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Fanfiction

Harry Potter und die Schatten der Vergangenheit - Punkt, Punkt, Komma, Strich

von Muggelchen

Die Zeremonie war voll im Gange. Harry und Ginny hielten sich an den Händen, während der Herr vom Ministerium die aufgehübschten, bürokratischen Worte sprach, die für eine Vermählung im rechtlichen Sinne vorgeschrieben waren. Severus hatte diese Worte damals schon bei der Hochzeit von Lucius und Narzissa vernommen, was ihm vor Augen hielt, dass es sich um eine vorgegebene Rede handelte. Was für den Herrn vom Ministerium lediglich einen Job darstellte, nämlich Leute zu verheiraten, war für die Betroffenen natürlich ein – hoffentlich – einzigartiger Moment im Leben. Für solche Anlässe war der einzige Kompromiss der Bürokratie der, dass die Paragraphen nicht einfach heruntergeleiert wurden. Eben weil Severus diese Worte schon kannte, blickte er gelangweilt zu dem Jungen auf seinem Schoß, dessen Kopf an seiner Brust lehnte. Nicholas wachte gerade auf. Es irritierte den Jungen, so viele Menschen auf einmal um sich herum zu sehen und trotzdem so eine Stille zu vernehmen. Mit großen Augen blickte er zu dem blonden Mann neben sich. Lucius fühlte sich durch die Observation durch Kinderaugen gestört. Er schaute zu Nicholas hinüber und widerstand der Versuchung, kurzerhand die Zunge herauszustrecken, bevor er den gleichgültigen Blick erneut nach vorn aufs Paar richtete.

Nicholas schaute verschlafen umher. Über Severus‘ Schulter hinweg erspähte er ein bekanntes Gesicht. Er hatte sich damit abgefunden, dass die Menschen so leise waren. Das bedeutete keinesfalls, dass er sich der Masse anschließen musste. Mit gurgelnden Lauten streckte der Kleine die Hand über Severus‘ Schulter hinaus nach hinten.

„Bist du wohl still“, murmelte Severus leise. Es fehlte ihm noch, dass der Junge zu krakeelen beginnen würde. Durch einen seit Urzeiten angeborenen Instinkt, der durch den Kinderlaut ausgelöst wurde, drehten sich die wenigen Mütter, die es gehört hatten, um. Der Anblick, den Severus mit dem Jungen im Arm bot, war so harmlos, dass sie ihn als ungefährlich einstuften und sich wieder nach vorn wandten. Bevor Nicholas noch mehr Geräusche von sich geben würde, kam Hilfe von hinten. Remus hatte sich zu dem Jungen gebeugt und den kindlichen Wiedererkennungsgruß erwidert. Nicholas grinste breit, war wieder still und schaute sich um. Die Leute waren nicht länger interessant. Wie hingesetzte Puppen rührten sie sich nicht, während sie alle gemeinsam in eine Richtung schauten. Die großen Knöpfe an Severus Gehrock waren viel spannender. Mit beiden Händen befühlte Nicholas die Knöpfe, bevor er sich einen vornahm und an ihm drehte. Severus ließ den Jungen gewähren, weil der sich momentan vorbildlisch ruhig verhielt. Solange die Tätigkeit von Nicholas keine Aufmerksamkeit auf sie zog, konnte der Junge machen, was er wollte. „Den bekommt du sowieso nicht ab“, flüsterte Severus, woraufhin Nicholas schnaufte und sich nur noch mehr Mühe zu geben schien.

Severus schaute sich um. Von den Leuten vor ihm sah er nur die Hinterköpfe, also blickte er zu Seite. Gleich hinten saßen die Longbottoms. Luna flüsterte Alice unentwegt etwas ins Ohr, blickte derweil nach vorn und lächelte. Auf Severus machte das den Eindruck, als würde sie das Geschehen schildern, weil Alice ihren Blick nicht lange auf einem Fleck halten konnte. Augusta tupfte erst sich eine Träne von den Augen, bevor sie mit dem gleichen Taschentuch den Mund ihres Sohnes von Speichel befreite, der sich langsam einen Weg zum Kinn bahnen wollte. Ein Handgriff, der für Augusta Longbottom nach vielen Jahren normal war.

Mitleid war eines der Gefühle, das Severus seit über zwanzig Jahren nicht zu spüren imstande war, aber dieser Anblick berührte ihn. Schnell wandte er sich ab, um dieses ziehende Gefühl im Brustbereich zu unterdrücken. Sein Blick fiel auf Petunia. Auch sie saß mit Mrs. Figg weit hinten und hielt sich ein Taschentuch unter die Nase. Entweder, dachte Severus amüsiert, trocknete auch sie Tränen oder sie war kurz davor, sich wegen der ganzen widerlichen Zauberer und Hexen in ihrer Nähe zu übergeben. Petunia war alles andere als locker. Stocksteif saß sie auf ihrem Stuhl, wagte kaum, sich zu rühren.

In derselben Reihe, direkt am Gang, saß sein Kollege Filius Flitwick. Weil er über die Köpfe hinweg nichts sehen konnte, lehnte sich der Kleinwüchsige in den Gang, um wenigstens einmal einen Blick auf das Brautpaar zu erhaschen. Filius war ohne Begleitung hier.

Vorn am Altar gaben sich Harry und Ginny gerade das Ja-Wort, weshalb Severus seine Aufmerksamkeit wieder der Trauung schenkte. Besonders gut konnte er sie von hier hinten nicht sehen, aber Hermine fiel ihm sofort auf. Sie beobachtete ihre beiden Freunde mit zufriedenem Gesichtsausdruck. Harry vervollständigte die Zeremonie mit seinem Ja. Die beiden gaben sich einen Kuss, bei dem Hermine unbewusst zu Severus hinüberschaute. Weil sich ihre Blicke sofort trafen, durchfuhr ihn ein wohliges, wärmendes Gefühl in der Bauchgegend, das bis zum Herzen ausstrahlte. Dass es ihr genauso erging, konnte er nicht ahnen.

Den Blickkontakt löste Severus erst, als er das Geräusch von reißendem Garn vernahm. Gleich darauf hörte er, wie Lucius ein Lachen unterdrückte, was sich mit einem schnaufenden Laut äußerte. Ungläubig blickte Severus auf den runden Knopf in den Kinderhänden. Nicholas schien von dem Erfolg im ersten Moment genauso erstaunt, bevor er seine Beute breit lächelnd und triumphierend in die Höhe hielt.

Einige Damen schluchzten, wie es wohl bei jeder Hochzeit der Fall war. Minerva biss die Zähne zusammen und tupfte sich mit einem Taschentuch erst die Nase, dann unauffällig die Augen, als das Brautpaar an ihr und Albus vorbeischritt. Sibyll Trelawney brachte es fertig, vor lauter Freude für Harry und Ginny zu applaudieren, hielt sich dann aber schnell zurück, weil sie die Einzige war. Das kam davon, dachte Severus, wenn man so selten unter Menschen ging. Selbst er wusste, dass man bei einer solchen Zeremonie nicht klatschte. Viele putzten sich die Nase. Hagrid war dabei am lautesten. Er vergrub das bärtige Gesicht in ein riesiges Taschentuch, das andere Menschen mit Leichtigkeit als Tischdecke für einen Beistelltisch verwenden könnten. Olympe Maxime war bei ihm. In Severus‘ Augen war sie genauso ansehnlich wie früher. Die seidigen, schwarzen Haare waren wie bei vielen der weiblichen Gäste hochgesteckt, womit ihre dunklen Augen gut zur Geltung kamen. Wäre sie keine drei Meter groß, würden die Männer ihr zu Füßen liegen.

Gleich nach dem Brautpaar begannen die Gäste damit, den Saal ebenfalls zu verlassen. Einer der Ersten von ihnen war Severus. Im Nu war er durch die Flügeltür in den Eingangsbereich geflüchtet. In sicherem Abstand suchte er sich eine Wand, von der aus er einen guten Blick auf die Tür des Saals werfen konnte, in dem die Trauung eben stattgefunden hatte. Mit dem losen Knopf in einer Hand und dem Kind auf dem Arm wartete er in der Eingangshalle auf zwei Dinge. Erstens auf Hermine und zweitens auf irgendjemandem, der ihm dieses Kind abnehmen könnte, bevor er es noch lieb gewinnen würde. Dafür war es wahrscheinlich schon längst zu spät. Nicholas verhielt sich ruhig, womit er Severus wirklich beeindruckte. Für ihn waren Kinder stets ein Synonym für unerträgliche Lautstärke und widerlichen Schmutz gewesen. Der Junge beguckte sich die Menschen, die aus der Türe traten. Bei dem einen oder anderen Gesicht, das er kannte, gluckste er und hob die Hand, so auch bei dem einen Rothaarigen, der sich sofort den beiden näherte.

Es war Charlie.

„Guten Tag, Professor Snape“, grüßte der zweitälteste Weasley. Seine langen Haare hatte er auch zur Hochzeit nur mit einem schwarzen Lederband zu einem Pferdeschwanz gebunden. Bevor Severus den Gruß erwidern konnte, bot Charlie hilfsbereit an: „Darf ich Ihnen etwas abnehmen?“ Mit einem Nicken deutete er zu Nicholas.
„Das wäre außerordentlich freundlich von Ihnen.“
„Dann komm mal her, mein Kleiner.“ Charlie streckte seine Hände aus. Die Geste verstand Nicholas ganz richtig, denn sie bedeutete „Jetzt nehm ich dich.“. Nicholas ahmte die Geste nach und streckte dem Onkel die kleinen Arme entgegen, so dass man ihn besser greifen konnte.
„Passen Sie auf Ihre Knöpfe auf, Mr. Weasley.“ Der gut gemeinte Ratschlag versetzte Charlie ins Staunen, so dass Severus zur Erklärung den Knopf zeigte und die leere Stelle am Gehrock, von der Nicholas ihn abgedreht hatte.
„Danke für die Warnung.“

Das Brautpaar war längst verschwunden, wahrscheinlich um sich kurz zu erholen, damit sie zur rechten Zeit wieder dazustoßen konnten. Severus bemerkte einige Angestellte, die die Gäste höflich dazu aufforderten, in einen bestimmten Raum zu gehen. Severus fasste sich an den Bauch. Ein wenig zu essen könnte er jetzt wirklich vertragen. Er hatte so ein ungewohntes Flattern im Magen.

Charlie winkte jemandem zu, wandte sich danach an Severus und sagte: „Nachher würde ich gern ein wenig mit Ihnen plaudern. Unser Reservat sucht einen Abnehmer für einige der Dracheneier.“
„Oh, tatsächlich?“, fragte Severus interessiert nach.
„Der Erste, der mir eingefallen ist, waren Sie.“ Mit etwas Schwung setzte Charlie seinen Neffen bequemer in den Arm. „Ich stürze mich erst einmal zurück in die Menge. Wir sehen uns nachher.“ Schon war Charlie verschwunden.

Auf einmal fühlte sich Severus von den anderen Gästen ausgeschlossen, was seine eigene Schuld war. Auch er könnte sich in die Menge stürzen und mit Horace ein Schwätzchen halten, vielleicht sogar mit Remus. Letzteren sah Severus gerade, wie der Ausschau nach jemandem hielt. Endlich hatte er denjenigen gefunden – Severus. Wie schon vor der Trauung kam Remus auch diesmal auf ihn zu, vielleicht um ihm mitzuteilen, dass man sich zum Essen nun in den großen Saal begeben müsste.

„Ich weiß Bescheid“, sagte Severus noch bevor Remus den Mund aufgemacht hatte.
„Über was?“, kam als Gegenfrage.
„Dass nun zum Schmaus gebeten wird.“
Remus nickte. „Deswegen bin ich aber gar nicht …“ Sein Blick fiel auf den fehlenden Knopf. Aus der Stelle ragten noch ein paar gerissene Fäden. „Was ist denn mit dir passiert?“
Wie aus dem Nichts war Narzissa bei ihnen und hörte zu, als Severus erklärte: „Der Junge hat es geschafft, den Knopf so oft zu drehen, dass der Zauber für die Reißfestigkeit nicht mehr anschlagen konnte.“
Narzissa hob die Augenbrauen. „Die Standard-Zauber der Schneider sind für zwanzig Umdrehungen vorgesehen.“
„Dann wird der Junge ihn einmal mehr gedreht haben. Er war äußerst konzentriert bei der Sache.“
„Hast du den Knopf?“ Als Severus ihm den Knopf zeigte, bot Remus an: „Ich mach ihn dir an. Dauert nicht lange.“
„Nein“, wollte sich Severus herauswinden, „das ist nicht notwen…“
Narzissa fuhr ihm über den Mund. „Remus hat im letzten Jahr die Hose von Dracos Schuluniform geändert. Das ging sehr schnell.“
„Komm mit“, schon führte Remus ihn etwas weiter weg, „wir suchen uns eine ruhige Ecke und …“ Beide rannten in Alastor hinein, weshalb Remus grinsen musste. „Diese Ecke ist wohl schon besetzt.“
„Kann ich euch helfen?“, fragte der Auror skeptisch. „Ich glaube, die Gäste werden gerade zum Essen gebeten.“

Remus forderte von Severus den Knopf. Alastor und Severus staunten über die Geschwindigkeit, in der Remus den Knopf wieder per Zauber anbrachte. Er saß bombenfest. Severus schloss die Lücke im Gehrock und wandte sich Remus zu.

„Erst überraschst du mit kulinarischen Genüssen und jetzt entpuppst du dich auch noch als Nähtalent.“ Aus Severus Mund war das ein eindeutiges Kompliment.
„Das kommt davon, wenn man jahrelang seine alte Kleidung ausbessern muss. Außerdem muss einer diese Dinge ja tun.“ Verträumt schaute Remus zu seiner Verlobten hinüber. „Tonks kann nämlich nicht nähen und auch nicht kochen.“
„Mein herzliches Beileid“, scherzte Severus, „das Problem kenne ich nur zu gut.“
Niemand hatte mit Hermines Stimme gerechnet, die gleich konterte: „Zumindest versalze ich das Essen nicht.“ Alle drehten sich zu ihr um. Da stand sie, Hermine, mit ganz rosigen Wangen und einem zarten Lächeln auf den Lippen, das sehr wahrscheinlich den ganzen Tag und auch den Abend über anhalten würde. Und wenn nicht, dann wollte Severus das ändern. Ihre Augen waren ein wenig glasig. Sie musste geweint haben, vor Freude. Hermine hielt ihm die Hand entgegen, die er aus einem Reflex heraus nahm. Sie nickte zu dem Eingang des großen Saals hinüber. „Molly hätte es sich sparen können, Platzkarten drucken zu lassen. Jeder sitzt so, wie er möchte.“ Stolz fügte sie hinzu: „Wir beide haben übrigens das Privileg, am Tisch des Brautpaares zu sitzen.“
„Na, was für ein Glück dass ich keine Aufmerksamkeit erregen wollte“, nuschelte Severus, bevor er sich von Hermine führen ließ. Er hörte Remus noch sagen, dass die Farbe ihm stehen würde, was er nicht kommentierte, denn er tat es als nicht sehr originellen Scherz ab.

Alastor blickte den beiden verdutzt hinterher, bevor er Remus fragte: „Ist mir da irgendetwas entgangen?“
„Alastor!“ Remus klang schockiert, doch der amüsierte Gesichtsausdruck lockerte die Stimmung. „Du siehst mehr als jeder andere hier“, er spielte auf das magische Auge an, „aber das ist dir nie aufgefallen?“
„Sie arbeiten zusammen“, grunzte Alastor beleidigt, weil seine Beobachtungsgabe offenbar nicht mehr die Beste war.
Freundschaftlich schlug Remus ihm auf die Schulter. „Lass uns reingehen. Ich habe für dich einen Platz neben Albus organisiert.“ Gerade wollte der Auror im Ruhestand Einspruch einlegen, da versicherte Remus: „Der Stuhl steht direkt mit dem Rücken zur Wand.“

Damit ließ es sich leben, dachte Alastor und folgte Remus in den großen Saal. Und der Saal war riesengroß.

Als Remus die Malfoys passierte, hörte er Susan sprechen.

„Ich glaube, Charles braucht neue Windeln.“ Die junge Mutter schnüffelte dezent an dem Jungen, der noch immer von seinem Großvater gehalten wurde. „Sogar definitiv.“
Sie wollte ihn nehmen, da winkte Lucius ab. „Ich mach das schon.“
Mit einem Deut ihres Fingers zeigte sie in eine bestimmte Richtung. „Der Wickelraum ist …“
„Vielen Dank, ich kenne den Weg bereits.“

Lucius verschwand. Die Stille im Wickelraum nutzte er zum Aufatmen, was wegen der vollen Windeln nicht sehr angenehm war. Vorsichtig öffnete er die Hosen seines Enkels, der seelenruhig auf der Fläche lag und die bekannte Prozedur über sich ergehen ließ. Gerade hatte er die volle Windel geöffnet, da ging die Tür auf. Sofort drehte sich Lucius um. Ein Weasley. Der Zweitälteste der Söhne mit dem Kind im Arm, das vorhin noch einen Knopf bei Severus gelöst hatte.

„Guten Tag“, grüßte der Rothaarige angemessen freundlich. Lucius nickte dem jungen Mann lediglich zu und entschloss, die Windel schneller zu wechseln, als er anfangs dafür eingeplant hatte, um dem Fest ein paar Minuten fernbleiben zu können. Wenn er hier nicht ungestört war, wollte er nicht länger hier verweilen als notwendig. Einen geflüsterten Zauberspruch später und die neue Windel war mit Magie angezogen. „Wie haben Sie denn das gemacht?“, wagte der Weasley-Balg zu fragen. Lucius war drauf und dran, den jungen Mann zu ignorieren, wofür er sich später vielleicht eine Rüge seiner Frau einfangen könnte.
„Haben Ihre Eltern Ihnen gar nichts beigebracht?“
„Ich habe ganz nett gefragt, Mr. Malfoy.“
„Und ich habe …“ Das Gespräch war kurz davor zu eskalieren, so dass sich Lucius zusammenriss. „Incunamuta lautet das Zauberwort. Der Spruch und die dazugehörige Stabbewegung wurden von meinem Urgroßvater entwickelt und später ausgebaut. Es bedeutet nichts anderes als Windeln wechseln.“
Charlie setzte Nicholas neben dem liegenden Charles ab und vermutete laut: „Er wollte sich wohl nicht die Hände schmutzig machen.“
Über die Bemerkung wurde er einen Moment lang von Lucius schräg angesehen. Der Reinblüter schien mit sich zu kämpfen. Am Ende riss er sich zusammen und erwiderte lediglich: „Wer würde das schon wollen.“
„Ja, da haben Sie Recht.“ Einen Moment später forderte Charlie: „Zeigen Sie mir die Stabbewegung?“
Entweder zählte Lucius innerlich bis zehn oder er malte sich aus, was es für Konsequenzen haben könnte, sollte er den jungen Mann barsch zurechtweisen. „Meinetwegen.“ Er klang genervt, zeigte Charlie jedoch die Bewegung. „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden?“ Sein Enkel mit der sauberen Windel fühlte sich ganz offensichtlich wieder wohl, so wie er grinste. Sofort wollte Lucius wieder gehen, doch er rechnete nicht mit einer weiteren Frage.
„Das ist der kleine Charles?“ Charlie nickte zu dem rothaarigen Jungen, der erneut Kontakt zu Nicholas suchte und ihm in geheimer Kindersprache irgendwelche geheimen Tipps gab. Erwachsene hörten ihn nur brabbeln, aber Nicholas beherrschte den Code und brabbelte zurück.
„Ganz Recht, das ist Charles Erasmus.“
Charlie benutzte den neu erlernten Incunamuta-Spruch, der auf Anhieb funktionierte und erwähnte nebenher. „Mein Großvater hieß Erasmus.“
Lucius zwang sich zu einer netten Äußerung. „Wie wunderbar. Wenn Sie mich jetzt …“
„Wir können gleich zusammen hineingehen.“ Charlie schien die Situation sichtlich zu genießen. „Wie ich erfahren habe, sitzen die Tonks‘ und Malfoys ebenfalls am Tisch des Brautpaares.“
Ein Seufzer entwich Lucius, bevor er wenig begeistert wiederholte: „Wie wunderbar …“

An einem Tisch mit Potter und den Weasleys. Verkehrte Welt. Lucius ertrug es seiner Gattin zuliebe, doch die sollte sich hüten, seinen Geduldsfaden noch weiter zu strapazieren. Er konnte eine ganze Menge ertragen. Immerhin hatte er mit Leuten wie Voldemort zu tun. Der war im Piesacken allerdings weniger zurückhaltend gewesen, sondern hatte ihm den Rücken mit einem Cruciatus gekrümmt. Lucius erinnerte sich daran, dass seine jetzige Schwiegertochter ihm damals in Askaban einen Heiler wegen des Rückenleidens geschickt hatte. Wo er gerade daran dachte: Der Rücken tat ihm weh. Möglicherweise war es keine gute Idee gewesen, den Jungen die ganze Zeit über zu tragen. Als er abwägen wollte, was schlimmer war – die beginnenden Rückenschmerzen oder eine Konversation mit einem Weasley – da war der junge Mann schon fertig und hielt ihm die Tür auf.

„Nach Ihnen, Mr. Malfoy.“ Nachdem Lucius an ihm vorbeigegangen war, grinste Charlie in sich hinein. Ein handzahmer Lucius Malfoy, dachte er schmunzelnd. Dass er das einmal erleben durfte.

Einige Gäste waren an die frische Luft gegangen, wie zum Beispiel George. Es ging ihm gegen den Strich, dass seine Brüder der Meinung waren, er wäre nur mit einer Frau an seiner Seite ein ernst zu nehmendes Familienmitglied. Er war davor geflohen, zwangsverkuppelt zu werden, dabei hatte der Tag erst begonnen. Von der Balustrade der Terrasse aus überblickte er die hübsche Gegend. Viele Bäume, gepflegter Rasen, weiter hinten ein kleiner See. Schnell wie der Blitz huschte plötzlich etwas Georges Gesicht vorbei. Sein Kopf drehte sich von ganz allein, um dem schnellen Etwas nachzusehen, doch einen Flügelschlag später konnte er nichts mehr ausmachen. Eingebildet hatte er es sich nicht, da war er sich ganz sicher.

„Oh, guten Tag“, grüßte eine unbekannte Stimme. „Ich habe nicht damit gerechnet, jemanden hier anzutreffen.“
George zuckte mit den Schultern. „Sie können sich ruhig zu mir gesellen. Es ist ja nicht meine Terrasse.“
Ein gut aussehender Herr trat an George heran. „In gewisser Weise ist es sogar meine Terrasse“, scherzte der Herr. „Mein Name ist Richard Van Tessel, der Schlossbesitzer.“
„George Weasley.“ Er schüttelte die Hand des Schlossbesitzers. Noch während er Van Tessel die Hand schüttelte, sauste abermals etwas so schnell an George vorbei, dass er sich erschrak. „Was war das?“
„Das, Mr. Weasley, war ein …“ Er beugte sich zu George und flüsterte ihm die Antwort ins Ohr.
George traute seinen Ohren kaum. „Nein, das gibt es nicht!“
„Oh doch, wenn ich es Ihnen doch sage! Sie fühlen sich wohl hier. Ihre Population ist in den letzten Jahrzehnten enorm angestiegen.“

Die beiden unterhielten sich eine Weile über das Schloss, über den Namen des Schlosses und über bauliche Mängel, die dank der Einnahmen von der Hochzeitsfeier behoben werden konnten. Am Ende redeten sie über das Brautpaar, bis George auf die Uhr blickte.

„Ich denke, ich gehe langsam hinein.“
„Ich werde Sie begleiten, Mr. Weasley.“

Auf dem Weg fand Van Tessel noch einiges, über das er ein, zwei Worte verlor. Er zeigte auf eine Statue und erklärte, wen sie darstellte und wann das Werk hergestellt wurde. Trotz der allgemeinen Ächtung, die der alten Zaubererfamilie wegen der zurückliegenden Blutschande von vielen Reinblütern noch entgegengebracht wurde, hörte George deutlich heraus, wie stolz Van Tessel auf die eigene Herkunft und das Schloss war.

Im großen Saal musste sich George zunächst orientieren. Unzählige, meist runde Tische mit Plätzen für bis zu vierzig Personen bauten sich vor ihm auf. Massen von Menschen mit fröhlichen Gesichtern erschwerten ein Vordringen zum eigenen Tisch. Die Kellner waren startklar und warteten nur auf ein Handzeichen, um die Gäste zu bewirten.

„Ich glaube, dort hinten“, Van Tessel zeigte auf einen Tisch, an dem viele Rothaarige saßen, „haben wir Ihre werte Familie.“ Der Hausherr war so freundlich, ihn bis an den Tisch zu begleiten, wo er von seiner Familie und auch der Familie Tonks und Malfoy gegrüßt wurde. Ein paar Plätze waren noch frei.
Seine Mutter erspähte ihren Sohn und die Begleitung und sprang vom Stuhl auf. Mit breitem Lächeln grüßte sie: „Oh, Mr. Van Tessel.“
„Mrs. Weasley.“ Galant pflanzte er ihr einen trockenen Kuss auf den Handrücken. „Ich hoffe, alles ist zu Ihrer Zufriedenheit?“
Molly errötete. „Alles bestens. Der Ort ist himmlisch“, lobte sie in den höchsten Tönen.
„Falls Sie irgendetwas benötigen, ich halte mich immer in der Nähe auf.“
Wie ein schüchternes Schulmädchen blickte Molly zu Boden und nickte. „Das ist sehr aufmerksam von Ihnen.“
„Dann wünsche ich einen guten Appetit.“

Van Tessel hielt ihren Stuhl, bis sie sich gesetzt hatte. Nachdem er gegangen war, blickte nicht nur Molly ihm schmachtend hinterher, sondern alle Damen am Tisch, selbst Narzissa.

„Hach“, machte Molly geistesabwesend, womit sie Arthurs Aufmerksamkeit erregte.
Sofort beschwerte er sich: „Wann hab ich das letzte Mal ein ‚Hach‘ aus dir herausgekitzelt?“
Ein paar Stühle weiter zeigte sich ein ähnliches Bild. Angelina blickte dem Schlossbesitzer hinterher und schwärmte: „Uh, der ist ja zum Anbeißen.“
Ron wedelte mit etwas vor ihrer Nase herum und empfahl bissig: „Wirf doch mal einen Blick in die Karte. Vielleicht steht er ja mit drauf.“
Besagte Karte studierte Hermine bereits, als Severus sie antippte. Sie blickte auf und bekam die Frage gestellt: „Kein Kommentar deinerseits?“
„Was? Zu dem Herrn?“ Hermine blickte sich um und sah Van Tessel, wie der gerade mit Remus redete, ihm dabei freundlich auf den Oberarm schlug. Beide lachten. Sirius stand direkt daneben und hörte mit ernster Miene zu. „Er sieht nett aus“, war Hermines einziger, desinteressiert klingender Kommentar, bevor sie wieder in die Karte schaute.

Zwischen Severus und Tonks waren zwei Plätze frei. Neben Tonks saß Anne, gefolgt von Ted und seiner Gattin Andromeda. Gleich darauf begann es mit den Malfoys – Narzissa machte den Anfang. Jeder hatte sich so platziert, dass er nicht direkt neben einer Person sitzen musste, die er nicht ausstehen konnte. Remus und Sirius steuerten auf die freien Plätze zu, was viel Zeit in Anspruch nahm, denn überall standen noch Gäste herum, die miteinander sprachen oder Fotos schossen. Colin und Dennis waren mit ihren Kameras mittendrin.

„Ist neben dir noch frei?“, fragte Remus höflich. Severus nickte, so dass Remus Platz nahm. Tonks rutschte auf, damit sie neben ihrem Verlobten sitzen konnte und überließ ihren vorgewärmten Stuhl Sirius. Auf diese Weise saß jeder neben seinem Liebsten. Platzkarten waren nicht notwendig. Die Sitzreihenfolge organisierte sich von ganz allein.
Sirius kicherte, weshalb Tonks fragte, was los wäre. Er offenbarte den Grund seiner Belustigung und erklärte in einer Lautstärke, damit wenigstens auch Remus seine Worte hörte: „Da versuchte gerade jemand, zarte Bande mit Remus zu knüpfen.“
Davon irritiert legte Remus die gerade aufgenommene Menükarte beiseite. „Wie bitte? Das wäre mir doch wohl aufgefallen. Wer soll das gewesen sein?“
Tonks stimmte mit ein, wenn auch hörbar eifersüchtig: „Das würde ich auch gern wissen.“

Severus hörte nur mit einem Ohr zu, blickte derweil in die Speisekarte, die Hermine aus freien Stücken mit ihm teilte. Dort waren einige Köstlichkeiten aufgelistet, bei denen ihm jetzt schon das Wasser im Munde zusammenlief. Pot-au-feu und Coq au vin waren ihm bekannt, aber unter den anderen ausländischen Bezeichnungen konnte er sich nichts vorstellen. Er war sich sicher, dass sich ein paar umwerfende Leckereien hinter den Namen verbergen mussten.

Er beugte sich zu Hermine und fragte geradeheraus: „Kannst du Französisch?“
„Natürlich“, sie blätterte zur nächsten Seite und wurde leiser, „nur mit der Sprache hapert es ein wenig.“

Wie versteinert wiederholte Severus in Gedanken die Antwort und er fragte sich, ob sie es so meinte, wie er es verstanden hatte. Ungläubig betrachtete er ihr Gesicht, von dem er nur die Seite sehen konnte, weil sie noch immer in der Karte las. Sie bemerkte seinen Blick und schaute auf. Die Farbe auf ihren Wangen, vor allem aber das kecke Lächeln und freche Glitzern in den Augen waren Antwort genug. Sie meinte es genau so. Ihm wurde plötzlich ganz schwummerig.

Neben sich hörte Severus einen Protest von Remus, der beteuerte: „Das ist überhaupt nicht wahr.“ Sirius feixte in sich hinein, während Tonks um Aufklärung bat, die ihr Verlobter sofort gab. „Mr. Van Tessel hat mir nur ein Kompliment über den Umhang gemacht.“
„Ja, sicher.“ Sirius beugte sich an Tonks vorbei. „Aber du hättest stutzig werden sollen, als er meinte, die Farbe passt zu deinen Augen.“
„Das tut sie doch auch! Die Verkäuferin hat das Gleiche gesagt. Und Sirius?“ Remus drosselte die Lautstärke, als er seinem Freund klarmachte: „Selbst wenn andere Absichten dahinter gestanden haben mögen, was ich nach wie vor bezweifle, dann habe ich im Gegensatz zu dir kein Problem damit.“
Sirius wollte gerade zurückschießen, da lenkte Anne ihn gekonnt mit einer Frage ab. Sie nickte in eine Richtung und fragte: „Ist das nicht der Herr, mit dem du zusammenarbeitest?“
„Wer? Sid? Warum sollte der hier sein?“ Den Gesuchten hatte er sehr schnell gefunden. „Tatsächlich! Was hat der mit Harry zu tun?“
„Und wer ist das da bei ihm?“, wollte Anne wissen.
Einige Plätze weiter hatte Lucius die gleiche Beobachtung gemacht. Er wandte seinen Kopf zu Narzissa, ohne seinen Blick von dem Paar einen Tisch weiter abzuwenden. „Ist das nicht die gute Marie?“ Wenigstens war ein Gesprächspartner für später gefunden.

Am Tisch von Marie und Sid saßen nicht nur Maries Verwandten, die Krums, sondern auch ein paar der DA-Mitglieder sowie Mrs. Figg und Petunia. Letztere zitterte so stark an den Händen, dass sie aus Verlegenheit ihre Serviette genommen hatte, um sie zu kneten. Vor allem und jedem hatte sie Angst, obwohl sie zu ihrem Erstaunen sehr wenig Magie gesehen hatte. Kein Einziger hatte seinen Stab in der Hand, höchstens ein Glas Wasser. Verstohlen betrachtete Petunia die Menschen. Nicht zu übersehen war der Riese, der Harry an seinem elften Geburtstag entführt hatte. Jedenfalls hatte Vernon es immer als Entführung bezeichnet, auch wenn Harry freiwillig mitgegangen war. Einen Augenblick lang fragte sich Petunia, ob es richtig gewesen war, ohne ihren Mann hier aufzukreuzen. Andererseits hätte der allein beim Anblick der Gäste längst einen Herzinfarkt erlitten – das wäre dann der dritte in seinem Leben. Dudley hätte sich wie üblich mit den falschen Leuten angelegt, dachte Petunia. Ihr kleiner Spatz sollte nicht noch einmal einen Ringelschwanz angehext bekommen. Schüchtern betrachtete sie die Gäste, die direkt bei ihr am Tisch saßen. Viele von ihnen trugen ungewöhnliche Kleidung, was sie als Zauberer entlarvte. Das Pärchen direkt neben ihr war jedoch so gekleidet wie sie. Der Mann zu ihrer linken bemerkte, wie sie die Serviette malträtierte.

„Sie sind offenbar sehr aufgeregt“, stellte der Herr mit warmer Stimme fest. „Wenn ich mich vorstellen darf: Granger ist mein Name.“
Jetzt war Petunia an der Reihe. Sie ahnte, dass allein ihr Name für Aufruhr sorgen könnte, dennoch gebot es die Höflichkeit, dem Herrn zu antworten: „Dursley.“
„Mrs. Dursley, freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen.“ Mr. Granger deutete auf die Dame neben ihm. „Das ist meine Frau.“
Petunia atmete schnell und flach, rang sich jedoch ein Lächeln ab, als sie anmerkte: „Sie sehen beide nicht wie Zauberer aus.“
Mr. Granger lachte. „Das liegt daran, weil wir keine sind.“
„Sind Sie nicht?“ Das Ehepaar verneinte. „Oh“, machte Petunia erleichtert. Ein wenig Normalität zwischen der Andersartigkeit.
„Wenn ich fragen dürfte, sind Sie von seitens des Bräutigams oder der Braut eingeladen worden?“
Gerade überlegte Petunia noch, wie sie ihre Identität verschleiern könnte, da musste ausgerechnet Mrs. Figg sich in das Gespräch einmischen. „Mrs. Dursley ist die Tante des Bräutigams.“
„Tatsächlich?“ Mrs. Granger blickte sich um. Das Brautpaar fehlte noch, aber am entsprechenden Tisch saßen bereits die Verwandten und die engsten Freunde. „Müssten Sie dann nicht an dem anderen Tisch sitzen?“
„Nein, nein“, beteuerte Petunia. „Das ist schon in Ordnu…“
„Aber es gehört sich doch so. Ich könnte hinübergehen und …“
„Nein, bitte!“, flehte Petunia. Die Panik war nahe. „Ich möchte einfach nur hier sitzen.“ Mr. Granger nickte und unterließ weitere Hilfsangebote, weil seine Tischnachbarin aussah, als würde sie jeden Moment tot umfallen, so bleich war sie. „Ich würde am liebsten gehen.“ Petunias Worte waren leise gesprochen, blieben aber nicht ungehört.
Mrs. Figg tätschelte ihren Unterarm und erklärte: „Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass wir beide zusammen den Portschlüssel nehmen müssen und wenn wir das tun, dann komme ich alleine nicht mehr hierher zurück.“
Petunia saß in der Falle. Sie war voll und ganz von Mrs. Figg abhängig und erst, wenn die genug von der Feier hatte, würde sie endlich wieder nachhause gelangen. Sie seufzte. „Ich weiß gar nicht, warum ich überhaupt hergekommen bin.“

Natürlich wusste sie, was sie hergetrieben hatte. Die pure Neugierde. Von ihrem Sohn wusste sie, dass der mit Harry in Kontakt stand, ihm regelmäßig zu Weihnachten und zum Geburtstag einen Brief schrieb, obwohl sie es anfangs verboten hatte.

Die Aussage von Petunia versetzte die Grangers in Staunen, aber sie fragten nicht nach, warum die Tante des Bräutigams keine Freude bei der Hochzeit ihres Neffen empfand. Harry hatte in all den Jahren wenig von seinen Verwandten erzählt und auch nur widerwillig. Die Grangers wussten gerademal, wo die Dursleys lebten, wie viele Personen es im Haushalt gab und was der Onkel arbeitete, aber das war es schon gewesen.

Einer der Tische war nahe am Eingang positioniert. Hier saß das Personal von Hogwarts. Obwohl man es Albus angeboten hatte, hatte er sich nicht an den Tisch von Harry gesetzt. Womöglich wollte er sich nicht in den Vordergrund drängen. Oder er ahnte, denn Albus wusste vieles, dass Severus sich momentan in seiner Gegenwart nicht wohl fühlen würde. Neben Albus saß ein tattriger Mann mit schlohweißem Bart, dessen Kopf und Hände von einer Krankheit gebeutelt unentwegt zitterten. Es handelte sich bei dem betagten Herrn um Albus‘ alten Schulfreund, dem Urgroßvater des jungen Schlossbesitzers. Man hatte sich eine halbe Ewigkeit nicht gesehen. Vielleicht war der Freund der Grund, warum Albus nicht bei Harry saß. Jedenfalls nahm es ihm niemand übel.

„Wir müssen ein paar Stühle wegnehmen“, sagte Neville zu seiner Großmutter, als er die Sitzmöglichkeiten überflog. Besorgt musterte er seine Eltern. „Oder wir bringen sie besser wieder ins Mungos zurück.“
„Papperlapapp! Es ist Mittagszeit. Deine Eltern haben bestimmt genauso großen Hunger wie ich“, winkte Augusta ab. „Und essen können wir auch hier.“
„Aber wenn es ihnen zu viel wird …“
„Unsinn, Neville.“

Nevilles Sorgen wurden wieder einmal von Luna weggefegt, die ihm versicherte, es würde nichts geschehen. Hagrid war so freundlich, drei Stühle vom Tisch zu entfernen. Er schob sie sich mit der offenen Rückenlehne wie Handtaschen über einen Arm, um sie fortzubringen. Die beiden Rollstühle hatten somit genügend Platz. Innig hoffte Neville, dass sich niemand von seinen Eltern belästigt fühlen würde. Ihm war nicht entgangen, wie schockiert Harrys Patenonkel gewesen war, als er die alten Schulfreunde erblickte. Berührungsängste hatte Neville nie gehabt, aber er wusste, dass andere Menschen oft hilflos reagierten, wenn sie mit den beiden Pflegefällen zu tun hatten. Er kannte seine Eltern gar nicht anders, höchstens von beweglichen Bildern.

Fast alle Lehrer kannten Alice und Frank persönlich, entweder aus der Schule oder vom Orden. Damals, nachdem bekannt geworden war, dass die beiden Bellatrix zum Opfer gefallen waren, hatte Minerva sie im Krankenhaus besucht. Der Anblick war schockierend gewesen. Minerva erinnerte sich noch gut an das grausame Bild, das beide abgegeben hatten. Die aufgeplatzten Adern im Weiß der Augen und die vielen Blutergüsse an Hals und Schläfen, wo die zarten Gefäße den Cruciatus-Flüchen nicht standhalten konnten und zerbarsten, waren der Lehrerin noch gut im Gedächtnis. Nach über zwanzig Jahren waren diese Wunden längst verheilt. Alice war ein Naturtalent in Verwandlung gewesen. Ein Mädchen mit einem sehr freundlichen und hilfsbereiten Wesen, erinnerte sich Minerva, als sie mit einem weinenden Auge auf die Frau im Rollstuhl blickte, die so viel an Lebendigkeit hatte einbüßen müssen.

„Alice, meine Gute.“ Allein schon Hagrids angenehm brummende Stimme ließ die Angesprochene lächeln. „Gut siehst’e aus, die Haare ‘n bisschen zu kurz.“ Über Luna hinweg strich er Alice mit seiner riesigen Hand ungeahnt zaghaft über den Kopf. Wie eine Katze drückte dagegen und gluckste, strahlte dabei noch fröhlicher. Neville ließ sich von der guten Laune seiner Mutter anstecken und lächelte. „Und sie freut sich“, stellte der Riese zufrieden fest. „‘s ist ja auch ein großer Tag für uns’ren Harry, nicht wahr?“
„Ja“, stimmte Luna verträumt zu, „das ist es.“ Aufmerksam, wie sie war, entging ihr nicht der trockene Mund von Nevilles Mutter. Das kaum hörbare, schnalzende Geräusch mit der Zunge bedeutete, dass Alice Durst hatte. Mit einem Schwung ihres Stabes und einem gesprochenen Zauber, den sie von den Schwestern im Mungos gelernt hatte, verwandelte Luna das Wasserglas auf dem Tisch in eine Schnabeltasse, um ihr etwas zu trinken zu geben.

Am Tisch des Brautpaares fragte man sich derweil, wo die beiden Glücklichen abblieben. Ron wurde beauftragt, seiner heutigen Pflicht als Vertrauter des Bräutigams nachzukommen und nach den beiden zu sehen. Es dauerte einen Moment, durch den großen Saal wieder in den Eingangsbereich zu gelangen, weil er von allen Seiten angesprochen wurde. Alte Freunde grüßten ihn und wollten ihn in ein Gespräch verwickeln, das er auf später verschieben musste.

Nach etwa fünf Minuten war er auf dem Weg nach oben, wo Harry und Ginny ihr Zimmer hatten. Erst klopfte er zaghaft, aber als er nichts hörte, glaubte er das Zimmer verlassen. Möglicherweise hatte er sie verpasst und die beiden saßen bereits unten und würden nun auf ihn warten. Um sich zu vergewissern, öffnete Ron die Tür und …

„Bei Merlin, Entschuldigung!“ Sofort knallte er sie wieder zu, doch was er gesehen hatte, ließ ihn durch die geschlossene Tür hindurch aufgebracht meckern: „Mann, das ist ja so, als würde man bei seinen Eltern reinplatzen! Ihr hättet wenigstens abschließen können.“ Ron hörte es rascheln, gefolgt von ein paar Schritten, bevor jemand die Tür öffnete.
„Sorry, Ron“, brachte Harry mit hochrotem Gesicht heraus, während er sich noch schnell das Hemd in die Hose stopfte. Ginny hingegen musste sich nur das Kleid glattzupfen.
Wegen der peinlichen Situation, in die man Ron gebracht hatte, erklärte er lehrerhaft: „Was ihr da gemacht habt, tut man während der Hochzeitsnacht, klar? Und wisst ihr, warum? Weil dann alle Gäste schon fort sind und solche Situationen erst gar nicht eintreffen können.“
Ginny nahm das Ganze viel gelassener. „Nun krieg dich mal wieder ein, Ron.“
Beleidigt verzog er das Gesicht. „Die Gäste warten.“
„Wir sind fertig“, bestätigte seine Schwester.
„Für das Ding benennt ihr euren nächsten Sohn nach mir!“, forderte der Rotschopf mit drohendem Zeigefinger, bevor er vorausging.
„Ist gebongt!“ Ein freches Grinsen legte sich auf Harrys Gesicht. „Vielleicht hat es sogar schon geklappt.“
Demonstrativ hielt sich Ron die Ohren zu. „Bitte keine Details!“

Sie folgten Ron, der als Erster die Stufen hinunterging. Mittendrin blieb er stehen und wandte sich an Harry.

„Deine Tante ist hier“, waren vier harmlose Worte, die Harry einen kleinen Schock verpassten.
„Tante Petunia?“ Ron nickte. „Sind mein Cousin und mein Onkel auch hier?“
„Die habe ich nicht gesehen und so, wie du sie immer beschrieben hast, kann man die gar nicht übersehen. Ich habe kein Nilpferd und keinen Elefanten ausmachen können, nur das Pferd.“
„Sitzt sie an meinem Tisch?“ Harrys Hände kontrollierten wie von selbst die Kleidung. Saß der Kragen richtig? Waren alle Knöpfe korrekt geschlossen?
Ginny bemerkte sein seltsames Verhalten. „Du willst doch wohl keinen Eindruck schinden?“
„Nein, natürlich nicht. Sie ist mir egal, richtig?“, versuchte er sich einzureden.

Er war kein Kind mehr, war schon längst aus der Gewalt der Dursleys entwischt, doch trotzdem weckte allein der Name der Familie, bei der er sechzehn Jahre lang leben musste, Erinnerungen an die Besenkammer, an Bestrafungen für Spontanzauber, an die Drohungen von Onkel Vernon, auf keinen Fall zaubern zu dürfen, sonst …

„Harry?“
Bei seinem Namen schreckte er auf. „Was ist?“
Ron bot hilfsbereit an: „Ich kann mich um sie kümmern, wenn du willst.“ Es klang beinahe so, als würde Ron anbieten, der ungeliebten Tanke Betonschuhe zu verpassen und sie im nächsten Fluss zu versenken.
„Um Himmels willen, nein! Wir machen das lieber wie bei Hopkins, verstanden? Wir zeigen ihr, dass Zauberer und Hexen nichts sind, wovor man sich fürchten muss.“ Es würde daneben gehen, dachte Harry. Petunia war unverbesserlich. „Oder?“
„Oder was?“, fragte Ginny nach. Ihr frisch angetrauter Ehemann schien etwas durch den Wind zu sein.
„Schon gut, lass uns reingehen.“ Kurz vor der Tür zum großen Saal hielt Harry nochmals inne und strich sich durchs wirre Haar.
„Harry“, sagte die sanfte Stimme seiner Frau. Er lächelte zufrieden. Harry Potter war jetzt verheiratet. Ginnys Hand strich mit kreisenden Bewegungen beruhigend über seinen Rücken. „Du musst dich nicht lange mit ihr befassen und auch keinesfalls allein. Du möchtest ihr im Laufe des Abends sicher deine Frau vorstellen.“
„Ja, aber erst nach dem Essen.“ Seine Hand legte sich auf den Magen. „Ich weiß nicht, ob ich überhaupt etwas runterbekommen werde.“
„Das wird schon, Harry.“ Ginny nahm ihn an die Hand und ganz plötzlich fühlte er sich, als könnte er Bäume ausreißen. Einmal atmete er tief und langsam durch, bis er bereit war. „Lass uns reingehen.“

Die Menge applaudierte, als das Brautpaar eintrat. Harry überlegte einen Moment, ob er winken sollte, entschied sich aber dagegen, weil er nicht wie ein König wirken wollte, der seine Untertanen grüßte. Seine Frau war, wie in vielen Dingen, viel gelassener als er. Sie hatte sich bei ihm untergehakt und winkte fröhlich in die Menge hinein, während Harry sich von ihr leiten ließ. Ein paar Freunden nickte er nur zu, um nicht unhöflich zu erscheinen. Großveranstaltungen dieser Art, auch wenn es seine eigene Hochzeit war, lagen ihm nach all den Jahren noch immer nicht.

Den kurzen Weg zum Tisch bekamen Ginny und er so viele Glückwünsche ausgesprochen wie kurz nach dem Sieg über Voldemort. Da war Slughorn, der das Glas hob und ihm breit grinsend zunickte. Dabei wuchs dem fülligen Ex-Lehrer für Zaubertränke neben seinem Doppelkinn noch ein drittes. Alle von Harrys Freunden waren hier. Dean, Seamus, die Patil-Schwestern – eine hübscher als die andere – und auch Tante Petunia. Harry schluckte, als sich ihre Blicke trafen. Der von Petunia war unsicher. Sie blinzelte häufig. Aus lauter Hilflosigkeit grüßte sie ihn mit einem zaghaften Nicken, das Harry bestätigte. Zum Glück war er endlich am Tisch angelangt. Sein Schwiegervater überfiel ihn mit der Bitte, ein paar Worte an die Gäste zu richten. Zu diesem Zweck hielt er Harry den Zauberstab vors Gesicht, der mit einem Sonoruszauber für gute Hörbarkeit sorgen sollte.

Harry zog Ginny zu sich heran und legte einen Arm um ihre Schulter. Sie missinterpretierte diese Geste nicht falsch. Er benötigte ihre Hilfe. Nie war es ein Problem gewesen, bei Ordenstreffen Reden zu halten oder Anweisungen zu geben. Selbst bei der Verleihung des Merlinordens hatte Harry aus dem Stehgreif einige tiefgründige Worte von sich gegeben, aber hier, bei der Erfüllung seines Herzenswunsches, war er um Worte verlegen. Ginny nahm die Hand ihres Vaters und übernahm die Aufgabe, der sich Harry unerklärlicherweise nicht gewachsen fühlte.

„Wir möchten uns herzlich bei allen bedanken, die heute gekommen sind, um diesen wunderbaren Moment mit uns zu teilen.“ Ginny und Harry blickten sich einen Moment tief in die Augen, bevor sie noch einige Worte von sich gab. „Es ist schön, mit so vielen Menschen, die einem etwas bedeuten, heute vereint zu sein.“ Ihr Blick fiel zufällig auf Rosmerta, einer der vielen Helferinnen in Kriegszeiten. „Mit manchen teilen wir ein wertvolles Stückchen Vergangenheit, das uns zusammengeschweißt hat.“ Nicht nur die Besitzerin der Drei Besen fühlte sich angesprochen. „Andere haben für uns Kopf und Kragen riskiert, sonst würden wir heute nicht hier stehen.“ Ginny wagte es nicht, zu Severus zu blicken. Diese Aufgabe nahm ihr Harry ab, während sie die Gäste überblickte und am Tisch von Neville verweilte. „Besonders schön ist es, Menschen zu sehen, die so sehr an das Gute glauben, dass sie es fast mit ihrem Leben bezahlen mussten.“ Ein Kloß formte sich in ihrem Hals, so dass sie schnell woanders hinschaute. Harrys Tante. Sie saß stocksteif an ihrem Tisch. Anstatt wie alle anderen zum Brautpaar zu blicken, schaute sie starr auf ihr Wasserglas. „Und mit dem einen oder anderen Gast haben wir nicht im Geringsten gerechnet.“ Petunia zuckte zusammen und brachte die Courage auf, zu Harry zu schauen. Sie war gemeint. Ihr Neffe blickte sie an. Mit einem Lächeln wollte Ginny das Wort an ihren Mann weitergeben. „Harry, möchtest du noch etwas sagen?“ Freundlich, wie Arthur war, hielt er wieder seinem Schwiegersohn den Zauberstab vor das Gesicht.
„Meine Frau“, Harry grinste, weil er sie das erste Mal öffentlich so betitelte, „hat mir aus der Seele gesprochen. Eine Sache möchte ich noch anmerken.“ Ein Blick zu Molly. „Zum Glück haben wir gesagt, dass wir eine Hochzeitsfeier im kleinen Rahmen haben möchten.“ Die Menge lachte amüsiert. „Ich bin davon überzeugt, es geht vielen im Moment so wie mir.“ Mit einer Hand schlug er sich vorsichtig auf den Bauch. „Ich habe Hunger und ich denke, wir können mit dem Festmahl beginnen.“

Die Gäste klatschten selbst noch, als auf den Tischen bereits einige der Speisen – die Beilagen – aus dem Nichts erschienen. Der Applaus war so stark, dass kaum jemand Petunias angsterfüllten Aufschrei hörte. Sie wollte aufspringen und davonlaufen, doch Mrs. Figg hielt sie zurück. Besorgt fragte Mr. Granger nach dem Wohlbefinden seiner Tischnachbarin. Auch jemand anderes war aufmerksam geworden. Mr. Van Tessel beugte sich zu Petunia.

„Alles in Ordnung, Madam?“ Der Schlossherr rieb sich verlegen die Hände.
Mrs. Figg winkte gelassen ab und tätschelte Petunias Hand. „Sie ist Zauberei nur nicht gewöhnt.“
„Ah“, machte er erleuchtet. „Keine Sorge, es wird nicht wieder vorkommen.“ Ein Fingerschnippen später stand einer der Kellner bei ihm. „Es wird ohne Zauberei bedient. Teilen Sie das den anderen Kellnern mit.“ Die Anweisung wurde in Windeseile umgesetzt. Wieder zu Petunia gebeugt entschuldigte sich Van Tessel für das unsensible Verhalten der Mitarbeiter und wünschte einen guten Appetit, bevor er den Tisch verließ.
Mr. Granger war noch immer verdutzt über die Reaktion seiner Tischnachbarin. „Sagen Sie, wenn Harry Ihr Neffe ist, warum erschreckt es Sie dann, wenn gezaubert wird?“ Sie brachte kein Wort heraus, woraufhin er anfügte: „Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich weiß, dass die Kinder nicht außerhalb der Schule zaubern durften, aber waren Sie nie mit ihm in der Winkelgasse?“
Petunias Kopf schnellte hoch. „Wo?“
„In der Winkelgasse! Das ist ein fantastischer Ort. Meine Frau und ich sind dort das erste Mal bewusst mit Magie in Berührung gekommen“, schilderte er mit einem Lächeln, das Petunias Lippen niemals formen könnten, wenn es um das Thema Zauberei ging. „Einiges hat auch mich erschrocken, aber nur, weil es unbekannt war. Man gewöhnt sich schnell daran.“ Die blonde Dame mit dem langen, blassen Gesicht schüttelte hysterisch den Kopf, sagte jedoch kein Wort. Mr. Granger beließ es dabei. Sie war ihm nicht sympathisch genug, um ihr die Angst nehmen zu wollen.

Am Tisch des Brautpaares wurde gelacht, gratuliert und die Speisekarte studiert. Hermine und Severus hatten erneut den Kopf gemeinsam in eine der Menükarten gesteckt, um sich etwas auszusuchen. Die Auswahl fiel schwer.

„Was nimmst du? Das Hühnchen?“, wollte Severus wissen.
„Das ist mir herzlich egal. Ich könnte ein halbes Pferd verschlingen, so einen Hunger habe ich.“
„Tut mir leid, steht nicht auf der Karte“, musste er ihr mit Bedauern mitteilen. Plötzlich stand Nicholas mit schüchternem Lächeln bei ihnen. Er wollte einmal um den Tisch gehen, um jeden persönlich zu grüßen. Dabei hielt er sich an den Stühlen fest. Molly und Ginny hatten ihn immer im Auge.
„Hallo“, grüßte Hermine einige Oktaven höher, „wer ist denn da?“
„Vielleicht möchte er uns bei der Auswahl helfen?“ Severus hielt dem Jungen die Karte entgegen, der auch prompt auf eine Stelle tippte, die Severus sich genauer ansah. „Dann also Geflügel. Gute Wahl.“
Sein gelassener Umgang mit Nicholas erstaunte Hermine. „Dein neuer Freund?“
Severus musterte den Jungen, der nach der Karte griff, die er gerade weggelegt hatte. „Du kannst von Glück reden, Hermine, dass an deinem Kleid nur Haken und Ösen zu finden sind.“
„Wieso denn dass?“, fragte sie erstaunt nach. Weil Remus direkt neben Severus saß, hatte er das Gespräch unfreiwillig mitgehört und erklärte ihr die Situation mit dem abgedrehten Knopf. Hermine grinste. „Und du bist nicht böse geworden?“
Mit Bedacht hob und senkte Severus die Schultern, bevor er erwiderte: „Es war ja nur ein Knopf, der abgegangen ist.“

Die Kellner arbeiten mit kleinen Wagen, die sie mit versteckter Magie im Saal umherschoben, damit sie weder umfallen noch das Essen kalt werden konnte. Sie fragten nach der Wahl der Gäste und taten entsprechend einen Teller auf. Jeder Gast bekam sein Essen sehr schnell und dann wurde es still. Fast totenstill. Die Stimmen verstummten und wurden durch das Klirren von Gläsern und dem Geklapper von Besteck ersetzt. Wenige murmelten während des Essens, bis jeder zu der Ansicht kam, dass man bei dieser Feierlichkeit nicht zwingend ruhig sein musste. Man begann langsam wieder damit, ein wenig zu plaudern. Selbst Petunia unterhielt sich mit Mrs. Figg und Mr. Granger, nachdem drei Sherry ihre Zunge gelockert hatten. Lucius hingegen sprach höchstens mit seiner Frau und seinem Sohn, doch die meisten Worte sprach er zu Charles.

„Hier, mein Kleiner“, Lucius hielt seinem Enkel einen Löffel mit einem kleinen Stück vom Hirschbraten vor den Mund. „Hier kommt der Besen geflogen.“ Charles öffnete seinen Mund ganz weit. Während der Junge kaute, nahm sich Lucius selbst etwas vom Teller. Auf diese Weise musste er sich nicht an den Gesprächen beteiligen, die am Tisch geführt wurden. Gleich ihm gegenüber saßen die Weasleys. Unter den Brüdern schien Unruhe zu herrschen, doch er konnte die Worte nicht genau vernehmen.

„Ich sagte“, zischte George durch zusammengebissene Zähne, „dass ich meine Ruhe haben möchte.“
„Sieh sie dir wenigstens an!“, drängte Bill und deutete mit einem Kopfnicken zu dem Tisch, an dem die Krums saßen.
George wagte einen Blick. Die Dame war hübsch, schätzungsweise nur wenige Jahre älter als er. Neben ihr saß ein Herr mit schwarzen Haaren. George drehte sich zu seinem Bruder um und erklärte vorwurfsvoll: „Sie ist in Begleitung. Wenn du schon Vorschläge machst, dann achte bitte auf sowas.“
„Hey“, kam es plötzlich von Gegenüber. Sirius schaute Bill strafend an. „Lasst die Finger von ihr. Ich habe mir einiges einfallen lassen müssen, um die beiden …“ Erschrocken biss sich Sirius auf die Zunge, doch die Anspielung genügte bereits.
„Du hast die beiden verkuppelt?“ Niemand hätte ihm das zugetraut.
„Ich habe sie lediglich näher miteinander bekanntgemacht, das war alles“, redete sich Sirius heraus. Wenig ernst zu nehmend drohte er noch: „Wehe, ihr interveniert, dann gibt’s was auf die Finger.“

Sein dampfendes, wohl riechendes Essen hatte Harry noch nicht angerührt. Er lehnte sich erst einmal gemütlich zurück und atmete durch. Die Gespräche am Tisch konnte er verfolgen, wenn sie in normaler Lautstärke geführt wurden. Nicht schlau wurde er aus der kurzen Flüsterei, die Lucius und seine Frau austauschten. Narzissa schien über etwas missgestimmt zu sein, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. Remus und Tonks hielten sich oft an den Händen und tuschelten sich Liebeleien zu. Wie schön wäre es, dachte Harry, wenn die beiden auch endlich heiraten könnten. Manchmal hatte er das Gefühl, sie warteten nur auf einen Startschuss – auf das neue Gesetz. Dann würde man nur noch eine Staubwolke sehen, weil sie wie der Blitz zum Ministerium eilen würden. Zwischen Tonks und Anne stand Nicholas, der von beiden einen Happen zu essen bekam. Sirius rückte ein wenig vom Tisch ab und nahm den Jungen auf seinen Schoß.

„Gib ihm ruhig was zu essen“, erlaubte Harry. „Ihr könnt ihn auch gern reihum reichen, aber Severus lassen wir besser aus. Er hatte ihn heute schon lange genug.“
„Ach“, Severus schüttelte kurz den Kopf, „ich empfand ihn nicht als störend.“ Einige am Tisch sahen aus, als wollten sie ihm an die Stirn fassen, um sich davon zu überzeugen, dass er im Fiebertraum sprach. „Wirklich, er fiel mir nicht zur Last“, beteuerte er. „Andere Kinder haben mir in meinem Leben viel mehr zu schaffen gemacht. Es gab Nervensägen, Besserwisser und tollkühne Draufgänger.“ Ein demonstrativer Blick folgte, der ganz allein Harry gewidmet war, der daraufhin eine unschuldige Miene aufsetzte und so tat, als könnte er gar nicht gemeint sein. Draco lachte, so dass Severus sich angespornt fühlte, auch ihn mit einzubeziehen. „Du, Draco, warst auch kein Engel.“
„Wie bitte?“ Er tat erbost. „Ich habe mich immer vorbildlich verhalten.“
Severus schnaufte belustigt. „Und warum hast du von Professor McGonagall Punkteabzug und Strafarbeit erhalten?“
Hier mischte sich ein verdutzter Lucius ein. „Das hast du mir nie erzählt. Ist das wahr?“
Draco biss sich auf die Lippe. „Vielleicht ein bisschen.“
Strafend schnalzte Lucius mit der Zunge. „Meine Güte, dabei dachte ich, ich hätte mich klar und deutlich ausgedrückt als ich sagte, man dürfte sich bei seinen Schandtaten nie erwischen lassen.“
Charlie klang enthusiastisch, als er fragte: „Werden jetzt alte Jugendsünden ausgegraben?“
„Bloß nicht“, kam es ausgerechnet von Susan.
Fragend schaute Draco sie an, doch weil sie nichts sagte, musste er ihr auf die Sprünge helfen. „Was kannst du denn schon auf dem Kerbholz haben?“
„Ach, nichts“, winkte sie ab.
Nach drei Gläsern Wein war Ron danach, ehemalige Mitschüler auf humorvolle Weise bloßzustellen. „Also, Hermine hat damals …“
„Ron!“ Mit zusammengekniffenen Augen wies sie ihn in seine Schranken. „Dass ich Severus‘ privaten Vorratsschrank geplündert habe, habe ich ihm längst gebeichtet.“
„Echt? Und Sie haben sie dafür nicht übers Knie gelegt?“ Eine Antwort wartete Ron nicht ab. „Ich meinte eigentlich was ganz anderes. Damals, in der zweiten Klasse“, sie ahnte Böses, aber hörte weiterhin zu, „da hat sie so sehr von Lockhart geschwärmt …“
„Ron!“
„Sie hat ihr ganzes Heftchen voll gemalt mit seinem Namen – in Schnörkelschrift! Und beim Vornamen hat sie über dem i…“
„Ron!“, mahnte sie erneut, verkniff sich dabei das Lachen. „Du bist kurz davor, eine Essenschlacht zu provozieren.“ Demonstrativ nahm sie ein paar Erbsen auf ihren Löffel und tat so, als würde sie ihn anvisieren, was Ron wiederum zum Lachen brachte.
„Sie hat über dem i immer ein Herzchen gemalt!“
Peinlich berührt bedeckte Hermine mit einer Hand ihre Augen, während fast der ganze Tisch prustete. Etwas zur eigenen Verteidigung fiel ihr nicht ein, so griff sie zur einzigen Möglichkeit, die ihr noch blieb – sie zog weitere Personen mit hinein, um die eigene Schmach zu mindern. Mit ausgestrecktem Zeigefinger deutete sie auf eine bestimmte Frau am Tisch. „Susan war da nicht besser als ich. Wir saßen in Verteidigung oft nebeneinander und ich hatte einen guten Blick auf die Dinge, die sie in ihr Heft gemalt hat.“
Vorgetäuscht schockiert blickte Draco seine Frau an, die sich zu rechtfertigen versuchte. „Das war nur eine kindische Schwärmerei.“
Draco zog eine Augenbraue in die Höhe. Seine Stimme war voller Unverständnis. „Gilderoy Lockhart? Bei Merlin“, vorwurfsvoll schüttelte er den Kopf, „ich kenne dich nicht mehr.“

Das Thema war schnell wieder vergessen, denn andere Jugendsünden wurden ausgegraben und nicht nur die der jüngeren Anwesenden. Hermine verfolgte die Anekdoten und war erleichtert, dass keine Einzige – auch nicht die, die Sirius von sich gab – Severus beinhalteten. Das hätte ihn sonst sehr wahrscheinlich in Raserei gebracht. Oder er wäre in die Vergangenheit abgetaucht. Erleichtert beobachtete sie, wie Severus hier und da schmunzeln musste, als auch Narzissa und Andromeda ein paar von ihren Missetaten preisgaben. Lucius hingegen hielt sich bedeckt.

Am Tisch von Petunia wurde ihr kaum Beachtung geschenkt, denn die DA-Mitglieder und einige andere, ehemalige Schulfreunde waren zu sehr von der Tatsache abgelenkt, dass nicht nur Blaise und Pansy ein Paar waren und eine gemeinsame Tochter hatten, sondern dass Gregory Goyle bei ihnen war. Der Sohn eines Todessers. Dracos damalige Bulldogge. Heute war er nur noch ein vernarbter Strich in der Landschaft, den es offensichtlich nicht störte, den Tisch mit einem Haufen Gryffindors zu teilen. Gespräche kamen nur schwer ins Rollen. Kaum einer wagte es, ihn direkt auf sein Schicksal anzusprechen, aber jeder starrte ihn an. Wenn Gregory aufblickte, schauten sie weg.

Parvati sprang über ihren Schatten. Da sie neben ihm saß, fragte sei freiheraus: „Warum musst du mit Krücken gehen?“ Besagte Krücken standen dank eines Zaubers gerade wie eine eins hinter seinem Stuhl.
Im ersten Moment war Gregory erstaunt, dass man mit ihm sprach. Beinahe hätte er sich damit abgefunden, von allen ignoriert zu werden. „Ich musste lange im Krankenhaus liegen. Meine Muskeln sind verkümmert.“
„Oh“, machte sie mitleidig. „Wirst du sie immer benutzen müssen?“
„Nein, ich werde noch behandelt. Irgendwann werde ich sie nicht mehr brauchen.“
Das Eis war gebrochen. Seamus fragte weniger dezent: „Was ist denn mit dir passiert, dass du ins Krankenhaus gekommen bist.“
Gregorys Hand zitterte. Auf ihr trug er alte Wunden, die aussahen, als hätte man ihm Löcher durch die Hand gebohrt. Betroffen blickte er auf die Suppe, die er mit dem Löffel rührte. „Das ist jetzt kein angemessenes Gesprächsthema.“
„Was ist mit deinen Eltern?“, platzte es versehentlich aus Seamus heraus.
Die Frage traf Gregory tief, was man an seinem bekümmerten Gesichtsausdruck ausmachen konnte. Dennoch beantwortete er die Frage. „Mein Vater verstarb kürzlich in Askaban, wie fast jeder“, ein kurzes Zögern, „Todesser.“ Ein Seufzer. „Den Stab meiner Mutter hat mir ein Auror überreicht. Man sagte, sie wäre mit großer Wahrscheinlichkeit einem fanatischen Muggel zum Opfer gefallen.“

Jeder war erstaunt, dass Gregory sich anständig artikulieren konnte, anstatt wie früher nur dumm aus der Wäsche zu schauen, während sein Hirn über ein paar einfache Worte nachdachte, die als Antwort genügen sollten.

„Ein fanatischer Muggel?“, wiederholte Seamus mit ernster Miene. „Mit so einem hatten wir neulich erst zu tun. Er war ein“, jetzt dämmerte es ihm, „Hexenjäger.“ Das letzte Wort hatte er geflüstert. Jedem brannte die Frage auf der Zunge, ob Gregory diesem Mann in die Hände gefallen war.
„Ich denke, wir meinen denselben“, brachte Gregory heraus, bevor er ein Stück Brot nahm und daran knabberte, um nicht weiter reden zu müssen.

Wegen des großen Tisches konnte Dean nicht verstehen, was Gregory von sich gab. Er unterhielt sich lieber mit einem alten Bekannten, der direkt neben ihm saß.

„Dann erzähl mal, Wobbel: Wie ergeht es dir so bei Harry?“ Scherzhaft fügte er mit mitleidiger Stimme hinzu: „Hast du noch immer so unangenehm wenig Arbeit?“
„In gewisser Weise schon, Sir. Mr. Potter hat mir jedoch freie Hand gegeben. Ich darf selbständig arbeiten und muss nicht für jede Aufgabe sein Einverständnis einholen.“
Dean grinste. „Dann hat mein Beschwerdeschreiben mit dem offiziellen Stempel vom Amt für die Neuzuteilung von Hauselfen offenbar geholfen.“
„Das war nicht notwendig gewesen“, winkte Wobbel ab. „Zum Glück hat Mr. Potter sich nicht gekränkt gefühlt.“
„Um Harry zu verärgern, braucht es etwas mehr, als eine nicht ernst gemeinte Beschwerde von einem alten Freund, der seine Dienststempel zweckentfremdet.“
„Jetzt, wo der Kleine etwas aktiver ist“, Wobbel schaute sich um und sah Nicholas, wie der um die Tische ging und von jedem, den er anstrahlte, den Kopf getätschelt bekam, „macht die Arbeit noch mehr Spaß.“
„Du warst ein echtes Sorgenkind, Wobbel. Ich bin froh, dass du dich endlich wohl fühlst.“ Zu oft war der Elf wegen ungebührlichen Benehmens zurückgegeben worden. „Und wenn ich dich so ansehe“, Dean ließ seinen Blick über Wobbel schweifen, „dann muss ich feststellen, dass dein Anzug kostspieliger ist als meiner.“
„Der hier?“ Wobbel rückte seine Fliege gerade. „Das ist nur Arbeitskleidung, Sir. Sie wissen doch, dass ich Mr. Potter repräsentiere und nicht in Lumpen daherkommen soll.“
„Ich habe gut Lust, mich bei Harry zu bewerben, wenn ich dann auch solche Kleidung gestellt bekomme.“
Wobbel schüttelte den Kopf. „Es geht doch gar nicht um die Kleidung, Mr. Thomas. Sie, Sir, waren mein erster Freund unter den Menschen. In Mr. Potter habe ich einen weiteren gefunden. Ich“, Wobbel wirkte plötzlich verlegen, „bin auch davon überzeugt, dass es keinen Ärger gibt, wenn ich ihm von der bevorstehenden Veränderung erzähle.“
Dean wurde neugierig. „Was denn für eine Veränderung.“
„Meine Frau …“ Wobbel legte eine Hand auf die von Shibby, die schüchtern neben ihm saß und noch gar nicht glauben konnte, als Gast auf der Hochzeit ihres Herrn eingeladen worden zu sein. „Sie ist in anderen Umständen.“

Am Tisch der Lehrer von Hogwarts, gleich gegenüber von Neville und seine Eltern, fanden sich Pomona Sprout mit ihrer Ziehtochter Meredith und deren Freund Gordian. Sein Tischnachbar war Filius Flitwick, der kleinwüchsige Lehrer für Zauberkunst, der das Gespräch mit dem jungen Mann suchte.

„Mr. Foster, Sie werden die Schule ja nun vier Tagen verlassen. Haben Sie sich beruflich bereits orientiert?“, fragte Filius mit hoher Piepsstimme.
„Ja, Sir, das habe ich. In etwa jedenfalls.“
„Und in welche Richtung geht Ihr Berufswunsch? Ich frage, weil Sie nicht nur in meiner Klasse ausgesprochen beeindruckende Fähigkeiten bewiesen haben.“
Aufgrund des Kompliments lächelte Gordian. „Ich möchte auf jeden Fall meinen Meister machen, ich bin mir nur noch nicht über das Fach klar.“
Filius nickte nachdenklich. „Für was immer Sie sich auch entscheiden, Mr. Foster, wählen Sie den besten Lehrmeister und sparen Sie nicht an der eigenen Ausbildung. Ich weiß, vielen Schulabgängern wird die Wahl einer Stelle durch die teuren Vertragsformen vermiest. Heutzutage muss man nicht selten als Auszubildender draufzahlen. Finden Sie einen Weg, um die Ausbildung, die Ihnen vorschwebt, zu finanzieren. Es wäre auch keine schlechte Idee, einen der Lehrer um eine Referenz zu bitten.“
Auch hier musste Gordian lächeln. „Das, Sir, habe ich schon getan.“
Erstaunt riss der kleine Mann die Augen auf. „Tatsächlich? Das ist wunderbar. Wer hat Ihnen eine gegeben? Professor Sprout? Professor McGonagall?“ In beiden Fächern hatte Gordian ebenfalls ein Ohnegleichen.
„Nein, Professor Snape war so freundlich“, offenbarte Gordian.
„Das haut ja den stärksten Flieger vom Besen“, scherzte Filius überrascht. „Ich habe noch nie gehört, dass Professor Snape Referenzen ausstellt.“ Er hob und senkte die Schultern. „Aber vielleicht ist er zuvor auch nie gefragt worden?“
„Das ist gut möglich“, erwiderte Gordian. „Er schien sehr überrascht, als ich an ihn herangetreten bin.“
Filius kam ins Grübeln. „Ist Ihnen eigentlich bewusst, Mr. Foster, dass Sie trotz Ihres jungen Alters in die siebte Klasse gesteckt wurden, weil Professor Snape es bei einer Lehrerversammlung vorgeschlagen hat?“
Diese Erleuchtung kam überraschend. „Nein, Sir. Das wusste ich nicht.“
„Dann behalten Sie diese Information vielleicht im Hinterkopf, wenn Sie Bewerbungen schreiben“, riet Filius, der dem jungen Mann einmal zuzwinkerte, bevor er sich seinem Essen widmete.

Unauffällig schaute sich Gordian im Saal um, bis er seinen Lehrer für Zaubertränke und dessen Partnerin fand, die sich gerade gegenseitig etwas ins Ohr flüsterten.

„Die Weasley-Zwillingen haben etwas vor“, sagte Severus so leise, dass nur Hermine es wahrnehmen konnte.
Sie blickte zu den beiden hinüber, die ebenfalls die Köpfe zusammengesteckt hatten und tuschelten. „Die beiden haben immer was vor, Severus.“
„Nein, ich denke, die haben wirklich etwas für heute geplant.“

Zeitgleich blickten Hermine und Severus zu Fred und George hinüber und betrachteten sie einen Augenblick skeptisch. Als die zwei bemerkten, dass sie beobachtet wurden, grinsten sie breit und legte in unschuldiger Geste die Hände zusammen.

„Du hast Recht“, bestätigte Hermine, „da ist etwas im Busch. Hätte mich aber auch verwundert, wenn Sie sich keinen Streich für heute ausgedacht hätten.“ Den leeren Teller schob Hermine gerade von sich, da stand schon einer der Kellner hinter ihr, der nach der verneinten Frage, ob sie etwas nachhaben wollte, das Geschirr abräumte. „Ach“, rief sie den Herrn zurück, „ich habe in der Karte etwas von Karamellpudding gelesen.“
Sofort bekam Hermine ein Schälchen mit lecker duftendem Pudding. Der Kellner richtete das Wort an Severus. „Darf es bei dem Herrn auch ein Nachtisch sein?“
„Nein, danke.“
„Nimm ruhig etwas, Severus. Es schmeckt bestimmt alles fantastisch“, wollte Hermine ihn animieren.
Er hielt dagegen. „Es ist nichts nach meinem Geschmack auf der Karte.“
Der Kellner ließ nicht locker. „Die Küche des Schlosshotels hat noch anderes zu bieten.“
„Irgendwas mit Nougat?“, fragte Severus hoffnungsvoll.
„Ein Stück Nougattorte. Kann ich sehr empfehlen. Zählt zu meinen persönlichen Favoriten.“
Severus nickte. „Ein Stück.“
„Kommt sofort.“

In Harrys Ecke war man gerade beim Thema stablose Zauber angelangt. Arthur war aufgefallen, dass viele Kellner einfache Zaubersprüche unauffällig nur mit der Hand erledigten, wie das Abräumen von Geschirr oder das Einschenken von Getränken – nicht jeder Kellner konnte das, aber einige.

„Ich habe mich auch an stablosen Zaubern versucht. Ich kann sogar schon eine Serviette zum Einsturz bringen“, versicherte Harry mit heftigem Kopfnicken und Lausbubenlächeln.
Severus hatte es gehört und lächelte einseitig, bevor er einwarf: „Na, da gratuliere ich doch herzlichst.“
Von der Information waren besonders Fred und George sehr angetan. „Du kannst stablos zaubern?“
„Noch nicht besonders gut.“ Harry kratzte sich am Kinn. „Ich lerne noch.“ Die Zwillinge blickten voller Respekt zu Severus hinüber, so dass Harry klarstellte: „Nicht von Severus.“ Er selbst schaute zum Tränkemeister hinüber. Die Frage, die sich in seinem Kopf formte, stellte Harry unverzüglich: „Kannst du stablos zaubern?“
Severus wankte unentschlossen mit dem Kopf hin und her. „Es gibt einige Zaubersprüche, die mir im wahrsten Sinne des Wortes leicht von der Hand gehen. Ohne Stab kann ich die Seiten eines Buches umblättern oder kleine Dinge per Accio aufrufen, aber bei komplizierten Sprüchen muss ich passen.“
Fred wollte mehr erfahren und richtete das Wort an Harry. „Von wem lernst du das? Dumbledore?“
„Nein, von meinem Elf.“ Harry grinste. „Er ist ein sehr strenger Lehrer, aber er ermutigt mich auch.“

Es leuchtete jedem ein, dass ein Elf, vielleicht sogar ein Kobold, der beste Lehrer für stablose Magie war, wo sie selbst doch keine Zauberstäbe benutzen durften.

Das Mittagessen war bald vorüber, aber das Unterhaltungsprogramm sollte bald beginnen. Die Gäste konnten entweder im Raum sitzen bleiben oder sich die Beine vertreten, mit den Kindern zur Spiel-Zone gehen oder sich die Zeit anderweitig vertreiben, bis Molly den ersten Programmpunkt starten wollte. Viele nutzten die Zeit, um dem Brautpaar ihre Glückwünsche persönlich auszusprechen und Geschenke zu überreichen.

Mit einem Auge hatte Harry immer seine Tante im Visier. Sie blieb mit Mrs. Figg am Tisch sitzen und schien unschlüssig. Manchmal schaute sie zu ihm hinüber, dann wieder sprach sie mit Mrs. Figg. Über irgendetwas waren sich die beiden Frauen uneins. Einmal trafen sich die Blicke von Harry und Petunia. Einen Moment später stand sie auf und hielt sich ihre große Handtasche wie einen Schutzschild vor den Oberkörper. Jetzt war der Moment gekommen, dachte Harry. Der Moment, in dem er mit ihr reden müsste. Er hatte sich getäuscht. Seine Tante ging erst zu einem Tisch hinüber, an dem die Gäste ihre Geschenke abgelegt hatten. Es war ein weißer Umschlag, den sie dort niederlegte, bevor sie den Ausgang ansteuerte.

Harry brach die Unterredung mit Slughorn ab. „Entschuldigen Sie mich bitte kurz, Sir.“ Im Nu war er bei Mrs. Figg, die nun allein am Tisch saß. Sie stand gerade auf, als er bei ihr ankam. „Mrs. Figg.“
„Oh, Harry. Meinen Glückwunsch zur Hochzeit.“
„Vielen Dank.“ Weil Mrs. Figg ihre leichte Jacke überzog, wurde er skeptisch. „Wollen Sie schon gehen?“
„Ich glaube ich muss.“ Sie schaute zur Tür hinüber, die Petunia gerade durchschritt. „Sie möchte gehen.“

Ohne ein Wort wollte sie sich aus dem Staub machen und das, obwohl Harry sich die ganze Zeit während des Mittagessens Worte zurechtgelegt hatte, die bei einer Unterhaltung mit ihr angemessen wären. Wenn sie schon hier war, wollte er sie auch sprechen. Am meisten interessierte ihn, warum sie überhaupt gekommen war.

„Bleiben Sie noch einen Augenblick, Mrs. Figg. Ich werde zu ihr gehen.“
„Ich weiß nicht, ob das …“
„Ich werde ihr nur guten Tag sagen.“

Zuerst ging Harry zu dem Gabentisch hinüber und nahm den Umschlag, den seine Tante dort hinterlassen hatte. In ihm befand sich ein Geschenkgutschein von Tiffany’s. Der Betrag war mit 200 Pfund angegeben. Mit dem Umschlag in der Hand ging er vor die Tür. Es tat ihm leid, viele der Gäste abwimmeln zu müssen, als sie ihn aufhalten wollten. Petunia sollte nicht entkommen.

Draußen hatten sich einige der Geladenen zu einem Schwätzchen in der Sonne zusammengefunden. Auch im weißen Pavillon bei den Bäumen saßen ein paar Leute. Petunia stand unten, ein wenig abseits von den Stufen, die ins Schloss führten. Sie blickte in die Ferne und wartete offensichtlich auf Mrs. Figg.

Harrys Schritte waren auf dem Kies nicht zu überhören. In der Hoffnung, es würde ihre Begleitung kommen, drehte sich Petunia um. „Na endl…“ Die Worte erstarben in ihrer Kehle, als sie Harry erkannte. Mehr als zwei Meter wagte er sich nicht an sie heran. Der Schreck stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sie konnte sich nicht rühren, auch wenn der Fluchtinstinkt groß war. Mit ihm hatte sie nicht gerechnet. Vorsichtig wurde er von ihr gemustert – nicht zu aufdringlich, um den Geist aus der Vergangenheit nicht heraufzubeschwören.

Wie er es Mrs. Figg gegenüber erwähnt hatte, sagte Harry zu seiner Tante: „Guten Tag.“
Petunia atmete heftig. „Guten Tag“, echote es leise von ihr zurück. Mit den Worten, die er genutzt hatte, konnte sie keinen Fehler begehen. Die Sonne schien ihr direkt ins Gesicht und blendete sie. Wie ein Verhör sollte sie das Gespräch nicht im Gedächtnis behalten, dachte er. So entschloss sich Harry dazu, seine Position zu verändern und sich neben sie zu stellen, damit die Sonne von der Seite schien.
Er hob den weißen Umschlag. „Danke für das Geschenk.“
Seine Tante zitterte wie die Baumwipfel rundherum, die von kleinen, dunklen Schatten bewegt wurden. „Gern geschehen.“ Sie war auf der Hut, wollte kein falsches Wort von sich geben.
„Du möchtest jetzt schon gehen? Der Tag fängt doch erst an.“

Nervös blinzelte Petunia einige Male. Vielleicht war es der Sherry, oder aber ihr neu aufflammender Fluchtinstinkt, denn sie wankte kurz. Ihr Gesicht war so weiß wie eines der Laken, die sie perfekt stärken konnte. Mit ihrer Furcht passte sie nicht ins Gesamtbild. Überall waren die Menschen gelassen, unterhielten sich und lachten. Die Sonnenstrahlen schmeichelten dem uralten Schloss und ließen über bauliche Mängel hinwegsehen. Der Rasen war gepflegter als die in den Vorgärten in Little Whinging. Sie mochte solche romantischen Gegenden, das wusste Harry, doch sie war die Einzige, die einen dunklen Schatten sehen wollte, wo keiner war.

„Es hat mich überrascht, dass du gekommen bist“, versuchte es Harry erneut mit etwas Konversation.
„Ich“, sie schluckte, „war überrascht, dass du uns eingeladen hast.“ Die vorgetäuschte Gleichgültigkeit in ihrer Stimme konnte er nicht ernst nehmen, denn Harry konnte sehen, wie bewegt sie war.
„Wie geht es Onkel Vernon und Dudley?“ Es interessierte ihn nicht im Geringsten, aber höflichkeitshalber fragte man solche Dinge.
„Gut, sehr gut.“ Zögerlich begann sie zu berichten. „Grunnings konnte gut expandieren.“ Die Firma, in der Vernon Direktor war. „Und Dudley hat sich in seiner Gewichtsklasse im Nu hochgeboxt.“
‚Kein Wunder‘, dachte Harry, ‚er hat bereits in der Schule damit angefangen, andere zu verprügeln.‘
Sie blickte ihm nur kurz in die Augen, bis sie eine Veränderung registrierte. „Deine Narbe …“ Petunia biss sich auf die Zunge. Mit solchen Äußerungen könnte sie ihrer Meinung nach ein böses Ende nehmen.
Aus einem Reflex heraus strich sich Harry über die Stelle, an der einst die Narbe zu fühlen war. „Sie ist verschwunden, als ich das letzte bisschen Magie von dem Mann vernichtet habe, der sie mir zugefügt hat.“

Petunia nickte. Sie wusste, von wem die Rede war. Es folgte betretenes Schweigen. Harry hatte seine Tante noch nie so verlegen erlebt, so verängstigt. Glaubte sie wirklich, er würde sie vor allen anderen Gästen niedermachen oder ihr gar etwas antun?

„Dudley hat mir gesagt“, begann sie vorsichtig, „dass er dir regelmäßig schreibt.“
Harry schnaufte. „Ja, das tut er. Hat er dir auch gesagt, was er mir Nettes schreibt?“ Ihr Zittern wurde wieder stärker. Angespannt schüttelte sie den Kopf. Ihm war nicht danach, sie für die bösen Worte und ärgerlichen Geschenke, von denen sie offensichtlich nicht einmal etwas wusste, zur Rechenschaft zu ziehen. Harry atmete einmal tief durch, um die ganzen Gemeinheiten des Cousins hinunterzuschlucken. „Richte ihm doch bitte von mir aus, wenn er nichts Nettes zu sagen hat, dann soll er es gleich ganz lassen.“ Petunia schien zu ahnen, was ihr Sohnemann getan haben könnte. Viele Ideen der damaligen Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke stammten von ihm, wie das Taschentuch und die auf ein Stück Papier geklebte Münze.
Mit einem Male begann Petunia, in ihrer großen Handtasche zu wühlen. „Ich habe noch etwas für dich.“

Jetzt war Harry wirklich gespannt. Solche Dinge vergaß seine Tante nicht, was bedeutete, sie wäre gegangen, ohne ihm noch etwas zu geben. Es war eine dunkelgraue Mappe, die sie aus der Tasche zog. Sie hielt sie ihm entgegen. Nur widerwillig nahm er sie. Er hatte keine Idee, was er in dieser dicken Mappe finden würde. Vielleicht eine Rechnung für sechszehn Jahre Kost und Logis? Sie hatten ihn immer spüren lassen, dass er ihnen nur auf der Tasche lag. Mit Zeigefinger und Daumen öffnete er die Schleife, die die Mappe zusammenhielt und klappte den Deckel auf. Mit dem, was er jetzt betrachtete, hatte er nie im Leben nicht gerechnet. Ein Clown grinste ihn an. Ein Clown, den er als Kind selbst gezeichnet hatte. Große, rote Lippen, skurrile Gesichtsbemalung und grüne, krause Haare. Es war der Clown, den Vernon damals für eine Geburtstagsfeier von Dudley engagiert hatte. Vom Fenster aus hatte Harry ihn zum Glück gut sehen und malen können, denn hinunter durfte er nicht. Das Bild glaubte er verloren. Neugierig blätterte Harry weiter. Ein bunter Fisch, mit einer großen „1“ am unteren Rand, die ihm die Grundschullehrerin für die farbenfrohen Schuppen gegeben hatte. Jede einzelne Schuppe hatte eine andere Farbe bekommen. Da war auch der schwarze Strich am Maul, der entstanden war, als Dudley ihn aus einer Laune heraus getreten hatte. Kaschieren konnte Harry den Ausrutscher mit ein paar Luftblasen, die aus dem offenen Maul des Fisches emporstiegen.

„Mann“, Harry verspürte ein Ziehen am Herzen, „ich habe gedacht, die habt ihr alle weggeworfen.“ Er blätterte weiter und bemerkte etwas Geschriebenes auf der Rückseite seines meeresbiologischen Kunstwerkes. Er drehte es um, um es lesen zu können. Dort stand Dudley Dursley. Eine Lüge! Er hatte das Bild gemalt, Harry Potter! „Warum …?“
„Ich hab es damals meinen Freundinnen gezeigt. Dudley hat immer nur so scheußlich schwarze Bilder gemalt und ich …“ Beschämt schaute sie zu Boden. Harry verstand. Seines war schöner gewesen, also hat sie es für Dudleys ausgegeben. „Es tut mir leid“, flüsterte sie.

Für Harry war nicht klar, ob sie sich nur für dieses Plagiat entschuldigte oder für alles. Er drücke ein Auge zu und blätterte weiter. Das nächste Bild hatte er wirklich vernichtet geglaubt. Noch gut konnte er sich daran erinnern, wie Onkel Vernon sich wegen der kindlichen Darstellung seiner Person aufgeregt und ihm das Bild aus der Hand gerissen hatte. Die Knicke waren noch zu sehen. Das Bild stellte etwas dar, was jedes Kind mindestens einmal im Leben zu Papier brachte. Drei der vier Figuren waren dünn, fast nur Striche. Der vierten Person hatte Harry einen Kreis als Torso gegeben. Es war seine erste, künstlerische Erfahrung in Bezug auf räumliches Denken und Dreidimensionalität. Außerdem traf er somit seinen beleibten Onkel viel besser. Die vier gemalten Personen – Tante Petunia, Harry, Dudley, Onkel Vernon – standen nebeneinander auf einer blühenden Wiese, hielten sich an den Händen und lächelten ihren Betrachter an, als wollten sie aus alten Tagen einen Gruß neu vermitteln. Dieses Bild sah sich Harry sehr genau an, bevor er es umdrehte, damit Petunia es sehen konnte.

„Das hier“, er tippte drauf, „war immer mein größter Traum.“


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