklärte er trocken. „Ich darf das.“ Ein Mundwinkel wanderte hämisch in die Höhe, bevor er sich zur Couch begab. Erst jetzt schien Hermine zu ahnen, wie ihm zumute war. Sie bekam ein schlechtes Gewissen.
„Ich beeile mich, Severus.“
„Nein, lass dir ruhig Zeit“, sagte er ohne Anzeichen von Spott. Er wanderte zum Beistelltisch am Fenster, auf dem er am Mittwochabend alle Geschenke abgestellt und seitdem nicht mehr angerührt hatte.

Mit seinen Worten gab sich Hermine zufrieden. Sie verabschiedete sich nochmals, bevor sie in den Kamin trat zum Mungos reiste. Als sie weg war, erlaubte er sich einen gequälten Seufzer.

In der Zwischenzeit stand Harry vor dem Kamin in seinen Räumen, die er noch solange mit seiner Familie bewohnen durfte, bis er ein Haus gefunden hatte. Ginny war noch nicht fertig. Sie wollte ihn ins Mungos begleiten.

„Ginny …“, rief er mit nörgelndem Unterton. Vom Boden kam ein Nörgeln zurück, als Nicholas seinen Vater imitierte.
„Ich komme gleich!“ Ihr genervter Tonfall riet ihm, sie nicht noch einmal zu rufen.

Shibby saß neben Nicholas. Wo Wobbel steckte, wusste Harry nicht. Er blickte sich im Zimmer um. Fawkes schlief. Sein Gefieder war sehr schnell nachgewachsen und von der Farbe her kräftiger als jemals zuvor. Hedwig war genau wie Wobbel spurlos verschwunden. Wahrscheinlich jagte sie Mäuse oder ließ sich von Hagrid füttern. Gerade als er an Hedwig dachte, pickte etwas gegen das Fenster.

„Ich mach schon“, sagte Harry zu Shibby, die gerade aufstehen wollte. Am Fenster wartete nicht Hedwig, aber durchaus eine Posteule. An ihrem Bein war ein Brief befestigt, den er entgegennahm. Der Vogel flog ohne eine Belohnung wieder davon. Eine Ecke des Umschlags hatte Harry bereits geöffnet, als er bemerkte, dass der Brief nicht an ihn gerichtet war. „Ginny? Hier ist eben ein Brief für dich gekommen“, rief er laut, damit sie ihn durch die Badezimmertür hören würde. Er überflog den Umschlag. Der Absender ließ ihn skeptisch werden. „Von Gregory Goyle“, sagte er laut, stutzte über seine eigenen Worte. „Muss ich mir jetzt Gedanken machen?“ Die Tür wurde geöffnet. Ginny sah umwerfend aus. „Für wen hast du dich denn so hübsch gemacht?“
„Ich möchte bei Nevilles Eltern einen guten Eindruck hinterlassen.“
Er betrachtete sie von oben bis unten. Statt der üblichen Hose trug sie einen knielangen Rock, anstelle eines Shirts hatte sie eine hübsche Bluse angezogen und ihre Haare hingen nicht glatt herunter, sondern waren mit leichten Wellen versehen. „Du willst wohl eher einen weiblichen Eindruck hinterlassen.“
Mit einem schnaufenden Laut kommentierte sie seine Aussage, bis sie den Brief in seinen Händen entdeckte. „Für mich?“
„Ja“, er hielt ihn ihr entgegen, „ich frage mich nur, warum.“ Ohne ihm eine Erklärung zu geben nahm sie den Brief, öffnete ihn und las den Inhalt. Danach steckte sie den Brief in die Innentasche ihres Umhangs, ohne auch nur ein Wort zu verlieren. „Was, ähm, was schreibt Goyle denn so?“
„Ist privat.“
„Ginny, ehrlich mal …“
Sie lachte plötzlich. „Nächste Woche treffe ich mich mit ihm.“
„Mmmh“, machte er vorgetäuscht misstrauisch.
„Wir gehen zum Therapeuten.“ Ihr Lächeln zuckte nervös. Das Thema war ihr peinlich.
Harry hingegen war erleichtert, dass sie ihr Problem endlich eingesehen hatte und sie etwas gegen ihre Schreckhaftigkeit, gegen ihre Albträume unternehmen wollte. „Finde ich gut, Ginny.“ Er strich ihr über das zurechtgemachte Haar. „Wirklich.“
Die Befangenheit fiel schnell von ihr ab. „Nehmen wir Nicholas nun mit oder nicht?“
„Ja“, schlug er vor. „Das verspricht auf jeden Fall Abwechslung.“

Nicholas fuhr am Boden mit der Lok umher, trillerte im gleichen Atemzug mit der Pfeife, die der Bahnhofsvorsteher ihm geschenkt hatte.

„Das war übrigens eine ganz tolle Idee“, sagte Ginny spottend. Die hohen Töne der Trillerpfeife gingen durch Mark und Bein. Zum Glück hatte Nicholas noch nicht raus, wie man richtig laut pfeifen konnte.
„Das ist aber noch nicht das Beste“, verkündete Harry. Er griff in seine Tasche und zog die zweite heraus.
„Das ist nicht dein ernst“, sagte sie, als sie die Trillerpfeife in seinen Händen baumeln sah.
„Oh, doch.“ Schon hatte er sie ausgepackt und in den Mund gesteckt. Er pfiff. Nicholas blickte auf und pfiff zurück. Weil der Junge so grinsen musste, fiel ihm die eigene Pfeife aus dem Mund und pendelte nun an der Schnur, die um seinen Hals lag. Harry pfiff nochmal, woraufhin Nicholas klatschte, während Ginny die Augen verdrehte.
„Das Ding nimmst du aber nicht mit ins Mungos.“
„Schade …“ Harry schob die Unterlippe nach vorn und schmollte.
„Komm schon.“ Ginny nahm Nicholas auf den Arm. Die Lok ließ er nicht los, doch statt der Trillerpfeife gab Ginny ihm ein anderes Spielzeug, das er mit ins Krankenhaus nehmen konnte. Die fliegende Stoffeule von Ron.

Ganz kurz zögerte Harry. Er war sich darüber im Klaren, dass er heute über seine Eltern sprechen musste. Noch konnte er nicht einschätzen, wie sehr ihn der heutige Tag mitnehmen würde – oder wie gut oder schlecht die Longbottoms die Nachricht verkraften würden, dass ihre guten Freude Lily und James seit vielen Jahren schon nicht mehr unter den Lebenden weilten.

„Machst du dir Sorgen?“, hörte er sie fragen.
„Ein bisschen“, log er. Er machte sich große Sorgen.

Sorglos hingegen war Severus. Im Wohnzimmer hatte er das Geschenk geöffnet, das ihm sein Haus überreicht hatte. Sie hatten ihm zwei gemacht. Das erste davon starrte er gerade noch verwundert an. Es war ein bewegtes Bild der Slytherins, aufgenommen im Gemeinschaftsraum. Die jüngeren Schüler in der Mitte hielten den Quidditchpokal in den Händen. Draco als einer der größer gewachsenen Schüler stand weiter hinten. Das Bild musste gleich nach dem Sieg aufgenommen worden sein, dachte Severus. Ob sie tatsächlich glaubten, er würde es sich irgendwo hinhängen?

Das zweite Geschenk war ebenfalls mit einem Rahmen versehen. Der Abstand des Glases zur Rückwand war größer, denn in dem Rahmen befand sich kein Bild, sondern ein goldener Gegenstand – ein Klumpen. Darüber konnte man ein Zertifikat lesen. Laut der Information auf dem Schriftstück sollte dieses Stückchen eines der wenigen sein, das jemals von einem Alchimisten von Blei in Gold verwandelt worden wäre. Severus’ Interesse war geweckt. Der Preis musste unermesslich sein. Einen Augenblick lang fühlte er sich dazu animiert, das Geschenk zurückzugeben. Zum Glück hielt der logische Teil seines Gehirns ihm vor Augen, dass die Kinder allesamt aus gutsituierten Häusern stammten und dieses Objekt wahrscheinlich mit Leichtigkeit vom zusammengelegten Taschengeld besorgt wurde. Severus drehte den Rahmen um. Auf der anderen Seite befanden sich metallene Haken, die er verbiegen konnte, um die Rückwand herauszunehmen – was er auch sofort tat. Mit der herausgetrennten Rückwand hatte er die Gelegenheit, den Klumpen zu berühren. Es fühlte sich wie Gold an, aber beizeiten würde er das Stückchen auseinandernehmen und auf bestimmte Dinge überprüfen: auf die Verdampfungs- und Schmelzwärme, auf den Siede- und Schmelzpunkt, auf die Mohshärte und die Dichte des Objekts. Wenn das Stückchen Gold einmal Blei gewesen war, würde er es herausbekommen.

Schon in seiner Jugend hatte er sich für Alchemie interessiert. Mehr oder weniger war dieser alte, beinahe ausgestorbene Berufszweig mit Zaubertränken verbunden. Seine Mutter hatte seine Leidenschaft geteilt, hatte sie womöglich sogar an ihn vererbt. Schon früh erklärte sie die wundersamen Möglichkeiten, die sich in Tinkturen und Tränken verbargen. In Phiolen abgefülltes Glück und Tränke, die einem ein anderes Aussehen gaben, sprachen wohl die natürliche Neugierde jedes Kindes an. Seine Erinnerungen an damals …

Severus’ Gedankengänge stockten plötzlich, als er an die Erinnerungen dachte, die er hier im Wohnzimmer aufbewahrte. Die Erinnerungen, die er damals aus seinem bewussten Geist getrennt hatte. Eines Tages müsste er sie wieder in sich aufnehmen, wenn er nicht wollte, dass sie in falsche Hände gerieten. Erst dann wäre er wirklich wieder er selbst. Je eher, desto besser. Der Zeitpunkt schien perfekt. Severus war allein. Mit Hermine müsste er die nächsten drei Stunden nicht rechnen, auch nicht mit anderen Menschen, die ihn stören könnten.

Den Klumpen Gold eines unbekannten Alchimisten legte er zurück auf den Tisch, bevor er die vierhundert Milliliter Erinnerungen aus dem Wohnzimmerschrank nahm und zurück zur Couch ging. Das silberne Leuchten sorgte bei ihm für Gänsehaut. Einen Augenblick lang betrachtete er die Phiole, stellte sie dann aber auf den Tisch und wandte sich wahllos einem der anderen Geschenke zu, um das Übel hinauszuzögern. Er durfte selbst bestimmen, wann er die deprimierenden Erinnerungen wieder in sich aufnehmen wollte.

Unbewusst hatte er das Paket seiner Kollegen geöffnet. Es beinhaltete verschiedene Objekte, unter anderem Bücher, wertvolle Steine und seltene, getrocknete Pflanzen – eine kannte er gar nicht. Es fand sich auch eine Flasche Whisky in dem Paket. Letzteres Geschenk war eindeutig von Minerva, denn sie hatte einen Blick Qualität. Darüber hinaus kannte sie seinen Geschmack. Die Flasche war alt, zählte zu den sehr edlen Tropfen. Als er das Etikett betrachtete, huschte sein Blick unwillkürlich auf die Phiole mit den Erinnerungen, die auf dem Tisch stand und darauf wartete, dass man sich endlich ihrer annahm.

„Alles zu seiner Zeit“, murmelte er. Von dem Geräusch seiner Stimme war Harry aufmerksam geworden. Der Hund kam ins Wohnzimmer und hüpfte auf den Sessel, den er sein Eigen glaubte. „Ich gönne mir erst einmal einen Schluck“, sagte Severus in den Raum hinein.

Das erste Glas Whisky trank er, während er das Geschenk der Gryffindors öffnete. Es waren keine Geschenke darin enthalten, die ihn über alle Maßen beeindruckten, aber dennoch erfreute es ihn, dass man sich viele Gedanken darüber gemacht zu haben schien, was ihm gefallen könnte. Die Geschenke fanden bei ihm Anklang, was ihm vor Augen hielt, wie gut sie ihn einschätzen konnten, ohne ihn wirklich zu kennen. Keiner der Schüler – Draco war die absolute Ausnahme – kannte ihn persönlich etwas besser. Die Gryffindors hatten ihm ein Buch geschenkt, in welchem ein Autor über verschiedene verfluchte Gegenstände schrieb. Im Inhaltsverzeichnis fand sich die Überschrift „Zankapfel“. Wie Severus es ahnte, wurde über genau den goldenen Apfel gesprochen, der sich in seinem Besitz befand. Entweder war es Zufall oder die Gryffindors hatten einen Tipp von Draco erhalten.

Severus schenkte sich bereits ein zweites Glas ein. Während er einen Schluck nahm, blendete ihn das silbrige Licht seiner Erinnerungen, so dass er die Augen schließen musste. Ein wohlig warmes Gefühl breitete sich langsam in ihm aus. Er wurde gelassener. Die Geschenke der anderen Häuser ähnelten denen von Gryffindor. Verschiedene Bücher, in denen auch Dinge angesprochen wurden, die ihn besonders interessierten oder gar direkt betrafen. Hufflepuff vermachte ihm ein Buch von Kôji Takeda. Als Severus die Inhaltsangabe durchging, fand er ein Kapitel mit dem Titel „Hermine Granger und Severus Snape“. Neugierig schaute er auf das Datum der Veröffentlichung. Das Buch war brandneu. Er blätterte zum entsprechenden Kapitel und las mit dem dritten Glas Whisky über die Komplexität von Magie und ihre Auswirkung auf nicht-magische Pflanzen, die mit Hilfe eines neu entwickelten Farbtrankes sichtbar gemacht werden konnten. Hermine wäre davon begeistert zu erfahren, dass der japanische Professor über sie und ihre Erfindung geschrieben hatte. Mit dem vierten Glas Whisky griff er zu einem sehr dicken Buch, das in dem Paket von Ravenclaw zu finden war. Der Titel lautete schlichtweg „Der Krieg“ und war von einem Autor, den er nur vom Hörensagen kannte. Abhandlungen über Historisches lagen Severus nicht. Dennoch blätterte er auch in diesem Buch. Die Kapiteltitel klangen vielversprechend. Offenbar wurde nicht nur nüchtern über geschichtliche Begebenheiten berichtet. Der Autor gab dem Ganzen einen persönlichen Touch, indem er nicht nur Fakten nannte, sondern auch über die Personen schrieb, die zum Sieg über Voldemort beitrugen. Severus wollte gar nicht wissen, wie oft der Name Harry Potter in diesem Werk vorkommen würde, aber es überraschte ihn, dass auch ein Kapitel seinen Namen trug. Lesen wollte er es nicht, denn die Buchstaben begannen, vor seinen Augen zu verschwimmen. Ein Zeichen dafür, dass der Alkohol auf eine Art und Weise wirkte, die Severus sagte, dass der Moment gekommen war, mit dem Trinken aufzuhören. Noch nie hatte er über den Durst getrunken, weder als Schüler noch als Erwachsener. Sein alkoholabhängiger Vater war der ausschlaggebende Grund dafür.

Die Phiole lächelte ihn an. Severus legte das Buch zurück auf den mittlerweile überfüllten Tisch und griff zur seinen Erinnerungen. Durch seine nur leicht getrübte Sicht wurde der silberne Schimmer weichgezeichnet, wirkte wie eine Korona. Severus entkorkte die Phiole und tauchte seinen Stab hinein. Die Spitze fing einen von den vielen glänzenden Fäden, den Severus sich an die Schläfe hielt. Die Erinnerung tauchte in sein Gedächtnis und frischte die dort vorhandene wieder auf. Es war die Erinnerung an Regulus gewesen, der ihn eines Abends besucht hatte, um mit ihm einen Schluck Whisky zu trinken. Severus sah das als Zeichen dafür, sich ein fünftes Glas einzuschenken – diesmal jedoch mehr als nur zwei Finger breit. Regulus war, wie dessen älterer Bruder, ein ungestümer Mensch gewesen, doch im Gegensatz zu Sirius konnte Severus ihn gut leiden. Severus ließ die Erinnerung einen Moment nachwirken, hinderte sich auch nicht daran, an andere Situationen mit dem jungen Mann zu denken.

Diese Erinnerung war noch eine der harmlosen gewesen, wusste Severus. Als würde er ein Los ziehen, hielt er abermals den Stab in die Phiole und – nach kurzem Zögern – führte sie an seine Schläfe. Es handelte sich um die Erinnerungen, in der er Albus aufgesucht hatte, um ihn vor den Angriffen auf die Potters zu warnen. Severus Herz begann schneller zu schlagen, als er unweigerlich an Lily denken musste. Die schlimmste der Erinnerungen wartete noch auf ihn. Er war versucht, die Phiole wieder zu verkorken. Das Wort Feigling hallte in seinem Kopf wider. Er war kein Feigling. Zudem wusste er, was auf ihn zukommen würde. Er kannte den Inhalt der Phiole. Aber zu wissen, dass seine eigenen, verblassten Erinnerungen an die vergangenen Situationen in dem Moment aufgefrischt werden würden, wenn er sie wieder in sich aufnehmen würde, machte ihm Angst. Angst davor, sie fühlen zu müssen. Vielleicht half es, sich Mut anzutrinken. Wie er bei übermäßigem Alkoholgenuss reagieren würde, konnte Severus nicht einschätzen. Die Gefahr war groß, genau wie sein Vater in Rage zu geraten und Möbel zu Bruch gehen zu lassen. Dafür hatte er seinen Vater immer verabscheut. Der Alkohol beseitigte alle Hemmungen. Es konnte aber auch gut sein, dass Severus’ Wesen sich in eine völlig andere Richtung veränderte, vielleicht sogar gar nicht. Als Hermine einmal beschwipst war, während sie vor Severus die Rede für die Körperschaft der Tränkemeister übte, war sie lustig geworden. Allerdings war sie im Gegensatz zu ihm sowieso eine Frohnatur. Severus wollte es ausprobieren, wollte testen, wie Alkohol auf ihn wirken würde. Sollte er, wie man so schön sagte, einen Moralischen bekommen, so würde er schleunigst ins Bett gehen.

Nach und nach trank Severus einen Schluck Whisky, nahm dazu durch die Schläfe einer der alten Erinnerungen auf. Jedes Mal aufs Neue befürchtete er, die Erinnerung an Lilys Leiche würde ihn sofort in tiefste Depressionen stürzen, doch als es endlich soweit war, fühlte er nur Trauer und Reue. Vielleicht, so glaubte er, war es die Tatsache zu wissen, dass Hermine genau diese Szenerie auch gesehen hatte. In Gedanken war sie bei ihm. Er dachte viel an Hermine, nach dem sechsten Glas Whisky auch häufig an ihr Gesäß. Die Erinnerung an den Lilys Sohn, der herzzerreißend weinte, ließ ihn keinesfalls kalt, aber er hielt sich vor Augen, dass es Harry heute gut ging. Er war verheiratet, hatte ein Kind und war ein guter Freund. Was geschehen war, konnte niemand rückgängig machen. Andere Menschen hatten auch mit üblen Erinnerungen zu kämpfen. Severus wollte zu denen gehören, die ihre Vergangenheit ertrugen.

Seine Seele wurde erst von einem Schwindel ergriffen, als er die Einnahme des Ewigen Sees wieder zu einem deutlichen Bestandteil seines Geistes machte. Dieser damalige Fehler wiegte so schwer, dass er sich peinlich berührt ein weiteres Glas einschenkte und die aufkommende Verlegenheit, besonders aber das Wissen um die damalige Feigheit mit dem guten Tropfen zu ersäufen versuchte. Mit seiner vollständigen Seele sinnierte er wieder und wieder über die Motivation seines jungen Ichs. Severus kam zu dem Schluss, dass er heute, über zwanzig Jahre nach Lilys Tod, über sie hinweg war. Damals hatte er geglaubt, er würde für immer und ewig diesen Verlust, diesen Schmerz in seiner Brust tragen müssen. Diese Gefühle waren noch vorhanden, aber nicht mehr mit so einer zerstörerischen Kraft wie damals. Severus konnte es ertragen. Noch immer empfand er Liebe für Harrys Mutter. Eine unschuldige Liebe, eine innige Freundschaft. Mit ihrem Tod konnte er heute umgehen und vor allem leben, was er früher nie für möglich halten wollte. Der Ewige See hatte eine schnelle Ausflucht aus dem Schmerz dargestellt. Severus nippte an seinem Whisky, während er sein damaliges Handeln analysierte. Er hatte vorschnell gehandelt, war dickköpfig gewesen. Nur Albus war es zu verdanken, dass etwas zurückgeblieben war, mit dem nicht alle Hoffnung auf ein normales Leben verloren war. Hermine war es gewesen, die eine Lösung fand – und sie war es, mit der er jetzt ein normales Leben führen wollte.

Ein paar Erinnerungen befanden sich noch in der Phiole, doch die waren vorerst vergessen, weil er noch mit der von dem Ewigen See beschäftigt war. Fast bewegungslos saß Severus im Wohnzimmer, hielt in der einen Hand sein Whiskyglas, in der anderen die Phiole mit den Erinnerungen.

Genau so fand Hermine ihn vor, als sie zurückkehrte.

Sie betrachtete ihn, wie er mit geschlossenen Augen auf der Couch saß. Der Geruch von Whisky lag in der Luft. In der Flasche auf dem Tisch fehlte ein Drittel. Ohne die Augen zu öffnen hob Severus die Hand und setzte an, als er plötzlich eine Stimme hörte.

„Severus!“

Er riss die Augen auf, sah Hermine und gleich darauf den Grund für ihre Warnung. Er hätte beinahe aus der Phiole mit den Erinnerungen getrunken. Was für ein Missgeschick. Was wäre wohl passiert? Hätte sein Magen es aufgenommen und über Umwege an seinen Geist weitergeleitet oder hätte er es beim nächsten Gang auf die Toilette wieder ausgeschieden? Severus begann zu lachen.

„Hast du getrunken?“, fragte sie, obwohl das Beweisstück nicht nur in Form einer Flasche auf dem Tisch stand, sondern auch als Glas in seiner Hand zu finden war.
„Nicht hiervon“, beteuerte er, als er die Phiole in die Höhe hob.

Hermine stellte ihre Tasche auf den Boden und zog ihren Umhang aus, bevor sie sich neben ihn auf die Couch setzte. Mit wachen Augen nahm sie die Details wahr und hielt sich vor Augen, wie er seine Zeit verbracht haben musste. Die offenen Geschenke lagen auf dem Tisch – die Flasche war offenbar eines davon. Sie konnte sich nur nicht erklären, warum er sich unbedingt heute mit seinen Erinnerungen beschäftigte.

„Warum jetzt?“
„Der Augenblick war günstig. Du warst nicht da.“
Diese Worte drehte Hermine einen Moment lang in Gedanken hin und her, bis sie glaubte, die wahre Bedeutung dahinter herausgehört zu haben. „Wenn du mal allein sein möchtest, musst du es nur sagen. Ich kann auch in mein Zimmer gehen.“ Sie erinnerte momentan an einen Hund, dem man gesagt hatte, er müsste auch bei Regen draußen schlafen.
Er schüttelte den Kopf, schloss sofort darauf die Augen, weil die Bewegung ihn schwindelig machte. „Wenn du schon Zuhause bist, möchte ich die Zeit auch mit dir verbringen.“ Mit glasigem Blick schaute er auf sein Whiskyglas. Ganz leise gestand er: „Ich möchte nicht mehr allein sein.“
„Bist du nicht“, versprach Hermine, legte dabei eine Hand auf seinen Unterarm.
Bevor Trübsinn ihn einnehmen konnte, wollte er sich nach ihrem Tag erkundigen. Nebenher registrierte er, dass er die Zunge in seinem Mund nicht mehr einwandfrei seinen Befehlen gehorchte. Leicht lallend fragte er: „Wie war’s bei den Longlottons?“ Hermine lachte, verbesserte ihn jedoch nicht. Von ihrer heiteren Stimmung amüsiert schaute er ihr in die Augen und stellte dabei eine beunruhigende Tatsache fest. „Du hast geweint.“
Sie lächelte, obwohl er die Wahrheit erkannt hatte. „Ja, ich habe geweint. Ich war nicht die Einzige. Harry …“ Er hatte Alice und Frank über das Schicksal seiner Eltern aufgeklärt. Hermine seufzte.
„Ah“, machte Severus, dem der gleiche Gedanke gekommen war. „Wie ham‘ sie’s verkraftet?“
„Sie waren beide tottraurig. Frank wollte nicht, dass man sie weiterhin im Dunkeln lässt. Er hat von seiner Mutter gefordert, alle Karten auf den Tisch zu legen. Sie wollten wissen, wer alles gestorben ist.“

Severus’ Kopf senkte sich unmerklich nach vorn, was er im ersten Moment gar nicht zu merken schien und als er es bemerkte, hob er ihn ruckartig. Es konnte Hermine gar nicht entgehen, dass Severus angetrunken war. Einen Vorwurf machte sie ihm nicht. Solang er ruhig blieb, hatte sie damit kein Problem. Neugierig war sie trotzdem.

Unverblümt sprach sie seinen Zustand an. „Warum hast du getrunken?“
„Weil …“ Er hielt inne, spitzte die Lippen und dachte nach. „Es hat sich so ergeben.“
„Aha“, machte sie überrascht. „Und es hat sich auch ergeben, dass du deine Erinnerungen wieder in deinen Kopf stopfst.“
„Ganz genau“, stimmte er mit hin und her schlenkerndem Kopf zu. Eine seine Hände hielt den Kopf wieder still. „Außerdem habe ich herausgefunden, dass ich im alkoholisierten Zustand keineswegs wie mein Vater bin. Wie du siehst“, er zeigte ungenau ins Zimmer, „ist nichts zu Bruch gegangen.“
„Du hättest nicht trinken müssen, um dir zu beweisen, dass du nicht wie dein Vater bist. Harry ist auch nicht wie sein Vater“, gab sie ihm zu denken. „Und Draco auch nicht.“
„Ha!“, stieß Severus plötzlich aus. „‘türlich ist er wie Lucius, nur ein bisschen“, er machte eine abwägende Bewegung mit der Hand, „freundlicher.“ Severus versuchte, eine Augenbraue zu heben, doch die war schwer wie Blei. „Mittlerweile zumindest“, warf er noch hinterher. „Früher war er das genaue Ebenbild von Lucius.“
Hermine nickte. Ihr Blick fiel auf die Phiole in Severus’ Händen. „Wie viele Erinnerungen sind noch drin?“
„Ich glaube, eine fehlt noch. Die, als Narzissa mich fragt, ob ich Dracos Pate werden möchte.“

Ohne Umschweife tunkte er den Zauberstab hinein und nahm die letzte Erinnerung über die Schläfe auf. Hermine beobachtete ihn dabei. Er hatte die Augen geschlossen und atmete tief durch, als er sich an alles wieder sehr lebendig erinnern konnte.

„Regulus hätte sich Hilfe holen sollen“, sagte Severus plötzlich. Hermine wusste noch, dass Narzissa in besagter Erinnerung vom Tod ihres Cousins gesprochen hatte. „So ganz allein nach einem Horkrux zu suchen …“ Severus schüttelte den Kopf. „Was für ein Narr“, sagte er leise, aber keineswegs bösartig, sondern mit ein wenig Bedauern in der Stimme. Die leere Phiole stellte er auf den vollen Tisch. „Jetzt bin ich wieder ich selbst.“ Unerwartet schlug er Hermine mit der flachen Hand auf den Oberschenkel. „Und morgen, wenn ich wieder nüchtern bin, kümmere ich mich um die Rechnung.“
Sie konnte ihm nicht mehr folgen. „Ich habe gestern alles bezahlt. Was für eine Rechnung meinst du denn?“
„Die, die ich mit deinem Allerwertesten noch offen habe. Hat mir heute ganz schön zugesetzt, der freche …“ Er säuselte etwas Unverständliches. „Hat mich die ganze Zeit geneckt.“
Hermine begann zu grinsen. „Hast du es also doch gemerkt.“
Perplex lehnte sich Severus zurück und versank in den weichen Kissen der Rückenlehne. „Das war Absicht?“
Verschämt blickte sie auf ihre Hände und spielte ihm die Unschuld vom Lande vor. „Ich wusste ja nicht, ob ich es noch kann.“
„Hermine?“ Noch immer schaute sie nach unten, wo seine Hand auf ihrem Schenkel ruhte, was ihm nicht bewusst zu sein schien. „Sieh mich an.“ Als sie aufblickte, zeigte er mit einer Hand die Mitte seiner Brust. „Hier drin schlägt ein Herz“, sagte er mit lehrerhafter Stimme. „Geh sorgsam damit um, sonst bleibt es eines Tages noch stehen, wenn du zu solchen Methoden greifst.“
„Also hat es gewirkt?“, wagte sie auch noch grinsend nachzufragen.
Er nickte bestätigend. „Leider hat der Alkohol auch gewirkt.“ Den Rest im Glas schluckte er hinunter. „Ich habe genug. Wie spät ist es eigentlich?“
„Kurz nach zwei Uhr.“
Die Uhr an der Wand sollte ihm die Zeit bestätigen – er wusste nur nicht, ob er auf die rechte oder linke schauen sollte. „Nachts? Warum bist du erst so spät hier?“
„Ich war in der Bibliothek.“
Severus blinzelte einige Male, aber das eher, weil andere Gegenstände im Raum sich ebenfalls verdoppelten. „Wir haben keine Bibliothek.“
„Ich war erst in der Stadtbibliothek und als die schloss, bin ich mit Harry nach Hogwarts gegangen. Er hat mich um etwas gebeten.“
Tief ein und aus atmend hob Severus beide Hände. „Ich möchte dich auch um etwas bitten. Verlegen wir das Gespräch auf morgen. Ich bin nicht mehr aufnahmefähig.“
„Möchtest du ins Bett?“ Auf ihre Frage hin nickte er. „Soll ich dir einen Neutralisierungstrank gegen den Alkohol geben?“ Das Kopfschütteln fiel ihm schwerer. Seine Stirn schlug Falten. „Oder reicht ein Eimer am Bett.“
„Mir ist nicht übel. Ich fühle mich bis auf die verschwommene Sicht ganz gut, danke.“ Als er aufstehen wollte, half sie ihm. Beim ersten Mal schwankte er und fiel zurück auf die Couch. „Mir wird schlecht.“
„Also doch ein Eimer“, sagte sie amüsiert zu sich selbst. „Los, wir versuchen nochmal aufzustehen.“

Als Severus auf dem Bett saß, war er zu nichts zu gebrauchen. Über eine losgetretene Diskussion, ob sie ihm beim Ausziehen helfen sollte oder nicht, schlief er schlichtweg ein, so dass sie kurzerhand sämtliche Knöpfe öffnete, die sie an seiner Kleidung fand und sich Schicht für Schicht zum Körper darunter vorarbeitete. Die Unterhose war das Einzige, was Severus noch am Leib trug, als Hermine mit der kraftzehrenden Arbeit fertig war. Es war alles andere als erotisch, einen betrunkenen Mann zu entkleiden, aber einen gewissen Unterhaltungswert musste sie der Situation zuschreiben.

In der Wohnung über der Apotheke wurden bald die Lichter gelöscht und Ruhe kehrte ein.

In einem anderen Gebäude war trotz der späten Stunde noch nicht an Schlaf zu denken. Im Keller des Gunhilda-von-Gorsemoor-Sanatoriums brannten Fackeln, als eine Person sich nicht zum ersten Mal an den alten Aktenschränken zu schaffen machte. Schritt für Schritt suchte Marie Amabilis nach Hinweisen. Manche alten Krankenhauspapiere waren nicht mal mehr als solche zu erkennen. Einige wiesen Brandflecke auf, bei anderen hingegen zeugte der Abdruck einer übergelaufenen Kaffeetasse von der Unvorsichtigkeit damaliger Heiler.

Es war ein mächtiger Trieb, diese fiebrige Neugier. Marie hatte schon mehrmals Nächte im Archiv verbracht. Nicht mehr nur für Lucius, sondern um ihre eigene Wissbegierde zu stillen suchte sie wieder und wieder nach einer Spur, einem Hinweis – nach irgendetwas, das den Verbleib der alten Mrs. Malfoy klären könnte. Einen Vornamen hatte Marie nicht, aber der war auch unwichtig. Die vergessenen Akten waren nach dem Datum der Einweisung sortiert. Von Lucius hatte sie das Jahr der Einlieferung ins Sanatorium bekommen. Mittlerweile war sie bei August angelangt.

Es gab Akten, die sie bei ihrer Suche aufhielten. Manche von ihnen stammten aus dem vorigen Jahrhundert. Marie las die weit zurückliegenden Fälle aus reinem Interesse, weil sie Informationen über Erkrankungen und damalige Behandlungsmethoden lieferten. Einige waren erschreckend unmenschlich, geradezu abstoßend. Marie tauchte in die alten Berichte über Depressionen, Hysterien und Zwangsstörungen von längst verstorbenen Patientinnen ein. Bei einem 20jährigen Dienstmädchen fand man bei der Leichenöffnung 48 Nadeln im ganzen Körper, die die Frau geschluckt hatte. Der Ekel war groß, über solche Handlungen zu lesen, doch das heilerische Interesse an Störungen des menschlichen Bewusstseins wog schwerer. In Gedanken malte sich Marie manchmal aus, wie sie mit diesen Patientinnen umgegangen wäre. Sie hätte jedenfalls niemals „Masturbation“ als Todesursache auf den Leichenschauschein geschrieben.

Die damaligen Verhältnisse im Gunhilda-von-Gorsemoor-Sanatorium waren nicht anders als in anderen Stätten dieser Art. In Bezug auf psychische Störungen von Hexen und Zauberern war man früher genauso hilflos wie die Muggel.

Bei der nächsten Akte konnte Marie den Namen nicht ausmachen, also begann sie damit, die erkennbaren Fakten zu studieren. In diesem Fall wurde eine Frau von ihrem Mann eingewiesen. Das könnte auf Mrs. Malfoy zutreffen, dachte Marie, doch die anderen Fälle zeigten, dass eine Einweisung durch Familienmitglieder damals leider keine Seltenheit darstellte. Oftmals hatte man sich auf diese Weise eines Squibs entledigt, indem man ihn in die Obhut der Heiler gab. Die Patientin in diesem Fall hätte sich bei der Hospitalisierung vehement gewehrt, stand auf dem leicht vergilbten Pergament geschrieben. Sie wäre cholerisch gewesen und wurde daher sofort mit einem Trank ruhig gestellt. Marie sah in der Handlung der Frau noch keine Notwendigkeit für eine Ruhigstellung. Konzentriert las sie weiter. Wegen der sofort eintretenden Nahrungsverweigerung wurde die Patientin über einen kurzen Zeitraum zwangsernährt. Zur damaligen Zeit hieß das, dass der Leib des Patienten mit magischen Fesseln fixiert wurde, vorzugsweise an einem leicht nach hinten gekippten Stuhl. Man schnallte den Kopf fest und öffnete mit einer Klemme oder wahlweise einem Zauberspruch den Mund, damit man dem Patienten eine breiartige, vitaminreiche Substanz im wahrsten Sinne des Wortes eintrichtern konnte. Diese Methode wurde in Heilstätten nur kurz beibehalten, weil nicht wenige Patienten bei dieser Behandlung die Chance sahen, absichtlich einen Erstickungstod herbeizuführen. Marie war froh, dass man in der heutigen Zeit auf solche Methoden verzichtete. Die Heiler, allesamt ratlos, griffen manchmal zu fragwürdigen Experimenten. Es stand bei unbekannten Erkrankungen nicht mehr das Wohl des Patienten an erster Stelle, sondern das wissenschaftliche Interesse der Großkopferten.

Die zwei folgenden Seiten waren unleserlich, also blätterte Marie zur dritten. Ein Heiler diagnostizierte bei der Frau „Depersonalisation“, was nichts anderes bedeutete als eine Veränderung des Persönlichkeitsgefühls. Die Patientin hätte sich selbst nicht mehr erkannt, kam sich völlig fremd vor und tat die Situation, in der sie sich befand, als Täuschung ihrer Sinne ab. Marie las die Hilflosigkeit dieser Frau heraus. Man hatte sie aus ihrer bekannten Umgebung gerissen und in ein Sanatorium gesteckt. Die Nahrungsverweigerung könnte aus der Machtlosigkeit resultiert haben, stellte womöglich nur einen Protest der Patientin dar, weil sie Herr über sich selbst bleiben wollte. Alle bisher genannten Fakten waren in Maries Augen noch keine Bestätigung für eine gesundheitliche Störung jedweder Art. Es wurde von einem sozialen Rückzug der Patientin berichtet. Sie sprach kaum noch und wenn, dann gab sie nur sehr knappe Antwort. Diese Alogie wurde als Ich-Störung diagnostiziert, einem Vorläufer der Schizophrenie.

Für Marie war nicht klar, ob die Patientin mit den Heilern nur nicht sprechen wollte, weil man sie ihrer Freiheit beraubt hatte und sie sich ungerecht behandelt fühlte. Im ersten Moment schien das eine normale Abwehrreaktion darzustellen. Zudem konnte die Patientin keine Freude mehr empfinden, was man gleich als Anhedonie bezeichnete, anstatt vielleicht Heimweh in Betracht zu ziehen. Nach nur zwei Wochen konnte man schwerlich so gewichtige Diagnosen stellen, dachte sich Marie und kratzte sich dabei am Kinn. Marie hätte sich die Zeit genommen, mit der Frau einfach nur zu reden, sich den Kummer anzuhören. Sie hätte für die Patientin ein offenes Ohr gehabt. Mitleid breitete sich in Marie aus, als sie über Antriebslosigkeit und Gemütsverstimmungen las. Ein Heiler schien eine besondere Freude daran gehabt zu haben, seine Berichte durch sein engstirniges, pedantisches Denken so zu formulieren, dass eine tatsächliche Erkrankung nicht angezweifelt werden würde, doch Marie zweifelte.

Der Name der Patientin war bisher nicht im Text aufgetaucht. Mehrmals hatte Marie versucht, den Namen auf dem Deckblatt der Akte zu entziffern. Da war ein b im Vornamen, gefolgt von einem e oder i und einem völlig unkenntlichen Zweitnamen. Im Nachnamen kam ein f vor. Hoffnung machte sich Marie nicht, aber wenn sie tatsächlich die gesuchte Akte in den Händen halten sollte, dann würde sie sich nur umso mehr darüber freuen.

Um vier Uhr morgens hatte Marie das Ende der Akte erreicht. Das Schicksal der unbekannten Frau ging ihr nahe. Für fünfzehn Jahre war sie Patientin des Gunhilda-von-Gorsemoor-Sanatoriums gewesen. Absolut nichts in der Akte stellte für Marie einen Beweis dar, dass die Frau ernsthaft krank gewesen sein sollte. Sie schien lediglich resigniert zu haben, hatte sich ihrem unabänderlichen Schicksal ergeben.

Marie wollte für heute aufhören und die Akte schließen, da bemerkte sie ein kleineres Blatt, das am hinteren Pappdeckel befestigt war. Die Kopie eines Überweisungsscheines an das Abraham Panagiotis Genesungsheim. Marie kannte diese Einrichtung. Spezialisiert war man dort auf Opfer von Dementoren, doch andere Patienten kamen in diesem Haus ebenfalls unter.

Auf der Ãœberweisung stand der Name der Patientin klar und deutlich:
Abélia Estelle Malfoy, geb. Rosier.


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