von Muggelchen
Als Susan erwachte, fand sie die andere Hälfte des Bettes leer vor.
„Draco?“
„Hier bin ich“, erwiderte er, während er den Kragen eines edlen Hemdes schloss. „Steh auf, meine Gute.“
Sie rieb sich die Augen. „Wie spät ist es?“ Als sie durch die vom Schlaf noch ganz engen Lider schaute, erblickte sie ihn am Fußende. „Und warum bist du schon angezogen?“
„Wir gehen gemeinsam frühstücken – und zwar im Schloss Schnatzer!“ Bevor sie Fragen stellen konnte oder sich nörgelnd über die frühe Uhrzeit äußern konnte, fügte er schnell hinzu: „Harry hat uns gestern dazu eingeladen.“
Susan richtete sich im Bett auf, suchte eine Uhr. „Wie spät ist es?“
„Halb acht.“
Sofort warf sie sich zurück in die Federn. „Ich bin müde.“
Das Hemd saß. Draco warf sich eine Jacke über, die sehr der eleganten Garderobe seines Vaters ähnelte. „Soll ich etwa alleine auf der Bildfläche erscheinen?“
„Warum können wir nicht einfach hier frühstücken?“
„Weil wir hier das Frühstück alleine machen müssten.“ Vorsichtig zog er an ihrer Decke, doch Susan hielt sie mit aller Kraft fest, so dass er lachen musste. Unerwartet verließ er den Raum, um nur wenige Minuten später mit Charles auf dem Arm zurückzukommen. „So, mein Kleiner“, er setzte den putzmunteren Jungen auf dem Bett ab, „dann weck mal deine Mama.“ Die ersten Zähnchen waren zu sehen, als Charles grinsend auf dem Bett in Richtung Susan krabbelte.
„Hallo Spätzchen!“ Ihre Laune hatte sich komplett gewandelt. Freudig hielt sie dem Jungen die offenen Arme entgegen. „Komm her. Mir ist nach Kuscheln.“
„Aber nicht, dass ihr beide wieder einschlaft.“
„Meine Güte, Draco“, beschwerte sie sich, „was ist los? Warum willst du unbedingt …“ Langsam wurde sie skeptisch. „Was hast du vor?“ Ihr Gatte setzte eine Unschuldsmiene auf, doch davon ließ sie sich nicht täuschen. „Geht es um das, was du gestern über deinen Patenonkel erfahren hast?“
„Möglich?“
„Und wenn er heute gar nicht da ist?“
„Ich könnte auch Hermine ganz einfach meine herzlichsten Glückwünsche übermitteln.“ Er machte eine stoppende Geste mit seiner Hand, weshalb sie innehielt. „Und wenn sie auch nicht kommen sollte, was ich mir nicht vorstellen kann, dann möchte ich trotzdem Harry besuchen und mich bedanken, wie auch immer er das vollbracht hat.“
Völlig ahnungslos schüttelte Susan ihren Kopf. „Was soll das wieder heißen?“
Ein Seufzer entwich ihm. „Ich habe zwar gerade eben alle Knöpfe geschlossen, aber wenn du unbedingt sofort eine Antwort möchtest …“
So schnell es ging öffnete er die Knöpfe seines Hemdes und legte seinen Oberkörper frei. Im ersten Moment wusste Susan nicht, was er meinte, doch dann fiel es ihr auf.
„Wo ist die Narbe?“, wollte sie wissen.
„Das ist genau die Frage, die ich Harry gern stellen möchte.“ Sein Körper wies keine Spuren mehr von damaligen Dummheiten auf, weshalb Draco zufrieden lächelte. „Ich bin mir sicher, er hat etwas damit zu tun.“
Neugierig schwang Susan sich aus dem Bett und eilte zu ihm, um sich aus nächster Nähe selbst von seiner unversehrten Haut zu überzeugen. Mit einer Hand strich sie an der Stelle entlang, an der gestern noch die Narbe zu sehen war, als sie sich liebten. „Das geht nicht mit rechten Dingen zu.“ Es war nicht mal mehr andeutungsweise etwas zu sehen, keine hellere Haut, kein Kratzer – nichts. Mit einem Finger lüpfte er den Träger ihres Nachthemdes, lehnte sich vor und wollte ihr gerade einen Kuss auf die Schulter geben, da stieß sie ihn leicht zurück. „Nicht da“, bat sie beschämt. Sie war der Meinung, die Wunde an ihrer Schulter würde sie unattraktiv machen. Weder wollte sie dort berührt werden noch sollte jemand ihre Narbe sehen. Hemden und T-Shirts umrandeten den Hals stets so eng, dass nicht einmal der Zufall einen Blick erhaschen konnte.
„Was hast du denn?“, fragte er grinsend. Er überraschte sie, indem er ihr doch noch einen Kuss auf die Schulter gab.
Sie schreckte zurück und hielt eine Hand an die Stelle, die sie so sehr an den Krieg erinnerte, doch heute war dort keine harte Kerbe zu spüren. Susan drehte den Kopf, konnte aus diesem Winkel jedoch nichts erkennen, weshalb sie in Windeseile ins Badezimmer lief, um den Spiegel zu Rate zu ziehen. Draco folgte ihr mit Charles. Der Kleine fing an zu nörgeln, kaum dass er das Töpfchen in der Ecke sah. Er wollte es nicht versuchen. Die Windeln waren viel gemütlicher. Er quengelte so lange, bis sein Vater ihn auf den Boden absetzte. Draco hatte sowieso nur Augen für Susan. Fassungslos starrte sie in den Spiegel, den Blick auf die Schulter gerichtet. Sie war weg, die tiefe, längliche Narbe, in der ein kleiner Finger Platz gehabt hatte. Susan hielt sich eine Hand vor den Mund, um die bebenden Lippen zu verbergen, aber Draco sah an ihren Augen, dass sie mehr als nur gerührt war.
Im Zimmer von Dracos Eltern herrschte bereits Aufbruchsstimmung. Narzissas Haar war hübsch hergerichtet, ihr Kleid spiegelte zeitlose Eleganz wider und ihr Lächeln würde selbst einem Griesgram gute Laune bescheren. Sie stand vor dem Spiegel und versuchte, ihren Ohrring anzulegen, doch es missglückte.
„Lucius, kommst du mal bitte?“ Als er hinter ihr durch die Tür trat und sie von oben bis unten bewunderte, begann ihr Gesicht im Spiegel noch breiter zu lächeln. „Würdest du mir bitte helfen? Ich bekomme den Ohrring nicht durch.“
„Gibt es dafür denn keinen Zauber?“, stichelte er auf freundliche Weise, obwohl er sich ihr längst genäherte hatte und die Hand aufhielt. Sie legte das Schmuckstück mit dem dezenten Diamant in seine Handfläche. Vorsichtig legte er ihren Kopf schräg, strich mit dem Zeigefinger hinter dem weichen Ohrläppchen entlang und stutzte plötzlich. „Ich kann dir sagen, warum du ihn nicht durch das Loch bekommen hast.“
„Und warum?“
„Es ist kein Loch zu sehen.“ Um sich von seiner eigenen Aussage zu überzeugen, lehnte er sich vor und betrachtete sie aus nächster Nähe. „Kein Loch“, bestätigte er.
„Das kann doch aber nicht …“ Sie wandte den Kopf und beugte sich zum Spiegel vor. „Erst gestern habe ich noch welche getragen. Wie ist das möglich?“
„Ich habe keine Ahnung, meine Teuerste. Aber soll ich dir etwas verraten?“ Von hinten umarmte er sie und zog sie zu sich, damit sie von dem Spiegel abgelenkt war. „Du bist ohne glanzvollen Zierrat genauso hübsch wie mit. Nein, was sag ich? Du brauchst überhaupt keinen Schmuck. Wie soll man auch etwas so Vollkommenes wie dich noch verschönern?“
Anstatt sich mit Worten für dieses Kompliment zu bedanken, drehte sich Narzissa in seinen Armen und ließ mit einem Kuss ein wenig von der gestrigen Leidenschaft aufflammen. Mit glänzenden Augen blickte sie zu ihm auf. „Dann heute ohne überflüssigen Schmuck. Komm“, sie gab ihm einen weiteren Kuss auf die Lippen, „lass uns den Picknickkorb packen. Ich möchte frühzeitig am See sein, damit wir uns mit Zaubern vor neugierigen Blicken absichern können.“
In der Küche traf das junge Ehepaar auf das ältere. Draco hatte Charles an die Hand genommen. Der Junge lief noch sehr wackelig und setzte sich oft und gern auf den Boden, um seinen kleinen Beinen eine Verschnaufpause zu gönnen.
„Mutter, Vater, guten Morgen.“ Draco legte beide Hände auf die Lehne eines Stuhls. „Sagt, könntet ihr bitte auf Charles aufpassen, während Susan und ich …“
Sein Vater blickte ihn mit fröhlichem Gesichtsausdruck an, hob dabei eine Hand in stoppender Geste. „Ich bedaure, aber heute haben deine Mutter und ich schon etwas anderes vor.“ Dracos Blick landete wie auf Kommando auf den Picknickkorb, in den seine Mutter noch eine Flasche Wein legte. „Wir werden heute den ganzen Tag unterwegs sein.“
„Oh“, machte Draco irritiert. Es war lange her, dass er seinen Vater so lebensfroh erleben durfte.
Susan winkte ab. „Das macht doch nichts, Draco. Wir nehmen Charles mit. Bestimmt ist Nicholas auch da. Dann hat er jemanden zum Spielen.“
Lucius ließ es sich dennoch nicht nehmen, seinen Enkel herzlich zu begrüßen. Er nahm ihn auf den Arm. Von Rückenschmerzen keine Spur. „Mein Engelchen“, sagte Lucius mit vor stolz geschwellter Brust. Susan wandte sich ab, damit niemand sehen würde, dass sie sich das Lachen verkneifen musste. Charles blickte seinem Großvater erwartungsvoll in die Augen und horchte auf, als der sagte: „Wir beide, das verspreche ich dir“, Lucius war voller Leben, „gehen demnächst auch zum See, um uns ein wenig im Wasser zu tummeln. Hast du dazu Lust?“ Charles verstand kein Wort, aber der Tonfall des Mannes, der ihn trug, war sehr freundlich, also grinste Charles so breit, wie seine Gesichtsmuskeln es zuließen. „Ja“, bestätigte Lucius mit warmer Stimme, „das wird dir gefallen, da bin ich mir ganz sicher.“ Narzissa verbarg die Freude über den Umgang ihres Mannes mit dem Enkel nicht und lächelte offenherzig. „Ich werde einen großen Ball zaubern, der mit Luft gefüllt ist und dann …“
„Wollt ihr ihn nicht doch mitnehmen?“, fragte Draco scheinheilig.
Lucius wandte sich an seinen Sohn. „Nein, nicht heute.“ Den Enkel setzte er behutsam auf dem Boden der Küche ab. „Ein andermal gern.“
Weit entfernt von Malfoy Manor schien die Sonne in das Zimmer von dem Lehrer für das Fach Pflege magischer Geschöpfe, aber die Sonnenstrahlen trafen nicht nur sein Gesicht. In der heutigen Nacht war Remus nicht allein gewesen. Tonks’ Beruf als Auror erlaubte es ihr selten, ein Wochenende bei ihrem Verlobten zu verbringen, doch um diese Nacht hatte sie gekämpft. Mal nicht für den Notfall in Bereitschaft stehen, mal nicht damit rechnen müssen, alles stehen und liegen zu lassen, um sich einer Nacht-und-Nebelaktion anzuschließen. Die ständige Bereitschaft stellte eine Beziehung auf die harte Probe. Alastor, Dawlish, Kingsley – sie alle waren ungebunden. Der Beruf Auror machte viele Menschen einsam, aber auch Werwölfe waren oftmals allein. Tonks und Remus hatten sich gefunden und hielten einander fest. Das Schicksal könnte sie zwar trennen, aber niemals entzweien. Zusammen in Ruhe einschlafen zu dürfen zählte bereits zu einem großen Privileg, weil spontane Nachtarbeit häufig einen Strich durch die gemeinsame Zeitplanung machte. Tonks wollte nach der Hochzeit in den Armen ihres Verlobten einschlafen, aber viel mehr noch wollte sie genau dort wieder aufwachen, um wenigstens einen Hauch des ersehnten Alltags am eigenen Leib zu spüren, den andere Paare nach einer gewissen Zeit als langweilig empfinden würden. Tonks fand es kein bisschen langweilig, Remus beim Schlafen zuzusehen. Nur dann waren die winzigen Sorgenfältchen neben seinen Augen verschwunden, die sich nur bildeten, wenn Remus befürchtete, die Anwesenheit eines Werwolfs könnte seinen Mitmenschen unangenehm sein, auch wenn die stets das Gegenteil versicherten. Nur im Schlaf war er frei von dem Zwang, es jedem recht machen zu wollen.
Als Remus erwachte, fühlte er eine Hand liebevoll über seine unbekleidete Seite streicheln, nicht zu zaghaft, so dass es nicht kitzelte.
„Mmmh“, brummte er wonnig, hieß die Berührung willkommen. Die Augen wollte er noch nicht öffnen, dazu war die Sonne zu hell.
„Remus“, flüsterte Tonks leise. Er antwortete abermals mit einem brummenden Laut. „Remus, bist du wach?“
„Nein“, konnte man gerade so verstehen.
Tonks lachte, schmiegte sich dann an ihn, um ihn an Armen, Schulter und Brust wachzustreicheln. „Remus?“
„Was ist denn?“, fragte er mit müder Stimme und einem Hauch kindlicher Nörgelei. Mutig blinzelte er. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Helligkeit. Sofort zog ihre Haarfarbe seine Aufmerksamkeit auf sich. Ein warmes Hellbraun wie sein eigenes, nur ohne ein Anzeichen von Grau. Sie fühlte sich gut. Ihre Gemütsstimmung färbte auf ihn ab. Er lächelte – mit dem Mund und den Augen. Mit den Fingern wuschelte er ihr durch die Frisur. „So gut gelaunt?“
„Das bist du auch gleich“, beteuerte sie. „Das bist du auch gleich, Remus.“ Sie richtete sich auf und legte erneut eine Hand an die Stelle, die er vorhin schon spürte, als er erwachte. „Sieh nur.“ Müde stützte er sich auf den Ellenbogen ab und blickte an sich hinunter. Ihre Finger tänzelten über die empfindliche Stelle unter den Rippen. „Sieh dir das an, Remus! Das ist unglaublich.“
„Was …?“ In diesem Moment traf ihn die Erkenntnis so hart wie ein Klatscher. Seine Augen sahen es, aber sein Verstand weigerte sich, das Gesehene als Tatsache anzuerkennen. Was aus logischer Sicht nicht möglich war, durfte nicht sein. „Wie …?“ Noch immer war seine Sprachfunktion durch den surrealen Anblick, der sich ihm bot, gemindert. Er hatte hier einen unerklärlichen Fakt vor Augen. Sein heller Geist wollte sich der Leichtgläubigkeit jedoch nicht hingeben. „Das ist nicht möglich!“
„Aber es ist wahr!“, beteuerte Tonks. „Die Narbe von dem Biss ist verschwunden.“
Erst jetzt tastete seine eigene Hand nach dem, was er sehen konnte. Remus rechnete fest damit, die leichten Unebenheiten des weißen Gewebes zu spüren, die seit seinem sechsten Lebensjahr – seit dem Biss durch Greyback – mit ihm gewachsen waren und einen Teil von ihm darstellten. In jeder Lebenslage hatte er diese alten Narben gefühlt: beim Ankleiden, beim Baden, beim Sex. Ein ziehendes Gefühl der Narben hatte ihm damals verlässlich ein Gewitter vorhergesagt oder auch Schneefall, wenn sie juckten. Draußen schneite es nicht, obwohl er gestern unter so starkem Juckreiz litt, dass er mit einer Salbe Linderung schaffen musste.
„Wie kann das sein?“ Remus sprang – hellwach und splitternackt – aus dem Bett und eilte zum Fenster, zum Sonnenlicht. Die leichten Gardinen zog er beiseite, um die Stelle am Körper genauer betrachten zu können.
„Remus …!“, warnte Tonks zu spät.
Von draußen ertönte ein kurzer, heller Schrei. Davon aufgeschreckt ließ Remus die Gardine fallen und presste sich neben das Fenster an die Wand. Tonks lachte. Sie zog sich schnell einen Morgenmantel über und sprintete zum Fenster, das sie kurzerhand öffnete. Die Person, die sich erschrocken hatte, hielt sich eine Hand über den Mund und eine aufs Herz. Tonks setzte eine ernste Miene auf, was ihr bei der vorangegangenen Situation nicht leicht fiel.
„Entschuldigen Sie vielmals, Professor Sprout.“
„Bei Merlin!“, schimpfte die Lehrerin für Kräuterkunde. „Sie können von Glück reden, dass kein Schüler hier mit mir entlanggeht.“
„Es tut ihm sehr leid“, sie schaute kurz zu Remus hinüber, dessen Wangen vor Scham rot glühten, „glauben Sie mir bitte. Das war keine Absicht.“
„Ach“, Pomona winkte ab, „Schwamm drüber.“ Die rundliche Kräuterkundelehrerin setzte ihren Weg zu den Gewächshäusern fort. Tonks schloss das Fenster wieder und zog die Gardinen zu, bevor sie sich an Remus wandte. „Das sollte dir eine Lehre sein.“
„Ich habe nicht damit gerech… Meine Güte!“ Er holte tief Luft und stieß sie schnaubend wieder aus. Wie von allein befühlte eine Hand die unversehrte Stelle an seiner Seite. „Wie ist das nur geschehen? Und was bedeutet das?“ Die Hoffnung, die sich in ihm ausbreiten wollte, ertränkte er in Zweifeln. „Das kann nicht sein!“ Ein Spiegel war das nächste Objekt, das Remus völlig aufgelöst zurate zog. Sie war tatsächlich weg, genau wie Harrys Narbe verschwunden war. „Ob Harry was damit zu tun hat?“, schoss es ihm durch den Kopf. Nervös fuhr sein Blick an seinem nackten Körper auf und ab. Es war kein Trugbild. Jedesmal, wenn er die alte Wunde erwartete, war sie nicht zu sehen. „Zieh dich an!“, forderte er von Tonks. „Ich muss unbedingt mit Harry sprechen.“ Remus begann sofort damit, sich frische Kleidung überzuwerfen, während Tonks noch einen Moment die unversehrte Haut an ihrem Verlobten bewunderte und sich heimlich fragte, ob es noch mehr gab, das über Nacht verschwunden war.
Die Sommersonne weckte nicht nur die Menschen. Die Ersten, die erwacht waren, waren die gefiederten Freunde. Mitten in der magischsten Ecke von London, der Winkelgasse, trällerten die Vögel durch die Fenster hindurch. Dabei wurden sie von den wachen Augen eines Knieselmischlings beobachtet, für den es eine Qual war, den netten Tieren nicht persönlich hallo sagen zu können. Nachdem er so viel Butter geschleckt hatte, war er sowieso viel zu träge, um dem Federvieh hinterherjagen zu können, doch es machte Spaß, sie wenigstens zu beobachten. Sein Frauchen bekam von dem aufregenden Leben, das man durch das Fenster hindurch betrachten konnte, nichts mit, denn sie schlief auf der Couch, wenn auch nicht direkt auf dem Möbelstück.
Widerwillig verließ Severus das Traumland, das er zu seinem Erstaunen in letzter Zeit immer öfter besucht hatte. Träume waren für ihn ungewohnt. Als Kind hatte er viele gehabt, schöne und schlimme. Die stetig wachsende Seele ermöglichte es, surreale Bilder und Situationen als nächtliches Unterhaltungsprogramm zusammenzustellen. Der heutige Traum zählte zur Kategorie Romanze und stellte eine willkommene Abwechslung zu den aufflackernden Bildern dar, die sein Geist ihm die letzten zwanzig Jahre während des Dämmerzustands kurz vor dem Schlafengehen als Mahnung an seine Taten zeigte. Schreie in der Dunkelheit, ein Wimmern um Gnade – all das sollte der Vergangenheit angehören.
Die Augen hielt er geschlossen. Während sein Geist wacher und wacher wurde, führte Severus sich die schönsten Szenen aus der nächtlichen Ballade des gesundeten Gemüts vor Augen. So schön die Momente des frühen Morgens und des folgendes Traums auch waren, sein Nacken tat ihm ein wenig weh, was daran liegen mochte, dass er auf der Couch eingeschlafen war. Eine angenehme Wärme umgab ihn, außerdem spürte er, dass etwas Weiches auf ihm lag. Es kitzelte ihn an der Hakennase. Severus ging davon aus, dass sein Hund ihn wieder einmal als biologisch abbaubare Heizdecke missbrauchte. Als auch die anderen Sinne zurückkamen, duftete es nach gebratenem Speck, aber auch nach etwas Üblem. Severus rümpfte die Nase und fragte sich, ob er vielleicht unter Mundgeruch litt. Mit einem Auge blinzelte er und fand sich unerwartet Aug und Aug mit seinem Hund wieder, der ihn mit hängender Zunge freudig anhechelte. Der Geruch eines nie geputzten Hundegebisses samt Ausdünstungen aus dem Magen schlug ihm wie der Atem des Todes entgegen. Severus legte eine Hand über die Nase, schob Harry mit der anderen von sich. Irgendetwas knackte. Im Rückwärtsgang war Harry auf etwas getreten, dass er sofort beschnüffelte. Ein Stück gebratener Speck, das vorhin ungesehen vom Teller gefallen war. Sofort vertilgte der Hund den Leckerbissen. Severus erblickte das leere Frühstücksservice, von dem Hermine und er kaum einen Happen gegessen hatten. Ein Sturm muss gewütet haben. Der Tisch war mit Essensresten verschmutzt, das Geschirr teilweise umgestoßen. An dem neuen Stück Butter fehlte eine Ecke, als wäre sie in der Sonne geschmolzen und in der Luft verdunstet.
„Für dich koche ich nie wieder“, brummte Severus verschlafen, schaute dabei Harry an. „Du weißt das einfach nicht zu schätzen.“ Harry winselte, bevor er auf der Stelle kehrtmachte und sich zu Fellini ans Fenster gesellte. Als Severus ihm mit dem Blick folgte, sah er auch endlich, was auf ihm lag. Dick in ihre Bettdecke eingemummelt hatte Hermine es sich auf ihm gemütlich gemacht. Nur eines ihrer Beine lag eingezwängt zwischen ihm und der Rückenlehne der Couch. Severus musste lächeln und hielt sich damit nicht zurück. Niemand konnte es sehen. Die Erinnerung an vorhin, an den Farbtrank und die Küsse, waren ein absoluter Höhepunkt seines Lebens. Still fragte er sich, wann er das letzte Mal mit einer Frau mehr als eine Stunde lang ausschließlich mit küssen verbracht hatte. Die Antwort war ernüchternd. Sie lautete: nie.
Es war Hermines Haar, das ihn im Gesicht kitzelte. Vorsichtig strich er die störenden Strähnen aus seinem Gesicht, konnte nun ihres betrachten. Ihre Gesichtszüge waren entspannt, der Atem still und gleichmäßig. So gleichmäßig, dass er beinahe wieder eingeschlafen wäre, doch da kräuselte sie kurz die Nase, dann noch einmal. Unerwartet drehte sie ihren Kopf und stillte den Juckreiz an seinem Nachthemd, indem sie die Nase daran rieb. Hermine seufzte ausgeschlafen und öffnete langsam die Augen. Er konnte sie lächeln sehen, als sie bemerkte, wo sie sich befand. Seine Hand lag locker zwischen Brust und Bauch, ganz in der Nähe ihres Gesichts. Hermine, die noch nicht wusste, dass er bereits wach war, nahm seine Hand und, zu Severus erstaunen, hielt sie einfach, während ihr Daumen über seinen Handrücken strich.
„Endlich erwacht?“, fragte er leise, doch sie schreckte dennoch hoch. Die Hand ließ sie an Ort und Stelle, als sie ihren Kopf hob.
„Bist du schon lange auf?“
„Nein. Der Hund hat mich eben geweckt.“
Hermine schaute sich im Wohnzimmer um und bemerkte beide Haustiere am Fenster. „Ich schätze, Harry möchte bald spazieren gehen.“
„Kommst du mit?“, fragte er hoffnungsvoll. Die Winkelgasse auf und ab zu gehen machte zu zwei mehr Spaß.
„Gern“, bestätigte sie breit lächelnd, doch anstatt aufzustehen, legte sie ihren Kopf erneut auf seine Brust. „Ich möchte vorher noch etwas dösen.“ Schon waren ihre Augen geschlossen. Ein Stündchen noch, dann wäre sie fit, dachte sie.
„Lässt du mich aufstehen?“
„Ungern“, murmelte sie, machte dennoch Platz, damit er unter ihr hervorkrauchen konnte. Sie selbst zog die Bettdecke bis hinauf zum Kinn, womit sie, weil die Decke quer lag, ihre Beine entblößte. „Ist kalt …“, quengelte sie.
Bei jedem anderen wäre ihm dieser Hinweis egal gewesen, doch er fühlte sich persönlich für Hermines Wohlbehagen verantwortlich. Ein Teil der Decke lag auf dem Boden. Severus bückte sich und nahm das eine Ende in die Hand, als sein Blick zufällig auf ihre nackten Waden fiel und er wie paralysiert innehielt. Nur von dem Apparierunfall in Hogwarts wusste er, wie ihre durch das Spinnenfeuer getroffene Wade aussah. Es waren knallrote, fadenartige Veränderungen der Hautoberfläche gewesen, die das abgetrennte Bein verunstalteten, doch jetzt war nichts davon zu sehen. Severus schloss einmal die Augen, falls seine Sinne ihm einen Streich spielen würden, doch als er sie öffnete, sah er lediglich ihre helle Hautfarbe. Er konnte sich nicht mal mehr daran erinnern, welches Bein das verletzte gewesen war. Ohne Vorwarnung legte er eine flache Hand auf die Rückseite ihres Unterschenkels. Sie fuhr zusammen.
„Hermine …“
„Du hast kalte Hände.“
„Hermine, wo hat dich damals der Fluch getroffen?“
Sofort zog sie ihre Beine an, damit er die Stelle nicht sehen konnte. „Rechts.“ Ohne Umschweife ergriff er ihren rechten Knöchel und zog das Bein lang. „Hey, was soll das?“, protestierte sie lauthals. Jetzt war sie wach.
„Es ist weg.“
„Was?“
„Die spinnennetzartige Narbengewebe.“
Hermine setzte sich abrupt auf und drehte ihren Körper auf athletische Weise, so dass sie über ihren Oberschenkel hinweg auf die Wade sehen konnte. Er hatte die Wahrheit gesagt. Mit fachmännischem Griff befühlte sie den Unterschenkel, suchte nach den inneren Verknotungen, die dem Spinnenfeuern zu verdanken waren, doch auch die waren verschwunden. Zumindest erklärte das den nächtlichen Wadenkrampf.
„Harry!“ Für einige Fragen eine richtige Antwort, aber auch für dieses Mysterium? „Er hat es wirklich getan, oder?“ Bei ihren Worten griff sich Severus an die Rippen, versuchte durch das Nachthemd hindurch die Narbe von Bellatrix’ Messer zu spüren, doch da war nichts. Er stürmte nach draußen. „Wo gehst du hin?“
„Ins Bad“, erwiderte er vom Flur aus, bevor er die Tür hinter sich schloss.
Im Badezimmer zog er sich das Nachthemd über den Kopf und betrachtete seinen wenig ansehnlichen Körper im Spiegel. Das Resultat von Bellatrix’ Angriff war fort, ebenso die leicht gerötete Haut von dem Zaubertränkeunfall, für den Neville verantwortlich war. Severus’ Herz raste. Gestern, als die Gläser vor den Gästen auftauchten, hatte er gewusst, was er trank. Wofür er sich selbst schalt, war seine eingeschränkte Denkweise, denn er ging lediglich von ein paar Jahren aus, die Harry den Gästen geschenkt hatte. Das Elixier des Lebens – Albus war das beste Beispiel dafür – sah jedoch selbst den Tod als Krankheit. In Gedanken schlug sich Severus mit der flachen Hand gegen die Stirn – eine Geste, die er niemals in der Realität machen würde. Natürlich würden sämtliche körperliche Gebrechen verschwinden. Die Aussicht auf ein paar Lebensjahre mehr, die er zusammen mit Hermine verbringen wollte, war so erfreulich gewesen, dass er all die anderen Eigenschaften, die das Elixier mit sich brachte, vollkommen verdrängte. Wie ein starker Wind brausten alle möglichen Wahrscheinlichkeiten durch seinen Kopf. Lucius, der durch mehrere Cruciatus-Flüche seit Jahren an Rückenschmerzen litt, wäre geheilt. Dessen Sohn würde keine zurückbleibenden Narben des Sectumsempra-Fluchs aufweisen und wenn Moody den Inhalt des Glases getrunken haben sollte …
Ein Räuspern riss ihn aus seinen Gedanken. Severus griff nach seinem Nachthemd und hielt es sich vor die Leistengegend, bevor er sich umdrehte. An der offenen Tür zum Bad stand Hermine, die auffällig unauffällig auf ein Schränkchen starrte, das neben der Tür stand.
„Es schickt sich nicht, ohne anzuklopfen eine Tür zu öffnen“, rügte er sie mit leicht geröteten Wangen.
„Ich habe geklopft“, beteuerte Hermine. „Und ich habe auch nicht geguckt.“ Ihr verschmitztes Lächeln behauptete das Gegenteil. Sie deutete auf seinen Oberkörper. „Wie sieht es bei dir aus?“
„Auch ich bin vor der wundersamen Heilung sämtlicher Wehwehchen nicht verschont geblieben. Ich hoffe innig, dass Harry sich über die Ausmaße vorher bewusst war.“
„War es das Elixier des Lebens?“, wollte sie wissen. In ihrem Gesicht konnte er verschiedene Gefühle ausmachen. Einerseits Dankbarkeit, andererseits Wut.
„Ja“, erwiderte er leise.
Sie seufzte, schüttelte den Kopf. „Wenn das die Runde macht, war Harrys Rückzug von der Öffentlichkeit umsonst gewesen. Man wird ihn belagern und für dieses ‚Wunder‘ verantwortlich machen. Er kann auf diese Art und Weise nicht einfach in das Leben seiner Mitmenschen eingreifen. Ich könnte ihn …“ Sie hielt inne, aber ihre Fäuste ballten sich, weshalb Severus ihren Satz im Kopf selbst vervollständigte.
„Wenn du mich jetzt bitte alleinlassen würdest? Ich wollte gerade …“ Mit einer Hand machte Severus eine ungenaue Geste zur Badewanne.
„Oh, sicher.“
Nachdem Hermine die Tür hinter sich geschlossen hatte, trat Severus in die Wanne. Den Duschkopf brachte er oberhalb an einer Stange an. Die ganze Zeit über rief er sich die Menschen ins Gedächtnis, die gestern von dem Elixier getrunken hatten. Charlie, dessen Körper aufgrund des Umgangs mit nicht immer freundlich gesinnten Drachen von oben bis unten mit kleinen und großen Narben überdeckt war, würde genauso deutlich merken, dass etwas Seltsames vor sich gegangen war wie Remus, der irgendwo an seinem Rumpf von Greyback eine Bisswunde davongetragen haben musste. Bill. Severus schloss die Augen, als das Wasser über sein Gesicht lief. An Bills Gesicht würden alle sehen, was geschehen war. Die Leute würden Fragen stellen. Harry durfte keinesfalls zugeben, den Stein der Weisen zu besitzen, denn das würde ihn in Gefahr bringen, sollten irgendwelche Gauner Interesse daran finden. Besser wäre es, wenn Fawkes das Ding wieder verschlucken würde, dachte Severus, als er zur Kernseife griff und sie mit reibenden Bewegungen zwischen seinen Händen aufschäumen ließ. In diesem Moment erinnerte er sich an das, was Hermine einmal gesagt hatte. Die Kernseife würde die Haare stark entfetten, was die Talgdrüsen zur Überproduktion anregt. Zusammen mit dem eigens entwickelten Schutzbalsam würde er bis in alle Ewigkeit fettige Haare haben, wenn er nicht etwas an seinen Gewohnheiten ändern würde. Die Seife legte er zurück auf die Ablage, auf der die ganzen Tuben, Dosen und Fläschchen standen, die Hermine dort abgestellt hatte. Eine der Tuben nahm er in die Hand. „Pflegekur für trockenes Haar“, murmelte Severus den Text nach, der darauf stand. Mit einem Grummeln stellte er die Flasche weg und nahm die nächste. „Shampoo mit Jojobaöl“, las er vor. Öl war schlecht. Auf einer anderen stand „Pflegespülung für strukturgeschädigtes Haar“, eine weitere bewarb den Inhalt des Muggelartikels mit „Shampoo gegen übermäßige Schuppenbildung“. Damit könnte er sie später aufziehen, dachte er fies grinsend.
„Meine Güte“, er überflog die vielen Utensilien, „gibt es hier auch etwas, mit dem man sich einfach nur die Haare waschen kann?“ Die Dosen, das begriff er schnell, beinhalteten kein Shampoo, sondern Kuren und Spülungen. „Braucht eine Frau wirklich all diesen Krempel?“, fragte er verblüfft in den Raum hinein. Der nächste Griff war ein Volltreffer. Severus studierte das Etikett. „Shampoo mit Milch und Honig, für normales Haar.“ Er nickte sich selbst zu. „Das sollte es tun.“
Hermine wartete artig, bis sie an der Reihe wäre. Vorhin hatte ihr der Vorschlag auf der Zunge gelegen, zu zweit unter die Dusche zu hüpfen. Auf der anderen Seite hatten sie aber alle Zeit der Welt. Sie wollte nichts überstürzen, auch wenn sie sich nach bestimmten Momenten sehnte, auf die sie nach der Trennung von Ron so lange verzichten musste. Nach fast zwei Jahren körperlicher Abstinenz konnte sie auch noch ein wenig warten, um Severus nicht zu überrumpeln. Hermine saß im leichten Morgenmantel auf der Couch und bürstete Fellini, der beim Schnurren bereits ein wenig sabberte, da hörte sie den Kamin – und die Stimme einer Person, die sie lange nicht gehört hatte.
„Hermine Granger? Miss Granger?“ Gegen Fellinis Willen hörte sie mit dem Bürsten auf. „Hermine?“
Schon war sie am Kamin angekommen und steckte den Kopf ins Feuer. „Professor Junot? Guten Morgen“, grüßte sie überrascht. Morcant Junot, ihre ehemalige Lehrerin für das Fach Inaugenscheinnahme, hatte sich noch nie persönlich bei ihr gemeldet.
„Hermine“, grüßte die Heilerin mit ernstem Gesicht. „Sie sind doch eine gute Freundin von Neville Longbottom, nicht wahr?“
Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als ihr Verstand ihr einreden wollte, es wäre etwas Furchtbares mit ihrem alten Schulfreund passiert. „Ja, was ist los? Geht es ihm …?“
„Seine Eltern sind erwacht.“ Nach dieser Offenbarung überschlugen sich Hermines Gedanken. Sie wollte so viel sagen, dass ihr Mund damit überfordert war, auch nur eines der Worte zu auszusprechen, die ihr auf dem Herzen lagen. Stattdessen blieb sie stumm. „Ich dachte“, begann die Heilerin hektisch, „dass Sie herkommen sollten, um Ihrem Freund beizustehen. Wir konnten weder ihn noch die Mutter von Frank Longbottom erreichen. Es ist wahrscheinlich, dass sie schon unterwegs sind. Sie kommen am Wochenende meist gegen neun Uhr.“ Noch immer brachte Hermine kein Wort heraus. „Hermine?“
„Ich …“ Sie schüttelte den Kopf. „Sie sind wach? Frank und Alice Longbottom?“
„Ja! Die Schwester, die das Zimmer heute Morgen als Erste aufgesucht hatte, war furchtbar erschrocken, als sie angesprochen wurde.“
Hermine konnte es kaum glauben. „Sie sprechen?“
„Kommen Sie?“
„Natürlich!“
„Gut“, sagte Junot erleichtert.
„Es kann aber sein“, fiel Hermine gerade ein, „dass die Longbottoms heute gar nicht kommen.“ Sie könnten, wie sie selbst es auch geplant hatte, Schloss Schnatzer besuchen, um mit dem Brautpaar zu frühstücken. Aber falls doch … „Ich bin gleich bei Ihnen.“
„Der Kamin zu meinem Büro ist für Sie offen.“
Hermine spurtete sich. So schnell war sie nicht mehr angekleidet, seit sie beim Baden im Freien von Todessern überfallen wurden. 32 Sekunden für Unterwäsche, Socken, Hose und Shirt, die Schlüpfschuhe nicht mitgerechnet. Severus hörte sie nicht, als sie gegen die Badezimmertür klopfte, also schrieb sie einen Zettel:
„Ein Notfall. Bin im Mungos. Bitte warte im Schloss Schnatzer auf mich.
Hermine“
Das Zähneputzen musste später kommen. In Windeseile trat Hermine an den Kamin heran, nahm eine Handvoll Flohpulver und sagte laut und deutlich: „Sankt-Mungo-Hospital, Büro von Professor Junot.“
Fellini sprang nach dem grünen Rauch, den das verschwundene Frauchen hinterließ, doch er bekam ihn nicht zu fassen.
Von zwei Frauenhänden wurde Hermine aufgefangen, als sie in ihrer Hektik aus dem Kamin stolperte. Professor Junot schüttelte ihr kurz angebunden die Hand.
„Kommen Sie mit!“
Hermine folgte der Professorin aus dem Büro hinaus. Es war ein seltsames Gefühl, einen Ort aufzusuchen, den man drei Jahre lang tagtäglich als Arbeitsstätte angesteuert hatte. Diesmal war Hermine keine Auszubildende – sie war eine Heilerin und Zaubertränkemeisterin, darüber hinaus die Teilinhaberin einer bekannten Apotheke. „Professor Junot?“ Die Dame Mitte dreißig wandte im Gehen Hermine den Kopf zu, so dass sie beschämt fragen konnte: „Haben Sie vielleicht einen Kaugummi oder etwas in der Richtung. Das Badezimmer war besetzt und …“
„Ich bin auch nicht zum Zähneputzen gekommen“, erwiderte Junot mit einem Lächeln. Die Hand wanderte in eine Tasche des limonengrünen Kittels und zog ein Päckchen heraus. „Das habe ich mir auf dem Weg hierher gekauft.“ Kaubonbons mit Pfefferminzgeschmack. Dankend nahm Hermine einen der Bonbons in den Mund, um wenigstens das Gefühl der Frische zu erhalten. Auf dem Weg zur Janus-Thickey-Station erklärte Junot: „Die beiden sind bei vollem Bewusstsein. Sie reagieren, wenn man sie anspricht und versuchen so gut es geht zu antworten. Kehlkopf und Stimmbänder sind noch nicht ganz funktionsfähig, aber wir rechnen mit einer kompletten Wiederherstellung in den nächsten Stunden.“
Hermine blieb plötzlich wie angewurzelt stehen. „In den nächsten Stunden?“
„Ja“, bestätigte Junot und winkte Hermine heran, damit beide ihren Weg fortsetzen konnten. „Wenn der Heilprozess so weitergeht wie bisher, könnten die beiden sehr bald schon entlassen werden.“ Nach einer Biegung fuhr Junot mit den wichtigen Punkten fort: „Soweit Miriam und ich das feststellen konnten, ist bei beiden Patienten das Wissen über die Sprache vorhanden.“ Miriam Strout war die Stationsheilerin der Janus-Thickey-Station, auf der auch Gilderoy Lockhart betreut wurde. „Die dysarthrischen Störungen äußern sich mit dem Verschlucken von Endungen und mit Verzögerungslauten, meist ein summender Ton.“
Scheinheilig fragte Hermine: „Hat man schon herausgefunden, was der Grund für den plötzlichen Genesungsprozess ist?“
„Nein, aber Miriam tippt schlichtweg auf ein Wunder.“ Junot lächelte so breit, als würde sie, trotzdem sie eine abgeklärte Heilerin darstellte, die mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen stand, mit dieser Erklärung übereinstimmen. „Schwester Kathleen erklärte, dass die beiden Patienten bereits gestern Auffälligkeiten in Bezug auf gewohnheitsmäßige Bewegungsabläufe gezeigt hätten.“
„Was für Auffälligkeiten?“
Junot drückte den Knopf für einen der Fahrstühle und wandte sich dann Hermine zu: „Auffällige Kleinigkeiten. Bewegungen des Kopfes, geschlossene Lider im Wachzustand, unruhige Gliedmaßen“, zählte Junot auf. „Normalerweise schauten die beiden immer interessiert umher und schlossen die Augen nur, wenn sie müde waren. Miriam führt gerade eine Diagnose der geschädigten Hirnnerven durch.“ Der Fahrstuhl kam und beide traten ein. Da sie allein waren, berichtete die Professorin weiter. „Die Stimmqualität ist auch noch nicht komplett wiederhergestellt. Momentan können sie Worte nur leise sprechen, mit vermindertem Sprechtempo.“
„Wie sieht es mit Bewegungen aus?“, fragte Hermine nach.
„Die wären bestimmt schon möglich, wären die Muskeln und Sehnen nicht alle verkümmert. Es gibt starke, motorische Einschränkungen. Miriam zieht bereits eine Bewegungstherapie in Betracht, will aber erst den Befund abwarten. Sie sind schwach, beide. Den Arm zu heben bedeutet für sie eine enorme körperliche Anstrengung. Der Unterarm lässt sich leichter heben. Die Beine gehorchen noch gar nicht.“
Hermine nickte. „Und beide sind sich ihrer Situation bewusst?“
„Ja, wir konnten noch keine großartige Unterhaltung führen, aber beide haben eine gute Erinnerung an den Grund ihres Aufenthalts im Mungos.“
Die letzte Erinnerung von Alice und Frank war die an Bellatrix Lestrange und den Schmerz, den diese Wahnsinnige den beiden zugefügt hatte.
Eine Sache lag Hermine besonders am Herzen. „Wissen die zwei, wie lange sie nicht ansprechbar waren?“
„Nein.“ Junot seufzte. „Miriam will es den beiden beibringen, noch bevor die Familie sie besucht. Das ist nicht leicht. Wählt man die Holzhammer-Methode oder eine schonende Variante?“
„Das ist eine gute Frage. Ich habe in meiner Ausbildung erfahren, dass die meisten Patienten kurze und präzise Angaben bevorzugen, weil sie sich während eines langsamen, vermeintlich rücksichtsvollen Gesprächs viel mehr Sorgen machen. Ich bin froh, dass ich nicht diejenige bin, die darüber entscheiden muss.“
Die Professorin stieß sie mit dem Ellenbogen an. „Ich dachte, Sie würden die Aufgabe freiwillig übernehmen.“
„Oh weh, ich weiß nicht, ob ich dazu in der Lage bin.“ Sie zeigte der Kollegin ihre Hände, die so sehr zitterten, dass sie wie die Flügel einer abhebenden Eule schlugen.
Junot schenkte ihr ein mitleidiges Lächeln. „Ich wollte eigentlich Mrs. Longbottom nachher einen Trank zur Beruhigung geben, aber wie ich sehe, hätten auch Sie einen nötig.“
„Nein, das wird schon“, winkte Hermine ab. „Lassen wir es einfach auf uns zukommen.“
Das vierte Obergeschoss war erreicht. Kaum war Hermine aus dem Fahrstuhl getreten, wurde sie von aufgebrachten Heilern und Pflegern beinahe überrannt. Von irgendwoher sah man ein Blitzlicht. Hermine ortete die Quelle.
„Was zum Teufel sucht die Presse hier?“
„Was?“ Junot blickte sich um. „Die waren vorhin noch nicht da. Ich kümmere mich drum.“ Die Professorin schaute sich um und hielt wahllos einen der Pfleger auf. Auf dem Namensschild stand Mike. „Mike, nehmen Sie sich eine Sicherheitskraft und setzen Sie die Presse vor die Tür.“
„Aber gern doch! Die habe ich vorhin schon aufgehalten, als sie ins Zimmer der Longbottoms gehen wollten. Ich schmeiß sie raus“, versicherte der kräftige, junge Mann.
Mit vor der üppigen Brust verschränkten Armen stand Miriam Strout wie ein Schutzwall vor der Tür zum Krankenzimmer der Longbottoms und verharrte dort solange, bis Mike und ein Herr von der Sicherheit die beiden Leute von der Presse nach draußen führten. Als die ältere Heilerin Junot und Hermine sah, winkte sie beide zu sich heran. Einer Schwester gab sie die Anweisung, Augusta Longbottom nebst Begleitung sofort nach der Ankunft auf der Station erst ins Schwesternzimmer zu bitten.
„Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie kommen konnten. Möchten Sie die beiden sehen, Miss Granger?“, fragte die Stationsheilerin an Hermine gewandt.
„Ja, ich weiß nur nicht, was ich tun oder sagen soll.“
„Ich möchte, dass Sie sich als eine gute Bekannte des Sohnes der beiden ein Bild von der Situation machen, um die Familienangehörigen behutsam vorzuwarnen, bevor sie das Zimmer betreten. Ich mache mir ehrlich gesagt ein wenig Sorgen um Augusta.“ Man kannte sich seit über zwei Jahrzehnten. „Womöglich verkraftet sie diese gute Nachricht nur schwer.“
„Ich werde alles tun, was im Bereich des Möglichen liegt“, versicherte Hermine.
„Gut, dann kommen Sie. Drinnen werde ich Sie als Heilerin vorstellen.“
Hermine zitterte, obwohl es dafür keinen Grund gab. Unzählige Male hatte sie mit Patienten gesprochen, hatte sich um bewusstlose Menschen gekümmert. Opfern mit schlimmen Verletzungen konnte sie Erleichterung verschafft, verwirrte Personen mit ihrer besonnenen Art beruhigen und in jedem dieser Fälle waren Gespräche mit Familienangehörigen an der Tagesordnung gewesen. Was man heute von ihr verlangte, war schwerer zu ertragen als all die Erlebnisse, die sie im Mungos machen musste, obwohl es sich von keiner der damaligen Aufgaben unterschied. Bei diesen beiden Patienten handelte es sich um Nevilles Eltern. Erst gestern hatte sie Alice und Frank gesehen, hatte miterlebt, wie sie auf Lichtreize reagierten, auf Geräusche und auf Berührungen. Zwei Menschen, deren wirrer Geist den Körper nicht steuern konnte, waren von einem Tag auf den anderen mit dem Expresszug auf dem Weg zu Besserung. Vielleicht war es aber auch die bevorstehende Aufgabe, mit Neville und dessen Großmutter zu reden, die sie so aufwühlte, so bewegte. Es war nicht vorhersehbar, wie sie reagieren würden. Noch weniger konnte man einschätzen, wie Frank und Alice verkraften würden zu erfahren, wie viel Zeit vergangen war.
Im Zimmer war das Fenster leicht geöffnet. Die Gardine wehte hin und her, machte den ganzen Raum lebendig. Leben. Hier war Leben zu spüren. Hermine blickte zu den Betten. Zwei Augenpaare schauten aufmerksam zu ihr hinüber. Die Stationsheilerin machte genau das, was sie angekündigt hatte und stellte Hermine als Heilerin vor. In diesem Augenblick kam sich Hermine schäbig vor, fast so als würde sie eine gute Freundin belügen. Sie war zwar Heilerin – keine Lüge –, aber sie war nicht gekommen, um Alice und Frank Longbottom zu untersuchen. Am liebsten wollte Hermine reinen Wein einschenken und erklären, dass man befürchtete, Augusta Longbottom könnte vor Freude und Aufregung einen Herzinfarkt erleiden. Sie wollte den Grund nennen, warum sie wirklich hier im Raum stand, aber das würde zu vielen Fragen führen und Antworten ans Tageslicht bringen, die Alice und Frank nicht auf einen Schlag bewältigen könnten.
„Das ist Miss Granger, eine Heilerin. Sie wollte Ihnen beide gern guten Tag sagen“, sagte Miriam Strout.
„Guten Tag“, krächzte es aus Hermines trockener Kehle.
„Tag“, hauchte die zerbrechliche Stimme der Frau zurück.
Von Frank bekam sie ein abgehacktes: „‘llo.“
Als Hermines Blick zur Mitte der zusammengeschobenen Betten huschte und sie sah, dass die beiden sich an den Händen hielten, kamen ihr die Tränen. Sie schaute zu Professor Junot, blinzelte einige Male, damit die Augen trockneten. „Es ist schön zu sehen“, Hermines Stimme bebte, „dass Sie beide wohlauf sind.“
Alice versuchte zu lächeln, doch noch nicht alle Gesichtsnerven konnten ihren alten Job zu vollster Zufriedenheit erfüllen. Hermine erwiderte die Geste. Sie traute sich ein paar Schritte näher ans Bett heran. Auf dem Nachttisch von Alice stand ein Bilderrahmen. Neville lächelte ihr zu. Hermine biss die Zähne zusammen, doch das Bild gab ihr den Rest. Ein Schluchzer entwich ihr. Verlegen hielt sie eine Hand über Mund und Nase.
„Entschuldigung.“ In Gedanken war sie bei Neville und sie fragte sich, ob er nachher auch noch lächeln würde wie auf dem Foto, wenn selbst sie sich arg zusammenreißen musste, von diesem Schicksal nicht zu sehr berührt zu werden. Ihre Professionalität war gefragt. Hermine atmete einmal tief durch. Sie musste ihre Gefühle kontrollieren, was ihr alles andere als leicht fiel. Neville war ihr Freund, ein sehr guter Freund. Am liebsten würde sie ihn drücken, auf der Stelle. Hermine schluckte. „Man hat mich davon unterrichtet, dass Sie sich darüber im Klaren sind, warum Sie in diesem Hospital liegen.“ Alice und Frank nickten zeitgleich. Hermine schaute zu Frank hinüber. „Ihre Mutter wird Sie sehr bald besuchen kommen.“ Das Lächeln auf Franks Lippen sah schon wieder normal aus, nicht verzogen.
„Nnn“, summte es von Alice, so dass Hermine sie anschaute und geduldig wartete, bis sich Worte bildeten. „Nell…?“
„Neville?“, half sie der sprachgestörten Frau auf die Sprünge. Alice nickte heftig. „Neville wird seine Großmutter begleiten.“ Ein Blick auf die Uhr. Zehn vor neun. „Sie müssten jeden Moment kommen.“
„Es gibt etwas“, begann Miriam Strout mit mütterlich fürsorglicher Stimme, „dass Sie wissen müssen, Mrs. und Mr. Longbottom.“ Die zwei richteten ihre Augen auf die Stationsheilerin und sahen, wie diese ihren Blick zu Hermine schweifen ließ, so dass sie dem Blick folgten.
Hermine war an der Reihe. „Es gibt Dinge, die für einen Heiler nicht leicht zu erklären sind“, sagte sie zaghaft. „Ihre Verletzungen waren sehr schwer. Man rechnete nicht mit einer Genesung.“ Hermine blickte zu Frank hinüber, der ihr an den Lippen hing, aber keine Anstalten machte, sie zu unterbrechen. Er hörte aufmerksam zu. „Das Gehirn, die ganzen Nerven, haben sehr unter dem Angriff gelitten.“ An Franks gequälten Gesichtsausdruck erkannte Hermine, dass er gerade an Bellatrix denken musste. „Sie beide“, sie schaute zu Alice hinüber, „waren für eine lange Zeit vom Leben abgeschnitten.“
„Wie …?“ Frank holte tief Luft. „Lang?“
Hermine war ehrlich, wenn auch nicht sehr genau. „Viele Jahre.“ Die Zahl 23 wollte ihr nicht über die Lippen kommen. Von Erzählungen wusste Hermine, dass sehr bald nach dem Verschwinden von Voldemort ein paar aufgebrachte Todesser den Auror und seine Frau folterten, um den Aufenthaltsort des Dunklen Lords zu erfahren. Zu der Zeit sollen die Longbottoms selbst noch in einem Versteck gelebt haben, abgeschirmt von der Welt. „Für Sie beide ist es jetzt besonders wichtig, dass Sie sich nicht aufregen.“ Sie selbst behielt die Ruhe, als sie diesen Ratschlag gab. „Wichtig ist nur, dass Sie erwacht sind. Alles andere wird sich mit der Zeit regeln. Sie müssen absolut nichts befürchten.“
„Www“, summte Alice, ihr Augen waren dabei ganz groß. Hermine konnte nicht ahnen, was Nevilles Mutter sagen wollte. „Wolt…“ Alice schien darüber verärgert, dass ihr das Wort nicht über die Lippen kommen wollte.
Ihr Ehemann hatte offenbar den gleichen Gedanken wie seine Frau, denn er fragte verständlicher: „Volmor?“
„Den gibt es nicht mehr“, beteuerte Hermine wie aus der Pistole geschossen. „Sie brauchen nichts zu befürchten. Keine Todesser mehr, kein Voldemort. Sie sind absolut sicher.“ Als würde ihnen ein Stein vom Herzen fallen schlossen Alice und Frank für einen Moment die Augen, bevor sie erleichtert durchatmeten. Ein zufriedenes Lächeln hatte sich auf ihren Gesichtern geformt, fast als wären sie nun bereit für ein neues Leben.
Alice entwich mit einem Male ein sch-Laut, den sich Hermine nicht erklären konnte. Alice biss die Zähne zusammen, schaute böse drein. „Sch…“ Mit einer Faust schlug sie kraftlos auf die Matratze. „Igel.“ In Gedanken fügte Hermine die beiden Laute zusammen und kam auf „Schiegel“, was keinerlei Bedeutung hatte.
„Oh nein“, schritt Miriam Strout freundlich ein. „Es wäre keine gute Idee, Ihnen jetzt einen Spiegel zu geben, Mrs. Longbottom. Sie würden sich nur …“
„Schhhh“, zischte Alice wütend.
Hermine versetzte sich in Alice hinein und kam zu der Ansicht, dass es wichtig für die Genesung war, ein Gefühl für das eigene Ich wiederzuerlangen. „Früher oder später werden Sie einen Spiegel in der Hand halten“, sagte sie zu Alice, bevor sie sich an die Stationsheilerin wandte, „warum also nicht früher als später?“
„Ich denke nicht, dass das …“ Wieder wurde Miriam Strout von einer zischenden Alice unterbrochen. „Meinetwegen“, gab sie sich geschlagen.
Professor Junot, die das Ganze beobachtet hatte, nahm den Spiegel vom Tisch, den Schwester Kathleen vorsorglich dort positioniert hatte und gab ihn an Hermine weiter. Bevor Hermine der Patientin einfach den Spiegel vors Gesicht hielt, richtete sie erneut das Wort an Alice.
„Bedenken Sie bitte, dass viel Zeit vergangen ist.“ Sie musste es sagen, sonst würde Alice den Schock ihres Lebens bekommen. Leise, fast unhörbar, sagte Hermine: „Dreiundzwanzig Jahre.“ Alice hatte es vernommen, das zeigten die weit aufgerissenen Augen. Unsicher schaute sie zu ihrem Mann hinüber, der ihr ermutigend zulächelte. Mit einem Nicken gab sie Hermine ein Zeichen. „Bereit?“, fragte Hermine nochmals nach. Alice zeigte mit einem schmalen Finger auf den großen Spiegel. „Sie werden sich im ersten Moment fremd vorkommen, Mrs. Longbottom.“ Hermine hob den Spiegel und drehte ihn so, dass die Patientin sich selbst sehen konnte.
Beunruhigt holte Alice Luft, schloss die Augen, doch als sie sie wieder öffnete, sah sie noch immer diese gealterte Frau vor sich. Im Kopf rechnete sie nach. Wenn es stimmte, was diese junge Heilerin ihr gesagt hatte, müsste sie jetzt 44 Jahre alt sein. Mit den Fingern einer Hand strich sich Alice über das eigene Gesicht, das sie noch als rundlich in Erinnerung hatte, jetzt aber eingefallen und schmal war und zusätzlich eine Menge Fältchen aufwies. Viel erschreckender aber war der Anblick ihrer Haare: kurze, dünne, stumpfe Stoppeln. Schlohweiß. Was war mit ihren schönen, langen, schwarzen Haaren geschehen? Ihre Hand fuhr hinauf zum Kopf, zupfte zaghaft an den Stoppeln, bevor sie die Augen schloss und leise schluchzte. Sie war nicht mehr die adrette, junge Frau von damals – und sie würde sie nie wieder sein. Beschämt bedeckte sie ihre Augen mit einer Hand und weinte.
„Alice“, hörte sie die Stimme neben sich hauchen. Alice wandte den Kopf. Ihr Mann sah sie mit strahlenden Augen an. Seine Hand drückte die ihre und er versicherte im gleichen Augenblick: „Bist schön.“ Sie war seine Alice.
Jetzt war es Hermine, die schluchzen musste, doch glücklicherweise hörte sie niemand, denn die Tür wurde aufgerissen. Eine aufgebrachte Schwester stürzte herein, die sich redlich Mühe gab, im Krankenzimmer selbst ihre Ruhe zu bewahren. „Sie sind da, Heilerin Strout.“
Die kurze Information war Hermines Stichwort. Sie blickte zur Stationsheilerin, die ihr zunickte. Hermine sollte zu Augusta und Neville gehen und sie auf die Situation vorbereiten.
Fünf vor neun.
Um diese Uhrzeit räkelte sich Harry noch im Bett des Zimmers im Schlosshotel Schnatzer. Die Stelle neben ihm war leer – und kalt. Ginny musste schon vor mindestens einer halben Stunde aufgestanden sein. Aus dem Badezimmer hörte er ihre warme Stimme und die noch unverständlichen, aber begeisterten Antworten von Nicholas. Harry fühlte sich gut. Er wusste nur nicht, ob er das der Tatsache zu verdanken hatte, dass er ausgeschlafen oder verheiratet war. Selbstzufrieden grinste er, bevor er die Decke zur Seite warf und sich nur mit Unterhosen bekleidet aufsetzte. Die Gewohnheit ließ ihn als Erstes zum Nachttisch greifen, wo er seine Brille aufbewahrte. Harry setzte sich seine, wie Ron es einmal so nett ausgedrückt hatte, Intelligenzprothese auf die Nase und schwang sich aus dem Bett. Schon beim ersten Schritt im fremden Zimmer bemerkte Harry, dass er alles nur verschwommen wahrnahm, was er dem Schlaf in den Augen zuschreiben wollte. Ein Spritzer kaltes Wasser im Gesicht sollte Abhilfe schaffen. Beim zweiten Schritt übersah er eine Fußbank, über die er stolperte. All seine Versuche, mit wedelnden Armen das Gleichgewicht zu halten, wurde von der Schlaftrunkenheit vereitelt. Harry stieß sich den großen Zeh und stürzte zu Boden. Ein Seufzer entwich ihm, nachdem er sich auf dem weichen Teppich auf den Rücken rollte.
„Was für ein Tagesbeginn“, murmelte er in den leeren Raum hinein. „Niedergestreckt von einem Schemel.“ Es klopfte an der Tür, die zum Wohnbereich des Hotelzimmers führte. „Herein!“
Die Tür öffnete sich und sein Elf trat ein, machte große Augen. Als er bei Harry, der noch immer am Boden lag, angekommen war, fragte Wobbel: „Sir, wenn Sie gestatten, dass ich die Frage stelle, was Sie dort unten suchen?“
Harry blieb todernst, als er erwiderte: „Ich warte hier, bis jemand vorbeikommt, der mich am Bauch kitzelt.“ Wobbel ließ sich nicht lange bitten und attackierte seinen Herrn. „Nein!“, lachte Harry. „Das war nur …“ Die Elfenhände waren flink und kitzelten die empfindlichen Seiten. Harry schrie auf, rollte auf dem Teppich hin und her, um eine Möglichkeit zu finden, erstens Wobbel zu entkommen und zweitens aufzustehen. „Stopp, Halt!“ Auf der Stelle hörte Wobbel mit seiner Tätigkeit auf. Harry giggelte noch immer, während er aufstand. „Das war gemein von dir!“
„Es war Ihr Wunsch, Sir. Ich glaube, ich habe mich voll und ganz an meine Pflichten gehalten.“ Wobbel verzog den Mund, um sein Grinsen im Zaum zu halten. „Ich wollte nur Bescheid geben, dass das Frühstück im Speisesaal zu elf Uhr geplant ist.“ Harry hob plötzlich seine Brille an, um unter ihr hindurchzusehen, wovon sich Wobbel nicht irritieren ließ. „Ich habe die ganzen Hochzeitsgeschenke bereits nach Hogwarts gebracht.“
Harry setzte die Brille wieder auf, hob sie gleich darauf erneut an und blinzelte. „Ich glaube, ich brauche eine neue Brille.“
„Warum, Sir? Reichen die Augen etwa nicht aus?“, fragte der Elf ernsthaft.
Von den Worten seines Elfs irritiert nahm Harry die Brille von der Nase und schaute sich im Zimmer um. Er konnte alles gut erkennen. Verdutzt näherte er sich einem Tisch, auf dem die Werbebroschüre von Schloss Schnatzer lag. Harry nahm sie in die Hand, führte sie dichter vor Augen und weiter weg. Die Tür des Badezimmers öffnete sich. Sogleich wurden die gut gelaunten Ausrufe von Nicholas lauter, der komplett angezogen ins Wohnzimmer stürmte und dada rief.
„Ginny?“
„Ja?“, antwortete sie ihrem Mann.
Er senkte die Broschüre, um Ginny anzusehen, bevor er freudestrahlend verkündete: „Ich kann lesen!“
Ginny stutzte einen Augenblick. „Na, da freue ich mich aber für dich.“ Der scherzende Unterton entging ihm nicht. „Dann waren all die Schuljahre doch nicht umsonst!“
Wobbel lachte plötzlich, weshalb Harry mit vorgetäuscht ernstem Blick zu ihm hinuntersah. Der Elf sah sich genötigt, seine Emotion zu erklären. „Ich lache nur wegen Nicholas“, redete sich Wobbel heraus. Der Junge versuchte gerade, laut schnaufend einen Sessel zu erklimmen.
„Ja ja, von wegen …“ Fröhlich sah Harry abermals zu Ginny hinüber. „Ich brauche anscheinend keine Brille mehr!“
„Wirklich?“
„Wenn ich’s dir doch sage! Das muss an …“ Er biss sich auf die Zunge. Der Einzige, der eine Ahnung haben könnte, was Harry gestern an die Gäste verteilte, war Severus. Hermine war auch nicht auf den Kopf gefallen. Sie könnte ebenfalls drauf gekommen sein, wo sie doch wusste, dass Severus für ihn das Elixier des Lebens hergestellt hatte.
„Das muss an …?“, wiederholte Ginny seine letzten Worte.
„Keine Ahnung, ich weiß nur, dass ich wieder besser sehen kann als vorher.“
„Kann sich denn eine Hornhautkrümmung einfach so wieder normalisieren?“
„Da fragst du echt den Falschen, Ginny. Hermine ist die Heilerin. Vielleicht kommt sie ja zum Frühstück. Angeboten habe ich es ihr jedenfalls.“ Und er hoffte innig, dass sie ihn nicht zurechtweisen würde, denn wenn Harry keine Brille mehr benötigte, würde das bedeuten, dass auch Arthur keine mehr brauchte, Minerva, Albus. „Ich geh duschen“, entschuldigte er sich, um einen Moment über diese ungeahnten Resultate nachzudenken. Als er ihr den Rücken zudrehte, hörte er, wie Ginny erstaunt Luft holte.
„Harry, dein Rücken …“ Auf der Stelle war sie bei ihm und strich über besagte Stelle. „Die Narben sind weg.“
„Was?“ Er beugte einen Arm, damit er mit der Hand seinen Rücken befühlen konnte. Die Hinterlassenschaften der feigen Todesser hatte er, nachdem die Wunden vernarbten, nie richtig gespürt. Darüber hinaus hatte er sie auch selten berührt. Er spürte nichts. „Das ist … Das gibt’s doch gar nicht.“
„Scheint so, als hätte unsere Hochzeit unter einem guten Stern gestanden.“
„Mmmh“, stimmte er summend zu. „Ich bin dann mal …“ Er ging in Richtung Bad, doch Ginny hielt ihn auf und bestaunte seinen Rücken.
„Interessiert dich das gar nicht, Harry? Dass du plötzlich gut sehen kannst, meine ich, und dass dein Rücken aussieht wie Nicholas’ Popo.“
„Letzteres sehe ich mal als Kompliment.“ Harry drehte sich um und nahm Ginnys Hände. „Vielleicht hat der Umtrunk die positive Wirkung hervorgebracht? Möglicherweise waren dort Heilkräuter enthalten …“
„Harry, das Lügen steht dir nicht“, mahnte sie. „Du bist puterrot im Gesicht.“ Ein sicheres Anzeichen dafür, dass er nicht die Wahrheit sagte. Ginny stellte keine Fragen. Sie wartete, bis er von allein erzählte.
„Ich möchte erst duschen gehen und dann sehen, wie es anderen geht.“ Mit einem Male schoss ihm Bill durch den Kopf. „Ach du meine Güte!“
„Was ist?“
Harry beantwortete Ginnys Frage nicht, eilte stattdessen zum Bett hinüber und zog sich einen hoteleigenen Morgenmantel über, bevor er zur Tür stürmte. „Wo ist nochmal das Zimmer von Bill und Fleur?“
„Ich glaube, das zweite von uns aus links.“
Schon war Harry zwei Zimmer weitergerannt und hämmerte mit einer Faust gegen die Tür. Als niemand innerhalb von drei Sekunden öffnete, schlug er abermals mit der Faust gegen das Holz. Drinnen hörte man die Spülung einer Toilette, den laufenden Wasserhahn, dann eine Tür, die geöffnet und wieder geschlossen wurde, bevor die Tür zum Zimmer sich öffnete. Charlie stand vor Harry, aber anstatt Harry anzusehen, blickte Charlie an sich herab, fuhr mit einer Hand über seine makellose Brust. Harry bekam Kopfschmerzen.
„Sorry, ich wollte eigentlich zu …“
Charlie hielt ihn auf. „Wie ist das möglich? Eben stehe ich im Bad und schau mich im Spiegel an, da sind sie alle weg. Ich hatte hier“, mit einem Finger strich sich Charlie über den Bizeps, „eine tiefe Wunde. Wo ist die hin?“
„Tu mir einen Gefallen und zieh dich einfach an. Das muss niemand sehen!“, verlangte Harry, der Charlie wieder ins Zimmer stieß, doch er kam nicht dazu, die Tür zu schließen. Ginny war Harry gefolgt.
„Charlie?“ Sie blinzelte einige Male ungläubig. „Bei Merlin, dann ist das nicht nur bei Harry passiert.“
Charlie wurde hellhörig. „Was?“
„Harrys Rücken ist so glatt wie ein Babypopo. Keine Narben mehr.“
Wie ein aufgeschreckter Tiger lief Harry den Gang auf und ab. „Wo zum Teufel hat Bill sein Zimmer?“
„Nebenan“, sagte Charlie wenig hilfreich.
„Welche Seite? Das sind zwei Türen neben deiner.“
Weder Charlie noch Ginny gaben eine Antwort, also musste Harry eine Wahl treffen. Hoffentlich hatte er Glück. Er nahm die Tür zwischen Charlies und seinem Zimmer und klopfte. Ihm wurde sehr schnell geöffnet. Percy schaute ihn überrascht an. Im Hintergrund hörte man George fragen: „Welcher Idiot …?“
„Guten Morgen, Harry“, grüßte Percy so laut, dass es George zugleich als Antwort diente. „Was ist los?“
„Entschuldige, falsche Tür.“
„Zu wem wolltest du denn?“
Wenigstens einer war hilfsbereit, dachte Harry, wobei jetzt klar war, in welchem Zimmer Bill und Fleur übernachtet hatten. „Zu Bill.“
„Oh, der hat sein Zimmer genau …“ Percy trat in den Flur hinaus und zeigte auf die Tür neben Charlies Zimmer, hielt aber mitten im Satz inne, als er seinen älteren Bruder sah. „Charlie? Ich wusste ja gar nicht, dass du deine Wunden hast behandeln lassen.“
„Ich auch nicht“, scherzte Charlie.
Ginny, Charlie und Percy standen im Flur. Harry langte es. „Mann, geht doch einfach bitte wieder zurück in eure Zimmer!“
„Wer schreit denn da so?“ Mit verwuschelten Haaren und nur in Pyjamahose bekleidet hatte sich George an den Türrahmen gestellt. Er gähnte mit weit aufgerissenem Mund, bevor er fragte: „Warum ist hier mitten in der Nacht so ein Lärm?“
Harry winkte ab. „Geh ruhig noch schlafen. Es ist ja gerade mal neun Uhr.“
„Was ist denn hier für eine Versammlung auf dem Flur?“
„Bleib ja im Zimmer!“
„Oder was?“, nahm George ihn auf den Arm, während er zu Percy, Charlie und Ginny hinüberschlenderte und ebenfalls Zeuge des Wunders wurde, das seinen Bruder über Nacht heimgesucht haben musste. „Hey, was ist denn hier passiert?“ George nahm Charlie an den Schultern und drehte seinen Bruder. „Keine Souvenirs von deinen Drachen? Warst auf einer Schönheitsfarm, oder?“
Die nicht gerade leise Unterhaltung auf dem Flur hatte sogar Arthur und Molly dazu veranlasst, draußen nach dem Rechten zu sehen. Harry wurde ganz bleich. Um das Chaos zu vollenden, fehlten nur noch Ron, Angelina, Fred und Verity, die am anderen Ende des Flurs ihre Zimmer hatten. Von denen fehlte jedoch jede Spur. Harry wollte als Erster Bill sehen, wollte sich vergewissern, dass die Narben nicht auch verschwunden waren, denn sonst müsste er sich etwas einfallen lassen. Bill wäre für jeden, der ihn kannte, ein auf zwei Beinen wandelndes Wunder, sollte der mit einem Male kein entstelltes Gesicht mehr aufweisen. Einerseits wusste Harry, dass Bill nicht verschont geblieben war, gönnte es ihm sogar von ganzem Herzen, doch andererseits bekam Harry es mit der Angst zu tun. Er hatte sich in das Leben anderer Menschen eingemischt, ohne sie darüber in Kenntnis zu setzen. Auf keinen Fall durfte das die Runde machen, sonst würden die Menschen bei Harry Schlange stehen, um von ihm, dem Wunderheiler, berührt zu werden. Die Wahrheit dürfte schon gar nicht ans Tageslicht kommen, denn der Stein der Weisen war etwas, das viele Menschen begehrten, etwas, wofür Leute töten würden.
„Kinder, warum so aufgeregt?“, fragte Molly. Als sie an Harry vorbeiging, gab sie ihm einen Kuss auf die Schläfe. „Guten Morgen, Schwiegersohn.“ Harry schmunzelte. Zum Glück beachteten Molly und Arthur ihn nicht weiter, sondern bestaunten Charlies unversehrten Oberkörper. Harrys Chance war gekommen. Er ging an Bills Tür und klopfte leise, dann etwas lauter, bis er verzweifelt an der Klinke rüttelte und still bat, dass Fleur oder Bill öffnen würden.
Die Tür wurde von Fleur aufgerissen. Ihre verweinten, aber glücklich leuchtenden Augen waren das erste Anzeichen dafür, dass Harry sich nicht geirrt hatte. Das Elixier hatte nicht nur, wie geplant, Lebensjahre geschenkt, sondern alte Verletzungen aus der Welt geschafft. Harry war so gut wie tot. Oder er würde sich demnächst eine einsame Insel kaufen und für jedes Handauflegen fünfzig Galleonen nehmen – bei den finanziell schwächeren Pilgern würde er es sogar umsonst tun.
„‘arry“, hauchte sie, zog gleich darauf die Nase hoch. Fleur strahlte über das ganze Gesicht. „Komm rein.“
So dicht bei einer Frau zu stehen, die erstens spärlich bekleidet war und bei der zweitens verzauberndes Veelablut in den Adern floss, bescherte selbst Harry weiche Knie. Dass Fleur verheiratet war, war zweitrangig, ebenso dass er mit Ginny den Bund der Ehe eingegangen war. Betört ließ er sich von ihr ins Zimmer ziehen. Fleur lenkte ihn zur offenen Badezimmertür. Bill blickte in den Spiegel, fuhr sich mit einer Hand über die Wange. Als er Harry hinter sich bemerkte, drehte er sich um und präsentierte mit zufriedenem Lächeln sein makelloses Gesicht.
„Ich habe sogar wieder Bartstoppeln“, erklärte Bill stolz und mit glasigen Augen. Nachdem Greyback ihm das Gesicht zerfetzt hatte, war ein Bartwuchs nicht mehr vorhanden.
„Klasse!“, beteuerte Harry. „Ich helf dir aber nicht beim Rasieren.“ Ihm war etwas schwindelig, so dass er sich an den Rand der Badewanne setzte und den Kopf hängen ließ.
Bill war davon alarmiert. „Geht’s dir gut?“
„Ja, aber ich habe das komische Gefühl, dass mir deswegen heute noch jemand den Kopf abreißt.“
„Du steckst dahinter.“ Keine Frage. Bill wusste es. „Ich hab das dir zu verdanken.“
„Ich hab nicht geplant, dass das solche Ausmaße annimmt.“ Betreten blickte Harry auf. „Sieh dich an! Die Leute werden Fragen stellen. Das darf niemand sehen! Wir müssen uns was einfallen lassen, sonst bin ich dran.“
„Wie hast du das …?“ Bill hob die Hand. „Nein, sag es nicht. Ich möchte es gar nicht wissen.“
„Es tut mir leid“, winselte Harry. „Ich hätte dich wenigstens vorwarnen sollen.“
„Es tut dir …?“ Völlig verdattert schüttelte Bill den Kopf. „Das muss dir ganz und gar nicht leid tun. Ich meine, sieh mich an.“ Harry blickte noch immer gen Boden. „Sieh mich an, Harry.“ Den Kopf hebend erblickte Harry Bill, wie der mit einer Hand auf sein Gesicht deutete. „Hält das nur kurz an oder bleibt das so?“
„Es wird so bleiben.“ Zur eigenen Bestätigung nickte Harry. „Was werden deine Arbeitskollegen sagen? Deine Freunde? Der Bäcker, bei dem du morgens immer deine Brötchen holst?“
„Mach dir keine Sorgen. Und denk dran: Dafür muss du dich nicht entschuldigen. Harry, das ist ein einzigartiges Geschenk, das du mir gemacht hast. Ich hätte nicht gedacht“, Bill dreht sich zum Spiegel, „dass ich mich noch einmal so sehen darf.“ Er drehte den Kopf und beäugte sich skeptisch. „Mann, ich bin im Gesicht ganz schön mopsig geworden, meinst du nicht?“
Harry schnaufte belustigt. Er war froh, dass Bill ihm nicht böse war. Wie konnte man in so einer Situation auch böse sein, fragte sich Harry. Ein Klopfen ließ seine Miene sofort wieder ernst werden. Bevor er es verhindern konnte, öffnete Fleur die Tür des Hotelzimmers. Man hörte Arthurs Stimme grüßen. Hilfe suchend blickte Harry zu Bill hinüber, doch anstatt sich im Bad zu verstecken, rannte er nach draußen und offenbarte seinem Vater das Wunder der Nacht.
„Ich bin sowas von tot“, murmelte Harry. Wenn Arthur ihm nicht die Leviten lesen würde, dann sicherlich im Laufe des Tages jemand anderes. Mit gebeugtem Rücken, als würde das Übel der ganzen Welt auf seinen Schultern lasten, schlürfte Harry aus dem Badezimmer nach draußen. Innerlich wappnete er sich dafür, nicht seinem Schwiegervater gegenüberzustehen, sondern dem Zaubereiminister, der ihm Paragraphen um die Ohren hauen würde, in denen in Bürokratensprache erklärt war, warum man seine Mitmenschen nicht als Versuchskaninchen benutzen durfte. Arthur beachtete Harry jedoch nicht. Das Oberhaupt der Familie hielt das Gesicht seines ältesten Sohnes in den Händen und betrachtete es mit so großem Respekt, als hätte er den Heiligen Gral vor Augen.
„Mein Junge“, flüsterte Arthur, bevor er Bill an sich drückte. Irgendjemand schluchzte. Es könnte Fleur gewesen sein. Arthur rieb Bills Rücken, schlug ihm dann zweimal auf die Schulter, bevor er ihn wieder ansah. „Ich weiß zwar nicht, was passiert ist …“
Bill klärte seinen Vater auf. „Harrys war’s.“
Klasse, dachte Harry. Jetzt schauten ihn drei Mitglieder seiner Familie mit fragendem Blick an. Harry spielte verlegen mit seinen Händen. „Es war … Ich weiß nicht, ob ich es sagen darf.“
Arthur zeigte Verständnis, drängte ihn nicht. „Dann bist du auch dafür verantwortlich, dass die Striemen an meinem Rücken weg sind?“
Harry stutze. „Was denn für Striemen?“
„In der Schule bin ich von Apollyon Pringle, dem damaligen Hausmeister, dabei erwischt worden, wie ich nachts von einem Treffen mit Molly zurückkam. Es setzte Prügel.“ Arthurs Augenbrauen zogen sich zusammen, als er an diesen Moment zurückdachte. „Harte Prügel. Die Wunden waren so übel, dass Albus die körperliche Züchtigung in Hogwarts auf der Stelle verbot. Er hat sich sogar mit den Leuten vom Ministerium angelegt, die die Prügelstrafe guthießen und beibehalten wollten. Poppy konnte nichts unternehmen. Die Wunden heilten zwar schnell, aber die Striemen waren zu sehen – bis gestern Abend, Harry. Außerdem“, Harry horchte auf, „sind auch die Stichwunden verschwunden. Du weißt schon. Der Praktikant, wie hieß er noch? Augustus Pye! Der hat mir damals, als ich nach dem Angriff von Nagini auf der Dai-Llewellyn-Station lag, die Wunden auf Muggelart zugenäht. Davon ist auch nichts mehr zu sehen.“
„Ja“, Harry kniff kurz die Lippen zusammen, „das wird auch auf meinem Mist gewachsen sein.“ Seine Schultern sackten ab, als wäre die Schwerkraft zu viel für sie. „Es war das Elixier des Lebens“, offenbarte Harry mit leiser Stimme. „Ich wollte jedem doch nur ein paar Jahre schenken. Das da“, er deutete auf Bills Gesicht, „habe ich nicht mit einkalkuliert.“
„Das Elixier des Lebens?“, wiederholte Arthur mit großen Augen. „Sag, Harry, wie bist du da rangekommen?“
„Ich hab es mir herstellen lassen.“
„Herstellen lassen? Dazu benötigt man doch aber den Stein der Weisen!“ Harry nickte, verzog dabei schuldbewusst das Gesicht. „Harry? Du hast den Stein?“
„Ja, ich … Verdammt! Wenn Bill so herumspaziert, wird das auf den Tag der Hochzeit zurückfallen, somit auf mich.“
Arthur schien die Misere bestens zu verstehen, in der sich Harry befand. „Der Stein ist begehrt“, murmelte er nachdenklich. „Die Tränke und Sprüche im Mungos haben Bills Gesicht nicht komplett wiederherstellen können.“ Nochmals schaute Arthur zu seinem Jungen, lächelte dabei. „Wer weiß, vielleicht könnten die Muggel etwas bewirken? Bill, hast du nicht sowieso ab Montag vier Wochen Urlaub?“
„Ja, warum?“
„Na dann“, er schlug seinem Sohn auf die Schulter, „tauchst du einfach unter und wenn du wiederkommst, wirst du allen erzählen, die Muggel konnten dein Gesicht wiederherstellen. Ist das eine großartige Idee oder nicht?“
„Aber die Muggelgeborenen unter unseren Freunden könnten Verdacht schöpfen“, warf Bill nachdenklich ein. „Die wissen, was möglich ist und was nicht.“
„Dann warst du eben bei einem Spezialisten. Recherchiere ein wenig, damit du weißt, was du erzählen kannst. Von Plastikchirurgie werden die auch schon gehört haben.“
Harry schmunzelte, erklärte aber niemandem, warum. Die Idee war gut. So viele Muggelgeborene kannte Bill nicht und die, die er kannte, würden sich hüten, ihn einen Lügner zu nennen. Die Muggel verfügten über eine Menge Fachwissen, was das Rekonstruieren von Gesichtern betraf. Bill könnte mit der Erklärung durchkommen. Die Zauberer und Hexen wussten nicht, was Muggel-Ärzte zustanden bringen konnten und die Muggelgeborenen wussten nicht über alle Möglichkeiten Bescheid, die Zaubertränke betrafen. Harry wusste ja nicht einmal, wie man einen Kakaofleck aus einem Pyjama herauszaubern konnte. Genauso wenig waren andere dazu in der Lage zu bestimmen, was aus Muggelsicht und magischer Sicht machbar war, um Bills Gesicht wieder so zu richten, wie es jetzt war.
„Allerdings“, warf Arthur ein, „solltet ihr noch vor dem Frühstück verschwinden. Je weniger davon erfahren, desto besser.“ Arthur rechnete jedoch nicht mit seiner aufdringlichen Familie, die gerade dabei war, durch die nur angelehnte Tür in das Hotelzimmer von Fleur und Bill zu stürmen.
„Ach du meine Güte!“ Harrys Knie wurden so weich, dass er sich aufs Bett setzen musste, als er mit ansah, wie Molly bei Bills Anblick in Tränen ausbrach, George seinen Bruder begutachtete und Charlie ihm die Schulter klopfte.
„Harry, geh auf dein Zimmer“, riet Arthur mit freundlicher Stimme, „ich werde das hier regeln. Wir halten alle dicht. Mach dir keine Gedanken.“
Zu spät, dachte Harry und marschierte zurück ins Zimmer, gefolgt von Ginny, die ihn sich sofort zur Brust nahm. „Was hast du getan, Harry?“, wollte sie wissen. Sie war neugierig, nicht böse – noch nicht.
Erst im Zimmer, bei geschlossener Tür, wagte er es, sie einzuweihen. „Das Elixier des Lebens. Ich hab gestern damit eine Runde geschmissen.“
„Du hast was?“ Sie war noch immer fassungslos, nicht verärgert.
„Ginny, hör mal: Es darf niemand erfahren. Ich hab es nicht getan, damit sämtliche Wunden verschwinden. Ich habe es so gemeint, wie ich es zum Trinkspruch sagte. ‚Gegen die verlorenen Jahre‘, Ginny und nicht ‚gegen alte Wunden‘.“
„Bist du dir nicht im Vorfeld darüber klar gewesen, dass dieses Elixier …“
„Nein! Ich hab nicht dran gedacht. Ich wusste ja nicht mal, dass mit dem Stein der Weisen Blei in Gold verwandeln kann, bis Severus es mir gesagt hat. Ja, ich gebe es zu, ich habe nicht nachgedacht.“
„Das ist irgendwie typisch für dich, weiß du?“
Harry lächelte verlegen. Er war Ginny dankbar, dass sie die Nerven behielt, denn sie sah die gute Tat, die hinter seinem unüberlegten Handeln stand. Plötzlich fiel Harry etwas ein. Er legte die Hände übers Gesicht. „Oh mein Gott!“
„Was?“, fragte sie auf der Stelle nach.
„Was ist, wenn Alastor aufwacht und an einem Herzinfarkt stirbt, weil ihm über Nacht ein neues Bein gewachsen ist?“
„Mmmh“, machte Ginny nachdenklich. „Ich denke zwar nicht, dass er etwas trinkt, das nicht aus seinem Flachmann kommt, aber zur Sicherheit sage ich Dad Bescheid, dass er sich erkundigen soll. Zieh dich erst einmal an, Harry.“
Während Ginny nach draußen ging, kam Nicholas freudestrahlend auf Harry zu und hielt ihm eine Eule aus Stoff entgegen.
In der Apotheke in der Winkelgasse kam zur gleichen Zeit der Hund mit einem Ball in der Schnauze zu Severus gelaufen, der gerade die Badezimmertür öffnete.
„Hat es dafür nicht noch etwas Zeit?“, fragte Severus den Hund, der daraufhin wie wild mit dem Schwanz zu wedeln begann. Severus seufzte, nahm den Ball und warf ihn die Treppe hinunter. Als Harry hinterherjagte, hörte es sich an, als würde ein Kalb im Haus umherrennen, so laut war der Hund. „Umwerfend graziös“, murmelte Severus, bevor er in sein Zimmer ging, um sich anzukleiden – diesmal wieder ganz in schwarz. Währenddessen musste er immer wieder den Ball werfen, den Harry fangen wollte, doch das Zimmer war zu klein, als dass es Freude bereiten könnte.
Im Wohnzimmer wunderte sich Severus, dass er Hermine nicht antraf. Gerade wollte er sich auf den Weg in die Küche machen, da fiel ihm der Zettel auf, der auf dem Tisch lag.
„Ein Notfall. Bin im Mungos. Bitte warte im Schloss Schnatzer auf mich“, las er laut vor. „Da ist man nicht mal vierundzwanzig Stunden verlobt und schon wird man per Zettel hin und her beordert.“ Das Wort Bitte stach ihm ins Auge. „Na gut, die Anweisung ist als Bitte getarnt.“ Ein seufzte laut. „Ich wollte nicht ins Schloss Schnatzer.“ Der Hund glaubte, Severus sprach mit ihm, weshalb er die Ohren aufrichtete und ganz genau zuhörte, falls ein Befehl für ihn bestimmt war. Nochmal schaute Severus auf die Notiz. „Notfall? Sie ist doch gar nicht im Mungos beschäftigt! Warum …?“ Ihm rutschte das Herz in die Hose, als er mit einem Mal an die Longbottoms denken musste. Weshalb sonst? „Merlin, wenn es so ist, wie ich befürchte …?“ Er wollte der Aufforderung nachkommen, war sich aber unsicher, ob noch Zeit für einen Kaffee blieb. Andererseits bot das Schloss Schnatzer einen hervorragenden Kaffee an. Außerdem fühlte er im Gegensatz zu gestern nicht diese unsägliche Schwäche, in Erinnerungen zu versinken. Er war voll und ganz Herr seiner Sinne und nur die Lippen seiner Verlobten vermochten, ihm diese zu rauben. „Dann auf ins Schloss Schnatzer.“ Er legte den Zettel zurück auf den Tisch und richtete das Wort an Harry. „Kommst du mit?“ Ein Fiepen wurde als Ja gedeutet.
Severus ging zunächst nach unten, wo Fellini schon an der Hintertür wartete, damit er an diesem schönen Tag nach draußen durfte. Seinen Zauberstab richtete Severus zunächst auf die Tür, sprach dabei einen Sicherheitszauber, den er an ein Lebewesen heften konnte. Besagtes Lebewesen war Fellini. Wenn er wieder zur Hintertür kommen sollte, würde die Tür sich für ihn öffnen – und auch nur ihn hindurchlassen. Als das erledigt war, öffnete Severus die Tür von innen und sagte zu dem Knieselmischling: „Und halt dich von Nachbars Katze fern, hörst du?“ Der Kater mauzte, was Severus ebenfalls als Zustimmung ansah. Schon war Fellini in den Büschen verschwunden. „Und wir beide“, sagte Severus zu dem Hund, der noch immer seinen Ball in der Schnauze spazieren trug, „apparieren jetzt zum Schloss Schnatzer.“
Es stellte sich als nicht leicht zu überwindende Hürde dar, den mittlerweile prächtig gewachsenen Kuvasz für eine gemeinsame Apparation auf den Arm zu nehmen. Das Tier hatte keine Ähnlichkeit mehr mit dem Wollknäuel, das Severus eines Tages aus dem Verbotenen Wald mitgenommen hatte. An Größe und Gewicht hatte Harry enorm zugelegt. Spätestens jetzt war Severus klar, warum diese Rasse zu den ungarischen Hirtenhunden zählte. So ein Hund durfte einem Schaf körperlich in nichts nachstehen.
„Meine Güte, bist du schwer geworden“, ächzte Severus, als er den Hund auf den Arm nahm. Schloss Schnatzer war nicht in unmittelbarer Nähe. Er legte bei der Apparation vorsichtshalber einen Zwischenstopp ein, um nicht zu zersplintern.
Das Tor von Schloss Schnatzer durchschritten gerade Remus und Tonks, als sie hinter sich das Geräusch der Apparation wahrnahmen. Beide drehten sich um. Tonks dachte, ihr Cousin Sirius würde womöglich erscheinen, während Remus auf Hermine hoffte, die ihm sicherlich einen Großteil seiner Fragen beantworten könnte. Keiner von beiden rechnete mit Severus. Tonks stutzte bei dem Anblick. Severus mit einem riesigen Hund auf dem Arm bekam man nicht häufig zu Gesicht.
Remus, noch immer über die Tatsache erfreut und gleichzeitig ein wenig beunruhigt, dass nicht nur die Narben der Bisswunde über Nacht verschwunden war, sondern sämtliche Mitbringsel seiner nächtlichen Streifzüge als Werwolf ebenfalls, hob die Hand und grüßte Severus aus geringer Ferne. Der Hund rannte sofort zu den beiden hinüber, hüpfte aufgeregt hin und her und wedelte mit dem Schwanz. Tonks konnte nicht anders, als den Hund zu streicheln. Vorsichtig nahm sie ihm den Ball aus der Schnauze. Der Hund wartete aufgeregt darauf, dass sein Spielzeug geworfen wurde, senkte dabei seinen Oberkörper, so dass das wild wedelte Hinterteil hoch nach oben gestreckt war. Tonks holte aus und warf den Ball in hohem Bogen.
Die Wurfhand seiner Verlobten umschmeichelte Remus mit den Worten: „Wäre das ein Brautstrauß gewesen, hätte ihn niemand gefangen.“
Ihren Blick nicht vom Hund anwendend lachte sie. „Das macht die Arbeit als Auror. Was meinst du, was ich für Muskeln in den Armen habe.“
Endlich war Severus bei den zweien angelangt. „Tonks“, er nickte ihr zu, „Remus.“ Severus betrachtete das Gesicht seines Gegenübers. Die Narben, die sonst quer übers Gesicht verliefen, waren verschwunden. „Wie ich sehe, war es eine Nacht voller Wunder.“
Verlegen befühlte Remus mit den Fingerspitzen seine Wange. „Bin ich also nicht der Einzige?“ Tonks hörte aufmerksam zu, blickte aber weiterhin dem Hund nach.
„Hermines Bein …“ Severus hielt inne, weil er nicht wusste, inwiefern Remus über das rot vernarbte Gewebe informiert war.
„Das Spinnenfeuer.“
Severus nickte. „Es ist verheilt.“
Als der Hund den Ball zurück zu Tonks brachte, mischte sie sich ins Gespräch ein. „Und was hat das ausgelöst? Eine verzauberte Nougattorte?“
„Das“, warf Remus ein, „würde aber bedeuten, ich hätte ein Stück davon gegessen. Hab ich aber nicht.“
Tonks warf den Ball erneut und freute sich mindestens genauso sehr über das Spiel wie der Hund. „Vielleicht standen gestern einfach nur die Sterne gut?“
Sie benötigte keine Erklärung für das Verschwinden der Narben. Ein Geschenk des Himmels hinterfragte man nicht. Sie fand mehr Gefallen an dem Hund, der über das hohe Gras jagte, um den Ball zu fangen. Tonks wandte sich ab und ging einige Schritte von den beiden Männern weg, um langsam – zwischendurch immer wieder den Ball werfend – zum Schloss zu gehen.
Während Remus ihr nachsah, musterte Severus ihn mit seinem geschulten Blick. Neben den fehlenden Narben fiel ihm auf, dass Remus’ Hände, mit denen er einen abgerissenen Grashalm zerrupfte, zitterten. Des Weiteren waren Fältchen an den Augen zu erkennen, die einer Sorge zuzuschreiben waren, doch welcher Sorge, das müsste Severus erfragen.
„Du wirkst unausgeglichen“, stellte Severus ohne mit der Wimper zu zucken fest.
Remus’ Kopf schnellte herum. „Bin nur etwas aufgeregt. Die Überraschung heute Morgen war groß.“
Damit ließ sich Severus nicht abspeisen. „Andere würden es unbeschwerter aufnehmen, so wie Tonks.“
Remus nickte, schaute auf seine Hände und ließ den fransigen Grashalm fallen, der seine Nervosität verraten hatte. „Mag sein, aber andere machen sich auch nicht die Gedanken, die ich mir mache.“
Remus bedeutete Severus mit der Hand, langsam den Weg zum Schloss fortzusetzen. Normalerweise hatte Severus einen schnellen Schritt am Leib, wenn der auch oftmals ruckartig wirkte. Einen Weg von A nach B war er stets zügig gegangen, doch diesmal, zu seinem eigenen Erstaunen, schlenderte er neben Remus her. Das Schlendern hatte, ähnlich wie ein Spaziergang, einzig den Sinn, die Zeit für eine ungestörte Unterhaltung zu nutzen. Nachher beim Frühstück wäre es nicht leicht, Ansichten auszutauschen, ohne von anderen gehört zu werden.
„Wie sieht’s aus?“, wollte Remus völlig unerwartet wissen. Weil Severus ihn mit fragendem Gesichtsausdruck anblickte, wurde er deutlicher. „Ist gestern noch irgendwas Interessantes bei dir passiert?“
Wie aus heiterem musste Severus an die lange Zeit denken, die er mit Hermine verbrachte hatte und erwiderte daher sehr ruppig: „Das geht dich überhaupt nichts an!“
Von der Antwort irritiert erklärte Remus zaghaft: „Ich meinte, ob außer Hermines Bein …“
„Ach so.“ Severus strich sich geistesabwesend mit einer Hand über die Brust bis zum Bauch, doch Remus fiel diese Geste auf. „Auch ich bin einige Souvenirs losgeworden.“
„Das ist fantastisch.“ Remus klang nicht so erfreut, wie die Worte es weismachen sollten. Er schien abgelenkt, war mit den Gedanken woanders.
Gerade wollte Severus fragen, was sein Gegenüber so bedrückte, da hörte er das Plopp einer Apparation und die darauf folgende, nervtötende Stimme von Black. „Hey, Remus, alter Junge!“ Im Gegensatz zu Remus drehte Severus sich nicht um. Das distanzierte Nicken, das er diesem Mann als Begrüßung zukommen lassen wollte, könnte er auf später verschieben. „Und das ist ja auch Severus, der Hund!“
Hier wandte sich Severus dem dämlich grinsenden Störenfried zu, um ihn besser anblaffen zu können. „Ich höre wohl nicht recht!“
„Ich sagte“, Sirius grinste hämisch, „da ist ja auch Severus und sein Hund.“ Anne und Sirius hatten die beiden Männer erreicht. Tonks winkte ihrem Cousin vom Eingang des Schlosses zu, was er freudestrahlend erwiderte.
„Das hörte sich aber anders an“, knurrte Severus.
Von der gerade eben aufgetretenen schlechten Laune ließ sich Sirius nicht die Stimmung verderben, was Remus zur Sprache brachte: „Warum so gut gelaunt?“
„Ich bin nun mal eine Frohnatur“, grinste Sirius breit.
„Nichts Seltsames in der Nacht passiert?“, hakte Remus nach und wurde deutlicher, als Sirius Augenbrauen sich zusammenzogen. „Irgendwelche alten Narben verschwunden?“
„Stell dir vor“, Sirius krempelte einen Ärmel hoch, „die Narben sind schon alle weg gewesen, als ich aus dem Schleier getreten bin, wie die Narben aus Askaban.“ Dass manche Gefangenen zur Strafe tagelang in Ketten gelegt worden waren und diese Behandlung die Haut an den Handgelenken wund scheuerte, was vernarbte Stellen zurückgelassen hatte, sprach er nicht extra an. „Und meine alte Sportverletzung war fort!“
„Tja“, Remus schnalzte mit der Zunge, „dann kannst du ja gar nicht mehr damit angeben, dass du James ein einziges Mal den Schnatz vor der Nase weggefangen hast.“
„Und bei der Aktion in einem wahnwitzigen Tempo gegen die Zuschauertribünen gekracht bin“, vervollständigte Sirius das Szenario.
„Ja“, seufzte Severus schwelgend, „daran erinnere ich mich. Diesem Ereignis beiwohnen zu dürfen war ein absoluter Höhepunkt meiner Schulzeit.“
Das fröhliche Lächeln auf Sirius’ Gesicht wollte für einen winzigen Augenblick verblassen, aber er riss sich zusammen und setzte ein nur noch breiteres Grinsen auf. „Freut mich“, sagte er übertrieben freundlich, „dass wenigstens ich zu deiner allgemeinen Belustigung einen Beitrag leisten konnte, wo du doch immer mit einem Gesicht herumgelaufen bist, als wolltest du die Definition von dem Begriff Miesepeter zur Schau stellen.“ Gewitterwolken bildeten sich über Severus’ Haupt, was Sirius als Anlass nahm, mit dem Finger auf ihn zu deuten. „Genau das Gesicht meine ich!“
Mit einem wütenden Schnaufen ließ Severus die drei allein. Anne blickte ihm hinterher, bevor sie an Sirius gerichtet sagte: „Muss das denn immer sein? Ich hatte nicht einmal die Gelegenheit, ihm einen guten Tag zu wünschen.“
„Ach, du kannst ihm noch so oft einen guten Tag wünschen, der hat nie einen guten Tag!“, winkte Sirius ab.
Remus gab zu bedenken: „Jedenfalls nicht in deiner Nähe.“
„Was soll das jetzt wieder heißen?“ Sirius schlug den Weg zum Schloss ein und drehte sich um, damit die anderen das als Aufforderung sehen würden, ihm zu folgen. „Ich habe die Nase voll davon, dass er mit dem Gezicke anfängt und ich am Ende als Buhmann dastehe.“
„Ihr schaukelt euch gegenseitig hoch“, brachte Anne es auf den Punkt. „Einer von euch muss einfach mal einstecken und den Mund halten, damit solche Gespräche nicht eskalieren.“
„Ach“, schnaufte Sirius, „und das soll wohl ich sein?“
Remus grinste. „Der Klügere gibt nach! Den Spruch kennst selbst du.“
Im Schloss Schnatzer fanden sich bereits ein paar von Harrys und Ginnys Freunden ein. Es waren nicht überwältigend viele. Der Raum für zwanzig Personen, in welchem das Frühstücksbuffet aufgebaut war, reichte vollkommen aus. Nicht Remus und Tonks waren die Ersten im Schloss Schnatzer gewesen, sondern Draco und Susan, die bereits an einer Tasse heißen Kaffee schlürften und auf die anderen warteten.
Hermine würde nicht so schnell hinzustoßen. Sie war gerade in das Schwesternzimmern gegangen, wo Augusta Longbottom mit besorgtem Gesichtsausdruck wartete, während der von Luna die vertraute Entrücktheit an den Tag legte.
„Guten Morgen, Mrs. Longbottom“, grüßte Hermine mit einer zitternden Stimme, die sie eigentlich vermeiden wollte. Wie befürchtet ließ ihre eigene, hörbare Bewegtheit die Sorge bei Franks Mutter aufblühen.
„Bei Merlin, was ist geschehen?“, fragte die betagte Dame, legte dabei eine flache Hand aufs Herz.
„Ich erkläre es Ihnen gleich.“ Hermine schaute sich um. „Hallo Luna.“ Luna schenkte ihr ein Lächeln. Einer fehlte, stellte Hermine fest. „Wo ist Neville?“
„Der musste nochmal wohin“, erwiderte Luna mit sanfter Stimme. „Er hatte Bauchschmerzen.“
„Sie sind doch“, Augusta legte den Kopf schrägt, „Hermine, nicht wahr? Die Klassenkameradin mit der Apotheke.“ Hermine nickte. „Ist etwas mit meinem Sohn?“ Augusta war so aufgeregt, dass sie sich beim Sprechen verschluckte.
„Mrs. Longbottom, bitte gedulden Sie sich ein wenig.“ Hermine wollte unbedingt, dass Neville anwesend war. „Warten wir, bis Ihr Enkel kommt.“ Ohne es aufhalten zu können brach Augusta Longbottom in Tränen aus. „Nicht doch …“
Hermine schluckte. Zwar hatte sie selbst nicht nahe am Wasser gebaut, wie eine alte Redewendung es gern beschrieb, wenn jemand schnell zu weinen begann, aber der Anblick der älteren Dame brach ihr das Herz. Sie griff zu der kleinen Flasche mit dem Beruhigungstrank und tröpfelte etwas in ein sauberes Glas, das sie mit Wasser auffüllte.
„Hier“, Hermine reichte es der älteren Dame, „trinken Sie das bitte. Sie müssen sich wirklich nicht aufregen.“
„Nicht aufre…?“ Augusta schluchzte unkontrolliert und war froh, ein Glas Wasser in der Hand zu halten. Mit zitternden Händen nahm sie einen Schluck, bevor sie fast unverständlich winselte: „Ich soll mich nicht aufregen? Warum darf ich dann nicht zu meinem Sohn? Es muss doch etwas geschehen sein. Sagen Sie es mir“, flehte sie. Ein paar mögliche Situationen zählte sie auf. „Hat sich sein Zustand verschlechtert? Muss er nachts wieder überwacht werden, weil er aufhört zu atmen? Oder hat die spastische Kontraktion wieder zugenommen?“ Die Probleme glaubte man seit Jahren bewältigt.
Hermine zog einen Stuhl an den Tisch, so dass Augusta Longbottom in die Mitte genommen wurde. „Vielleicht“, begann Hermine, „sollte ich Sie doch lieber sofort aufklären.“ Jetzt war sie wieder die Heilerin vom Mungos, bemerkte Hermine selbst, als sie der alten Frau eine Hand auf den Oberarm legte. Eine Geste, die im Allgemeinen beruhigend wirkte. „Ihr Sohn und Ihre Schwiegertochter haben sich erholt.“ Augusta versuchte, diese Information zu verarbeiten, aber Hermines Verhalten stand für sie nicht im Einklang mit der doch eher positiven Aussage. Weil Augusta nichts von sich gab, sondern sie nur fragend anblickte, begann Hermine langsam zu erklären. „Sie wissen, dass die Cruciatusflüche irreparable Schäden an den Nerven verursacht haben.“ Augusta nickte. Das Gleiche hatten ihr die Heiler bei ihrem ersten Besuch im Mungos erklärt. „Nun“, Hermine tätschelte den Unterarm der älteren Dame, „die Schäden waren doch nicht irreparabel.“
Mrs. Longbottom blinzelte. Sie war unfähig, etwas zu fragen, etwas zu sagen oder auf andere Art und Weise eine Reaktion hervorzubringen.
Mit einem Mal war Augusta gedanklich 23 Jahre zurück in die Zeit gereist.
Sie war gerade dabei, hektisch ihre Sachen zu packen und das Heim zu verlassen, um zu Sohn und Schwiegertochter aufzubrechen. Die Angst war groß, dass Voldemort doch ein Auge auf den kleinen Neville geworfen haben könnte. Die Potters waren in einem Dorf im Südwesten Englands untergetaucht. Dumbledore hatte den Longbottoms das Gleiche geraten. Sie sollten sich zurückziehen, um Voldemorts letzten Schlag zu erschweren. Die Potters sowie die Longbottoms waren dem Dunklen Lord und seinen Todessern zuvor dreimal entkommen. Harry oder Neville – einer von beiden.
Das Gerücht, Voldemort wäre besiegt worden, erreichte Augusta über den Patronus von Minerva McGonagall. Derselbe Patronus berichtete vom Tode von Lily und James Potter. Der kleine Harry war wohlauf, nur leicht verletzt. Mit der Erleichterung, keinen Todesfall in der eigenen Familie betrauern zu müssen, machten sich gleichzeitig Schuldgefühle breit. Augusta brach zusammen. Die Freude über das Wohl von Sohn, Schwiegertochter und Enkel stand im nicht zu ertragenden Gegensatz zu der Trauer um die guten Freunde. Ihre Hektik war nicht verschwunden. Augusta war ohne ihre gepackten Taschen aufgebrochen, um zu ihren Kindern zu eilen.
Als Erstes fiel ihr an dem Haus eine kaputte Fensterscheibe auf. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie darin ein böses Omen sah. Anstatt ihren Sohn in die Arme zu schließen, wurde sie von dessen Kollegen aufgehalten. Auroren, soweit das Auge reichte. Ein Herr namens Moody, Frank hatte ihr von ihm erzählt, nahm sie beiseite. Eines seiner Augen tränte – das braune. Die Nachricht vom Überfall der Todesser traf Augusta wie ein Blitzschlag. Entgegen der Ratschläge der untersuchenden Auroren wollte Augusta ihren Sohn sehen.
Am Boden des Wohnzimmers lag Frank, krümmte seinen Rücken in ungesundem Bogen, verdrehte die Arme, sabberte. Bei Alice das gleiche Bild. Ihre Augen waren nach innen gedreht. Sie sah aus wie ein Geist. In den eigenen Fäkalien lagen sie, wälzten sich, zuckten, weil die Muskeln es so wollten. Der Verstand war ausgeschaltet. Zum Glück. Sie reagierten nicht, nicht einmal auf das Weinen ihres Jungen, den eine Aurorin im gusseisernen Ofen der Küche gefunden hatte, in welchem seine Eltern ihn wie eines der sieben Geißlein versteckt hatten.
Jemand weinte.
Augusta trocknete sich die Augen, fand sich im Schwesternzimmer der Janus Thickey-Station wieder – in der Gegenwart. Sie selbst war es, die ihre Tränen aufgrund der Erinnerungen nicht zurückhalten konnte. Neben der Hand auf ihrem Unterarm spürte sie nun auch eine zwischen den Schulterblättern. Luna stand ihr bei, spendete Trost. Auch das Beruhigungsmittel wirkte. Ihr altes Herz schlug ruhig, verkraftete die Aufregung.
„Nicht irrepa…?“ Das Wort wurde durch einen Schluchzer entzweit.
„Nein“, beteuerte Hermine mit sanfter Stimme. „Es hat sich etwas Wundersames getan.“ Die weinende Frau zehrte an ihren Nerven. Hermine bemerkte, wie eigene Tränen ihr Sichtfeld verschwimmen ließen.
„Würden sie mich vielleicht sogar erkennen?“, fragte Augusta hoffnungsvoll.
Hermine nickte und beugte sich zu Augusta vor, als sie flüsterte: „Sie werden Sie sogar grüßen können.“
Zu lächeln und gleichzeitig zu weinen war ein Garant für eine entstellende Mimik, doch Augusta war es vollkommen egal, wie sie auf andere wirkte.
Als Neville von der Toilette zurückkam und im Vorübergehen durch die Scheibe des Schwesternzimmers seine aufgelöste Großmutter sah, dazu eine sichtlich bewegte Hermine, da sackte ihm ein Großteil des Blutes in die Beine. Ohne nachzudenken, ohne sich zu erkundigen, was geschehen war, kamen seine Beine einem nicht bewusst gegebenen Befehl nach. Sie setzten sich einfach in Bewegung. Ziel war das Zimmer seiner Eltern. In seinem Kopf herrschte ein Wirrwarr aus Erinnerungen vergangener Ereignisse und möglichen Erklärungen für den Besuch von Hermine und seine weinende Großmutter. Der Gedanke an seine Mutter blitzte auf, wie sie ihm ein golden glitzerndes Bonbonpapier schenkte, gefolgt von der Befürchtung, ein leeres Zimmer vorzufinden. Neville ließ seinen Gedanken freien Lauf, sah sie sich an wie einen Film. Die Wölbung der Türklinke legte sich in seine Handfläche. Ein wenig Druck genügte und die Tür zum Krankenzimmer war geöffnet.
Ein zweites Zuhause. Das Mungos, die Schwestern, dieses Zimmer – all das war ihm vertraut. Seit er denken konnte, kam er mit seiner Großmutter hierher. Als kleiner Junge hatte er manchmal im Bett zusammen mit seiner Mutter einen Mittagsschlaf gehalten. Weihnachten wurde hier gefeiert, Geburtstage. Ein vom Krankenhaus organisiertes Ostereiersuchen wurde jährlich für die Kinder der Patienten veranstaltet. Auch wenn diese christliche Tradition nur für die Muggelgeborenen eine Bedeutung hatte, bereitete es allen Kindern viel Freude. Die gefundenen Eier teilte Neville immer mit seinen Eltern. Ihre Gesichter waren am Ende genauso mit Schokolade verschmiert wie das seine.
Das Krankenzimmer. Plötzlich war es ihm fremd, als würde er es zum ersten Mal aufsuchen. Vielleicht würde er es nie wieder betreten, befürchtete er, weil niemand mehr hier war, den er besuchen könnte. Die Gardinen wehten und ließen ein wenig Sommer herein. Frische Brisen, Sonnenstrahlen. Wie unter einem Imperius konnte er sich nicht dagegen auflehnen, trotz seiner großen Sorge den schmalen Gang an der Toilette vorbei bis zur Mitte des Raumes zu gehen, um einen Blick auf die Betten zu werfen. Er holte tief Luft, bevor er sich drehte. Die Betten waren nicht leer. Eine Schwester tupfte seiner Mutter mit einem Tuch die Wange. Daneben lag sein Vater. Er war ungewöhnlich ruhig und wirkte konzentriert.
„Geht es meinen Eltern gut?“ Seine Stimme war so still, dass er beinahe glaubte, er hätte in Gedanken zu sich selbst gesprochen. Das Rascheln der Gardinen war lauter gewesen. Er startete einen neuen Versuch. Sein Herz pochte bis zur Kehle hinauf und schnürte sie ihm zusammen, was es nicht leicht machte, die Worte herauszubekommen. „Geht es meinen Eltern gut?“ Die Frage war präzise. Eine Antwort sollte leicht sein und die wollte er auf der Stelle haben.
Mit großen Augen blickte die Schwester auf, aber nicht nur sie. Seine Mutter wandte den Kopf. Das erste Mal in Nevilles Leben trafen sich ihre Blicke nicht nur durch einen Zufall. Neville spürte ein Kribbeln. Ihm wurde heiß und kalt. Die Augen seiner Mutter wanderten nicht durch das Zimmer, sondern hafteten an ihm, musterten ihn. Als Neville zum Nebenbett blickte, fand er Blickkontakt mit seinem Vater. Blickkontakt!
„Geht es ihnen gut?“ War das seine Stimme, die so schwächlich klang? An den Seiten seines Blickfelds sah er kleine Lichtpunkte explodieren. Die Schwester schien damit überfordert, seine Frage zu beantworten und doch hörte er eine Stimme, obwohl sich Kathleens Mund gar nicht bewegte. Jemand hauchte „Ja“. Neville schaute wieder zu seiner Mutter. Abermals war er verwundert und entzückt, dass ihre Augen still auf ihm ruhten und ihr Blick ihn nicht nur flüchtig streifte. Ein Wunder! Dann bewegte sich ihr Mund. Die Stimme, zart wie ein leichter Sommerwind, hauchte nochmals „Ja.“
Die Lichtpunkte vor seinen Augen explodierten so heftig, dass er nichts mehr sehen konnte. Plötzlich wurde alles schwarz.
Hilflos sah Kathleen mit an, wie Neville in sich zusammensackte.
„Ach du meine Güte!“ Sofort war sie bei ihm, überprüfte die Lebenszeichen. Sein Puls war so flatterhaft, dass sie es mit der Angst zu tun bekam und nach draußen stürmte, um Stationsheilerin Strout zu holen.
Ebenso hilflos blickten Alice und Frank auf die Stelle, an der der junge Mann liegen musste, doch weil er an ihrem Fußende auf dem Boden lag, konnten sie nicht mehr sehen als eine Gliedmaße. Alice blickte neben sich, sah das Bild von ihrer Schwiegermutter und dem unbekannten, jungen Mann. Die Wiedererkennung setzte ein. Der bewusstlose Mann im Zimmer war derselbe wie auf dem Bild.
„Frank?“ Er blickte zu Alice hinüber, die mit einer Hand kraftlos auf das Bild deutete. Die Erkenntnis war schmerzhaft. Erst vorhin hatte die junge Frau ihnen mitgeteilt, dass sie 23 Jahre lang nicht am Leben teilgenommen hatten. Es war ein Wunschdenken, nach dieser langen Zeit den kleinen Sohn wiedersehen zu können, denn für den war, wie das Bild es zeigte, die Zeit nicht stehengeblieben.
„Er hat dein Gesicht“, murmelte Frank mit gefestigter Stimme, als er das Bild wehmütig betrachtete. Das Wichtigste war, dass er lebte, rief sich Frank ins Gedächtnis zurück. Die Todesser hatten Neville in seinem Versteck nicht gefunden.
Kathleen stürmte zurück ins Krankenzimmer, gefolgt von Heilerin Strout, doch sie kümmerten sich nicht um die Patienten in den Betten, sondern um den Ohnmächtigen. Eine weitere Person trat herein, wie Frank und Alice bemerkten. Eine blonde Frau, die Neville auf dem Boden betrachtete, dabei den Kopf schräg legte. Die junge Frau schien nicht besorgt. Ihre Gegenwart strahlte Ruhe aus. Sie störte Strout und die Schwester nicht. Mit seligem Lächeln blickte sie zu Frank hinüber, kam einen Schritt näher. Wie selbstverständlich legte sie ihre Hand auf seine und grüßte ihn mit Vornamen. Frank war völlig baff. Er kannte die Blonde nicht, aber die Hand an seinem Oberarm ließ ein vertrautes Gefühl aufkommen, als wäre die Geste alltäglich. Nachdem die junge Frau ihn begrüßt hatte, ging sie an Strout und Kathleen vorbei, die einem benommenen Neville gerade wieder auf die Beine halfen, um ihn auf einen Stuhl zu setzen. Von Alice neugierig beäugt kam die blonde Frau auf sie zu und zog einen Stuhl ans Bett.
„Neville wird sich erholen“, sagte die junge Frau mit ruhiger Stimme. „Er ist schon damals ohnmächtig geworden, als er in der Schule das erste Mal Alraunen gesehen hat.“ Mit sanftem Lächeln strich die junge Frau über Alice’ Unterarm, bevor sie vorsichtig die spastisch verbogenen Finger erreichte und die Hand in ihre nahm. Alice beobachtete die Frau genau. „Wir haben wenig geschlafen“, erzählte die Blonde. „Der Abend war lang. Aber ich mag Hochzeiten. Magst du sie auch?“
Alice war von der Normalität, die ihr diese junge Frau entgegenbrachte, etwas verunsichert. Sie schaute zu Frank hinüber, der ebenfalls auf eine Antwort zu warten schien, also blickte Alice die junge Frau an und antwortete: „Ja.“
Das sanfte Dauerlächeln auf dem Gesicht der blonden Frau wurde breiter. „Das dachte ich mir. Am schönsten finde ich die Musik.“
Alice betrachtete ihre unbekannte Besucherin. Der Blick war entrückt, spiegelte das verträumte Wesen der jungen Dame wider, was sie in Alice’ Augen sympathisch machte. Alice ging auf das Thema ein. „Ich mag Musik.“ Ihre Stimme war noch immer schwach, aber ohne Verzögerungslaute.
Bei jedem Besuch im Mungos hatte Luna Nevilles Eltern berührt und sich mit ihnen unterhalten. Sie hat ihnen vom Alltag erzählt, ebenso von großen Begebenheiten und sie hat Fragen gestellt, die immer unbeantwortet blieben, es sei denn, man deutete ein Lächeln oder das Rümpfen der Nase als Antwort, wie Luna es manchmal tat. Dieses Mal, das erste Mal, bekam sie wirklich Antworten.
Vor der Tür des Krankenzimmers wartete Hermine geduldig, bis Mrs. Longbottom bereit war, ihren Sohn und die Schwiegertochter zu besuchen. Augusta tupfte sich mit einem Taschentuch die Augen trocken, putzte sich im Anschluss die Nase und atmete tief durch. Hilfe suchend schaute sie zu Hermine hinüber, von der sie sich Führung erhoffte. Viele Angehörige waren mit dem plötzlich anderen Wesen ihrer Familienmitglieder überfordert, wenn die nach einem Unfall oder einem Fluch nicht wiederzuerkennen waren – wenn sie fremd geworden waren. Die Schwestern und Heiler des Mungos bekamen Patienten zu Gesicht, bei denen man sich heimlich fragte, wie sie wohl früher gewesen waren – so auch bei Frank und Alice Longbottom. Bei manch einem Patienten stand ein Hochzeitsbild auf dem Nachttisch, das jemanden zeigte, der völlig ungleich mit demjenigen war, der im Bett lag. Auf so einem Foto lächelten sie, und jeder Heiler wünschte sich, dass der Patient wieder so werden würde wie auf dem Bild.
„Bereit?“, fragte Hermine zaghaft. Augusta nickte, blieb jedoch an Ort und Stelle stehen. Hermines Überzeugungskraft war gefragt. Sie nahm Augustas Arm und legte ihn um ihren, bevor sie die Tür öffnete. Das Erste, was sie sahen, war ein kreidebleicher Neville, der vom Heilerin Strout umsorgt wurde.
„Neville?“ Augusta löste den Halt, den Hermines Arm ihr gab und stürmte ins Zimmer, um sich Neville anzusehen. „Neville?“ Mit einer liebevollen Geste strich sie ihm übers Haar. Neville öffnete die Augen. Er sah mitgenommen aus. „Mein Junge, wir sollten dich hinlegen.“ An Strout gewandt fragte sie. „Ob es wohl ein freies Bett gibt?“ Die Sorge um den Enkel ließ andere Ängste im Nu verfliegen.
„Mum?“
Augusta blickte sich um, als sie dieses Wort hörte, mit dem nur eine Person sie ansprechen würde. Sie nahm all ihren Mut zusammen und schaute zum Bett ihres Sohnes. Frank sah ihr direkt in die Augen.
„Frank?“ Langsam näherte sie sich ihm, war derweil darüber erstaunt, dass er jedem ihrer Schritte mit dem Blick folgte, sogar den Kopf drehte, als sie neben ihm stand. Achtlos ließ Augusta ihre rote Tasche zu Boden fallen. Der Hut folgte. „Frank.“ Sie nahm, wie bei jedem Besuch, seine Hand. Als sie einen leichten Druck spürte, schluchzte sie vor Freude.
„Schön, dass du hier b…“ Das Wort wollte aufgrund der nur noch leichten Störung der Sprachfunktion nicht über seine Lippen kommen, aber was er sagen wollte, lag auf der Hand.
Die tagtägliche Begrüßung folgte. Augusta küsste ihren Sohn auf die Stirn. Heute etwas länger als sonst. Plötzlich fühlte sie ein paar Augen auf sich. Alice beobachtete die Begegnung zwischen ihrem Mann und dessen Mutter. Augusta lehnte sich über Frank und griff nach Alice’ Hand.
„Mein Liebes.“
Alice lächelte, drückte grüßend die Hand ihrer Schwiegermutter.
Mehr als zusehen konnte Neville nicht. Er beobachtete Luna, wie sie vollkommen natürlich mit seiner Mutter umging. Und er verfolgte das erstmalige, bewusste Wiedersehen seiner Großmutter mit seinem Vater. Neville fühlte sich nicht wohl. Jemand war bei ihm, das spürte er. Man berührte ihn an der Hand, an der Schulter. Eine vertraute Stimme sprach zu ihm. Als er mehrmals seinen Namen hörte, wandte er seinen Blick von den Betten ab. Hermine kniete neben ihm. Sie sah so aus wie er sich fühlte. Ihr Gesicht war blass. Man konnte sehen, dass sie geweint haben musste.
„Neville“, flüsterte sie nochmals, als er sie anschaute. Sie hielt ihm ein kleines Fläschchen unter die Nase. „Das hier solltest du nehmen. Damit geht es dir wieder besser.“
Er konnte nur leise sprechen. „Was ist das?“
„Ein Stärkungstrank. Er regt deinen Kreislauf an. Genau das, was du jetzt brauchst.“
„Du könntest auch einen gebrauchen“, versuchte er zu scherzen, doch seine Stimme war schwach und viel zu ernst.
„Es tut mir leid, dass du ohne Vorwarnung …“
Hermine hielt inne, als noch jemand vor Neville in die Knie ging. Es war Luna. Mit Bedacht nahm sie ihr die Flasche mit dem Stärkungsdrang aus der Hand. „Du wolltest heute bestimmt ins Schloss Schnatzer“, erinnerte Luna sie freundlich. Durch die ganze Aufregung hatte Hermine an nichts anderes mehr gedacht als an die Longbottoms. „Neville ist in guten Händen.“ Sie schaute zu ihm auf und schenkte ihm ein Lächeln, das die gleiche Wirkung wie der Stärkungstrank hatte. Neville sah zu seiner Mutter hinüber und bemerkte, dass sie ihn besorgt beobachtete. Er wollte ihr die Sorge nehmen. Es erstaunte Luna und Hermine gleichermaßen, dass er zum Bett hinüberging, wenn auch etwas wankend. Wie immer, wenn er seine Eltern grüßte, küsste er seine Mutter auf die Wange und sagte: „Hallo Mum.“ Seine Lippen bebten, als ihm erneut die Tränen kamen. Auf dem Stuhl, den Luna zuvor ans Bett gezogen hatte, setzte er sich, nahm die Hand seiner Mutter.
„Du bist groß geworden“, hörte er sie sagen. Neville schloss die Augen und begann zu weinen.
Hermine blieb noch eine Weile, selbst als Heilerin Strout und Schwester Kathleen die Familie allein ließ. Als stiller Beobachter saß sie in einer Ecke des Raumes und tat letztendlich das Gleiche wie eine Überwachungskamera, nur dass sie auch Ton hatte. Sie lauschte den zaghaften Unterhaltungen, dem Weinen, den tröstenden Worten. Neville bekam wieder Farbe ins Gesicht. Und er lächelte, was Hermine mit Erleichterung bemerkte.
„Können wir nicht raus in die Sonne?“, fragte Alice. Das Elixier des Lebens wirkte noch immer. Ihre Aussprache verbesserte sich von Mal zu Mal.
Augusta sprach ein Machtwort. „Wir sollten nichts überstürzen.“
„Aber wir haben das bei schönem Wetter sonst auch gemacht“, wandte Neville ein.
Nach einer Viertelstunde stellte Frank zaghaft Fragen über die Menschen, die er damals kannte. Er erkundigte sich über Professor Dumbledore, über Hogwarts an sich und über seinen Kollegen Alastor. Auch Alice fragte nach ihren Freunden, doch sie ging noch einen Schritt weiter. Sie wollte einige Menschen sehen. Nicht sofort, aber bald.
„Ich möchte gern“, begann Alice leise, „dass Lily mich besucht.“
Stille überwältigte diesen Raum, der gerade erst an Leben gewonnen hatte. Diese Ruhe bedeutete nichts Gutes. Hermine rutschte das Herz in die Hose. Augusta war es zu verdanken, dass die Situation gerettet wurde.
„Ihr beide werdet erst einmal richtig gesund“, sagte sie fast schon im Befehlston. „Nach und nach werde ich eure Freunde und Kollegen zu den Besuchen mitbringen, aber alles schön der Reihe nach.“ Kein Wort über James und Lily kam Augusta über die Lippen.
Von Luna wurde Hermine vor die Tür begleitet. Im Flur gingen die Heiler und Pfleger ihrer tagtäglichen Beschäftigung nach. Nur in diesem einen Krankenzimmer, abgeschnitten vom Rest der Welt, fand ein bewegender Moment statt, der Hermine bereits eine Menge Kraft gekostet hatte. Als auch noch Harrys Eltern erwähnt wurden, wollte der Rest Stärke, den sie noch besaß, sich in die dunkelste Ecke ihres Innern verkrauchen. Luna öffnete Hermines Umhang, damit sie an die Innentasche herankam. Mit der anderen Hand ließ sie zwei kleine Glasbehälter darin verschwinden: der angebrochene Beruhigungstrank, von dem Augusta ein paar Tropfen genommen hatte und der Stärkungstrank, den Neville nicht mehr benötigte.
„Falls du das brauchst“, erklärte Luna und ließ den Umhang wieder los. „Du hast viel für Nevilles Großmutter getan. Für uns. Dafür möchte ich dir danken.“
„Ach, das war doch …“
„Keine leichte Aufgabe“, schnitt Luna ihr das Wort ab. „Es wäre schön, wenn du uns in den nächsten Tagen noch einmal begleiten würdest, wenn wir die beiden besuchen. Ich glaube, sie mögen dich.“ Hermines Mund zuckte, doch das Lächeln wollte sich nicht an den Lippen festhalten. „Geh jetzt erst einmal richtig frühstücken“, riet Luna ihr, bevor sie Hermine umarmte und fest an sich drückte. Jeder würde sehen, dachte Hermine, dass sie geweint hatte. Würde sie sich im Schloss Schnatzer zeigen, würde man sie nach ihrem Wohlbefinden fragen, doch durfte sie darauf antworten? „Ja“, bestätigte Luna ihre Gedanken, „du kannst ein paar Menschen davon erzählen. Ich überlasse es ganz dir, wem du es anvertraust. Es wird sowieso bald kein Geheimnis mehr sein.“
„Ich …“ Hermine atmete tief durch. „Danke, Luna.“
Obwohl Hermine ausgeschlafen war, wurde sie von Müdigkeit übermannt. Emotionaler Stress, das wusste sie aus eigener Erfahrung, sorgte dafür, dass man anfangs funktionierte, doch danach kam die Erschöpfung. Gedankenverloren schlenderte sie zu den Treppen und ging hinunter. In der Eingangshalle nahm sie nicht den Kamin. Die Sonne, die durch die großen Schreiben strahlte, die den Innenraum von der Parkanlage des Mungos trennte, zog sie magisch an. Hermine ging an die frische Luft und setzte sich auf die dritte Bank, an der sie vorbeikam. Vögel zwitscherten. Hier und da gingen Patienten spazieren – allein oder in Begleitung von Familienmitgliedern oder Freunden. Bald auch würden die Longbottoms hier entlanggehen, anstatt in einem Rollstuhl zu sitzen. Gegenüber, außer Hörweite, saß eine junge Frau bei einem alten Mann. Sie strich ihm über die Wange, flüsterte ihm etwas zu. Er begann zu lächeln. In diesem Moment kamen Hermine erneut die Tränen, als sie an Neville dachte und was er durchleben musste. Er war aufgeregter und bewegter als sie, das wusste Hermine. Dennoch nahm es einen mehr mit, wenn jemand, den man kannte, mit so einem Schicksal konfrontiert war.
„Na, na, na“, hörte sie eine männliche Stimme neben sich, „wer wird denn da weinen?“ Hermine blickte auf und schaute in ein ihr bekanntes Gesicht. Die Überraschung war so groß, dass sie kein Wort herausbrachte. Der Herr setzte sich neben sie, hielt einen Höflichkeitsabstand von vierzig Zentimetern ein. „Haben Sie gerade jemanden besucht?“, wollte der Mann wissen, der eine Papiertüte auf die freie Stelle zwischen ihnen ablegte. „Sind Sie deswegen so mitgenommen?“ Noch immer war Hermine vollkommen perplex, was der Mann bemerkte. „Lassen Sie mich raten …“, begann er. „Sie kennen mich und sind überrascht, mich hier zu sehen.“
„Ich …“ Sie schluckte kräftig. „Ja, ich kenne Sie.“
„Ah, dachte ich’s mir.“ Er schenkte ihr ein so strahlendes Lächeln, dass die Sonne neidisch werden könnte. „Dann haben Sie die Bücher gelesen?“
Hermine nickte. „Ich habe alle.“
„Oh, wirklich?“ Er seufzte. „Es ist so schade, dass ich mich an keines dieser Erlebnisse erinnern kann. Die Bücher sind wirklich gut, wenn Sie mich fragen.“ Verträumt schaute er in die Sonne, musste aber schnell wieder wegsehen. „Es heißt zwar, dass Eigenlob stinkt, aber ich kannte die Bücher ja nicht, wusste nicht mal, dass ich der Autor war.“
„Sie waren auch mal Lehrer an meiner Schule.“
Der Kopf des blonden Mannes fuhr herum. „Ist das wahr? Du meine Güte, dann kannten wir uns persönlich?“
„Kann man so sagen“, bestätigte Hermine.
Er schien verlegen, druckste ein wenig herum, bevor er flüsternd fragte: „War ich wirklich so unglaublich blasiert, wie böse Zungen behaupten?“
„Sie bringen mich in Verlegenheit.“
„Verzeihen Sie, Mrs. …?“
„Miss Granger.“
„Granger, Granger …“, murmelte er mehrmals, trug dabei einen nachdenklichen Gesichtsausdruck. „Wie sehr ich mir auch wünsche, dass ich mich an Sie erinnere, es ist zwecklos.“ Der Mann hielt ihr die Hand entgegen. „Daher auf ein Neues: Freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Miss Granger. Mein Name ist Gilderoy Lockhart.“
Sie schüttelte seine Hand. „Hermine Granger.“
„Hermine“, wiederholte er. „Ein wahrlich außergewöhnlicher Name. An so einen sollte man sich erinnern, finden Sie nicht?“
„Das ist nicht so schlimm. Ich weiß ja, dass Sie Ihr Gedächtnis verloren haben.“
„Ja, das ist wirklich grauenvoll“, stimmte er zu, schien von der Tatsache aber nicht sonderlich verstört, denn schließlich konnte er sich an diesen tragischen Tag nicht mehr erinnern.
„Warum sind Sie eigentlich noch hier?“, wollte sie wissen. „Sie machen auf mich nicht den Eindruck, als würden Sie sich in der Welt nicht zurechtfinden.“
Lockhart nahm seine Papiertüte wieder auf und fischte den Inhalt heraus – ein halbiertes Sandwich, das er auf die Bank legte, mit der Tüte als Unterlage. „Wissen Sie, mein Anwalt riet mir, weiterhin hier zu bleiben, denn sonst würde ich mich wohl in Askaban wiederfinden – ein scheußliches Gefängnis, wie er mir erklärte. Ich hätte einige schlimme Dinge angestellt, sagte er.“ Lockhart schüttelte den Kopf. „Ich kann das einfach nicht glauben, aber es soll die Wahrheit sein. Auf keinen Fall möchte ich für Dinge büßen, an die ich mich nicht entsinnen kann. Klingt das selbstsüchtig?“
„Nein“, erwiderte sie ehrlich. „Ihren Zustand würde man bei einem Prozess sicherlich berücksichtigen.“
Lockhart schenkte ihr sein preisgekröntes Lächeln. „Das ist nett, dass Sie so denken. Ich werde es trotzdem nicht darauf ankommen lassen.“ Er zeigte auf das Sandwich. „Nehmen Sie eine Hälfte. Sie sehen aus, als müssten Sie einen Happen zu sich nehmen.“
Der Mann hatte Recht, dachte sie. Ohne Frühstück war sie heute Morgen aufgebrochen. Ein halbes Sandwich könnte nicht schaden. „Vielen Dank.“
So saß Hermine für zehn Minuten neben einem erstaunlicherweise erträglichen Gilderoy Lockhart und verspeiste das Thunfischsandwich, während er das Gleiche tat. Dabei beobachteten sie die Vögel. Ein paar freche Spatzen wagten sich dicht an die Bank heran. Gilderoy brach eine Ecke von dem Weißbrot ab und schnippte es zu den Vögeln, die sich aufgeregt zwitschernd darüber hermachten.
„Drollig, nicht wahr?“, kommentierte er das Federvieh.
Nachdem beide mit dem Sandwich fertig waren, erhob sich Gilderoy von der Bank. Die Vögel schreckten auf und flogen in den nächst gelegenen Baumwipfel. Auch Hermine stand auf.
„Dann, Miss Granger, möchte ich mich für die Zeit bedanken, die Sie mit mir verbrachten. Das war eine Abwechslung, von der ich noch lange zehren kann.“
„Bekommen Sie denn sonst keinen Besuch?“, wollte sie wissen.
„Mein Anwalt kommt manchmal. Selten auch mein damaliger Verleger. Ansonsten habe ich offensichtlich niemanden.“ Er schaute betrübt drein. „Oder niemanden, der sich noch mit mir abgeben möchte. Ich kann es verstehen.“ Gilderoy versuchte, für diese Menschen Verständnis aufzubringen. „Ganz offensichtlich habe ich Unverzeihliches getan. Man distanziert sich lieber von mir.“
„Das tut mir leid, Mr. Lockhart.“ Es war sogar die Wahrheit. Wie sollte man jemanden für seine Taten verantwortlich machen, wenn von dieser Person nur noch die Hülle existierte, aber nicht mehr derselbe Geist? „Ich verspreche Ihnen, dass ich die Sache mit dem Minister bespreche.“ Alles war ihr Recht, solang sie nur nicht mehr ausnahmslos an den bedrückenden Besuch von Neville bei seinen Eltern denken musste. Es war eine kleine Abwechslung, mit der sie sich beschäftigen konnte. „Und wenn ich das nächste Mal hier bin …“
Er unterbrach sie. „Der Minister? Kennen Sie ihn?“
„Sogar sehr gut.“
„Dann darf ich wirklich hoffen. Danke, dass Sie mir etwas geben, mit dem ich mir die Langeweile vertreiben kann. Es macht viel mehr Spaß, sich ein eigenes Leben auszumalen, wenn man wenigstens einen Funken Hoffnung hat, dass diese Vorstellungen eines Tages wahr werden könnten.“
Hermine lächelte. Sie ließ sich von Lockhart in die Vorhalle begleiten. An den Fahrstühlen stieß sie versehentlich an einen Ständer mit Informationsbroschüren. Zwei fielen auf den Boden. Als Lockhart sich danach bückte, fiel ihm ein Bild aus der Innentasche seiner leichten Sommerjacke. Das Bild zeigte ihn selbst.
„Wie peinlich“, sagte er, als er es aufhob. „Wissen Sie, mein Verleger sagt, ich solle immer Autogrammfotos bei mir haben. Ich habe es auf eines reduziert, denn niemand fragt danach.“ Er stand auf und zeigte ihr das Foto. „Schrecklich, oder? Dieses Grinsen …“
„Dafür haben Sie mehrmals einen Preis von der Hexenwoche bekommen“, munterte sie ihn auf.
„Mag sein, aber ich kann es beim besten Willen nicht verstehen. Es sieht gekünstelt aus.“
Sie warf nochmal einen Blick drauf und sah, dass er die Wahrheit sagte. Es war ein Foto von damals, als er noch ein gefeierter Schriftsteller war. „Sie sollten vielleicht neue machen lassen.“
„Ach“, winkte er ab. „Wer interessiert sich denn noch für Gilderoy Lockhart?“
„Ihre Bücher verkaufen sich noch immer ganz gut. Schreiben Sie doch mal ein neues. Eines über ihr Leben hier im Krankenhaus, über Ihr Leiden und Ihre Befürchtungen, was die Zukunft betrifft. Schreiben Sie, wie Sie den Gilderoy Lockhart sehen, der Sie gewesen sein sollen.“
„Bringen Sie mich bloß nicht auf dumme Gedanken, Miss Granger.“
„Ich meine das ernst.“
„Dann wissen Sie wohl nicht, was man mir vorwirft?“ Weil sie nicht antwortete, erklärte er: „Ich soll alles, über das ich geschrieben habe, nicht einmal selbst erlebt haben. Es sind Lügenmärchen.“
„Das war aber der alte Lockhart. Sie, und das können Sie nicht abstreiten, durchleben tagtäglich die Auseinandersetzung mit Ihrem alten Ich, das Ihnen völlig unbekannt ist. Selbst wenn Sie die Geschichten nicht erlebt haben, so kann man eine Sache nicht leugnen: Sie können mit Worten umgehen! Sie mögen nie ein Abenteurer gewesen sein, aber sie sind ein wirklich guter Schriftsteller, der es verstanden hat, die Leser in seinen Bann zu ziehen.“
Er stutzte. „Das meinen Sie wirklich so?“
„Aber ja doch!“
Ein lebendiges Funkeln war in seinen strahlend blauen Augen zu sehen. „Vielleicht … Eines Tages …“ Sein Kopf wackelte unentschlossen hin und her.
Hermine war sich sicher, dass er gleich nach ihrer Abreise durch den Kamin nach Pergament, Tinte und Feder verlangen würde. Sie zeigte Interesse an einem Autogramm, ließ sich das Bild signieren und bedankte sich herzlich dafür.
Über den Kamin im Mungos flohte Hermine zum Schloss Schnatzer. Die Reise war lang, aber zum Glück an einem Sonntagmorgen sehr ruhig. Als sie wieder festen Boden unter sich spürte, fand sie sich im gleichen Zimmer wieder, das gestern für die Abreise genutzt wurde. Innig hoffte Hermine, dass Severus schon hier war. Sie brauchte Halt, gerade jetzt, wo die erfreuliche Abwechslung mit Lockhart wieder verblasste und Erinnerungen an Alice und Frank aufkamen. Wie schön wäre es gewesen, hätten die beiden die gestrige Hochzeit bei vollem Bewusstsein miterlebt. Hermine wankte zur Tür und kam an einem Spiegel vorbei. Ihr Gesicht war an einigen Stellen mit Ruß bedeckt, den sie abwaschen wollte, bevor sie sich zu ihren Freunden gesellte.
Im Flur traf sie auf Harry, der gerade von der Toilette kam. Ihr fiel nicht auf, dass er keine Brille trug.
„Hermine! Schön, dass du gekommen bist.“ Harry strahlte sie an. „Severus ist auch schon hier.“ Erleichtert versuchte sie zu lächeln, aber es kam nur eine gequälte Mimik zum Vorschein. „Ist irgendwas los?“
„Ich möchte auf die Toilette“, sagte sie monoton und völlig erschöpft.
„Hermine?“
Er sollte sie einfach nur in Ruhe lassen, dachte sie zornig. Sie machte einzig und allein ihn für ihren Zustand verantwortlich. Als er nochmal ihren Namen nannte, fuhr sie ihn böse an: „Hast du überhaupt auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwendet, was deine Überraschung alles nach sich ziehen wird?“ Harry war der perfekte Blitzableiter für all die Dinge, die ihr so zu Herzen gingen.
„Was meinst du?“
„Stell dich doch nicht so dumm!“ Hermine bemerkte nicht den Schatten, der hinter ihr auftauchte, doch Harry blieb er nicht verborgen. Dennoch machte er sie nicht auf Severus aufmerksam, sondern hörte sich an, was sie zu sagen hatte. „Dein Großmut scheint deinen Verstand teilweise ganz auszuschalten!“, sie schüttelte den Kopf, ihre Lippen bebten.
Harry wurde ungeduldig und auch etwas sauer. Wenn er auf diese harsche Weise getadelt wurde, wollte er erst einmal wissen, um was es sich drehte. „Klärst du mich bitte mal auf?“
Hermine schaute ihn an, war völlig perplex wegen seiner Nachfrage. „Ich fasse es einfach nicht! Tust du nur so oder weißt du wirklich nicht, was ich meine?“ Gerade wollte er etwas erwidern, da fuhr sie ihm über den Mund. „Es täte dir gut, deinen Grips einzuschalten, bevor du mit Dingen hantierst, von denen du nicht die geringste Ahnung hast. Und wer muss die Suppe am Ende auslöffeln?“ Sie sprach sehr schnell, mit leicht erhobener Stimme und klopfte am Ende zweimal mit der flachen Hand auf ihren Brustkorb.
Harry hätte im Mungos bei Neville sein müssen. Es wäre seine Aufgabe gewesen, die ganzen Tränen um sich herum zu ertragen. Es hätte ihn bestimmt hart getroffen, als Alice nach ihrer Freundin Lily fragte. Stattdessen war Hermine dort gewesen. Die ganze Schönheit der letzten Nacht, die Freude über Severus’ Heilung und die neu gewonnene Nähe zu ihm stand nun diesem aufreibenden Besuch im Mungos nach.
„Was ist denn nur passiert?“, fragte Harry mit flauem Gefühl im Magen. Selten war Hermine so aufgebracht.
Ihr Zorn kam erneut auf. In gewisser Weise war sie froh darüber, dass das Gefühl der Traurigkeit durch ihre Wut verdrängt wurde. Es war erleichternd, zudem war es ihr gutes Recht, dachte sie, Harry für alles verantwortlich zu machen und das teilte sie ihm auch unverblümt mit. „Du greifst einfach in das Leben deiner Freunde ein, ohne ihnen auch nur die minimalste Warnung zu geben! Meinst du nicht, du hast damit deine Kompetenzen etwas überschritten?“
„Warum …?“
„Ich war im Mungos!“, sprudelte es aus ihr heraus. Eine kurze Stille trat ein, in der Hermines Wut wieder der aufgelösten Spannung wich. Hermine kniff die Lippen zusammen, bevor sie deutlicher wurde. „Nevilles Eltern sind aufgewacht.“
Damit hatte Harry wirklich nicht gerechnet, aber er sah es positiv – positiv für Neville, dessen Oma und besonders für Alice und Frank. „Wie geht’s ihnen?“
Hermine schnaufte. Eine Eigenart, die sie sich bei Severus abgeschaut haben musste. Die aufkommenden Tränen machten sie wieder wütend. Sie hatte genug vom weinen. Es machte sie müde. „Wie glaubst du denn, wie es ihnen geht?“, fuhr sie ihn zornig an. „Nach 23 Jahren aufzuwachen und in den Spiegel zu schauen, nur um zu sehen, dass die Haare schlohweiß sind, das Gesicht faltig und eingefallen. Wie würdest du dich da fühlen?“ Die eine Träne, die ihr über die Wange rollte, schürte ihre Aufregung nur noch mehr. Sie wollte nicht mehr davon berührt werden. „Stell dir vor, du wachst auf und Nicholas ist plötzlich erwachsen.“
„Hermine …“
„Du hättest an meiner Stelle da sein müssen, verdammt nochmal! Es ist auf deinem Mist gewachsen. Weißt du was? Du solltest den beiden erklären, warum deine Eltern sie nicht besuchen werden.“
Harry rutschte das Herz in die Hose. „Sie haben nach meinen Eltern gefragt?“
„Natürlich haben sie! Für sie ist die Zeit stehengeblieben. Das ist ein Schock gewesen. Neville hat es glatt umgehauen“, sagte sie spöttisch.
„Es geht ihm aber gut, oder?“ Aufgeregt fuhr er sich durch die Haare. „Bei Merlin …“
„Aber dich geht das alles ja nichts an. Du machst einfach, wie es dir beliebt und mit dem Ergebnis müssen die anderen klarkommen. Du und dein blödes Menschenrettungsdings!“
„Entschuldige“, sagte er mit einem unangebrachten Hauch von Hohn, „ich wusste ja nicht, dass ich vorher fragen muss, ob du dein Spinnenfeuer behalten möchtest.“
Seine Worte machten sie blind vor Wut. Er wollte offenbar nicht verstehen. Hermine trat in Windeseile an Harry heran und gab ihm mit der flachen Hand eine Ohrfeige. In diesem Moment hörte sie Schritte hinter sich. Severus brachte die beiden auseinander.
„Ich schlage vor“, richtete Severus das Wort Hermine, „du fragst an der Rezeption, ob man dir mit einem Beruhigungsmittel aushelfen kann.“
Wie auf Kommando fiel ihr etwas ein. Sie fasste sich an die Innentasche. „Luna hat mir einen Trank gegeben.“
„Und warum hast du ihn dann nicht genommen?“, wies Severus sie zurecht. „Es ist ja offensichtlich, dass du ihn benötigst.“
„Fällst du mir jetzt noch in den Rücken?“, blaffte sie ihn an.
„Ich möchte dich lediglich darauf hinweisen, dass du momentan nicht du selbst bist.“
Hermine rang nach Worten, doch ein Gegenargument wollte ihr nicht einfallen, weil Severus leider Recht behielt. Ohne einen Kommentar wandte sie sich von den beiden ab und suchte die Toilette auf. Als nur noch Severus und Harry im Gang standen, ließ der jüngere von beiden den Kopf hängen.
„Ich hätte fragen müssen. Wenigstens hätte ich mich erkundigen müssen, was der Trank anstellen kann. Albus hat ja wohl Erfahrung genug. Ich habe einen riesigen Fehler gemacht, oder?“
Severus schnaufte. „Wenn das ein Fehler war, dann mit Sicherheit der beste deines Lebens.“ Wegen der Worte schaute Harry ungläubig auf, so dass Severus ihm in die Augen blickte, als er ehrlich sagte: „So gut wie heute habe ich mich lange nicht mehr gefühlt. Ich möchte mich bei dir bedanken, Harry.“
„Das musst du nicht. Ich wollte, dass mehr als nur einer oder zwei etwas davon haben. So gleicht sich alles im Leben wieder aus. Du dankst mir und im Gegensatz dazu ist Hermine stinksauer auf mich.“
„Sie durchlebte heute ohne Vorwarnung einen emotional sehr bewegenden Moment und musste sich bei jemand abreagieren.“ Severus fuhr mit einer Hand über seinen Umhang. „Und ich bin ehrlich gesagt froh, dass es nicht mich erwischt hat.“
Severus blieb noch einen Moment bei ihm stehen, als Harry unerwartet in seine Hosentasche griff und seine Brille herauszog, die er nicht mehr benötigte, aber aus Gewohnheit doch eingesteckt hatte.
„Kannst du mir hier“, er hielt Severus die Brille entgegen, „vielleicht Fensterglas reinzaubern?“
Eine fragende Augenbraue wanderte nach oben, als Severus die runde Brille betrachtete. „Natürlich, ja. Aber ...?“
„Ja, ich weiß: Als einer der mächtigsten Zauberer unserer Zeit sollte ich das selbst können.“ Harry seufzte. „Ich bin diese Rolle leid, Severus. Meine beste Freundin hat mir gerade zu verstehen gegeben, dass ich nicht einfach schalten und walten kann, wie es mir beliebt. Und sie hat Recht: Ich hätte dort sein sollen – und das werde ich. Jetzt gleich.“
Seinen Worten folgten Taten. Er entschuldigte sich bei seinen Gästen. Ginny flüsterte er den Grund für seinen plötzlichen Aufbruch ins Ohr. Sie verstand, warum er Neville beistehen wollte. Lange wollte er nicht wegbleiben. Vielleicht würde die Heilerin ihn nicht einmal ins Zimmer lassen, um den Longbottoms jegliche Aufregung zu ersparen. Harry rechnete fest damit, dass seine Gäste noch hier sein würden, wenn er zurückkam. Immerhin hatte das Frühstück gerade erst begonnen.
Übers Flohnetzwerk erreichte Harry das Mungos. Mittlerweile gab es eine Menge Betrieb. Besonders sonntags besuchten Angehörige ihre kranken oder verfluchten Familienmitglieder. Harry wusste, wo die Janus-Thickey-Station lag. Kaum hatte er diese Station betreten, fühlte er das Wunder, das dieses Stockwerk heimgesucht hatte. Die Heiler, Pfleger und Schwestern waren alle mehr als nur gut gelaunt. Sie erfuhren am heutigen Tag, dass man die Hoffnung nie aufgeben durfte.
„Entschuldigen Sie bitte.“ Mit diesen Worten hielt Harry eine der breit lächelnden Schwestern auf.
„Ja?“
„Ich suche Neville Longbottom. Er besucht gerade seine Eltern.“
Mit fröhlichem Gesichtsausdruck legte die Schwester eine Hand an seinen Oberarm. „Folgen Sie mir bitte.“ Harry eilte hinter ihr her, bis sie an einer Tür stehenblieb und das Wort an ihn richtete. „Ich werde ihm Bescheid geben. Einen Moment bitte.“
Geduldig wartete Harry, nachdem die Schwester im Zimmer verschwunden war. Es dauerte nicht lange, da öffnete sich die Tür erneut. Die Schwester trat heraus. Hinter ihr konnte er das rote, aber glückliche Gesicht von Neville erkennen. Als sich ihre Blicke trafen, machte Harry in Nevilles Augen die Freude und Glückseligkeit aus, von der sein Freund eingenommen war.
„Harry“, grüßte Neville überrascht. Dann beantwortete er sich die Frage nach dem unerwarteten Auftauchen seines Freundes selbst. „Hermine hat dir davon erzählt.“
„Ja“, gab Harry zu, doch er sagte nichts weiter. Der Gang war voller Menschen.
Neville führte Harry ein paar Schritte fort, bis sie eine ruhige Ecke fanden. Seine Hand lag auf Harrys Schulter. „Unglaublich“, murmelte Neville. Was er damit meinte, war für Harry klar.
Die Fähigkeit, seine Freude ausdrücken zu können, war angeboren. Menschen, die seit ihrer Geburt mit Blind- und Taubheit geschlagen waren, die also keineswegs ihre Mitmenschen nachahmen konnten, lachten genau wie alle anderen Menschen. Wer kannte es nicht, das Gefühl des Frohsinns, das so überwältigend in einem hochstoßen konnte, das es einem den Atem raubte? Besonders bei Kindern war die Heiterkeit an ihrem beinahe pausenlosen Lachen während des unbekümmerten Spiels zu erkennen. Ein zaghaftes Lächeln – so eines, wie Luna und Remus es stetig auf ihren Lippen mit sich führten –, war der Vorbote der Freude. Ab dem heutigen Tag zählte Neville zu diesen Boten. Sein Lächeln würde möglicherweise nie mehr ganz vergehen.
„Das warst du, oder?“, fragte Neville unverblümt.
Einerseits war Harry beschämt. Wenn er als jemand dastehen würde, der Wunder vollbrachte, hob ihn das auf einen Sockel, auf dessen Kapitell das Wort Heilsbringer eingemeißelt war. Der Gedanke stieß ihn ab. Andererseits war er es seinem Freund schuldig, die Wahrheit zu sagen. „Ja, irgendwie schon“, versuchte er seine Einmischung ins Leben der anderen hinunterzuspielen.
„Irgendwie schon?“, wiederholte Neville mit breitem Grinsen. Harrys Benehmen schrieb er der typischen Bescheidenheit seines Freundes zu.
Verlegen blickte Harry auf den Boden, dann in die Augen seines Freundes. „Ich will es erklären …“
„Nein“, winkte Neville ab. „Du brauchst gar nichts erklären.“ Dem Lächeln folgte ein kurzes Lachen, dem Lachen folgten Tränen. Nevilles Freude hatte Mittagshöhe erreicht. „Harry …“
Wenn man um Worte verlegen war, mussten Taten folgen, die ihnen ebenbürtig waren. Ohne Umschweife drückte Neville Harry freundschaftlich an sich, klopfte ihm auf den Rücken.
„Danke“, hörte Harry dicht an seinem Ohr. „Danke“, wiederholte Neville einen Augenblick später viel ausgeglichener. „Ich wünschte nur“, er hielt kurz inne, überdachte seine Worte. „Ich wünschte nur, ich könnte das Gleiche für dich tun.“
Harry schluckte. Mit einem Mal verstand er, was Hermine heute durchmachen musste. Die bedrückende Mischung aus Freude und Trauer war schwer zu ertragen. „Nein“, hielt Harry dagegen. Das Geschenk, seine Eltern in die Arme nehmen zu können, wurde Harry höchstens in seinen Träumen gewährt. „Es ist gut so, wie es ist.“
Neville löste die Umarmung, schlug Harry als Zeichen der Freundschaft zweimal auf die Schulter. „Möchtest du meine Eltern kennenlernen?“
„Ja kar!“, sagte Harry so begeistert, wie es nur ging, um seine Freude über die Ziellinie laufen zu lassen – mit weitem Vorsprung vor der Trauer. „Aber nicht, dass es zu viel für sie wird.“
„Miriam“, Neville verbesserte für Harry, „Heilerin Strout sagt, dass die ganzen Erlebnisse nach und nach verarbeitet werden. In ein, zwei Wochen könnte ein Folgeschock eintreten, oder sogar“, Neville hielt kurz inne, „Depressionen. Ich denke, je schneller sie wissen, wo sie hingehören und wer ihre Freunde sind, desto unwahrscheinlicher einer negativer Heilungsprozess.“
Harry war von der Diagnose seines Freundes beeindruckt, äußerte sich aber nicht dazu, sondern ließ sich von Neville zurück zur Tür des Krankenzimmers führen. Ein seltsames Kribbeln, teils unangenehm, teils beflügelnd, breitete sich in Harrys Bauch aus. Es schien, als würden Angst und Frohmut sich einen Boxkampf in seinem Magen liefern. Im Zimmer hörte man Stimmen. Die von Luna und Nevilles Großmutter erkannte er. Die anderen beiden, denen es noch an Kraft mangelte, mussten Nevilles Eltern gehören. Der Mann, Frank, ließ sich von seiner Mutter über politische Neuerungen unterrichten.
Als Neville und Harry gerade die Fußenden der Betten erreichten, hörte er Frank überrascht grüßen: „James!“
Erschrocken blickte er Nevilles Vater an, war peinlich berührt, dieser Verwechslung erlegen zu sein, doch Neville rettete die Situation mit ungeahnter Gelassenheit. Er zog Harry zu sich und klopfte ihm auf den Rücken. „Nein, nicht James, aber der Sohn von Lily und James.“
Frank musterte Harry und schien stolz zu sein. „Du siehst aus wie dein Vater.“
Wie oft hatte er diese Bemerkung schon gehört, dachte Harry, doch bevor er antworten konnte, sagte Nevilles Mutter verzückt: „Der kleine Harry.“
Hier lächelte Harry endlich wieder. „Na ja“, er zeigte mit Daumen und Zeigefinger einen kleinen Abstand und beteuerte, „ein bisschen gewachsen bin ich schon.“
„Und ihr beide seid Freunde?“, wollte Frank wissen.
Diesmal legte Harry eine Hand auf Nevilles Schulter. „Ja, seit wir elf Jahre alt sind. Wir waren beide im gleichen Haus, in Gryffindor.“
Frank warf Alice einen Blick zu, der verriet, wie froh ihn diese Freundschaft machte, die ohne das Zutun der Eltern gewachsen war. „Komm, setz dich!“, forderte Frank. „Erzähl ein bisschen, was ihr beide so erlebt habt.“
Harry nahm auf einem Stuhl neben Luna Platz und begann über die Schulzeit zu plaudern.
In genau diesem Moment, am Frühstückstisch von Schloss Schnatzer, griff Hermine in die Innentasche ihres Umhangs und zog ein Autogrammfoto heraus, dass sie zum Erstaunen einiger und zur Belustigung anderer stolz herumzeigte.
Remus las die Signatur laut vor:
„Für meine ehemalige Schülerin Hermine
in Liebe,
Gilderoy Lockhart“
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