von Muggelchen
Der Moment, als er mit Ginny von fröhlich trällernden Schnatzern umringt war, stellte für Harry einen der Höhepunkte des Tages dar. Von den tischtennisgroßen Vögeln hatte er in Quidditch-Büchern nur gelesen, nicht mehr als ein paar bunte Zeichnungen von ihnen gesehen. Ihre Art war damals vom Aussterben bedroht, denn früher fingen die Sucher bei Quidditchspielen keine goldenen Bälle, sondern eben jene zerbrechlichen Vögel. Dieser Tortur, dem Stress der Jagd, konnte kaum ein Vogel standhalten und wenn sie am Ende gefangen wurden, war der Griff des Suchers um den kleinen Körper oftmals zu kraftvoll. Sie wurden entweder versehentlich zerdrückt oder starben noch in der Hand des Siegers an einem Herzinfarkt. Der magische Ball ersetzte diese Tierchen noch rechtzeitig, so dass sich – wie jeder es heute mit eigenen Augen sah – ihr Bestand erholen konnte. Schloss Schnatzer stellte wegen seiner abgelegenen Gegend und den fütternden Händen von mindestens drei Generationen von tierlieben Schlossbesitzern einen idealen Brutplatz dar.
Im Laufe des Tages war Harry wieder wesentlich ruhiger geworden. Gespräche mit alten Bekannten empfand er nicht als lästig, auch wenn der Drang groß war, sich Ginny zu schnappen und mit ihr eine Wiederholung der Tätigkeit auszuüben, bei der Ron vorhin gestört hatte. Selbstverständlich begehrte er sie nicht nur körperlich. Sie fehlte ihm an seiner Seite, als er ein paar Worte mit Slughorn wechselte und selbst mit dem Herrn, den Sirius ihm als Kollegen vorstellte. Ein Mr. Duvall. Netter Mann, dachte Harry, nur ein wenig steif. Die Frau an dessen Seite machte das mit ihrer offenen Art wieder wett. So glich sich alles im Leben aus, bemerkte Harry nicht zum ersten Mal.
Ginny ging der gleichen Beschäftigung nach wie er. Auch sie sprach mit den Gästen, nahm Glückwünsche und Geschenke entgegen und plauderte über alte Zeiten oder die Zukunftspläne. So viele Gesichter. So viele Freunde. Als Ginny sich bei Hannah und Justin bedankte und sich umdrehte, stand sie völlig unerwartet bei Pansy Parkinson, die sich zusammenriss und ihr höflich die Hand entgegenstreckte. Man war sich früher spinnefeind gewesen. ‚Früher!‘, betonte Ginny in Gedanken.
„Ich wünsche alles Gute für die Zukunft, Mrs. Potter.“
Aufgrund der ungewohnt formellen Anrede war Ginny perplex, schüttelte dennoch die Hand. „Danke.“ Sie konnte es nicht zurückhalten. „Wir hatten in der Schule nicht gerade viel gemeinsam.“
„Nein, das ist wahr“, gab Pansy beschämt zu, als sie sich ihr damaliges, verzogenes Ich vor Augen hielt, aber Zeiten ändern sich – und manche Menschen auch. „Vielen Dank für die Einladung.“
„Gern geschehen. Vielleicht könnten wir später mal …“
Ginny wurde unterbrochen, als ein kleines Mädchen hinter Blaise auftauchte und sie mit großen Augen musterte. „Ein schönes Kleid!“, sagte die Kleine, griff daraufhin nach dem feinen Stoff. „Wie eine Prinzessin.“
Pansy klärte Ginny auf. „Das ist unsere Tochter, Berenice.“
Bei dem Wort unsere blickte Ginny auf, denn Pansy deutete auf jemanden – Blaise. Gleich neben ihm stand ein überraschend schlanker Gregory Goyle, der nicht so recht wusste, wie er auf die Begegnung mit der Braut reagieren sollte. Er machte es Blaise nach und gratulierte persönlich.
Irgendwie kam es dazu, dass Ginny und Gregory ein Gespräch begannen. Vielleicht war Pansys neugierig machender Hinweis, dass die beiden etwas gemeinsam hätten, der ausschlaggebende Punkt gewesen. Es war eine Gemeinsamkeit gemeint, die sofort Sympathie für den jeweils anderen aufkommen ließ, denn sie hieß Hopkins. Ginny setzte sich neben Gregory und ging auf Tuchfühlung. Man kannte sich nicht, konnte sich nicht einschätzen. Nur die alte Abneigung aus Schultagen war präsent und wollte überwunden werden.
„Was ist eigentlich mit Vincent?“, wollte sie wissen. „Ihr wart in der Schule wie Brüder.“
„Ich weiß nicht, wo er abgeblieben ist. Ich habe das Gefühl, er ist“, er wurde leiser, „tot.“
„Oh“, machte Ginny erstaunt. Das Eis war schnell gebrochen, als sie bemerkte, wie Berenice mit Gregory umging – und wie munter der ehemalige Schüler mit dem sichtbar geschundenen Körper auf das Mädchen reagierte. Ein Thema führte zum anderen.
Harry ließ es sich nicht nehmen, Nicholas hin und wieder in der Spiel-Zone zu besuchen und ihm dabei zuzusehen, wie er mit anderen Kindern Freundschaften schloss oder auch, wie er sich über die vielen, schönen Dinge freute. Der Kleine liebte das Karussell. Und er mochte Charles, mit dem er momentan zusammen im Sandkasten friedlich Löcher grub und Formen auffüllte. Auch andere Eltern kamen hierher, um sich auf den Bänken zu entspannen oder aber zu mit wachem Auge zu überblicken, wie gut auf die Kinder aufgepasst wurde. Betreuer gab es an jeder Ecke, also konnte man sich getrost zurücklehnen und den Nachwuchs beim unbekümmerten Spiel beobachten. Genau das tat Harry gerade. Der kurze Zank zwischen Charles und Nicholas – es ging um das große Sandförmchen – war schnell vergessen, als aus dem Nichts die beeindruckend große Schaufel auftauchte.
Nicht weit von Harry saß Lucius gedankenverloren auf einer der Bänke, die er aufgrund der Tatsache, wer er war, ganz für sich allein hatte. Nur kurz spielte Harry mit dem Gedanken, sich neben ihn zu setzen, nahm von dem Vorhaben jedoch Abstand, als er Narzissa bemerkte. Sie blickte sich um und schien ihren Gatten zu suchen, den sie schnell fand. Mit einem erleichterten Lächeln gesellte sie sich zu ihm. Das Gespräch konnte Harry nicht verfolgen, aber die Gestik und Mimik verriet ihm, dass nach einem kurzen Gruß und dem ersten Wortwechsel Anspannung herrschte. Lucius verzog das Gesicht, zeigte sich interesselos und schüttelte den Kopf. Etwas später stand Narzissa wieder auf. Aus ihrem Gesicht konnte er ablesen, dass sie nicht wütend war, dafür aber sehr traurig. Ein Blick zur Seite zeigte Lucius, wie die schlechte Laune ihn übermannte. Er schwang ein Bein über das andere und schaute mit verbissenem Gesichtsausdruck zu seinem Enkel. Ganz langsam lockerten sich seine Gesichtszüge wieder, wofür ganz deutlich der rotblonde Knabe verantwortlich war, der Nicholas gerade eben noch unbemerkt die Schaufel abgeluchst hatte. Draco schien Recht zu behalten, dachte sich Harry. Lucius Malfoy wollte sich mit aller Gewalt langweilen, obwohl es hier eine Menge Abwechslung für Erwachsene gab. Man konnte zum Beispiel Billard spielen. Harry wusste zwar noch nicht wo, aber die Möglichkeit war laut Molly vorhanden. Stattdessen saß Lucius hier draußen, getrennt von seiner Frau, die ihn bestimmt an ihrer Seite haben wollte. Das erinnerte Harry wiederum daran, wie gern er jetzt mit Ginny zusammen wäre.
Gemütlich schlenderte der Bräutigam zurück ins Schloss. Auf seinem Weg wurde er von Poppy mit einer Umarmung überrascht. Sein Verhältnis zu ihr war herzlich und auch ein wenig eigentümlich, weil sie ihn so oft wieder zusammengeflickt hatte. Patient und Heilerin, ein Herz und eine Seele. Drinnen bemerkte Harry seine Tante, die neben Seamus Eltern saß und sich einen Sherry nach dem anderen gönnte, so dass ihre Wangen schon so rötlich gefärbt waren wie das Getränk. Die älteren Gäste schienen verschwunden.
„Ron?“ Sein Freund drehte sich zu ihm. „Wo sind denn alle hin?“
„Die sind oben und lassen sich von der Kammermusik berieseln. Mum hat ein kleines Orchester organisiert hat.“
Molly war immer wieder für Überraschungen gut. „Wie kann ich das bei deiner Mutter nur wieder gutmachen?“
Ron lachte. „Sorge für mehr Enkelkinder.“
Mit breitem Grinsen kam Seamus auf die beiden zu und schlug Harry auf die Schulter. „Und? Bereit für ein Spiel? Wir wollten uns mal den Billardtisch vornehmen.“
Unsicher gab Harry zu: „Ich habe noch nie Billard gespielt.“
„Macht nichts.“ Seamus führte je eine Hand an Rons und Harrys Rücken, um den Weg zu weisen. „Dean und ich bringen es euch schon bei. Neville? Kommst du mit?“
Der Gerufene schaute zu Seamus, dann zu seinen Eltern und wollte schon verneinen, als seine Großmutter ihm versicherte: „Wir bringen die beiden“, ein Deut zu Sohn und Schwiegertochter folgte, „in den Ruheraum. Geht ihr zwei nur.“ Als Neville zögerte, scheuchte sie ihn mit einer Handbewegung weg, als wäre er eine lästige Fliege. Den Rest übernahm Luna, die Neville kurzerhand unterhakte und ihn mit sich zog.
Seamus überblickte die Runde. „Wir sind viel zu viele.“ Fred, Verity, George, Neville, Luna, Dean, Ron, Harry, Charlie, Angelina … „Viel zu viele.“
„Dann spielen wir eben abwechselnd“, schlug einer vor.
Von sich aus trat George freiwillig zurück. „Ich hab keine Lust auf Billard.“ Von Freds Überredungskünsten, die eine oder andere Frau anzusprechen, hatte er für heute genug. Er ahnte, dass sein Zwillingsbruder auch während des Spiels nicht damit aufhören würde, auch wenn es nur eine brüderliche Neckerei darstellte.
„Ja“, stimmte Fred zu, „schau dich noch ein wenig um.“
George verdrehte seine Augen und als die sich wieder scharf stellten, erblickte er Gabrielle, die ebenfalls mit den Augen rollte, als ihre Schwester ihr irgendwas ins Ohr flüsterte. „Ich werde mir schon die Zeit vertreiben“, versprach er, wandte seinen Blick jedoch nicht von der Französin ab.
Auf dem Weg zum Billardzimmer meinte Ron zu Harry: „Mensch, deine Tante pichelt ja ganz schön.“
Harry grinste. „Sie trinkt gegen die Angst an. Mal sehen, wer gewinnt.“
Die Meute folgte Seamus, der vorhin vom Schlossbesitzer die Erklärung bekommen hatte, wo sich entsprechendes Spielzimmer befinden würde. „Ich glaube“, er blieb an einer Tür stehen, „hier muss es sein.“
Ohne zu klopften riss Ron die Tür auf. Die nicht gerade leise Menschenmenge folgte ihm ins Zimmer. Jeder sah noch, wie jemand von der Couch aufsprang. Der dunkel gekleidete Herr blickte sie durch verengte Augenlider an und forderte sie auf diese Weise zum Gehen auf. Die DA-Mitglieder, die mehr als nur einmal dem Tode ins Auge blicken mussten und die Kämpfe miterleben mussten, bei deren Erzählung sich anderen Menschen der Magen umdrehte, waren durch den Blick der Person zur Salzsäule erstarrt. Die plötzliche Stille der Freunde war schnell erklärt.
Ron traute seinen Augen kaum. „Hermine!“ Sie saß auf der Couch und schaute mit sanftem Lächeln über ihre Schulter. Der Herr im Raum war Snape, der seine ehemaligen Schüler für das unhöfliche Benehmen verdammte. Ron nahm die Szenerie in sich auf. „Ein Kaminzimmer!“ Nochmals schaute er zu ihr und legte scherzhaft all seine Enttäuschung in die Stimme: „Hermine, wie kannst du nur?“
Sie grinste frech, erwiderte jedoch nichts. Stattdessen fragte Severus durch zusammengebissene Zähne: „Können wir Ihnen irgendwie behilflich sein?“
Irgendjemand hielt sein Lachen zurück, man hörte nur ein Schnaufen. Harry musste sich ebenfalls arg zusammenreißen, als er offenbarte: „Wir haben uns wohl in der Tür geirrt. Wir suchen das Spielzimmer.“
Mit einem Arm, der locker auf dem Rücken der Couch lag, deutete Hermine in eine Richtung. „Das ist ein Zimmer weiter.“
„Vielen Dank.“ Harry drehte sich um, aber er konnte das Kaminzimmer nicht verlassen, weil die anderen noch vor der Tür standen und teils mit Entsetzen in den Augen, teils aber auch nur amüsiert abwechselnd zu Snape und zu Hermine schauten. Die einen wussten ganz genau, was Sache war, die anderen waren mit dem Bild, das sich ihnen bot, vollkommen überfordert. Harry musste etwas unternehmen. „Können wir dann …?“ Wie vorhin schon Nevilles Großmutter machte diesmal Harry scheuchende Bewegungen mit den Händen – fast so, als wollte er Vieh von der Weide in den Stall treiben – oder wie in diesem Fall aus dem Stall hinaus. Hilfe erwartete Harry von weiter hinten. „Neville, könntest du …?“ Sein Freund trat aus dem Zimmer zurück in den Gang, nahm dabei Luna und Angelina mit, die er an der Armbeuge gepackt hatte. Das Gleiche tat er mit Verity und Dean. Allmählich leerte sich das Kaminzimmer wieder, so dass Harry einen letzten Gruß hineinwarf. „Treibt es nicht so doll“, flüsterte er mit einem Augenzwinkern, bevor er die Tür schloss.
Severus‘ Augenbrauen schossen in die Höhe. „Wie soll ich denn das verstehen?“, fragte er die geschlossene Tür, die natürlich keine Antwort gab.
„Komm schon, setz dich wieder.“ Hermine klopfte neben sich auf das Sitzpolster, strich gleich darauf mit einer Hand darüber und drückte die Sitzfläche ein wenig ein.
„Was tust du da?“, wollte Severus wissen, dem ihre merkwürdige Bewegung nicht entgangen war.
In ihren Augen funkelte Häme. „Es sah aus, als hätte dich eine Sprungfeder von der Couch katapultiert.“ Beleidigt presste er die Lippen zusammen, so dass sie lachen musste. „War doch nur Spaß. Komm, setzt dich wieder neben mich.“ Kaum kam er ihrer Aufforderung nach, lag ihre Hand auch schon auf der gleichen Stelle wie vorhin – auf seinem Oberschenkel, gleich über dem Knie.
„Du hast Harry gehört“, erinnerte er sie mit ernster Miene, „wir sollen es nicht so doll treiben.“
„Ja“, stimmte sie zu, „fragt sich nur, was er mit es gemeint hat.“
Ihre Hand knetete seinen Schenkel und machte kurz halt, um ihn mit den Fingern zu kraulen als säße dort ihr Kater. Fasziniert schaute er dabei zu, während die eigenen Finger sich nervös ineinander verhakten. In einer Notsituation würde er sie nicht so schnell wieder auseinander bekommen, um den Zauberstab zu ziehen. Hermine machte nichts anderes als Kraulen und Streicheln und das an einer Körperstelle, die er normalerweise nicht als eine sexuell erregbare Zone bezeichnen würde. Es war verdammt nochmal nur ein Knie, ging es ihm durch den Kopf. Berührungen dieser Art waren ihm zwar nicht fremd, aber auch nicht unbedingt vertraut. Linda hatte nie sein Knie liebkost. Seine eigene Reaktion auf Hermines Tätscheln war ihm absolut fremd. Ein Kribbeln breitete sich im eroberten Knie aus und bombardierte von dort aus sogar seinen Magen. Es breitete sich aus, und er konnte nichts anderes tun, als seiner eigenen, mittlerweile schwer gewordenen Atmung zu lauschen. Hörte sie es auch? Die Atmung gehörte zu den Aufgaben, die der Körper eines gesunden Menschen von allein bewerkstelligen konnte. Möglicherweise war er nicht ganz bei Kräften, wenn er seine Lungen bewusst zum Durchatmen zwingen musste. Schwere Atmung konnte zudem auf ein Lungenleiden hinweisen. Im ungünstigsten Fall könnte so eine Erkrankung tödlich verlaufen, rief sich Severus ins Gedächtnis, als er tief einatmete und dabei feststellte, dass seine Respiration zudem hörbar unregelmäßig war. Schwer und unregelmäßig, wie man es von einem Sterbenden kannte, der an Schwelle des Todes stand. Es hatte aber auch große Ähnlichkeit mit der Atmung einer Person, die nach dem Ableben fest mit der Wiederauferstehung rechnen durfte. Hitze konnte verbrennen und gleichermaßen beleben.
Seine zittrige Hand legte sich auf ihre, womit er all die angenehmen Bewegungen stoppte, bevor ihm seine Reaktion darauf noch unangenehm werden würde. Sie sagte nichts, blickte ihn nicht einmal an. Einzig ihre Hand kommunizierte mit ihm und legte sich in seine. Mit Staunen stellte er fest, dass es nicht ausschließlich das eigene Pendant sein musste, das wunderbar in seine Handfläche passte. Als seine Sinne wieder klarer wurden, der Kopf kühler, da hörte er es plötzlich. Beim Luftholen strengte sie sich genauso an wie er, atmete ebenso zittrig ein und aus. Es war erleichternd zu wissen, dass es nicht nur ihm so erging. Die Heiltränke waren nicht schuld an dieser Reaktion, die er als heftig bezeichnen wollte. Vorsichtig befühlte er ihre gelockerte Hand, als wäre sie eine außergewöhnlich kostspielige Skulptur, deren vollendete Form mit ihren weichen Rundungen … Bei Merlin, sein Atemproblem kam unerwartet zurück.
Ihr lauschiges Plätzchen wollte Hermine nicht so schnell verlassen, doch ihre Neugierde vereitelte das Vorhaben. Ihr Blick fiel auf ein altes Grammofon.
„Sieh mal, wir könnten doch ein wenig Musik machen, wenn wir den Kamin schon nicht nutzen können.“
„Ach, ich weiß nicht …“
Sie war längst aufgesprungen und zog den Widerspenstigen hinter sich her. „Muss man hier irgendwo kurbeln?“ Das Gerät sah wie jenes Folterinstrument aus, mit dem jeder Schüler Hogwarts‘ mindestens einmal im Leben gequält wurde. ‚Die Hand an die Hüfte‘, hallte es in Hermines Kleinhirn wider. Sie musterte das Gerät. „Das Ding funktioniert anders als mein alter Plattenspieler.“
„Man muss es hier aufziehen. Es läuft mit Uhrwerk. Bloß nicht überdrehen.“ Severus fasste das Gerät mit seinen noch immer zitternden Fingern nicht an, als er ihr die Funktion erklärte. „Und wenn die Platte auf dem Teller liegt, wird die Nadel aufgesetzt und dieser Hebel hier zurückgeschoben.“
„Ob die Platten im Schrank sind?“ Kurzerhand öffnete sie besagtes Möbelstück, auf dem das Grammofon stand.
„Hermine, wir sollte nicht einfach in Schränken wühlen.“
Sie überhörte seinen Einwand absichtlich. „Hier sind die Platten! Lass uns mal schauen.“ Hermine war in die Knie gegangen und zog ein paar der viereckigen Hüllen heraus. Severus kniete sich neben sie und schaute dabei zu, wie sie in den Titeln blätterte. „Ist wohl alles Klassik“, murmelte sie enttäuscht.
„Nach was suchst du denn?“
„Ach, nichts Bestimmtes. Was hörst du gern? Ich habe noch nie mitbekommen, dass du Musik hörst.“
„Klassik ist“, er zögerte einen Moment, „nett. Diese Musikrichtung bevorzuge ich nicht unbedingt, aber es gibt ein paar annehmbare Stücke, die selbst ich hören kann.“ Nun blätterte auch er in der kleinen Sammlung. Als er fündig wurde, zog er eine bestimmte Platte heraus, die er ihr mit frechem Schmunzeln zeigte. „Hier, das wird dir gefallen.“ Sie las den Titel Karneval der Tiere. „Da kommen Schwäne drin vor.“
Sie gab sich viel Mühe, ihn böse anzuschauen, doch seine sichtbare Schadenfreude ließ sie über die Anspielung hinwegsehen. Ihre Augen strahlen eine angenehme Wärme aus, als sie ablehnte. „Sehr aufmerksam, aber nein, danke! Ich habe seit heute ein gestörtes Verhältnis zu diese Vögeln.“
Die Tür zum Kaminzimmer öffnete und schloss sich. Wieder! Hermine und Severus blickten zeitgleich über die Schulter, so dass sich ihre Köpfe fast berührten. Eingetreten waren Remus und Tonks, die sich in dem Zimmer fälschlicherweise ungestört fühlten, weil sie auf der Couch niemanden sahen. Die Ecke mit dem Grammofon blieb völlig unbeachtet. Nach dieser Fehleinschätzung begannen die beiden, sich Liebeleien ins Ohr zu flüstern. Die Worte wurden mit sanften Berührungen an Arm und Wange untermauert. Ein Kuss auf die Halsbeuge folgte.
Severus flüsterte ebenfalls, als er sich Hermines Ohr näherte und sagte: „Wir sollten unsere Anwesenheit kundtun.“ Sie grinste und schüttelte den Kopf, hatte den Blick dabei starr auf die Turteltäubchen gerichtet. Tonks fiel Remus um den Hals, schmiegte sich an ihn. Sie tuschelten, kicherten, küssten sich. Entsetzt beobachtete Severus, wie Remus damit begann, mit einer Hand den Rock der Dame langsam zu lüften. Ein Räuspern seinerseits ließ die beiden auf der Stelle einen Meter auseinander springen.
„Huch“, machte Remus ganz außer Atem. „Wir haben euch gar nicht gesehen.“
„Das glaube ich gern“, bestätigte Severus mit ernster Miene. Hermine konnte nur lächeln. Sie war so amüsiert, dass sie kein Wort herausbrachte.
Auf der Stelle nahmen Tonks‘ Haare die gleiche Farbe an wie die ihres verschmierten Lippenstifts. „Ich“, sie kam ins Stottern, „ich werde … Ich muss mal dringend wohin.“
„Warte doch!“ Remus wurde nicht mehr gehört, denn Tonks war im Nu aus dem Raum geflüchtet. „Tja“, kommentierte der Alleingelassene den Ausbruch seiner Verlobten aus dieser unangenehmen Situation, der er sich stellen wollte. Verspielt schlug sich Remus seitlich an die Hüften, knabberte dabei an seiner Oberlippe und versuchte, so unschuldig wie nur möglich dreinzublicken.
Ignoranz war etwas, das Severus außerordentlich gut beherrschte. Mit keiner Silbe ging er auf die vorangegangene Situation ein, als er empfahl: „Nebenan wird Billard gespielt, falls du Interesse hast.“
„Nein“, Remus schüttelte zusätzlich den Kopf. „Ich kann nicht spielen.“
Aus besagtem Raum nebenan hörte man klackende Geräusche, die entstanden, wenn die weiße Kugel auf die anderen traf. Ein gedämpftes Lachen war aus dem Nebenraum zu vernehmen. „Das können andere auch nicht“, versicherte Severus, „und sie tun es trotzdem.“
Das fünfte Rad am Wagen blickte sich im Kaminzimmer um, bevor es ihm dämmerte. „Oh, ich störe“, vermutete er laut.
„Bei was? Beim heimlichen Durchschauen der Plattensammlung des Schlossherrn?“, spottete Severus, der sich gleich darauf erhob. Seine Kniescheibe krachte und er stöhnte kurz auf. Wenig galant schüttelte er das Bein wie ein Hund aus, der gerade sein kleines Geschäft verrichtet hatte. Langsam näherte er sich dem Freund mit dem hochroten Kopf. „Das vorhin mit Black …“ Severus druckste herum. Entschuldigungen würden ihm selbst mit vollständiger Seele nicht liegen. „Den Vorfall bedaure ich. Ich stehe heute an einer extrem niedrigen Frustrationstoleranzschwelle.“
„An einer was?“ In Gedanken wiederholte Remus das Gesagte und lachte. „Das ist gut, das merke ich mir.“ Ein Blick zu Hermine, deren Gesicht von dem Hauch eines zufriedenen Lächelns geziert wurde, ließ Remus den Rückzug antreten. „Ich glaube, ich gehe mit Tonks mal zum See.“
„Achtung!“, warnte Severus. „Bissige Schwäne.“
„Tatsächlich? Na ja, so nahe heran wollten wir nicht gehen. Außerdem beginnt bald der Tanz. Ginny möchte mit dem …“ Er überlegte. „Sagt man dazu ‚Schleiertanz‘? Ich meine diese Tradition, wenn das Brautpaar unter dem Schleier tanzt und sich am Ende die ganzen ledigen Damen wie eine Horde wildgewordener Raubtiere“, er grinste, „auf das arme Stückchen Tüll stürzen, um es in tausend Stücke zu reißen.“
Hermine nickte. „Die Dame mit dem größten Stück vom Schleier ist als Nächste dran.“
„Wieso?“, fragte Severus nach. „Wird sie dann von den übrig gebliebenen Damen zerfleischt?“
„Nein“, brachte Hermine nur lachend hervor. „Sie ist nach einem Aberglauben die nächste Braut.“
„Was ist dann mit dem Brautstrauß?“, wollte er ernsthaft wissen. „Ich dachte, diese Tradition würde bedeuten, man, beziehungsweise frau wäre als Nächste dran.“ Vorgetäuscht irritiert schüttelte er den Kopf. „Warum gibt es solche Traditionen eigentlich nicht auf Begräbnisfeiern? Derjenige, der die erste Blume ins Grab wirft und auch noch trifft, der ist als Nächstes dran.“
„Das ist geschmacklos“, warf Hermine enttäuscht ein.
„Es ist genauso geschmacklos, sein Schicksal auf Biegen und Brechen ändern zu wollen, nur weil man durch einen dummen Zufall ein großes Stück erhascht. Was hat ein Teil des Brautschleiers mit der eigenen Vermählung zu tun? Oder ein Strauß, den man vollkommen arbiträr fängt?“ Aus unerfindlichen Gründen verschlechterte sich Severus‘ Laune auf einen Schlag. „Was ist mir dir, Remus? Deine Verlobte hat den letzten Strauß gefangen, aber nicht sie stand heute vor dem Altar, sondern Harry und …“
„Severus, ein bisschen Feingefühl wäre …“
Hermines gut gemeinten Rat schlug er in den Wind. „Ist dir das Thema unangenehm?“, wollte Severus von ihr wissen. Er wandte sich an Remus. „Oder etwa dir?“
Mit ernstem Gesichtsausdruck schüttelte Remus den Kopf. „Es sind nur Gepflogenheiten“, erklärte er monoton, „die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Ich kenne niemand, der an diese Bräuche wirklich glaubt, aber sie bringen Spaß und“, Remus nickte sich selbst zu, „manchmal auch Hoffnung.“
„Hoffnung?“, wiederholte Severus verdutzt. „Ein Blumenstrauß soll Hoffnung bringen?“
„Es ist nicht einfach zu erklären.“ Remus schloss die Augen und atmete ruhig aus, als wollte er sich zurückhalten. „Für manche Menschen bedeuten solche Sitten überhaupt nichts“, er blickte demonstrativ zu Severus, „für andere wiederum“, Remus legte eine Hand aufs Herz, „stehen sie symbolisch für … Ach, was soll ich mich hier erklären?“ Mit einem Male war Remus wieder gut gelaunt. „Du findest es albern, mir bedeutet es etwas. Darüber muss man nicht streiten.“ Sein flüchtiger Blick zur Tür kündigte seinen Aufbruch an. „Ich werde Tonks zu den Schwänen begleiten.“
Wortlos sah Hermine dabei zu, wie Remus den Raum verließ. Er hatte die Nerven behalten, auch wenn das Thema, vor allem aber Severus‘ unsensible Art an ihm zehrte. Severus war gerade dabei, den Plattenschrank zu schließen. Er zeigte sich von der kühlen Seite, doch an seiner Körpersprache erkannte Hermine eine leichte Unsicherheit.
„Darf ich fragen“, begann sie mit sanfter Stimme, „was in dich gefahren ist?“
„Ich wüsste nicht, dass ich mir etwas zu Schulden kommen ließ.“ Severus stand wieder auf und verweilte stocksteif an gleicher Stelle. „Es war eine harmlose Diskussion über den Sinn und Unsinn von Hochzeitsbräuchen.“
„Wenn du es so siehst …“ Wozu die eigene Enttäuschung zurückhalten, dachte sie. Wie vermutete hatte er ihre Gefühle wahrgenommen.
„Siehst du es nicht so?“, wollte er allen Ernstes wissen. „Roll nicht den Augen, wenn ich mit dir rede“, mahnte er gleich im Anschluss hörbar beleidigt.
„Möchtest du gehen, Severus?“ Ihre Frage kam unerwartet, so dass ihm die Worte fehlten. „Wir könnten apparieren. Die anderen, die mit uns mit dem Portschlüssel hergekommen sind, bleiben über Nacht im Schloss. Uns hält hier nichts. Du musst es nur sagen.“
„Ich ...“ Er war noch immer um Worte verlegen. Was für eine Blamage.
Für sie war die Sache bereits erledigt. „Ich möchte mich nur noch von Harry und Ginny verabschieden. Treffen wir uns in einer Viertelstunde am Pavillon?“
„Du meinst es ernst“, stellte er das Offenkundige fest.
„Glaubst du, ich habe Spaß dabei, wenn du dich zu Tode langweilst?“
„Ich langweile mich nicht!“ Bei seiner Aussage fehlte es nur noch, dachte Hermine, dass er mit dem Fuß stampfte. Severus atmete einmal tief durch. Ihr könnte er sich anvertrauen. „Ich ertrage es nur nicht, dass er um mich herumtigert und ich keine Ahnung habe, wann er zuschlagen wird.“
Im ersten Moment war Hermine ratlos, doch dann beschlich sie eine Ahnung. „Ich glaube nicht, dass Sirius dir heute irgendwas …“
„Wer spricht denn von diesem Idioten?“, unterbrach er aufgebracht. „Ich meine Albus!“
Hermine fiel aus allen Wolken, nur auf der siebten fand sie Halt. „Das ist es? Du glaubst, er wartet einen Moment ab, damit er dich kalt erwischt? Meinst du allen Ernstes, das würde er tun?“
„Ich weiß es nicht und genau das ist das Schlimme. Ich kann ihn nicht einschätzen und das macht mir zu schaffen.“ Jetzt tigerte er, und zwar vom Plattenschrank zum Kamin hinüber. „Wenn ich ihm heute begegnet bin, hat er mich angeschaut. Fast so, als wollte er mir mitteilen, dass ich auch noch an die Reihe komme.“
„Vielleicht befürchtest du das aber auch nur. Albus würde dich nicht in eine unangenehme Situation bringen.“
„Stimmt, das liegt voll und ganz im Wirkungsbereich von Black.“
Aus dem Spielzimmer hörte man die aufeinander treffenden Billardkugeln, gefolgt von lautem Lachen und Applaus. Nebenan hatte man Spaß, doch hier im Kaminzimmer, welches traditionell gern genutzt wurde, um einer Dame den Hof zu machen, herrschte getrübte Stimmung. Schuld daran war Severus. Er fühlte es bis in die Haarspitzen, dass er heute seinem Ruf als Stimmungstöter mehr als nur gerecht wurde. Schmerzlich wurde er sich darüber klar, dass er auch Hermines gute Laune verdorben hatte. Ablenkung musste her.
„Hast du schon die Animagusform von Mr. Malfoy senior herausbekommen?“
Mit einer Antwort zögerte sie so lange, bis er sie ansah, doch selbst da rang sie nach Worten, weil sich nicht die richtigen finden wollten. Endlich hatte sie sich gefangen. Trübselig erwiderte sie: „Es ist doch nicht wichtig.“ Ein Seufzer folgte. „Ich möchte dich nicht zu etwas überreden, was du nicht möchtest.“
„Was ich nicht möchte? Bitte klär mich auf.“
„Ich weiß, warum ich …“ So eine Aufgabe lösen soll.
Der Rest des Satzes erstarb in ihrem Hals, als die Tür abermals aufgestoßen wurde. Draco und Susan traten ein, blieben aber an der Schwelle stehen. „Wir bitten um Entschuldigung“, sagte Draco höflich. „Wir wollten nur ein wenig Ruhe vor dem Tanz haben. Wir stören euch nicht weiter.“
„Nicht notwendig.“ Im Nu war Severus an der Tür. „Wir wollten uns sowieso gerade ein wenig die Beine vertreten.“ Er wandte sich Hermine zu und hielt ihr den Arm entgegen. „Hermine?“
Mit Kusshand nahm sie, was er zu geben bereit war, auch wenn das nur ein Arm sein sollte. Den packte sie dafür gleich mit beiden Händen. Im Gang nahmen sie eine Richtung, die zu einer der vielen Terrassen führte. Allein waren sie dort nicht. Remus, der eigentlich mit Tonks die Schwäne betrachten wollte, stand an der Balustrade und überblickte das Reich der Vögel.
Leise, nur damit Hermine es hören konnte, sagte Severus reumütig: „Ich werde mich wohl ein zweites Mal am heutigen Tag entschuldigen müssen. Mein persönlicher Rekord.“
Sie schmunzelte. „Er ist dir bestimmt nicht böse.“
Aufmerksam betrachtete Severus den Mann, den er einen Freund nennen konnte. Remus‘ Körperhaltung sprach für sich selbst. Er war bedrückt. „Es sieht aber so aus. Kommst du mit?“
Sie nickte und folgte ihm. Hermine würde es nicht wagen, sich in das Gespräch einzumischen, aber zuhören wollte sie durchaus.
„Remus?“
Der Angesprochene fuhr unmerklich zusammen, weil er nicht mit anderen Menschen gerechnet hatte. Verbissen setzte Severus gerade zu einer Entschuldigung an, da machte ihm Remus einen Strich durch die Rechnung und fragte: „Weißt du etwas davon, dass Hagrid im kommenden Schuljahr wieder als Lehrer für Pflege magischer Geschöpfe mit an Bord ist?“
„Hagrid?“ Die Nachricht war selbst Severus neu. „Wer hat das behauptet?“
„Hagrid selbst. Er hat es von Albus erfahren.“ Geknickt schaute Remus über die Brüstung.
Das war der Grund, dachte Severus, warum Remus so niedergeschlagen war. „Und was wird mit dir?“
Bedächtig hob und senkte Remus die Schultern. „Keine Ahnung. Offiziell weiß ich davon gar nichts.“
„Das kann er doch nicht machen!“, regte sich Severus auf. „Du hast ein Recht zu erfahren, ob du dir eine neue Beschäftigung suchen musst.“
„Ich werde abwarten. Vielleicht hat Hagrid auch nur etwas in den falschen Hals bekommen, obwohl ich das nicht glauben kann. Er klang sehr überzeugt, freute sich richtig, dass er doch noch einmal als Lehrer einspringen darf.“ Remus holte tief Luft, die ihm mit einem Seufzer wieder entwich. „Heute mache ich mir keine Gedanken darüber. Heute wird gefeiert.“
Hermine sah keinen Grund, sich weiterhin in Zurückhaltung zu üben und empfahl: „Sprich doch mal mit Albus.“
„Ach“, winkte Remus ab, „doch nicht heute. Ein geschäftliches Gespräch kann bis Montag warten.“ Remus war ein Stehaufmännchen. Anscheinend gab es nichts, das ihn komplett desillusionieren könnte. Selbstbewusst streckte er den Rücken, schaute Severus mit einem Lächeln auf den Lippen in die Augen. „Und du, Severus? Gibst du am Mittwoch eine Abschiedsfeier fürs Kollegium?“
„Ich werde mich hüten! Wie ich Sibyll kenne, würde sie sich dazu herablassen, mir vor allen anderen die Zukunft vorherzusagen. Außerdem würde ich ein Gespräch mit Albus garantiert nicht überleben.“
Remus blinzelte, das Lächeln war eingefroren. „Wie soll ich das verstehen?“ Er war sich nicht sicher, ob Severus den eigenen Gesundheitszustand meinte.
„Das erkläre ich gern. Ich würde an Überzuckerung zu Grunde gehen.“
„Oh, dann werde ich mein Geschenk lieber zurückhalten“, scherzte Remus.
Severus ahnte, dass sein Kollege wie üblich eine selbst kreierte Köstlichkeit aus Bitterschokolade in petto hielt. „Deines nehme ich gern an, solange ich nicht gezwungen werde, es auf der Stelle zu verzehren.“
„Kann man dich überhaupt zu etwas zwingen?“, stellte Remus die rhetorische Frage.
„Ist Voldemort noch am Leben?“, entgegnete Severus gelassen. Die Antwort war klar.
Die ganze Zeit über war Hermine außergewöhnlich ruhig geblieben. Sie betrachtete die beiden Männer und zog Vergleiche zu damals. Während der Begegnung der beiden in der Heulenden Hütte hatte man gut sehen können, wie tief die gegenseitige Abneigung verwurzelt war. Die von Severus‘ hatte in erster Linie Sirius gegolten – und so war es noch immer. Als Kollegen waren Remus und Severus nur bedingt gut ausgekommen. Severus hatte ihm den Wolfsbanntrank gebraut und als Dankeschön war Remus immer höflich geblieben. Eines interessierte Hermine plötzlich brennend, so dass sie die beiden unterbrach und ihre Frage stellte.
„Wie war das eigentlich vor gut zehn Jahren, als ihr beide schon einmal Kollegen wart?“
Mit ihrer Frage erntete sie hochgezogene Augenbrauen und gerunzelte Stirnen. Remus wollte Klarheit und fragte nach: „Was genau meinst du?“
„Ich glaube“, warf Severus ein, „sie interessiert sich dafür, wie wir damals zueinander gestanden haben.“ Weil Hermine nickte, erklärte er: „Du als meine Schülerin hast es doch selbst erlebt, Hermine. Er bekam seinen Trank …“
„Und“, unterbrach Remus, „ein paar spitze Bemerkungen.“
„Ach, die waren doch nicht der Rede wert“, spielte Severus die Situation herunter, als hätte man ihm eben ein Kompliment gemacht. Remus amüsierte sich köstlich.
Während die Herren sich noch etwas unterhielten, erspähte Hermine eine ganze bestimmte Person, die gerade die Terrasse betrat. Minerva.
„Entschuldigt mich bitte kurz“, sagte sie, doch ihre Worte blieben wegen Remus‘ herzlichem Gelächter ungehört. Im Nu war Hermine hinüber zu ihrer alten Lehrerin für Verwandlung gegangen.
„Hermine.“ Minerva nickte ihr grüßend zu.
Seit ihrer Ausbildung bei Severus nannte sie alle Lehrer mit Vornamen, doch durfte sie das jetzt noch immer? „Guten Tag, Minerva.“ Die betagte Lehrerin lächelte wohlwollend. Die Anrede war gebilligt. „Ich habe eine Frage und hoffe sehr, dass Sie mir weiterhelfen können“, brachte Hermine es sofort auf den Punkt.
„Ich werde mein Bestes geben. Fragen Sie, Hermine!“
„Sie kennen die Animagusgestalt von Mr. Malfoy senior.“ Die Tatsache wollte Hermine als Erstes bestätigt haben, und den Gefallen tat Minerva ihr, denn sie nickte. Mit einem Hundeblick, der selbst Severus erweichen würde, stellte Hermine die nächste Frage. „Welche ist es?“
Minerva atmete tief durch. Das Lächeln trübte sich, weil sie die Antwort nicht geben durfte. „Es tut mir sehr leid, aber ich bin gesetzlich an eine Schweigepflicht gebunden.“ Geknickt betrachtete Hermine den steinernen Boden. Sie hatte sich Ähnliches gedacht. Minerva versuchte sich zu erklären. „Wenn ich bei den Schülern entsprechende Beobachtungen mache, dann fördere ich sie. Am Ende zählt es zu meiner Aufgabe, die Schüler offiziell beim Ministerium registrieren zu lassen. Eine Tätigkeit, die ich freiwillig übernommen habe.“
„Haben Sie wenigstens einen Tipp für mich?“
Minerva musterte Hermines Gesicht. Sie suchte in den flehenden Augen nach einer Erklärung für das ungewöhnliche Interesse und schien eine gefunden zu haben. „Das Fell ist meistens weiß, je nach Jahreszeit.“ Der Begriff Fell war neu, registrierte Hermine ermutigt. „Das Tier ist ein Überlebenskünstler“, fuhr Minerva fort, „aber das hielt einige reiche Damen dennoch nicht davon ab, ihn um den Hals zu tragen.“ Ein freches Augenzwinkern der sonst so ernsten Lehrerin brachte Hermine zum Grinsen.
Gerade wollte sich Hermine bedanken, da trat noch jemand durch die Tür auf die Terrasse. Es war Albus. „Oh, Guten Tag, Hermine.“
Während sie zurückgrüßte, bemerkte sie, dass der Direktor die beiden Herren weiter vorn auf der Terrasse nicht aus den Augen ließ. Den Blick deutete sie jedoch anders als Severus. Während er der Meinung war, Albus würde wie ein Raubtier um ihn herumschleichen, bevor er angreifen wollte, erkannte Hermine die Sorge und Achtsamkeit in den herzlichen, blauen Augen. Albus wandte sich an seine Frau.
„Minerva, lass uns wieder hineingehen.“
„Du wolltest doch herkommen. Ich frage mich sowieso, was du an einem so abgelegenen Ort …“
Albus ergriff ihren Arm und legte ihn um seinen. „Dann stürzen wir beide uns eben ins Leben. Der Tanz beginnt jede Minute.“
„Möchtest du wirklich mit mir …?“ Ergriffen legte Minerva eine Hand aufs Herz.
„Natürlich möchte ich, meine Gute.“
„Dann gehen wir.“ Sie schaute Hermine an. „Ich hoffe, ich konnte helfen.“
„Ja, das konnten Sie. Vielen Dank und vor allem viel Spaß“, wünschte sie dem Ehepaar.
Albus schob seine Halbmondbrille gerade. „Genau dasselbe wollte ich Ihnen auch gerade wünschen, Hermine.“
Severus, soviel stand für Hermine fest, hatte sich in Albus geirrt. Albus lauerte ihm nicht auf – im Gegenteil. Er ging Severus aus dem Weg. Das hatte sich Hermine beinahe schon gedacht.
„Weißes Fell, von reichen Frauen getragen“, murmelte sie zu sich selbst, als sie allein an der Terrassentür stand und grübelte. Remus und Severus plauderten noch immer miteinander, schienen ihre Abwesenheit nicht einmal bemerkt zu haben. Wichtig war nur, dass Severus jetzt nicht allein war. Ein Freund war bei ihm. Sie nahm sich vor, dem Schlossherrn eine wahrscheinlich außergewöhnliche Frage zu stellen, aber der Mann musste zunächst gefunden werden. Richard Van Tessel hielt sich immer in der Nähe von Molly auf und die war mit Sicherheit so kurz vor Beginn schon in dem Raum, in welchem getanzt werden würde.
Der Ballsaal.
Kaum hatte Hermine ihn betreten, wurden ihre Sinne beim Anblick der wunderschönen Raumarchitektur vollkommen benebelt. Die cremefarbenen Wände mit ihrer kunstvollen Ornamentik strahlen eine träumerische Wärme aus. Auf den spiralartigen Säulen an den Wänden saßen marmorne Engelskinder, die unbeweglich das Treiben der Menschen verfolgten. Wie von selbst wanderte Hermines Blick zur Decke, die sich ihr mit den ganzen Mustern und Verzierungen in aller Pracht offenbarte. Um nicht zu fallen, blieb Hermine lieber stehen. Ein glanzvoller Kronleuchter machte den Mittelpunkt der abgerundeten Zimmerdecke aus. Er war gestaltet wie ein Baum. Die symmetrisch geordnete Wurzeln und Äste hielten unzählige Kerzen, deren entzündetes Licht diesen Teil des Schlosses in einen Ort verwandelte, den man nur aus Märchen kannte. Genauso fühlte sich Hermine – wie in einem Märchen. Der Ballsaal war weiträumiger als die Große Halle in Hogwarts, die Decke viel höher. Hinten bei den drei hohen Fenstern mit ihren Rundbögen stand der gesuchte Herr. Hermine ging, sofern ihre wund gelaufenen Hacken es zuließen, so schnell wie möglich zu ihm.
„Mr. Van Tessel?“ Der junge Mann, der in diesem Schloss aufgewachsen war und mit seinem adonischen Aussehen für die Rolle des Märchenprinzen perfekt schien, schenkte ihr sofort seine Aufmerksamkeit.
„Wie kann ich Ihnen weiterhelfen, meine Dame?“ Van Tessel hatte soeben Lockhart von Platz 1 gestoßen, denn charmanter als er konnte Hermines Meinung nach niemand lächeln.
„Ich frage mich, ob es hier eine Bibliothek gibt.“
Der Schlossherr war einen kurzen Augenblick still, bevor er die unerwartete Frage beantwortete: „Es gibt eine überwältigende Bibliothek hier, Werteste. Entschuldigen Sie, dass mich Ihre Frage im ersten Moment so erstaunt hat. Noch nie hat ein Besucher nach der Bibliothek gefragt.“
Eine Stimme im Hintergrund beteuerte: „Daran müssen Sie sich bei ihr gewöhnen. Das macht sie andauernd.“ Hermine drehte sich um und erblickte George, der sich nicht einmal die Mühe machte, sein Grinsen im Zaum zu halten. Er wandte sich jedoch gleich wieder der Dame an seiner Seite zu. Hermines Gehirn registrierte noch kurz das fröhliche Gesicht von Gabrielle, bevor Van Tessel sie wieder ansprach.
„Möchten Sie die Bibliothek jetzt gleich sehen?“
„Oh ja, das würde ich außerordentlich gern.“
„Dann bitte ich Sie, einen klitzekleinen Moment zu warten. Ich möchte Mrs. Weasley noch etwas sagen, dann bin ich sofort bei Ihnen.“
Während sie wartete, schaute sie abermals zu George hinüber. Es war tatsächlich Gabrielle, mit der er fantastisch auskam. Sie unterhielten sich prächtig. Die Sommersprossen in seinem Gesicht glühten. Der Ballsaal selbst war noch nicht gut besucht, bemerkte Hermine. Vereinzelt hielt sich hier ein Pärchen auf und … Hermine schaute nochmal genauer hin. George und Gabrielle hielten sich schüchtern an der Hand. Schnell schaute Hermine weg, damit man ihre offensichtliche Freude nicht sehen würde. Bei manchen Dingen musste man nicht nachhelfen. Fred würde das früh genug erfahren. Hermine wandte den Kopf zum Fenster und bemerkte das erste Mal den riesigen Rosengarten, den man von hier aus überblicken konnte. Die vielfarbigen Pflanzen standen in voller Blüte. Natürlich, dachte sie, es war Juni, die erste Blütezeit. Die gelben, weißen, pinken und selbstverständlich die großen, roten Blumen waren mindestens genauso schön anzusehen wie der Ballsaal, nur dass der Garten seine Pracht bei Tageslicht präsentierte, während der Ballsaal erst zum Abend hin seine Vollkommenheit offenbaren würde. Hermine schielte unauffällig zu George und Gabrielle hinüber, wurde dabei aber bemerkt. George zwinkerte Hermine zu, bevor er sich zu einem imaginären Twist gen Boden drehte, um zu zeigen, wie sehr er sich schon darauf freute, mit Gabrielle zusammen das Tanzbein zu schwingen. Ihre Sympathie hatten die beiden. Und auch ihren Neid. Hermine atmete tief durch und schauten nochmals hinaus in den wunderschönen Garten. Keine Menschenseele hatte sich dorthin verirrt. Die steinernen Bänke zwischen den roten Rosen waren verwaist, wurden höchstens von goldenen Vögeln besucht, die sich hier Zuhause fühlten. Hermines Herz wurde mit einem Male ganz schwer. Neid war besonders schwer zu ertragen, wenn man der Person, auf die man neidisch war, das Glück eigentlich gönnte.
„Mrs. …?“
Hermine drehte sich um und verbesserte harsch. „Miss!“ Van Tessel beugte unmerklich den Rücken nach hinten, um nichts von dem Gift abzubekommen, das sie versehentlich versprüht hatte. „Tut mir leid, das war nicht so gemeint. Ich war nur eben in Gedanken ...“ Nichts könnte das erklären, was sie momentan fühlte, also beließ sie es bei ihren Worten.
Van Tessel zeigte sich verständnisvoll. „Sie sollten sich schöne Gedanken machen, Miss …“
„Oh, Miss Granger“, vervollständigte sie schnell.
„Miss Granger, dann darf ich Sie zur Bibliothek geleiten?“ Wie Severus es vorhin getan hatte, hielt nun auch der Schlossherr ihr den Arm hin. Sie war froh, dass er ihr nicht böse war.
Es ging ein paar Stufen hinauf in den ersten Stock, dann in den zweiten. Abseits der Gästezimmer lag die Bibliothek. Die Zeit überbrückte Van Tessel mit einem Gespräch.
„Die Bibliothek ist eigentlich nicht für Gäste geöffnet. Es befinden sich einige äußerst zwielichtige Titel in der Sammlung meiner Vorfahren.“
Gelassen winkte Hermine ab. „Das stört mich nicht. Ich möchte eigentlich nur kurz in einem Buch aus dem Bereich der Tierkunde blättern.“
„Wenn es um Schnatzer geht, meine Gute, dann versichere ich Ihnen, dass Sie gerade mit einem lebendigen Fachbuch spazieren gehen“, scherzte der Schlossherr. „Über Schnatzer weiß ich alles, was in Büchern steht – und noch viel mehr.“
„Ich möchte Sie ungern enttäuschen, Mr. Van Tessel, aber es geht um ein anderes Tier.“
„Ach ja?“ Auf Schloss Schnatzer wurden zu 99 Prozent Fragen zu den goldenen Vögeln gestellt. „Und um welches Tier geht es?“
„Das versuche ich gerade herauszubekommen.“ Sie ließ sich von Van Tessel in einen Seitengang führen.
Seine nächste Frage stellte er nur zögerlich. „Wenn Sie gar nicht wissen, um welches Tier es sich handelt, warum wollen Sie dann …?“
„Jemand hat mich herausgefordert. Ich soll ein Rätsel lösen und werde es auch schaffen!“, beteuerte sie selbstbewusst.
„Dann haben Sie ein paar Hinweise?“ Weil sie nickte, hakte er nach. „Teilen Sie diese Hinweise mit mir?“
„Wenn Sie mir helfen möchten, bin ich Ihnen jetzt schon dankbar.“ Sie rief sich Dracos, Narzissa und Minervas Erklärungen ins Gedächtnis. „Es hat meistens ein weißes Fell, das hängt aber von der Jahreszeit ab. Ihren Nachwuchs bekommen sie zwischen Mai und Juni. Offensichtlich war oder ist das Fell bei der Bekleidungsindustrie begehrt.“ Van Tessel hörte aufmerksam zu, obwohl er an einer Tür längst Halt gemacht hatte. „Das Tier ist außerdem monogam.“
„Ah“, machte der Schlossherr, „so wie unsere Schwäne. Haben Sie die hübschen Tiere schon gesehen?“
„Ja“, erwiderte sie knapp. Mehr wollte sie dazu wirklich nicht sagen.
„Noch mehr Hinweise?“
„Die Tiere sind in unserer Gegend nicht heimisch. Sie sollen Überlebenskünstler sein und begleiten sogar gefährliche Tiere in der Hoffnung, etwas von deren Beute abzubekommen.“
„Mmmh“, machte Van Tessel. „Das alles ist nur bedingt hilfreich. Ich hoffe, Sie werden fündig.“
Van Tessel legte beide Hände auf die runden Knaufe der Flügeltür und öffnete sie. Der vertraute Duft von Leder und altem Papier wehte Hermine entgegen. Der Ballsaal hatte Hermine schon sehr beeindruckt, aber das war nichts im Vergleich zu dem, was Van Tessel ihr gestattete aufzusuchen. Eine dreistöckige Bibliothek eröffnete sich ihr – mit Bücherregalen, neben denen Hagrid wie ein Zwerg wirken würde. Er bat sie höflich hinein. Zunächst musste Hermine die Hände auf das dünne, gusseiserne Geländer legen. Sie blickte vom zweiten Stock hinunter in die unendlichen Weiten des Wissens.
„Entschuldigen Sie vielmals“, begann der Schlossherr, „wenn ich Sie erst nach oben geführt habe. Die Bibliothek ist von drei Etagen aus zu erreichen, aber ich wollte die anderen Türen nicht aufschließen, damit sich keiner der Gäste versehentlich hierher verirrt.“
„Das ist …“ Sie war hin und weg.
„Außerdem befinden sich hier im zweiten Stock die naturwissenschaftlichen Nachschlagewerke. Wie hätten also eh nach oben gemusst. Darf ich Sie führen?“
„Wahnsinn!“
Van Tessel lächelte. „Ich nehme das als Kompliment.“
„Wie bitte?“ Zum Glück konnte sie sich schnell wieder fangen. „Verzeihen Sie mir bitte. Ich bin jedesmal überwältigt, wenn ich so etwas“, sie deutete mit beiden Armen in den riesigen Raum hinein, „sehen darf.“
Van Tessel ging an einer der Wendeltreppen vorbei zu einem Regal, deutete ihr dabei, ihm zu folgen. „Nun, dieser Raum kann nicht mit der Russischen Nationalbibliothek in Sankt Petersburg mithalten, aber ich würde behaupten, bei den Privatsammlungen könnte sie unter die ersten drei Plätze kommen.“
„Das glaube ich ungeprüft.“ Während sie ihm folgte, huschte ihr Blick über die vielen Buchtitel. Sie unterdrückte den starken Wunsch, sich einen Band zu schnappen und ihn zu lesen.
„Hier“, er deutete auf eine bestimmte Region, „da sollten Sie etwas finden. Wenn Sie mir gestatten, suche ich schnell mit.“
„Schnell? Sie sind ja zuversichtlich.“
Van Tessel lächelte freundlich. „Während Sie in Tierlexika nachschlagen, nehme ich mir eine andere Richtung vor. Ich bin mal eben“, sein Zeigefinger deutete nach oben, „ein Stockwerk über Ihnen.“
Van Tessel ging an ihr vorbei zurück zur Wendeltreppe, die nur ganz wenig quietschte, als der schlanke Mann das oberste Stockwerk erklomm. Er hatte eine ganz andere Idee. Zielsicher griff er nach einem Band, in dem man sich der Kürschnerei angenommen hatte. Er blätterte und blätterte: Marderhunde, Waschbären, Katzenfrette, Maulwürfe.
„Maulwürfe? Wie lange will man daran nähen?“, murmelte er zu sich selbst und schlug die nächste Seite auf.
Dachse, Otter, Fischmarder. Van Tessel ging mit dem Buch hinunter zu Hermine, die an einem Tisch sitzend bereits in einem Lexikon über Tiere stöberte, welches ihren Ansprüchen genügte. Es war über 3000 Seiten dick.
„Miss Granger“, er gesellte sich zu ihr an den Tisch, „schauen Sie doch mal beim Hermelin nach. Das Tier bekommt im Winter ein weißes Fell.“
„Was für ein Buch haben Sie da?“
„Eines über die Arbeit von Kürschnern.“
„Fellverarbeitung? Da hätte ich auch drauf kommen können“, schalt sie sich selbst. Minervas Hinweis, dass Frauen das Fell des Tieres um den Hals trugen, war sehr hilfreich gewesen. „Ich schaue nach, wie die Eigenschaften des Hermelins sind und Sie …“
„Ich suche nach weiteren Tieren, die man wegen ihres weißen Fells gejagt hat.“
Hermine schlug bei dem Buchstaben H auf und fand sehr schnell einen Eintrag. „Hermeline sind im gesamten Norden ansässig, leider auch in Europa. Schade. Das passt nicht mit der Aussage, dass die Tiere hier nicht hergehören.“
„Dann schauen Sie mal beim Irbis, da ist allerdings nur die Unterseite weiß.“
Sie las und verneinte. „Der wechselt seine Fellfarbe nicht und scheidet damit leider aus.“
„Ich vermute, keiner der Hasenarten könnte man Monogamie als Eigenschaft zuschreiben?“
Hermine schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht. Ich hatte früher Kaninchen und auch echte Hasen. Die halten überhaupt nichts von lebenslanger Treue.“
„Dann versuche Sie es beim Kuskus.“
Bewegungslos ließ sich Hermine das Gesagte durch den Kopf gehen, bevor sie irritiert fragte: „Ist das nicht etwas zu essen?“
Van Tessel lachte. „Da haben Sie recht, aber es sind auch kleine Säugetiere, von denen es welche mit weißem Fell gibt.“
Bei dem Eintrag wurde sie sofort enttäuscht. „Nein, das ist zu klein. Die fressen nicht einmal Fleisch.“
„Lassen Sie mal nicht den Kopf hängen. Das Problem werden wir schon noch lösen. Schauen Sie beim Vielfraß nach.“
Sofort kam Hermine der Aufforderung nach, blätterte und las: „Die Jungen sind schneeweiß. Sie werden zwischen April und Juli geboren. Die Tiere sind zwar nachtaktiv, halten jedoch während der Polarnächte und -tage …“ Ihr Blick rutschte auf die Zeile darunter. „Oh, passt leider auch nicht. Sie sind dem Partner nicht ewig treu.“
Eines der Worte, das Hermine vorgelesen hatte, ließ Van Tessel aufhorchen. „Polarnächte? Wie sieht es denn bei dem Polarfuchs aus? Wie lebt der so?“
‚Mir schwant etwas‘, dachte sie. Und wenn Severus ihre Gedanken hören könnte, würde er wegen ihrer Wortwahl sehr wahrscheinlich lachen. Was sie las, deckte sich tatsächlich mit allen Hinweisen – wirklich mit allen.
„Der ist es! Haben Sie zur Überprüfung noch andere Tiere mit weißem Fell?“ Van Tessel überflog das Inhaltsverzeichnis und nannte ihr noch einige Tiere, doch bei keinem gab es solche Übereinstimmungen wie beim Polarfuchs. „Wir haben ihn gefunden! Dann werde ich heute doch zum Tanz aufgefordert werden!“, verkündete sie breit lächelnd.
„Das hätten Sie auch ohne dieses Rätsel haben können, Miss Granger.“ Er legte sein Buch beiseite. Das ihre nahm er ihr aus der Hand und legte es auf seines. „Ich bin mir ganz sicher, dass sich einige junge Herren darum reißen werden, mit Ihnen …“
„Was interessieren mich andere Herren?“, machte sie ihm freudestrahlend klar.
„Es geht wahrscheinlich viel zu weit, aber dürfte ich fragen, wer der Glückliche sein wird?“
„Ich weiß nicht, ob ich …“ Severus hätte bestimmt etwas dagegen.
„Der Herr in nachtblau?“
Würde sie sich herauswinden, wäre es nur noch auffälliger, also bestätigte sie: „Ja, der Herr in nachtblau.“ Von ihrem Platz stand sie wieder auf, doch eines wollte sie unbedingt wissen, weil Van Tessel für sie ein Fremder war. „Ist es so offensichtlich?“
„Ich wollte Ihnen wirklich nicht zu nahetreten.“
„Sind Sie nicht. Ich möchte nur eine ehrlich Antwort.“
„Nun, Sie sind sehr häufig in seiner Nähe. Ich dachte eigentlich, Sie wären verheiratet.“
Hermine riss die Augen auf. „So einen Eindruck haben Sie erhalten.“
„Bitte entschuldigen Sie …“
„Nein, es muss Ihnen wirklich nicht leid tun. Wissen Sie“, verlegen spielte sie dem Stoff ihres Kleides, „ich habe nur keine Ahnung, wie andere uns sehen.“
Van Tessel stand ebenfalls auf und begleitete sie zur Tür, während er versuchte, eine Erklärung zu geben. „Wir haben hier jedes Jahr sehr viele Gäste, Miss Granger. Ich habe beobachten können, wie Menschen miteinander agieren. Bei manchen Paaren kann man sehen, wie sie zueinander stehen, ob sie wirklich Zuneigung empfinden oder mit der Ehe nur einer Tradition gefolgt sind. Blicke sagen eine ganze Menge.“ Innerlich bejahte Hermine, als sie sich George und Gabrielle ins Gedächtnis rief. Van Tessel öffnete die Tür und ließ ihr den Vortritt, doch einen Eindruck gab er ihr noch mit auf den Weg. „Bei Ihnen sehe ich eine offene, junge Dame, die nichts von Versteckspielen hält.“ Van Tessel nahm ihre Hand und legte sie auf seinen Arm, bevor er den Rückweg antrat. „Der Herr in nachtblau wirkt hingegen äußerst zurückhaltend, doch bei Ihnen … Wie soll ich das sagen? Als würde jemand ein Streichholz entzünden und …“
Als sie um die Ecke bogen, trafen sie auf Remus und Severus, die sich offensichtlich die Weiten des Schlosses ansehen wollten. Remus schaute überrascht drein, als er Hermine in Begleitung des gut aussehenden Schlossherrn sah. Über Severus‘ dunkler Gestalt konnte man Gewitterwolken ausmachen, so finster und bedrohlich war er anzusehen.
„Hermine“, Remus‘ Stimme klang etwas zu heiter, „hier steckst du ja. Wir haben dich gesucht. George meinte …“
Severus unterbrach ihn harsch, als er das Wort an Van Tessel richtete. „Da sind Sie ja!“ Der kurze Satz hörte sich an wie eine Morddrohung. „Mrs. Weasley sucht Sie. Besser Sie gehen sofort zu ihr.“ Der Drohung folgte ein Befehl.
Van Tessel wollte sich beugen. Seine gute Menschenkenntnis riet ihm, den Herrn in nachtblau nicht zu reizen. „Dann, Miss Granger“, er nahm ihre Hand, „war es mir ein wahres Vergnügen“, von irgendwoher knurrte es, „Ihnen weiterhelfen zu dürfen.“ Ein Kuss auf den Handrücken gehörte sich, auch wenn es Van Tessel eine Menge Mut kostete. Immerhin war ein Gast anwesend, der jeden Moment zum Raubtier werden könnte.
„Ich danke Ihnen, Mr. Van Tessel. Es war ein einmaliges Erlebnis.“
Mit freundlicher Miene wagte der Schlossherr, einen kurzen Blick zu den beiden Herren zu werfen. Dem einen konnte er nicht lange in die Augen sehen. Den anderen erkannte er. Es war der mit dem Umhang, der so gut zur Augenfarbe passte.
„Ich werde dann mal Mrs. Weasley aufsuchen.“ Höflich nickte Van Tessel den beiden Herren zu und wollte gerade gehen, da schloss sich einer von ihnen ihm an.
„Ich werde Sie begleiten.“ Remus sah seine Aufgabe erledigt, denn Severus war nun in guten Händen. Zudem schien sich Van Tessel sehr über das Angebot zu freuen, gemeinsam mit ihm zum Ballsaal zu gehen. Vielleicht war an Sirius‘ Beobachtung doch etwas dran, vermutete Remus. „Bis dann, ihr beide“, verabschiedete er sich von Hermine und Severus. Zusammen mit dem Schlossherrn ließ er die zwei allein. Hermine würde schon klarkommen.
An Severus‘ Hosennaht ballten sich seine Fäuste. Er schaute sie nicht fragend an, sondern verurteilte sie mit seinem scharfen Blick. Wie die Situation auf ihn wirken musste, war ihr bewusst. Nur konnte sie sich nicht erklären, wie Severus glauben konnte, sie würde mit Van Tessel anbändeln. Als sie an den Herrn dachte, der ihr bei der Recherche geholfen hatte, blickte sie an Severus vorbei und sah noch, wie Remus mit dem Schlossherrn den Gang hinunterlief. Van Tessel legte eine Hand auf Remus‘ Schulter. Unerwartet stoppte Remus, machte mit beiden Händen eine beschwichtigende Geste. Remus schien dem Mann etwas zu erklären, machte dabei ein sehr ernstes Gesicht. Van Tessel schien einen Augenblick lang betrübt, doch Remus munterte ihn wieder auf, auch wenn er ihn in die Schranken gewiesen hatte.
„Hermine!“, herrschte Severus sie an. Sofort blickte sie zu ihm hinüber. Ihm war schwerlich entgangen, wie sie Van Tessel hinterhergeschaut hatte.
„Die Bibliothek hier ist umwerfend“, schwärmte sie offen. Ihre Liebe galt den Büchern, nicht dem hübschen Burschen, der von Remus gerade eine freundliche Abfuhr erfahren hatte.
„Was hast du mit diesem“, er suchte nach einem Wort, das seine innere Erregung nicht so offensichtlich zeigen würde, „Fant getrieben?“
Sie stutzte. „Fant? Für unreif halte ich ihn wirklich nicht. Und auch nicht für so altmodisch, dass du ihn mit so einem Wort bezeichnen musst.“ Den Herrn zu verteidigen stellte sich als Fehler heraus, denn nun biss Severus auch noch die Zähne zusammen. Nach einem leisen Seufzer kam Hermine ein paar Schritte auf Severus zu, damit sie ihm in die schmalen Schlitze sehen konnte, hinter denen sich braune Augen verbargen. „Er hat mir nur geholfen, das ist alles. Wir waren nicht mal eine Viertelstunde in der Bibliothek.“ Sie lächelte. „Ich sage dir: Wenn wir heute aus einem anderen Grund hier wären, würden wir beide uns bestimmt dort einsperren.“
„Wenn ich dazu überhaupt in der Stimmung wäre.“
„Ah, die Stimmung.“ Verständnisvoll nickte sie. „Die ist gerade im Keller, nicht wahr? Vielleicht sollten wir zusammen runtergehen und nach ihr suchen.“
„Mir ist nicht nach Scherzen zumute.“
„Gut“, sie hielt wieder etwas Abstand, „dann gehen wir eben zu den ernsten Dingen über.“ Sie war gespannt auf seine Reaktion und wollte ihn deswegen gut ihm Blickfeld haben. „Der Polarfuchs!“
Mit einem Male öffneten sich seine Augen weit. „Wie hast du das herausbekommen?“
„Das verrate ich nicht, ist mein Geheimnis! Aber ich habe eine Menge Hinweise bekommen und am Ende auch etwas Hilfe.“
„Von diesem …“ Er schluckte, wahrscheinlich um eine beleidigende Bezeichnung loszuwerden, die ihm auf der Zunge lag. Gleich darauf schluckte er nochmals, weil sie ihm wieder den Hals heraufgekrochen kam.
„Von Mr. Van Tessel, ja. Er hat mich in die Bibliothek begleitet. Für Gäste ist sie eigentlich geschlossen.“
Jetzt war er es, der stutzig wurde. „Wie hast du ihn dann überreden können, dich hineinzulassen?“
„Ach“, sie hob und senkte die Schultern. „Wie man das als Frau halt so macht. Ein bisschen liebäugeln, ein wenig fummeln …“
„Ich höre wohl nicht recht!“ Seine lauten Worte hallten im Gang wider.
Hermine musste lachen, trat dabei wieder an Severus heran und nahm sich heraus, ihn zu umarmen. „Das war ein Scherz, das müsstest du wissen. Ich würde niemals irgendjemandem schöne Augen machen und ihn auch noch befingern.“ Sie spürte durch ihre hochgesteckten Haare seine Lippen auf ihrem Kopf, doch die Umarmung erwiderte er nicht. Als ihre Wange an seiner Brust ruhte – wo nebenbei erwähnt ein Herz sehr heftig pochte –, flüsterte sie: „Nur bei dir würde ich es machen.“
„Merlin sei verdammt!“, hörte sie ihn leise fluchen. Sie fühlte seine Hände an ihren Oberarmen. Langsam drückte er sie von sich weg, ließ sie aber nicht los. „Bitte ...!“ Sie würde ihm jeden Wunsch erfüllen, aber seiner Bitte konnte sie nicht nachkommen, wenn sie nicht wusste, was er sich ersehnte. „Bitte“, wiederholte er resignierend, „höre auf damit!“
„Was meinst du?“
„Ich bin nicht auf den Kopf gefallen, Hermine.“
„Ich auch nicht, aber im Moment fühle ich mich so. Was genau meinst du?“
Sie hatte wirklich keine Ahnung, also redete er Tacheles. „Wenn du so weitermachst, werde ich vor allen Anwesenden einen Herzinfarkt bekommen.“
„Dann haben wir beide enormes Glück, dass ich als Heilerin weiß, wie man eine Person wiederbeleben kann.“
Der Hauch eines Lächelns wehte über seine schmalen Lippen. „Es ist mir ernst, Hermine.“
„Ich habe mich doch aber zurückgehalten“, versuchte sie ihm mit unschuldiger Miene weiszumachen. Natürlich war das eine Lüge. Ihr heutiges Verhalten ihm gegenüber war selbst für sie neu. Noch nie hatte sie so offen gebalzt.
„Möglicherweise bin ich auch nur aus der Übung“, gab er zu bedenken. „Oder aber es liegt an meinem momentanen Zustand, weswegen ich nicht so auf deine“, sein Daumen strich über ihren Arm und fügte viel leiser hinzu, „Avancen eingehen kann wie ich möchte.“
„Na ja, wenigstens hast du sie als solche erkannt.“ Sie schenkte ihm ein zurückhaltendes Lächeln. „Ich bin nämlich nicht sonderlich gut darin, einen Mann auf mich aufmerksam zu machen.“
Von seinen streichenden Berührungen bekam sie eine Gänsehaut am Arm. Sie hörte aufmerksam zu, als er flüsternd offenbarte: „Du musst dir nicht die Mühe machen, mich für dich zu gewinnen. Das ist längst geschehen.“
Ihr flatterhaftes Herz ließ sich wie eines der goldenen Vögel auf einem Ast nieder und trällerte ein fröhliches Lied. So jedenfalls fühlten sich seine Worte in ihrem Innersten an. Noch einmal wollte sie sein Vögelchen hören, weshalb sie ihr Ohr an seine Brust legte. Diesmal fühlte sie seine Hände an ihrem Rücken. Es herrschte eine angenehme Stille im Gang, als sie in Severus hineinhörte und der Melodie seines Herzens lauschte. Faszinierend wiegte sie sich zum Klang der Streicher und Bläser, zu den Tönen des Klaviers und ...
„Wie man hören kann“, begann Severus mit ausgeglichener Stimme, „hat der Tanz begonnen.“
„Mmmh“, summte sie zustimmend. Es wäre merkwürdig gewesen, hätten all diese Instrumente in seinem Brustkorb Platz gefunden, aber der Gedanke war schön. Die Musik ertönte aus dem untersten Stockwerk und wanderte wie ein süßer Duft durch alle Gänge.
„Möchtest du nicht hinuntergehen?“
Nur widerwillig verließ sie den behaglichen Platz an seiner Brust, um zu ihm aufzusehen. „Wir können ja mal reinschauen. Der Ballsaal ist wunderschön.“ Sie würde ihn zu nichts zwingen. Die Aufgabe, die er ihr aufgegeben hatte, war gelöst. Der Polarfuchs war ihre Freikarte zum Tanz, doch es lag noch immer an Severus, ob er sie einlösen wollte.
Während Hermine und Severus langsam hinuntergingen – eilig hatte es keiner von beiden –, forderten im Ballsaal einige Herren bereits die Damen zum Tanz auf. Der Erste von ihnen war George gewesen. Gabrielle und ihn störte es nicht, dass sie die Fläche anfangs ganz für sich allein hatten. Sehr bald schlossen sich andere Pärchen an. Molly bekam beinahe einen Nervenzusammenbruch, weil es doch das Brautpaar sein sollte, das den Tanz eröffnet. Weder Ginny noch Harry waren zu sehen. Der Dirigent des kleinen Orchesters hatte fälschlicherweise George und Gabrielle für die Glücklichen gehalten und mit seiner Arbeit begonnen.
„Molly, beruhige dich.“ Arthur tätschelte ihre zittrige Hand. „Solche Dinge passieren. Das ist kein Beinbruch.“
Sie war den Tränen nahe. „Ich habe so lange daran gearbeitet, damit alles einwandfrei abläuft.“
„Und du hast wundervolle Arbeit geleistet. Sieh doch!“ Er deutete auf die Tanzfläche, auf der nicht nur George und Gabrielle sich im Kreise drehte, sondern auch Draco und Susan, Albus und Minerva. „Alle haben ihren Spaß.“
„Wo ist mein Schwiegersohn?“, fragte sie verbissen.
„Ginny und er werden schon noch auftauchen.“ Liebevoll nahm Arthur ihre Hand und küsste sie, bevor er höflich fragte. „Möchtest du mit mir tanzen?“
Die vielen Fältchen in ihrem Gesicht waren mit einem Male wie weggeblasen. Verliebt schaute sie ihren Mann an, gab sich einen Ruck und stand auf. „Ach, was soll‘s? Die anderen tanzen ja auch.“
„Genau das meine ich, meine Liebe.“
Die Melodie klang bis ins Spielzimmer, wo Neville die Ohren spitzte.
„Seid mal still“, bat er. Seine Freunde ließen den Queue in der Hand sinken. Jetzt hörten auch sie es.
Freds Augenbrauen schossen in die Höhe. „Ist das etwa Musik?“
„Ach du meine Güte!“ Ron wurde ganz bleich. „Harry, du müsstest längst unten sein und tanzen.“
„Die hätten gar nicht ohne ihn anfangen dürfen“, warf Angelina ein.
Mit einer Hand fuhr sich Harry übers Gesicht. „Mist!“
In Windeseile rannte eine Horde junger Leute die Treppe hinunter. Kurz vor dem Ballsaal trafen sie auf Hermine und Severus. Letzterer setzte einen fragenden Gesichtsausdruck auf.
„Müsstest du nicht dort drinnen sein“, Severus zeigte auf die Tür zum Ballsaal, „und den ersten Tanz führen?“
„Reib es mir noch unter die Nase“, quengelte Harry. „Da ist irgendwas schiefgelaufen.“
„Das kann man wohl laut sagen. Der erste Tanz gehört dem Brautpaar“, bestätigte Severus.
Aufgebracht schaute sich Harry um. „Wo ist Ginny?“
Von ganzem Herzen hoffte er, dass sie nicht böse auf ihn war. Seine Befürchtung verpuffte auf der Stelle, als sich eine Tür öffnete. Von dem Walzer angelockt kam Ginny von draußen herein, begleitet von Gregory Goyle. Sie blickte zur Tür, hinter der die Musik gespielt wurde, schaute dann fragend zu Harry hinüber. Sie war genauso irritiert wie er. Severus hatte sich in der Zwischenzeit einen Überblick verschafft. Er spähte durch die Tür in den Saal. Die Tanzfläche war gut gefüllt.
„Wie es aussieht“, sagte er zu Harry, „amüsiert man sich auch ohne das Brautpaar prächtig.“
„Klasse!“ Seine Schwiegermutter würde ihn umbringen. „Andererseits“, Harry nahm Ginny an die Hand, „bin ich ganz froh, dass nicht jeder dabei zusieht, wie ich dir auf die Füße trete.“ Ginny lachte. Für sie und ihn war dieses Malheur nur halb so wild, für Molly war es sehr wahrscheinlich eine Katastrophe.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Ron. Er trug Mitschuld an der Misere, wo er doch für Harry und dessen Zeitplan verantwortlich war.
„Mir fallen zwei Möglichkeiten ein“, verkündete Severus, der wie üblich einen kühlen Kopf bewahrte. Hoffnungsvoll richteten alle ihre Blicke auf ihn und hörten genau zu. „Möglichkeit eins: Bis auf das Brautpaar verteilen sich alle anderen unaufmerksam im Saal. Dafür schlage ich den Eingang über die Terrassentüren vor. Wenn das Brautpaar eintritt, werden Sie mit einem Applaus beginnen. Alle anderen Gäste werden automatisch einstimmen und höchstwahrscheinlich die Tanzfläche freiwillig räumen.“
„Und wie sieht der zweite Plan aus?“, wollte Harry wissen.
„Die hier anwesenden Paare stellen sich hinter dem Brautpaar auf. Hermine und ich werden die Flügeltür öffnen, so dass Sie geschlossen die Tanzfläche betreten können. Das wird ebenfalls Aufmerksamkeit auf sich ziehen und zudem würde es aussehen, als wäre es so geplant.“
„Ich bin für Plan A“, verkündete Ron.
Harry war anderer Meinung. „Nichts da! Ihr habt mich mit Billardspielen abgelenkt, also könnt ihr uns auch auf die Tanzfläche begleiten und mir Rückendeckung geben, falls Molly mich erwürgen möchte.“
Fred schnaufte vor Lachen. „Okay, Harry. Wir folgen euch.“ Er nahm Veritys Arm und legte sie um seinen rechten. „Führen wir die Damen rechts oder links?“
„Ich denke …“ Harry stutzte. „Ich habe keine Ahnung. Gibt es da eine Regelung?“ Hoffnungsvoll blickte er zu Hermine hinüber, die bereits an der Tür stand, um sie zu öffnen.
„Das ist völlig egal, Harry. Es geht beides, aber ihr solltet euch einigen.“
Weil Ginny eh zu seiner Linken stand, nahm er ihren Arm. „Gut“, er blickte hinter sich, „die Damen nach links, bitte.“ Fred und Verity wechselten den Platz. Dahinter standen Luna und Neville und ganz am Schluss Dean und Seamus. „Was soll denn das werden?“, fragte Harry mit einem Schmunzeln auf den Lippen.
Seamus hob und senkte die Schultern. „Wir haben doch keine Partnerin, also dachten wir …“ Die Meute lachte über den kleinen Scherz.
„Sie beide“, warf Severus ein, „übernehmen einen Teil aus dem ersten Plan. Sie gehen über die Terrasse in den Saal und beginnen zu klatschen, wenn das Brautpaar eintritt.“
„Okay, dann bis gleich.“ Dean und Seamus nahmen die Tür, durch die Ginny und Gregory vorhin eingetreten waren. Gregory folgte ihnen, denn auch er war ohne Begleitung hier.
Nachdem sie eine Minute gewartet hatten, damit sie sicher sein konnten, dass die drei sich bereits im Ballsaal verteilt hatten, legten Hermine und Severus je eine Hand auf den Türknauf.
„Bereit?“, fragte Severus an Harry gewandt.
Er schaute zu seiner Linken. „Bereit, von mir auf die Füße getreten zu werden?“ Ginny lächelte und nickte dabei heftig. Noch einmal atmete Harry tief ein und aus. „Dann kann es losgehen.“
Severus und Hermine öffneten die Tür. Die Musik war mit einem Male viel lauter. Viele Paare drehten sich im Takt auf der Tanzfläche. Einige standen rundherum und sahen zu. Niemand bemerkte Harry und Ginny, bis jemand zu klatschen anfing. Harry konnte Seamus sehen, wie der laut und kraftvoll die Hände zusammenschlug. Wie erwartet löste das eine Kettenreaktion aus. Die Leute, die um die Tanzfläche herumstanden, begannen ebenfalls zu klatschen. Davon abgelenkt hielten die tanzenden Paare inne und stimmten beim Applaus ein, während sie sich langsam an den Rand zurückzogen. Die Musik hörte auf zu spielen. Harry und Ginny, gefolgt von ihren Freunden, hatten keine Probleme, zur Tanzfläche zu gelangen, denn die Gäste formten eine Schneise.
In der Mitte des Ballsaals, direkt unter dem zauberhaften Kronleuchter, positionierten sich Harry und Ginny. In seinem Kopf hallte die Stimme von Minerva wider: ‚Die Hand an die Hüfte.‘ Der imaginären Stimme der Tanzlehrerin folgte er. Im Gegenzug legte Ginny ihre Hand in seine, mit der anderen hielt sie ihr Kleid. Harry blickte zum Dirigenten hinüber, der genauso bleich war wie Ron. Seine Verwechslung bezüglich des Brautpaares schien ihm eben erst aufgefallen zu sein, doch Harry lächelte ihn nur an, zwinkerte und nickte. Der weißbärtige Dirigent nickte erleichtert zurück und spielte mit. Um Harry und Ginny herum standen ihre Freunde. Auch George und Gabrielle hatten sich heimlich eingereiht und warteten auf die Musik. Dreimal klopfte der Dirigent mit seinem Taktstock auf das Pult, womit er die volle Aufmerksamkeit seines Orchesters erlangte. Eins, zwei, drei. Der Walzer begann. Harry war überglücklich, seinen Einsatz nicht verpasst zu haben. Neville gab sich redlich Mühe, nicht so gut zu tanzen wie sonst, damit er Harry und Ginny nicht die Show stahl.
Arthur umarmte seine Frau von hinten und blickte über ihre Schulter auf die sich drehenden Paare, als er ihr ins Ohr flüsterte: „Ein wunderschöner Anblick, meinst du nicht?“
Verzückt betrachtete Molly ihre Tochter, die von Harry – zumindest in ihren Augen – perfekt geführt wurde. Wer achtete schon auf die Füße? „Traumhaft“, hauchte sie zurück. Ein paar Takte später gesellten sich auch wieder andere Gäste zum Brautpaar.
In der Nähe der Tür standen Severus und Hermine. Beide beobachteten das frohe Treiben. Es lief wie geplant, bemerkte Severus mit Wohlwollen. Für Außenstehende hatte der Auftritt des Brautpaares wie einstudiert gewirkt. Neben ihm wippte Hermine im Takt mit, während ihre glänzenden Augen auf die vielen Paare gerichtet waren. Besonders schön anzusehen, das gestand sich Severus ein, waren die Kleider der Damen, die sich schwungvoll drehten.
Nach drei Tänzen war Harry außer Atem und forderte eine Pause. Seine rotwangige Frau stimmte ihm zu. Nicht nur wegen des Monats war es so warm, sondern auch wegen der vielen Menschen im Raum und wegen der Kleidung. Normalerweise würden Harry und Ginny bei diesen Temperaturen im kurzärmeligen T-Shirt herumlaufen. Beide fassten den Entschluss, sich bei Molly zu bedanken, doch die wurde gerade von Arthur auf dem marmornen Boden herumgewirbelt, hatte dabei sichtlich eine Menge Spaß.
„Ich glaube, sie ist uns nicht böse“, vermutete Harry laut.
Sie schaute zu ihren Eltern, die sie so ausgelassen selten hatte tanzen sehen. „Nein, das ist sie absolut nicht.“
Neville und Luna verließen die Tanzfläche nicht so schnell. Er bemerkte nicht einmal, dass Augusta und Schwester Kathleen die Rollstühle seiner Eltern in den Ballsaal schoben. Die beiden Patienten hatten Musik schon immer geliebt und sollten, wenn sie auch nicht tanzen konnten, wenigstens zuhören können.
An einer Tür, die zum Speisesaal führte, bemerkte Harry seine Tante. Sie hielt sich am Türrahmen fest. Der viele Sherry wollte sie zu Boden ziehen. Wangen und Nasenspitze waren rot. Ihr Blick war leicht getrübt, wurde aber beim Anblick der tanzenden Paare wieder lebendig. Slughorn gesellte sich zu Petunia und hielt einen Smalltalk, reichte ihr sogar den Arm, damit sie nicht zu sehr schwankte. Harrys Stirn runzelte sich. Wollte seine Tante etwa ... Offensichtlich ja, denn Slughorn führte die angeheiterte Tante zur Tanzfläche. Arabella Figg hatte bereits einen Tanzpartner gefunden: Dädalus Diggel. Der Zauberer war so bunt gekleidet wie ein Pfau. Auch andere Mitglieder des Phönixordens ließen sich den Spaß nicht entgehen. Harry erkannte Elphias Doge. Der betagte Herr blühte geradezu auf der Tanzfläche auf, auf der er Hestia Jones vorbildlich führte. Nicht zu übersehen waren Hagrid und Olympe, die sehr vorsichtig tanzten und auch nur am Rand, denn sollten sie versehentlich jemandem auf die Füße treten, müssten man wahrscheinlich zu Skele-Wachs greifen. Harry schaute über seine Schulter. Hermine und Severus tanzten nicht miteinander, aber sie unterhielten sich prächtig, was er an dem strahlenden Gesicht seiner besten Freundin ausmachen konnte. War das ein Lächeln auf Severus‘ Lippen? Er hatte sich wahrscheinlich geirrt.
Vorhin waren bereits ein paar Gäste gegangen, aber der sogenannte feste Kern war geblieben. Die guten Bekannten, allen voran seine engsten Freunde würden so lange bleiben, bis man sie hinauswerfen würde. Genau damit hatte Harry gerechnet. Nicht alle sollten von seiner geplanten Überraschung profitieren. Als er seinen Blick schweifen ließ, bemerkte er, wie Wobbel ihn von der anderen Ecke des weiten Raumes fragend anschaute. Harry schüttelte den Kopf, als wollte er ‚Noch nicht!‘ sagen. Wobbel nickte, bevor er Shibby zum Tanz aufforderte. Gleich hinter dem Elf stand Narzissa, die mit betrübter Miene dabei zusah, wie wenigstens Susan und Draco tanzten. Von Lucius weit und breit keine Spur. Bei ihm war Harry sich uneins. Verdient hätte Lucius das ganz persönliche Dankeschön nicht, aber er wollte Draco den Gefallen erweisen. Die Party fing jetzt erst richtig an, dachte Harry. Es wurde getanzt, in anderen Räumen konnte man spielen und die Kinder der Gäste waren bei den Betreuern in guten Händen.
Der Abend brach langsam herein. Die Blumen im Garten schlossen ihre Blüten, doch der cremefarbene Ballsaal mit den wachenden Engeln entfaltete bei Kerzenlicht sein märchenhaftes Aussehen noch viel mehr. Harry sah, wie Petunia auf ihn zukam, beziehungsweise wurde sie von Slughorn auf den Beinen gehalten, denn allein konnte sie nur noch schwerlich gehen.
„Harry“, nuschelte sie mit hörbaren fünf „r“.
„Tante Petunia.“ Er stand auf und näherte sich ihr. „Möchtest du schon gehen?“ Dass sie es überhaupt so lange ausgehalten hatte, war ein Wunder. Es musste am Sherry liegen, der die ungewöhnliche Fähigkeit der Zeitausdehnung besaß.
„Es gibt noch so viel zu sagen.“ Sie stieß versehentlich auf und hielt sich peinlich berührt eine Hand vor den Mund. „Das tut mir außerordentlich …“ Slughorn grinste verstohlen.
„Ach, schon gut“, winkte Harry gelassen ab. Er war viel zu amüsiert über den Auftritt seiner Tante. Noch nie hatte sie in seiner Gegenwart über den Durst getrunken.
„Ich wünsche dir alles“, ihre Zunge machte bei dem Buchstaben „l“ eine Grätsche, „Gute.“ Sie hickste, grinste dann beschämt. Ihr Blick war fahrig.
„Ich glaube, Ihre Tante möchte sich für die Einladung bedanken und sich nun verabschieden“, halft Slughorn ihr auf die Sprünge.
„Genau!“ Sie hob einen Zeigefinger, der mehr krumm war als grade. „Außerdem wollte isch…“ Petunia hielt inne, dachte angestrengt nach, doch die Zellen, mit denen sie denken wollte, schienen vom Alkohol vernichtet.
Wieder griff Slughorn ihr unter die Arme und nicht nur sinnbildlich. „Und Ihre Tante teilte mir vorhin mit, dass Sie sich jederzeit bei ihr melden können.“
„Außer …“
An den Einwand schien sich Slughorn wieder zu erinnern und er fügte hinzu: „Außer mit der Eulenpost und keinesfalls persönlich, wenn Gatte und Sohn“, Slughorn schaute fragend zu Petunia, die seine Worte mit einem Nicken absegnete, „im Haus sind.“
„Ah“, machte Harry. Vernon und Dudley waren in Petunias Augen die größten Störfaktoren. Vielleicht könnte sie sich später nicht einmal mehr an ihre überaus mutige und großzügige Erlaubnis, Kontakt mit ihr aufzunehmen, erinnern. Im Moment konnte er nicht einmal sagen, ob er Lust darauf hatte, sich noch einmal mit ihr auseinanderzusetzen. Trotzdem machte ihn allein das Angebot glücklich. Er fühlte sich nicht mehr als Missgeburt, wenn sie ihn anschaute. Allerdings schielte sie im Moment auch ein wenig.
„Danke, Tante Petunia.“
„Ich werde besser …“
„Ich habe Ihnen gesagt, Mrs. Dursley“, warf Slughorn ein, „dass ich Sie direkt nachhause bringen werde. In Ihrem Zustand sollten Sie nicht mit einem Portschlüssel reisen.“ Weil Harry seinen ehemaligen Lehrer fragend anschaute, erklärte der: „Ich bringe Sie per Seit-an-Seit-Apparation nachhause. Das habe ich im Laufe der Jahre so perfektioniert, dass sie es nicht einmal spüren wird.“
„Na dann“, sagte Harry erleichtert, „gute Heimkehr.“ Petunia lächelte schief, fühlte sich aber offensichtlich wohl und sicher.
Von Mr. und Mrs. Granger hatte Harry erfahren, dass sich Petunia, die mindestens eine Dreiviertelflasche von dem 16%igen Sherry allein verköstigt hatte, die ganze Zeit über lange und ausgiebig mit Slughorn über Lily unterhalten hatte. Möglicherweise hatte das Petunia immer gefehlt. Jemand, mit dem sie über ihre eigene Verbindung zur Zaubererwelt reden konnte. Nicht unbedingt Harry, sondern jemand Neutrales, der nicht genau darüber im Bilde war, dass ihr Verhältnis zu ihrem Neffen nicht als gut bezeichnet werden konnte.
Severus und Hermine standen bei den großen Rundbogenfenstern sprachen über alles Mögliche: über die Gäste, über die manchmal sehr ausgefallenen Tanzpaare wie Trelawney und Kingsley – wie es dazu gekommen war, wollte Hermine den Auror später noch fragen – und über Petunia, die sichtlich beschwipst von Horace nach draußen geleitet wurde.
„Sie scheint sich doch noch gut amüsiert zu haben“, bemerkte Hermine mit einem Schmunzeln.
„An Harrys Stelle hätte ich sie achtkantig hinausgeworfen.“
„Aber es lief doch ganz gut zwischen den beiden“, hielt Hermine dagegen.
Severus wollte nicht mit ihr streiten und wechselte das Thema. „Darf ich dir etwas zu trinken besorgen?“
„Ja, ein Wasser.“ Wegen ihrer Bitte zog er skeptisch eine Augenbraue in die Höhe. „Mir ist warm! Wenn ich jetzt Alkohol trinke, dann …“
„Wirst du lustig.“
„Das hättest du gern, oder? Nein, nur ein Wasser bitte. Ich habe wirklich Durst.“
„Kommt sofort.“
Sie sah Severus hinterher, der in den Nebenraum ging. Etwas später wollte sie noch mit Harry und Ginny anstoßen, aber zu viel Alkohol durfte sie sich nicht gestatten. Nach der Feier müsste sie noch den letzten Trank für Severus brauen und dafür war ein ungetrübtes Gedächtnis vonnöten. Der letzte Trank. Hermine seufzte erleichtert. Wenn Severus morgen aufwachen würde, wäre er geheilt. Laut ihrer Berechnung müsste er dann die Kopie der Seele seiner Animagusform in eine eigene umgewandelt haben, die mit dem originalen Seelenkern verschmolzen war. Während der Hochzeit wollte sie darüber kein Wort verlieren, aber gleich Zuhause musste sie ihm klarmachen, dass selbst die heutige Feier sie nicht davon abhalten würde, diese wichtige Sache zu Ende zu bringen.
Wo blieb er überhaupt? Wahrscheinlich war die Cocktailbar gut besucht. Oder aber er bekam dort kein Wasser für sie, weshalb er die Kellner bemühen musste. Neugierig ging Hermine hinüber zur Tür, die in den Speisesaal führte und erstarrte sofort zur Salzsäule, als sie Severus bemerkte, denn der war nicht allein. Albus war bei ihm.
Im Speisesaal war Severus überrascht worden. Kaum hatte er das Wasser bestellt und ein Glas Wein, da fand er sich plötzlich neben Albus wieder. Der Direktor schien genauso überrascht, suchte aber nicht das Weite, sondern begann eine kleine Unterhaltung.
„Gefällt dir die Feier?“, fragte Albus zurückhaltend, während er an der gut besuchten Bar selbst auf Getränke wartete.
Severus‘ Herz pochte hinauf bis in die Kehle. Albus zu sehen bedeutete für ihn nicht nur, einem alten Freund gegenüberzustehen, der durchweg positive Gefühle aufkommen ließ. All das schlechte, was Severus mit ihm in Verbindung brachte, kam wie eine Welle des Übels über ihn. Der geplante Mord auf dem Astronomieturm, das gefährliche Leben als Doppelagent – der Ewige See. Schmerzen.
„Geht es dir nicht gut, mein Freund?“, fragte Albus besorgt. Die Sorge war echt. „Severus, du wankst ja.“
Im Nu hatte Albus ihn am Arm gepackt und ins Freie begleitet. Hermine, die das mit ansehen musste, hätte am liebsten laut geschrien. Was sollte sie nur tun? Hinterherlaufen und dem Zufall die Schuld in die Schuhe schieben, dass sie gerade hier auf der Terrasse Severus gefunden hatte? Remus! Sie könnte Remus schicken, aber Remus war ein schlechter Lügner. Albus würde ihm den Zufall genauso wenig abkaufen wie ihr. Sie hatte Severus versprochen, nicht von seiner Seite zu weichen. Zögerlich ging sie in den Speisesaal. Nur ganz langsam näherte sie sich der Terrassentür. Genügend Zeit für Albus, Severus ein paar Worte mit auf den Weg zu geben.
Auf der Terrasse waren die beiden Herren allein. „Die frische Luft wird dir hoffentlich gut tun.“ Severus sagte kein Wort, hörte nicht einmal Albus‘ Stimme. In Gedanken empfand er den bohrenden Schmerz, den das Zerreißen der Seele ausgelöst hatte. Albus legte eine Hand auf Severus‘s Oberarm, doch damit befreite er ihn nicht aus dem Albtraum, von dem er heimgesucht wurde. Severus‘ Gesicht verzog sich. Er krümmte sich, hielt eine Hand an die Brust. „Bei Merlin, Severus. Bleib bei mir.“ Severus stöhnte, als würde er einen Schrei unterdrücken. Davon alarmiert sagte Albus mit väterlicher Stimme: „Ich sagte einmal, was du suchst, würdest du nicht in der Vergangenheit finden. Ich bitte dich, lebe im Jetzt. Severus!“ Für Albus war das, was sein Freund durchlebte, ebenso fremdartig wie für Severus. Selten konnte den Direktor etwas erschrecken, aber jetzt war er voller Furcht. Um nichts in der Welt wollte er vereiteln, was Hermine bisher richtigstellen konnte. Besorgt legte Albus eine Hand auf die von Severus, die noch immer auf seinem Herzen lag. „Du kennst das irische Sprichwort, Severus: ‚Selbst die absolute Dunkelheit kann keine Kerze am Scheinen hindern.‘ Es gibt Licht in deinem Leben. Darauf musst du achten, daran musst du denken.“
Wie in weiter Ferne hörte Severus die Weisheit, die schon unzählige Kalenderblätter geziert hatte. Trotzdem war er gefangen in seinem eigenen Bewusstsein, das ihn dazu zwang, längst Erlebtes wieder und wieder am eigenen Leib zu spüren. Der Strudel seiner Erfahrungen zog ihn immer weiter in verderbliche Tiefen, die von Trauer und Schmerz regiert wurden. Wie viel konnte er ertragen?
„Severus?“ Diesmal war es keine Männerstimme, sondern die einer Frau. Schwer atmend blickte Severus auf und erspähte im tosenden Meer der unerträglichen Vergangenheit seinen rettenden Wellenbrecher.
„Hermine.“ Den Namen sprach er aus wie ein Hilfeersuch, wie ein Flehen.
Sofort war sie bei ihm, legte eine Hand um seine Taille. „Ich bin hier.“ Er spürte es mehr, als dass er es hörte. Die Last auf seinem Herzen verflüchtigte sich, sein Kopf wurde klarer. Als sich Severus umschaute, war Albus verschwunden. „Ich hätte dich nicht alleinlassen sollen.“
Ihre Stimme hatte ihn zurück geholt. Er lag nicht mit gebeugtem Rücken über seinem Labortisch und musste dabei zusehen, wie sich die Seele aus dem Leib löste. Er war hier auf Schloss Schnatzer und feierte Harrys Hochzeit. „Es geht schon wieder.“
„Es tut mir leid. Ich hätte dich begleiten sollen.“
„Nein, es ist gut.“ Seine Augen waren geschlossen. Er atmete tief durch. „Es geht mir gut.“ Als er das nächste Mal die Augen öffnete, sah er, was seine Reaktion auf Albus in ihr ausgelöst hatte. Ihre Augen waren ein wenig feucht. Zittrige Fingerspitzen lagen auf ihren bebenden Lippen. Sie gab sich die Schuld. Sehr wahrscheinlich befürchtete sie auch, dass sein Treffen mit Albus seinen Gesamtzustand verschlimmert hätte. „Wirklich“, beteuerte er mit normaler Stimme, „es geht mir gut.“ Wie in Zeitlupe formte sich ein Lächeln, doch ihre Lippen zitterten noch immer. „Lass uns spazieren gehen“, schlug er vor.
Gegen eine kurze Verschnaufpause hatte auch Hermine nichts einzuwenden. Der Schrecken war ihr in die Glieder gefahren, als sie Severus mit schmerzverzerrtem Gesicht und leicht vornüber gebeugt bei Albus stehen sah. Kaum war sie bei ihm, hatte Albus ihr mit ungewohnt ernstem Gesichtsausdruck zugenickt, bevor er sich zurückzog.
Von Severus ließ sie sich auf der Terrasse entlangführen, bis sie zu ein paar Stufen kamen. Hermine erinnerte sich an den Garten, den sie von den Fenstern des Ballsaals aus gesehen hatte. Unbewusst schlug sie diesen Weg ein. Severus sagte kein Wort, aber er hatte ihre Hand genommen, um ihr oder sich selbst Halt zu geben. Der Garten war nur versteckt zu erreichen. Im ersten Moment schien man die hohen Hecken nicht passieren zu können. Womöglich hatte sich deshalb niemand hier aufgehalten. Es fand sich jedoch ein kleiner Weg, der hineinführte. Der Duft von Rosen war überwältigend. Trotzdem es immer dunkler wurde, war der Garten dank der hohen Fenster des Ballsaals erhellt. So fiel ein wenig von dem Zauber, der drinnen stattfand, zu den beiden hinaus in den Garten.
„Da ist eine Bank.“ Sie zeigte auf die steinerne Bank, auf der sie beide Platz nahmen. Severus kämpfte noch immer mit den Nachwehen seines Erlebnisses. Um was es sich handelte, wusste Hermine nicht. Albus Anwesenheit könnte hundert verschiedene Emotionen in Severus aufgewühlt haben. Weil er schwieg, vermutete sie eine der schwer zu verdauenden Erinnerungen. Hermine blickte auf, als einer der Kellner alle drei Fenster öffnete. Offenbar war jedem Gast etwas warm geworden. Das Gute war, dass Hermine auf diese Weise auch nicht auf die Musik verzichten musste, oder auf das Lachen, das von drinnen zu hören war. „Wir sollten gehen“, legte sie ihm nahe, doch diesmal war es ihr alleiniger Wunsch. Sie wollte nicht, dass etwas Ähnliches heute nochmal passierte.
„Ich möchte noch nicht gehen“, erwiderte er mit fester Stimme. „Ein wenig frische Luft wird mir guttun.“ Er drückte ihre Hand. Als Antwort drückte sie zurück. „Du hast mir noch immer nicht gesagt, wie du auf den Polarfuchs gekommen bist.“
Sie lächelte und gab sich reichlich Mühe, ihre Stimme normal klingen zu lassen. „Minerva hat mir einen entscheidenden Hinweis gegeben. Sie sagte, das Tier würden manche Damen um den Hals tragen. Allerdings war es Mr. Van Tessel, der auf die Idee kam, ein Buch über die Pelzverarbeitung zu Rate zu ziehen. Er hat mir Tiere mit weißem Fell genannt und ich habe im Lexikon die ganzen Eigenschaften nachgeschlagen. Das ging recht fix.“
„Dann gehört der halbe Tanz wohl Mr. Van Tessel.“
Hermine grunzte ganz unerwartet vor Lachen, was Severus wiederum zum Schmunzeln brachte. „Glaub mir, er würde sich darüber mehr freuen als wenn ich ihm einen Tanz anbieten würde.“
„Tatsächlich?“ Sie nickte. „Nun, dann nehme ich mein Angebot lieber zurück.“
Severus erhob sich von der Bank und ging ein paar Schritte nach vorn in Richtung Fenster. Man konnte von hier unten nur die Decke sehen, keine Menschen. Als er sich umblickte, bemerkte er das erste Mal den prächtigen Garten. Die Blüten der Rosen hatten sich längst geschlossen, aber dennoch waren sie schön anzusehen. Hermine hatte sich zu ihm gesellt, schaute sich ebenfalls die Blumen an.
„Da steckt eine ganze Menge Mühe hinter“, lobte sie. „Rosen sind nicht besonders leicht zu züchten.“
Severus nickte und sah dabei zu, wie ihre Finger eine der geschlossenen Blüten berührte. Ohne zu überlegen nahm er ihre Hand. „Hermine, möchtest du tanzen?“
Von ihrem überraschten Gesichtsausdruck hätte er gern ein Bild gemacht. Die kurze Frage hatte sie glücklich gemacht, aber sie schien ihm nicht zu trauen. „Möchtest du wirklich?“
„Ich würde sonst nicht fragen“, brachte er es auf den Punkt.
„Ja, ich möchte!“ Sie hüpfte zweimal fröhlich auf und ab wie ein Gummiball, bevor sie zum Ballsaal zurückrennen wollte, doch seine Hand stoppte sie. Irritiert schaute sie ihm in die Augen.
„Hier“, versuchte er kurz und knapp zu erklären, während seine andere Hand flüchtig auf den Boden zeigte, auf dem sie standen.
„Hier?“, wiederholte sie ungläubig.
„Das ist eine einmalige Chance, Hermine“, versuchte er es ihr schmackhaft zu machen.
Ihr Blick fiel auf die offenen Fenster. Hier im Garten hatten sie romantisches Licht und die Musik war laut genug. Das Schönste aber war, dass sie jede Menge Platz hatten. Hermines Lächeln wuchs, als sie ihn anschaute. „Ja, gern.“ Sie war damit zufrieden, denn sie hatten alles, was sie benötigten. Sie hatte Severus.
„Ich muss dich vorwarnen“, begann er unsicher, „ich bin auch in dieser Hinsicht etwas aus der Übung.“
Sie lachte. „Darüber sprechen wir, nachdem ich dir ein paar Male auf den Fuß getreten bin.“
„Dann darf ich bitten?“
Galant verbeugte er sich, wie er es in der Schule gelernt haben musste, bevor er ihr die Hand entgegenhielt. Sie machte einen Knicks und legte danach ihre Hand in seine. Die andere legte sie auf seine Schulter, aber weil er so groß war, musste sie sich strecken.
„Nimm mit der linken Hand dein Kleid. Das haben viele der Damen drinnen gemacht.“
Seinem Ratschlag kam sie nach. „Dann musst du aber gut führen. Ich habe jetzt weniger Halt.“
„Ich halte dich schon fest“, beteuerte er und legte seine Hand an ihre Hüfte. Im Ballsaal begann gerade eine neuer Walzer. „Auf drei“, warnte er vor, bevor er sich in Bewegung setzte. Gleich beim ersten Versuch strauchelte Hermine, aber er ließ sie nicht los, musste jedoch grinsen. Bei der nächsten Drehung trat er ihr versehentlich auf das Kleid. „Entschuldigung.“
„Macht nichts.“
Die ungeübten Füße fanden bald einen Rhythmus, mit dem es sich gut tanzen ließ. Hermine schaute nicht mehr zu Boden, sondern in sein Gesicht. Seine Mundwinkel waren die ganze Zeit über nach oben gezogen. Es machte ihm tatsächlich Freude, auch wenn der Tanz alles andere als perfekt war. Wenn sie ihm auf den Fuß trat, hob sich eine seiner Augenbrauen und das Lächeln wurde breiter. Sie tanzten nicht schlechter als Harry und Ginny, aber auch nicht besser als Neville und Luna. Beide waren genauso ungeübt wie die Hälfte aller Gäste. Es kam gar nicht darauf an, wie gut man tanzte, sondern dass man es überhaupt in Angriff nahm.
„Oh“, machte Hermine erschrocken, „war das dein Fuß?“
„Nein.“
Verwundert schaute sie nach unten. „Auweia! Ich habe eben ein paar Rosen zertrampelt.“
Er schnaufte belustigt. „Wir belegen sie nachher mit einem Desillusionierungszauber, dann fällt es niemandem auf.“
Der Walzer war schon lange vorbei, da standen Severus und Hermine noch immer in Tanzposition im Garten, schauten sich in die Augen und warteten auf ein weiteres Stück. Man hörte jedoch keine Musik, sondern ein Jubeln und Klatschen aus den geöffneten Fenstern. In dem Moment, als Hermine ihren Kopf drehte und zum Ballsaal hinaufschaute, flog ihr etwas entgegen. Sie streckte die Arme aus Angst, von dem Gegenstand verletzt zu werden. Das Objekt kam schnell auf sie zu. Hermine fing es, stolperte rücklings und riss Severus mit auf den Boden, was ihm ein Geräusch entlockte, das man am ehesten mit „Uff“ bezeichnen könnte.
„Huch“, machte sie erstaunt, als sie sich auf Severus wiederfand. „Danke für die weiche Landung.“
„Gern geschehen. Würdest du jetzt die Güte haben, wieder aufzustehen?“
„Aber sicher.“ Hermine rollte sich von ihm herunter. Er war schneller wieder auf den Beinen als sie, weshalb er ihr aufhalf. Am Boden sah sie den Gegenstand, den sie gefangen hatte. Es war der Brautstrauß. Sie griff ihn sich, bevor sie sich mit seiner Hilfe aufrichtete. „Sieh mal einer an.“
Aus den Fenstern hörten sie eine Stimme rufen: „Hermine hat sich den Strauß gekrallt.“ Es folgte ein tosender Applaus.
Es war Colin gewesen, der die Gäste im Innern informiert hatte. Sein Bruder Dennis setzte noch einen drauf und teilte der Menschenmenge im Ballsaal mit: „Und Snape gleich noch mit dazu.“
Ein paar Köpfe erschienen an den Fenstern, um zu sehen, ob die Brüder die Wahrheit gesagt hatten. Von den neugierigen Blicken ließen sich Hermine und Severus aber nicht stören.
„Dann bist du wohl laut Tradition die Nächste.“
„Da habe ich aber Glück, dass wir nicht auf einer Beerdigung sind.“ Gut gelaunt hielt sie ihm den Strauß unter die Nase und sagte: „Jetzt brauche ich nur noch jemanden, bei dem ich den einlösen kann. Wie wäre es mit dir?“
„Zeig mal her.“ Er zog sie zu sich und legte eine Hand um ihre Taille, bevor die andere Hand den Brautstrauß inspizierte, den sie hielt. „Zu sechzig Prozent besteht der Strauß aus Pflanzen, die zaubertränketechnisch sogar von Nutzen sind. Ich akzeptiere.“
Hermine versteinerte, selbst ihr Lächeln fror ein, als sie seine Worte in Gedanken mehrmals wiederholte. „Heißt das …? Verstehe ich dich richtig?“ Mit solchen Dinge durfte er nicht scherzen, dachte sie. Es würde zu sehr wehtun. „Meinst du das so, wie ich es verstehe?“, fragte sie unsicher nach.
„Ich meine es in erster Linie ernst, Hermine. Du auch?“
Sie presste eine Hand auf den Mund, sonst hätte sie tatsächlich geschrien, aber vor Freude. Ein Wort brachte sie nicht hervor, also musste er vorerst mit einer Umarmung vorliebnehmen. Sie fiel ihm um den Hals und – was sie während der Trauung ihrer Freunde noch mit viel Mühe hatte unterdrücken können – verlor ein paar Tränen, obwohl selbst ihre Augen lachten. Hermine drückte ihn an sich, wurde im Gegenzug von ihm umarmt.
Eine Ewigkeit später – oder nur einen Wimpernschlag – schaute sie ihm in die Augen und sagte: „Ja!“
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