von Muggelchen
Träume konnten irritieren, wenn der Träumer eine angenehme Kindheit in einer intakten Familie vor dem geschlossenen Augenlid sah, die es so nie gegeben hatte. Sie konnten andererseits berühren, sobald man sich am fast vergessenen Grab der Mutter wiederfand und den eigenen Vater beim Weinen betrachtete, als wäre es erst gestern gewesen. Manch ein geträumter Moment sorgte für Belustigung, besonders wenn Lily die Hauptrolle spielte. Gewisse Dinge, die einem das Unterbewusstsein in bunten Bildern darstellte, stimmten zudem nachdenklich, wie die vorgegaukelte, konventionelle Zukunftsversion mit Frau, Haus und Hund. Ein geregeltes, ruhiges Leben war ihm immer fremd gewesen. Vielleicht war gerade das der Grund, warum er sich danach am meisten sehnte – nach Normalität.
In der Nacht, in der Severus den ersten der sieben Heiltränke eingenommen hatte, erlebte er die gesamte Gefühlspalette. Dreimal wachte er auf. Noch im Augenwinkel sah er die seltsamen Traumgebilde, die sich erst verflüchtigten, als er genauer hinschaute. Beruhigend war stets der Anblick von Hermine, die neben ihm im Bett lag und fest schlief. Sie holte ihn mit ihrer bloßen Anwesenheit in die Realität zurück, in das Heute. Jedes Mal lag sie anders da: auf der Seite, auf dem Bauch, zum Schluss auf der anderen Seite. Selbst im Schlaf war sie sehr lebendig. Ein Blick auf die Uhr offenbarte, dass in eineinhalb Stunden Hermines Wecker klingeln würde. Severus rollte sich zur Seite und schloss die Augen. Normalerweise wäre er jetzt schon aufgestanden. Heute aber benötigte er diese Zeit, um sich innerlich auf den Tag vorzubereiten. Der gestrige Abend hatte ihn bereits überwältigt. Lang zurückliegende Momente wurden unerwartet mit Gefühlen begleitet. Severus befürchtete, dass er während der gesamten Zeit, in der er die Tränke einnehmen musste, keine große Hilfe in der Apotheke sein würde. Schon gestern hatte er sich von Erinnerungen einnehmen lassen, hatte sich treiben lassen. Es war unmöglich gewesen, die Gedankengänge zu stoppen. Jeder kleine Moment, jede Situation, die nur flüchtig durch seinen Geist schweben wollte, wurde durch die wachsenden Arme der Seele festgehalten und emotional analysiert. Die meisten der Erinnerungen drehten sich – wie hätte es anders sein sollen – um Lily. Liebe, Eifersucht, Kummer – das waren die Gefühle, die überwogen. Selbst die schönen Erlebnisse mit ihr taten rückblickend weh, zogen doch alle den bitteren Geschmack der Trauer nach sich. Erst mit Hermine an seiner Seite wurden seine Gedanken auf aktuelle Geschehnisse gelenkt, auf die schöne Dinge und Momente, so dass er endlich einschlafen konnte.
Im Bett dösend ergründete er seinen momentanen Gefühlszustand. Noch immer bewegten ihn besonders die unangenehmen Erinnerungen, wenn auch nicht mehr so heftig wie gestern. Trotzdem konnte er nicht leugnen, dass er sich anders fühlte – dass er überhaupt wieder fühlte und zwar ausnahmslos. Dieser Zustand hielt an. Es war nicht wie die goldene Magiekugel, die Harry ihm versehentlich gegen die Brust geschleudert hatte. Die Wirkung des Trankes war beständig und würde nicht verfliegen – ganz im Gegenteil. Mit jedem weiteren Trank würde er intensiver fühlen können, bis er wieder vollkommen war.
Lautlos und mit mehr Elan als er erwartet hatte schwang er sich aus dem Bett und suchte das Badezimmer auf. Zu seinem Erstaunen zeigte das Spiegelbild nicht die Veränderung, die er im Innern spürte, obwohl er sich so sicher gewesen war, dass jeder Mensch aus seinem Gesicht ablesen könnte, dass eine himmlische Wandlung in ihm vorging. Der Bäcker am Ende der Straße, bei dem er manchmal Frühstück besorgte, würde es genauso erkennen können wie Harry. Es war ein ähnliches Gefühl wie jenes, das er damals hatte, wenn er von einem Treffen mit Voldemort zurückgekommen war. Ein Gefühl gleich der Angst, dass jede Person die Schandtaten aus seiner schuldvollen Mimik herauslesen könnte. Severus war anfangs zu der Ansicht gelangt, dass die Menschen ihn einfach zu sehr ignorierten, um ihn überhaupt einmal anzusehen. Sein Gesichtsausdruck hätte ihn verraten, da war er sich anfangs sicher gewesen. Doch es stellte sich heraus, dass es nie daran lag, dass seine Mitmenschen ihm nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt hatten, um völlig blind gegenüber dem Verrat an ihnen zu sein. Das war es nicht gewesen. Es war die Tatsache, dass man einem Menschen bei bestem Willen nicht am Gesicht ablesen konnte, welche grausamen Geheimnisse er im Abgrund seiner Seele verbarg. Niemand sah ihm an, dass er einmal dem Mord an einem Muggel beiwohnen musste. Dabei war er sich sicher, dass jeder es sehen müsste, wo es sich schon angefühlt hatte, als würde sich sein schlechtes Gewissen in sein Gesicht einmeißeln. Furchen, die mit jeder neuen Gräueltat wuchsen und sich vertieften, sich wie ein Relief aus schlimmer Erfahrung und gelebtem Gram in sein Gesicht schnitzten und unweigerlich für jedermann zu sehen sein mussten.
Es war nie etwas zu sehen. Das Gesicht, das er nach außen zeigte, war eine Maske, mit der er die Schuld seiner Seele vertuschte.
Severus starrte in den Badezimmerspiegel und schüttelte den Kopf. 'Geht das wieder los', brummte er missgestimmt. Der junge Muggel, mit dem Bellatrix ihre Spielchen gespielt hatte: Das war einer dieser Gedanken, der ihn nicht loslassen wollte, den er um seiner Seele Willen reflektieren musste. Die Erinnerung an einen Augenblick, der sein Wesen geschwärzt hatte. Severus war wütend, weil er seit gestern ständig die Vergangenheit im Kopf nachspielte, er diesmal jedoch mit ganz neuen Empfindungen kämpfen musste. Manchen Situationen stand er keinesfalls mehr gleichgültig gegenüber, wie dem Schicksal von Neville, dessen Eltern im Mungos zu nichts anderem mehr fähig waren als sich dem Tagesplan der Krankenschwestern unterzuordnen. Wie konnte Neville so ein Leben ertragen? Wie ertrug Augusta Longbottom das Schicksal, ihren geistesabwesenden Sohn mehrmals wöchentlich zu besuchen? Früher hatte ihn nie interessiert, was andere Menschen fühlten, aber jetzt, nach diesem ersten Trank …
Schuld war von allen anderen das Gefühl, mit dem er am besten vertraut war. Das machte es keinesfalls leichter, mit ihr zu leben. Manchmal hatte Severus gehofft, irgendjemand – Minerva, Arthur oder sogar Moody – würde ihn durchschauen, würde alle begangenen Missetaten an seiner steifen Körperhaltung oder seinem verbissenen Gesichtsausdruck ablesen. Doch keiner von ihnen stellte Fragen, keiner verdächtigte ihn. Erst Albus wusste, was wirklich in seinem Innersten vorging. Es war, als würde Albus direkt in ihn hineinsehen und bestens wissen, wie es um ihn stand. Ein einziger Blick vom Direktor schien so kraftvoll wie ein Legilimens. Schon vor dem Ewigen See kannte Albus beide Seite an ihm: die sichtbare und die unsichtbare.
„Verdammt“, hauchte Severus und stützte sich auf dem Becken ab, weil ihm der Gedanke an Bellatrix' Verbrechen auf den Magen schlug. Sein Kopf hing vornüber. Severus nutzte eine seiner Okklumentik-Übungen, um den Geist zu leeren. Er wollte an nichts denken, nicht an die kleinste Kleinigkeit, denn sonst würde das Schuldempfinden ihn womöglich zerreißen.
„Severus?“ Eine weibliche Stimme an der Badezimmertür, gefolgt von einem zaghaften Klopfen. „Bist du da drin?“ Innerlich seufzte er. Sie würde ihn ausquetschen und ihn mit der Frage löchern, wie es ihm heute Morgen ging. Die Türklinke wurde hinuntergedrückt, doch er hatte abgeschlossen. „Severus?“ Hermine klang besorgt. „Severus, bitte ...“ Er wollte nicht mit ihr über seine Gefühle sprechen. Solche Dinge lagen ihm nicht. Er würde sie nicht hereinlassen, egal wie sehr sie darauf pochte. Diesmal klang sie fordernd: „Severus, mach bitte auf, ich muss dringend auf die Toilette!“
In Windeseile war er an der Tür und öffnete sie. „Hermine ...“ Ihre braunen Augen strahlten eine große Vertrautheit aus. Ein neues Empfinden übermannte ihn. In ihrer Nähe fühlte er sich wohl.
„Darf ich …?“ Hermine trat von einem Bein aufs andere.
„Oh, selbstverständlich.“ Galant öffnete er die Tür viel weiter und trat heraus. „Bitteschön.“
In der Zeit, in der Hermine ihrer Morgentoilette nachging, kleidete er sich an und marschierte in die Küche, um das Frühstück vorzubereiten. Eine Aufgabe, die er nicht unbedingt gern tat – er tat es eher aus Gewohnheit. Was mit Lebensmitteln zu tun hatte übernahm er, weil alles, was er zubereitete, ihm schmeckte. Sogar beim Frühstück gab es Dinge, die Hermine in den Sand setzte, selbst wenn es nur Rühreier waren wie die, die er gerade in die Pfanne schlug. Hermine konnte wie auf Kommando Milch überkochen lassen, Toast zu dunkel rösten und sie würzte allgemein viel zu sparsam. Einzig die Kategorie „heiße Getränke“ überließ er freiwillig ihr, denn die Zubereitung von Kaffee und Tee lag ihr besser als ihm. Hermine hatte sich nie darüber beschwert, dass er sie nicht an den Herd ließ. Sie schien sogar froh darüber zu sein, weil sie sich nicht mehr täglich aufs Neue mit Missgeschicken lächerlich machte.
Das Geräusch einer Tür im oberen Stock holte ihn in die Gegenwart zurück. Erschrocken blickte er auf seine rechte Hand, die den Salzstreuer wie wild über den Rühreiern auf und ab schüttelte. Abrupt hielt er mit der Bewegung inne und blickte starr auf das Frühstück in der Pfanne. Wie lange stand er hier schon und würzte das Gericht?
„Mmmh“, hörte er an der Tür. Hermine schnupperte wie ein Hund und hatte sofort die Witterung aufgenommen. Langsam näherte sich dem Herd. „Ich hab Hunger. Was gibt es denn?“ Ein Blick über seine Schulter. Buschige Haare an seiner Wange. „Eier!“, stellte sie erfreut fest. Sie fand eine Gabel, um von dem Rührei zu kosten.
„Hermine, nicht ...“
Die Warnung kam zu spät. Hermine hatte den Happen längst im Mund und kaute. Sie verzog das Gesicht, hielt eine Hand vor den Mund und suchte derweil nach dem Abfalleimer. Wenige Sekunden später spuckte sie das Ei aus, nur um gleich darauf Severus mit lebendigem Glitzern und verschmitztem Lächeln anzusehen. „Vielleicht eine klitzekleine Prise zu viel Salz“, scherzte sie, zeigte dabei mit Daumen und Zeigefinger einen kleinen Abstand. „Oder ist das Ei gepökelt?“
„Ich war wohl in Gedanken“, murmelte er verlegen, nahm dabei die Pfanne und leerte sie über dem Mülleimer.
„Weißt du, was man in der Muggelwelt sagt, wenn etwas versalzen ist?“
„Zum Glück handelte es sich lediglich um Rührei und nicht um Suppe.“ Die Pfanne stellte er in den Abwasch. „Möchtest du noch Ei? Ansonsten gibt es Toast.“
Hermine verneinte und öffnete stattdessen den Vorratsschrank. „Severus? Dein Käse hier“, sie deutete auf ein besonders kräftig riechendes Objekt, „ist von ganz allein ein Stockwerk tiefer gekrochen. Darf ich ihn wegwerfen?“
Sofort war er bei ihr und musterte den Verdächtigen. „Nein, der ist jetzt richtig durch!“
Als er den Teller mit dem verformten Käse herausnahm und auf den Tisch stellte, fragte sie schockiert: „Du willst den doch nicht etwa essen?“
„Was soll ich denn sonst mit ihm anstellen? Tief schürfende Gespräche über die Kunst der Käserei fallen wohl aus.“ Severus stellte Toast, Butter und Marmelade auf den Tisch, während er ihrer Stimme lauschte.
„Das ist eklig!“, sagte sie belustigt.
„Nein, da irrst du.“ Er deutete auf den Käseleib, der schon über den Tellerrand hinweggekrochen war. „Der ist jetzt reif und wird wunderbar schmecken. Sollte ich eines Tages Casu Marzu essen, dann darfst du den Käse – von mir aus auch mich – als eklig bezeichnen.“
Hermines Stirn schlug Falten. „Was bitteschön ist ...?“
„Das möchtest du nicht wissen, Hermine“, versicherte er ihr mit einem sanften Kopfschütteln, bevor er einseitig lächelte.
Das Frühstück verlief zu Severus' Erleichterung sehr entspannend. Sie unterhielten sich über alles und nichts. Ein direktes Gespräch über ihn und seinen Gefühlszustand wurde vermieden.
„Ich hab mir was überlegt, Severus.“ Gespannt blickte er von seinem Kaffee auf. Ihre Lippen stellten ein sanftes Lächeln zur Schau, das die ganze Zeit über nicht schwinden wollte. „Wir müssten über Umwege Sirius dazu kriegen, eine bestimmte Sache in den neuen Gesetzestexten unterzubringen. Ich bin der Meinung, das Verbot, mit Blut zu experimentieren, sollte für gewisse Forschungszwecke aufgehoben werden.“
„Was genau meinst du?“
Hermine griff hinüber zum Toast. „Es ist doch ungerecht, für Vampire nicht nach einer annehmbaren Lösung für ihr Problem suchen zu dürfen. Werwölfe haben ihren Wolfsbanntrank. Vampire sollten die gleiche Chance bekommen. Natürlich darf man nicht wahllos mit Blut hantieren, dafür ist es einfach zu kraftvoll. Der Hauptbestandteil der Nahrung von Vampiren ist aber nun einmal Blut. Man kann es gar nicht vermeiden, damit zu forschen, wenn man ein Heilmittel finden möchte, nicht wahr?“
„Und wieso soll gerade Black dabei helfen?“
„Na, er kümmert sich doch um die Gesetzesänderungen. Das Augenmerk liegt dabei auf der Diskriminierung von Halb- und Mischwesen, die er im Gesetz beseitigen möchte. In meinen Augen werden Vampire diskriminiert, wenn man mit alten Verboten verhindert, dass ihr Durst eines Tages mit Sicherheit“, sie nickte zu Severus hinüber, „durch die Forschungsergebnisse eines viel versprechenden Zaubertränkemeisters“, sie zwinkerte ihm zu, „unterdrückt oder gar gestillt werden kann. Es reicht, wenn die Gesetze diesbezüglich etwas gelockert werden.“
„Ah, ich verstehe. Sobald es legal ist, Forschung mit Blut zu betreiben, gehe ich mit dem Trank an die Öffentlichkeit.“
„So dachte ich es mir. Auf diese Weise kann dir auch keiner zuvorkommen, es sei denn, andere haben auch seit Jahren illegal experimentiert.“
Unterhaltungen mit ihr bereiteten ihm Freude – Freude, die er endlich auch spüren konnte. Ihre Überlegungen waren seinen eigenen Gedankengängen sehr ähnlich. Sie machte kluge Vorschläge, überdachte all ihre Worte. Hermine interessierte sich für seine Projekte.
Tagsüber blieb Hermine in der Apotheke, während Severus den Weg nach Hogwarts antrat. Den Unterricht ging er gelassen an. Die Schüler durften einen Aufsatz über ein Thema ihrer Wahl schreiben, mindestens dreißig Zentimeter Pergament verlangte er. Die Kinder verhielten sich ruhig und arbeiteten. Nur zwei der Jungen alberten still miteinander herum, was Severus aus den Augenwinkeln bemerkte. Er schritt nicht ein, sondern beschäftigte sich zur Tarnung mit seinen Unterlagen, während er wieder einmal seine Gedanken schweifen ließ. Aufhalten konnte er das unangemeldete Abdriften in die Vergangenheit sowieso nicht, also kämpfte er erst gar nicht dagegen an. Als er hier saß und seinen unkonzentrierten Blick über die ruhige Klasse schweifen ließ, dachte er zwangsweise an die eigene Schulzeit. Es fanden sich eine Menge wunderschöner Momente, die sich hier in diesem Klassenzimmer unter den weniger wachsamen Augen von Professor Slughorn abgespielt hatten. Lily und er an einem Kessel. Sie kicherte und machte Witzchen, flüsterte ihm dabei ins Ohr. Ihren warmen Atem spürte er noch heute und eine angenehme Gänsehaut formte sich auf seinen bedeckten Unterarmen.
Als der Unterricht vorbei war, gaben die Schüler ihre Aufsätze ab. Manch einer hatte mehr geschrieben als gefordert war, besonders die Schüler, die sich dank der freien Wahl mit ihrem Lieblingsthema befassen konnten, um durch einen guten Aufsatz die Gesamtnote in Zaubertränken aufzubessern. Sie verschwanden nach und nach leise aus dem Raum.
Per Zauberstab wischte Severus die Tafel, rückte die Stühle gerade und brachte die Pergamente der Schüler in sein privates Büro. Das Gefühl, das ihn in seinem Arbeitszimmer übermannte, war genauso verwirrend wie die Träume, die ihn heute Nacht heimgesucht hatten. Hinter diesen steinernen Mauern waren so viele Dinge geschehen. Gespräche mit Albus drängten sich seinem Geist auf, die Trauer um Lily kam wie eine Welle des Unheils auf ihn zugerollt. Diese wieder aufwallenden Gefühle, denen er damals mit der Einnahme des Ewigen Sees entflohen war, trafen ihn so unerwartet, dass er sich erschrocken an die Wand drückte und den Atem anhielt. War der Schmerz in der Brust normal? Mit Herzflattern stürzte er hinüber zur Verbindungstür, die ins Labor führte. Furchtsam knallte er die Tür hinter sich zu und atmete tief durch, doch es wurde nur noch schlimmer.
Dieser Raum, das Labor – Brutstätte von bahnbrechenden Ideen und Aufenthaltsort während seiner Freizeit, aber auch Geburtsort des scheußlichsten Trankes, den die Zaubererwelt je entwickelt hatte. Die eine Stelle auf dem Boden. Schweiß brach auf seiner Stirn aus. Dort hatte er gelegen, als er seine Seele verstümmelte. Noch nie zuvor hatte er sich Gedanken um diesen schlimmsten Moment gemacht und dabei etwas empfunden, doch jetzt brachte der Heiltrank ihn dazu, seine Tat selbstkritisch zu beurteilen – vor allem aber, die Erinnerung an diesen finsteren Tag das erste Mal emotional zu durchleben. Er war Kritiker seines damaligen Verhaltens. Oh, wie falsch war es gewesen, sich mit dieser grausamen Tat der Seele zu berauben. Scham über diesen Fehler kam auf. Severus spürte rückwirkend seine eigene Feigheit, seine Angst vor einem Leben, das von der Trauer um Lily regiert wurde. Mitgenommen griff er sich an die Brust und wünschte die schlimmen Gefühle fort. Konzentrieren! Er musste seine Gedanken im Zaum halten. Verzweifelt suchte er nach etwas Schönem. Severus blickte sich um, zwang seinen aufgewühlten Geist zur Ruhe. Jeder Stuhl, das Bücherregal, der Arbeitstisch – alles hier drinnen war auch mit wohligen Erlebnissen verbunden. Mit Erinnerungen an die Zeit, in der Hermine bei ihm ihre Ausbildung gemacht hatte. An diesem Gedanken hielt er so lange fest, bis er das seelische Gleichgewicht wiedergefunden hatte.
„Professor?“ Die Stimme des jungen Schülers erschreckte Severus. Er hatte nicht bemerkt, dass seine Augen geschlossen waren.
„Mr. Foster?“ Seine eigene Stimme klang deutlich angeschlagen.
„Sir“, der junge Mann kam näher, „geht es Ihnen gut?“ Ein besorgter Blick. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen, Professor?“
„Nein“, wollte Severus gelassen abwinken, doch das Wort kam ihm so gequält über die Lippen, dass Mr. Foster sich ernsthaft Sorgen machte und seinen Professor am Oberarm nahm.
„Setzen Sie sich doch einen Moment ...“
„Mr. Foster!“ Es kostete Severus eine Menge Kraft, die Maske der Gleichgültigkeit wieder aufzusetzen. „Was haben Sie hier verloren?“
„Sie, ähm“, Gordian musterte seinen Lehrer skeptisch, bis er entschied, nicht anzumerken, wie blass er war. „Sir, Sie haben mich heute früh gebeten, Sie vor dem Mittagessen aufzusuchen.“
„Hab ich?“ Verschwommen erinnerte er sich an die kurze Aufforderung, die von all den neu erlebten Momenten verdrängt wurde. „Ja, natürlich. Folgen Sie mir bitte.“ Severus führte den Schüler zurück in das Büro. Aus seiner Schreibtischschublade entnahm er ein Schreiben, das er dem künftigen Schulabgänger überreichte.
„Für mich?“ Zögernd nahm Gordian das Schriftstück in die Hand. Als er sich bewusst wurde, dass er die Referenz in den Händen hielt, die der Professor ihm ursprünglich verweigert hatte, strahlte er über das ganze Gesicht. „Vielen Dank, Sir. Sie wissen gar nicht, wie viel mir das bedeutet! Damit stehen mir alle Türen offen.“
Severus fühlte sich – und das erstaunte ihn – durch diese Worte geschmeichelt. „Unfug, mit Ihren Noten stehen Ihnen auch ohne meine persönliche Empfehlung alle Türen offen.“
„Nicht alle, Sir, aber mit dem hier“, er wedelte fröhlich mit der Referenz, „schon.“
„Sie haben sich in Ihrem jungen Alter schon sehr viele Gedanken über die Zukunft gemacht, nicht wahr?“
„Musste ich doch, Sir. Ich war noch keine acht Jahre alt, als nach Professor Dumbledores Tod der Krieg ausbrach. Niemand wusste, ob ich überhaupt eine Zukunft haben würde.“
„Dafür, dass Sie keine Zukunft vor Augen hatten, haben Sie eine Menge gelernt, Mr. Foster und das, obwohl alle Zaubererschulen geschlossen waren.“
Gordian nickte. „Hauptsächlich haben mich meine Eltern unterrichtet.“ Das erste Mal in diesem Schuljahr sprach der Slytherin so vertraut mit seinem Hauslehrer, wie es in den anderen drei Häusern gang und gäbe war. „Jede freie Minute haben sie genutzt, um mir Zaubersprüche beizubringen, die mir das Leben retten sollten. Es herrschte in unserer Familie weniger die Befürchtung, keine Zukunft zu haben. Es überwog die Hoffnung auf bessere Zeiten. Und auf diese Zeiten sollte ich vorbereitet sein.“
Severus bewunderte die Familie dieses Jungen. Anstatt sich zu verstecken oder sich gar aus lauter Angst Voldemort anzuschließen, hatten sie all ihre Kraft ins Überleben gesteckt, ohne dabei den Glauben an das Gute auf der Welt zu verlieren. „Ihre Eltern sind beneidenswert mutig.“
„Ja, das sind sie.“ Ein leiser Seufzer war zu vernehmen. „Und wir hatten eine Menge Glück.“
Dieses Glück mochte bedeuten, dass sie einen Todesserüberfall überlebt hatten, für einen Augenblick dem Tod ins Auge blicken mussten. Severus wollte nicht genauer darüber nachdenken. Stattdessen hielt er einen Smalltalk mit dem jungen Mann, der normalerweise erst in der fünften Klasse wäre, hätten seine Eltern ihn nicht so sehr aufs Leben vorbereitet. Das Gespräch überraschte Severus. Mit seinen Schülern sprach er selten über private Probleme. Früh hatte er den Slytherins eingebläut, bei Problemen mit Schülern der anderen Häuser selbst tätig zu werden und einen Besuch bei ihm nur als letzten Schritt in Betracht zu ziehen. Seine Schüler waren selbstständig. Sie kümmerten sich um ihre Probleme. Manchmal, so glaubte er heute, hatte er den Bogen überspannt. Die Schüler waren nicht einmal zu ihm gekommen, wenn es notwendig gewesen wäre. Nicht einmal, wenn er sich auf seine Menschenkenntnis verließ und bei einem Schüler damit rechnete, bald um Hilfe gebeten zu werden, waren sie gekommen. Sie hätten zu ihm kommen müssen! Niemals hätte er einen Schüler, der wirklich Hilfe brauchte, verlacht und weggeschickt. Erst jetzt, so wenige Tage vor Ende des Schuljahres – wenige Tage noch, bevor sein neues Leben in der Apotheke beginnen würde – war sich Severus darüber bewusst geworden, dass es in einigen Situationen notwendig war, die Hilfe aus freien Stücken anzubieten, anstatt zu warten, bis jemand auf einen zukam. Die Schüler hatten aufgrund seines mürrischen Wesens die Messlatte für erwähnenswerte Probleme zu hoch gehängt. Sie hatten wahrscheinlich befürchtet, dass die Belanglosigkeit ihres Anliegens ihn verärgern würde.
Da war einmal ein Schüler, ein paar Jahre, bevor Harry in Hogwarts eingeschult wurde, erinnerte sich Severus. Ein schmächtiger 16jähriger Slytherin. Eines Morgens im November fand man ihn auf dem untersten Absatz der Treppe zum Glockenturm. Auf den vereisten Stufen war er ausgerutscht, hatte sich den Kopf aufgeschlagen und lag stundenlang bewusstlos in der Kälte. Poppy hätte es richten können, wäre es in der Nacht nicht so kalt gewesen. Der Junge wurde schwer krank, stand trotz aller möglichen Heiltränke mit einem Bein im Grab. Soweit Severus sich entsinnen kann, hatten die Eltern ihn aus der Schule genommen. Damals wurde diese Sache offiziell als Unfall abgetan, doch einzig Severus ahnte, was der Schüler wirklich vorgehabt hatte. Die Seile im Glockenturm waren stabil. Severus hatte Anzeichen gesehen, hatte bemerkt, dass der Schüler eine Last auf sich geladen hatte, der er nicht standhalten konnte. Liebeskummer konnte besonders im Teenageralter eine große Bürde bedeuten. Severus hatte erwartet – fest damit gerechnet –, dass der Schüler sich ihm anvertrauen würde. Immerhin hatte er allen Schützlingen deutlich vermittelt, dass ein Gespräch mit ihm als letzte Problembehebung in Betracht gezogen werden konnte. Der verunfallte Schüler hatte jedoch einen anderen Weg für die Lösung all seiner Probleme eingeschlagen. Zum Glück war der Versuch durch die dünne Eisschicht auf den Stufen zum Glockenturm vereitelt worden.
Severus schreckte hoch, als ein Buch im Regal umkippte. Wie lange hatte er hier im leeren Klassenzimmer gestanden und über Dinge nachgedacht, die so viele Jahre zurücklagen? Keine Spur von Gordian. Der musste sich entfernt haben, als er bemerkte, dass sein Lehrer für Zaubertränke nicht mehr ansprechbar war. Zum Glück war Gordian nicht mehr hier, dachte Severus erleichtert. Der würde sonst sicher an seiner Mimik ablesen, wie schmerzhafte der alte Selbstvorwurf war, den er sich wegen des zu Schaden gekommenen Jungen machte.
'Dieses Nachtrauern muss aufhören!', sagte Severus in Gedanken zu sich selbst, als er den Weg in die große Halle einschlug. Er würde es begrüßen, wenn solche Erinnerungen ihn nicht berühren würden. Andererseits zeigte ihm sein unerwartetes Mitleid, dass er unweigerlich auf dem Weg der Besserung war.
Vieles an der großen Halle erinnerte ihn auch an die schönen Gefühle, die er zum Glück ebenfalls zu spüren im Stande war. Hier hatte er die herrlichsten Weihnachtsfeste seines Lebens verbracht. Fernab von den angespannten Festen Zuhause, wo Vater viel zu schnell die Flasche Whisky leerte und sich betrunken auf die Couch legte, während Severus seine enttäuschenden Weihnachtsgeschenke öffnete. Dieses Stückchen heile Welt mit seinem verzauberten Dach machte die nüchternen Kindheitserinnerungen wieder wett. Hier war es hell, geräumig, gemütlich. Severus mochte die große Halle.
Während der Mittagspause saß er zwischen Harry und Remus. Das erste Mal bemerkte Severus, wie natürlich die beiden mit ihm umgingen. Das war ein völlig neues Gefühl. Echte Freunde bis auf Lily hatte er in seiner Kindheit und Jugend nicht gehabt. Nie gab es einen besten Freund, mit dem er mal über Männerangelegenheiten sprechen konnte. Remus bot ihm wie selbstverständlich ein Getränke an, und Harry reichte wortlos das Gemüse. Im Gegenzug gab er ungefragt die Sauciere an Remus weiter. Derweil fragte man ihn wie jeden Tag nach dem Wohlbefinden. Weil er die Verpflichtung verspürte, ehrlich zu antworten, rutschte ihm heraus: „Mir geht es gut. Allgemein sehe ich dem Genesungsprozess sehr positiv entgegen.“ Remus und Harry waren im ersten Moment um Worte verlegen. Nicht weil sie die Situation unangenehm fanden, sondern weil sie nicht wussten, ob sie Einzelheiten erfragen durften. Severus blickte zu seiner Rechten, wo er den zufriedenen Gesichtsausdruck von Remus bemerkte und darüber hinaus deuten konnte. Bei manchen Menschen konnte man offensichtlich doch am Gesicht ablesen, was in ihnen vorging. Die unverfälschten Gefühle stellte Remus ohne Scheu zur Schau. Er freute sich für ihn. Zu seiner Linken erwartete ihn ein breit grinsender Harry, dessen grüne Augen noch mehr glitzerten als der silberne Rand seiner runden Brille. Beide erfuhren heute morgen von Neville, dass die Zutaten, die sie gemeinsam gezogen hatten, bereits von Hermine geerntet und verarbeitet worden waren, doch keiner sprach es an.
Ein Gespräch mit Albus blieb heute zum Glück aus. Die Erinnerungen, die sein alter Freund in ihm wecken würde, könnten Severus mit Leichtigkeit in ein Häufchen Elend verwandeln.
Gegen 16 Uhr ging Severus zurück in die Apotheke. Wie jeden Tag hatte er Kisten mitgebracht, mit denen er nach und nach seine Habseligkeiten umsiedelte – von Hogwarts in die Winkelgasse, seinem neuen Zuhause. Das Bett gehörte ihm nicht. Albus hatte es gespendet, wie auch den Kleiderschrank und das Bücherregal, den Schreibtisch, die beiden Stühle und die kleine Kommode. Von Spinner's End war nichts mehr übrig geblieben, nachdem Todesser das Haus in Schutt und Asche gelegt hatten. Er besaß keine alten Erbstücke, nur das bisschen Hab und Gut, das er durch seine Beschäftigung in Hogwarts und dem daraus resultierenden Umzug in die Kerker in Sicherheit gebracht hatte. Severus war unangenehm ergriffen, als er heute bemerkte, wie wenig Materielles er besaß, nicht einmal eigene Möbel. Sein Vermögen befand sich überwiegend in Gringotts. Es bestand aus seinem jahrelang gesparten Gehalt und dem Preisgeld für den erhaltenen Merlinorden. Trotz seiner finanziellen Beteiligung an der Apotheke besaß er noch genug Geld, um in ein neues Leben zu starten.
Hermine befand sich entweder im Verkaufsraum oder im Labor, er hatte noch nicht nachgesehen. Stattdessen ging er ins Erdgeschoss und suchte den kleinen Garten hinterm Haus auf. Ein kurzer Moment zum Luftholen, um sich nach diesem bewegenden Tag auf die Begegnung mit ihr vorzubereiten. Wenige Pflanzen zogen sie im Hinterhof selbst, andere mussten sie bestellen. In einer Ecke des hoch eingezäunten Gartens probierte Hermine den Dünger von Neville aus, um selbst ein Gefühl für die Wachstumsgeschwindigkeit zu bekommen. In der anderen Ecke sah Severus den hoch gewachsenen Baldrianstrauch, gleich darunter den Kater, den er Hermine zu Geburtstag geschenkt hatte. Fellini war jetzt ganz offensichtlich geschlechtsreif geworden.
Schnurstracks marschierte Severus ins Labor, doch dort traf er sie nicht an. Vorsichtig lugte er in den Verkaufsraum. Bis auf Daphne und Hermine war niemand hier, kein Kunde.
„Hermine? Kann ich dich kurz sprechen?“, fragte er zaghaft.
„Um was geht es denn?“ Sie hatte ihn missverstanden und näherte sich ihm nicht, um unter vier Augen miteinander zu reden, sondern wartete darauf, bis er frei vor Daphne sein Anliegen vorbringen würde. „Nur raus damit“, neckte sie ihn. Ihrem Wunsch kam er gern nach.
„Die momentanen Aktivitäten deines Haustieres könnten unangenehme Folgen mit sich bringen, weshalb ich dir nahelegen möchte, besser mal nach ihm zu sehen.“
„Wieso, was macht er denn?“
„Er, ähm ...“ Beide blickten ihn erwartungsvoll an, so dass er sich einen Ruck gab und offen erklärte: „Dein Kater begattet Nachbars Katze.“
„Er …?“ Eine Schrecksekunde. „Das kann er doch nicht machen!“ Aufgescheucht stürmte sie zu Severus. „Wo ist er?“
„Im Garten.“
Severus folgte Hermine zum Hintereingang. Der Kater und seine Auserwählte waren noch da – und weiterhin rege bei der Sache. Die weiße Katze ließ sich genüsslich in den Nacken beißen. Fellini blickte seinem Frauchen in die Augen, hielt dabei mit seinen Beckenbewegungen jedoch nicht inne, während er seine Unschuldsmiene aufsetzte.
„Herrje, die Weiße ist eine preisgekrönte, reinrassige Knieseldame!“ Sie seufzte, deutete auf Fellini. „Und er ist nur ...“
Severus unterbrach: „Er ist offensichtlich voll und ganz ihr Typ.“
„Aber“, Hermine fuhr sich mit einer Hand durchs Haar, „was soll ich jetzt machen? Ich werde Ärger bekommen. Der Besitzer von der Weißen wohnt vier Häuser weiter. Der wird sich über Nachwuchs von einem Mischling bestimmt nicht freuen.“
„Es ist unser Garten, Hermine. Deinen Kater trifft keine Schuld, sollte dieses Techtelmechtel Folgen haben.“
„Hast ja recht. Ich meinte aber, was soll ich jetzt machen?“ Entgeistert betrachtete Hermine die beiden koitierenden Miniatur-Raubkatzen.
Gelassen hob und senkte Severus einmal die Schultern und empfahl: „Ihn in Ruhe lassen.“ Er wandte sich bereits zum Gehen um. „Es ist immerhin sein erstes Mal“, fügte er amüsiert hinzu, bevor er sich ins Labor begab.
Hermine ließ Fellini seinen Spaß und folgte Severus nach innen. Er war erstaunt darüber, dass sie ihn mit einer Umarmung grüßte und sich dann aus dem Staub machte, um wieder im Verkaufsraum tätig zu werden. Eigentlich hatte er damit gerechnet, dass sie ihn wenigstens jetzt fragen würde, wie der Trank bei ihm wirkte. Er wusste, dass sie vor Neugierde fast platzte. Ihr Verhalten zeigte ihm, wie sehr sie ihn und seine persönlichen Angelegenheiten respektierte. Vielleicht würde er ihr im Laufe des Abends von seinen neu gelebten Erinnerungen erzählen.
Um 18 Uhr hatte Hermine die Apotheke geschlossen. Gegen halb zwölf war die Arbeit im Labor erledigt. Der zweite Trank war gebraut. Severus hätte bis zum Morgengrauen Zeit, ihn einzunehmen. Hermine ging nach oben und kam ihrer abendlichen Reinlichkeit nach. Sie schnappte sich danach den Becher mit dem zugeschraubten Deckel, die Flasche Franzbranntwein und auch ein Kästchen. Damit marschierte Hermine schnurstracks zu Severus' Zimmer und klopfte. Die Tür öffnete sich schnell. Severus war noch vollständig angekleidet, während die magischen Stickereien der Knieselbabys auf ihrem Pyjama übermütig Purzelbäume schlugen.
„Oh“, kommentierte Hermine den Status seiner Kleidung. „Ich dachte, du wärst schon bereit.“
Seine Stirn schlug Falten. „Bereit wofür?“
„Ich sagte doch gestern, dass ich heute deinen Arm genauer untersuchen möchte.“
Severus musterte sie von oben bis unten. Dem Gesamtbild war ein gewisser Unterhaltungswert nicht abzusprechen. „Es ist erst kurz nach Mitternacht.“
„Na ja“, druckste sie herum. „Ich dachte, du würdest heute wahrscheinlich früher schlafen gehen als sonst.“
Noch immer hatte sie ihn nicht wegen der Wirkung des Trankes angesprochen, doch sie machte deutlich, wie sie den Verlauf des Genesungsprozesses einschätzte. Sie war der Überzeugung, es würde ihn überanstrengen und müde machen.
„Ich habe noch keine Lust, mich schlafen zu legen“, erwiderte er gelassen, um ihr zu signalisieren, dass sie mit ihrer heilerischen Einschätzung falsch lag. Über ihre Fehleinschätzung freute sie sich, denn Hermine lächelte breit.
„Das ist gut“, beteuerte sie, wechselte das Thema von der Seele wieder zurück zur Gliedmaße. „Trotzdem möchte ich deinen Arm untersuchen. Ich möchte sehen, wie schnell die Nerven im neu gewachsenen Gewebe empfinden können.“ Sie hob die kleine Kiste mit ihm unbekannten Inhalt und schüttelte sie. „Das hier habe ich heute von einem Besuch bei meiner Mutter und ihrer besten Freundin mitgenommen.“
„Und was ist da drin?“ Eine Augenbraue wanderte fragend nach oben, bevor er die nicht ernst gemeinte Möglichkeit nannte: „Selbst gebackene Kekse mit einem absoluten Härtegrad von 120?“
Hermine traute ihren Ohren kaum, musste aber grinsen. „Ich höre wohl nicht recht? Ein absoluter Härtegrad von 120?“ Sie dachte einen Moment nach und fand ein Beispiel. „Das ist der Härtegrad von Quarz!“ Auch bei seinem einseitigen Lächeln blieb sie einigermaßen ernst. „Damit kann man Fensterscheiben einritzen.“
Seine Mundwinkel zuckten. „Das könnte man mit Keksen auch, wenn sie nur hart genug sind und du – das weiß ich – kannst diese Voraussetzung mühelos erfüllen.“
„Frechheit“, murmelte sie vorgetäuscht erbost. „Für diese Spitze backe ich dir zu Weihnachten ein Extra-Blech.“ Jetzt konnte sie ihre gute Laune nicht weiter verbergen und lachte drauf los, während sie es sich auf dem Sofa gemütlich machte. „Nein, es sind keine Kekse. Die Freundin meiner Mutter – eine ehemalige Kommilitonin – hat nach ihrem Studium ihr Spezialgebiet weiter verfolgt.“
„Welches wäre?“, fragte er nach.
„Neurologie. Hier drin“, sie klapperte mit dem Inhalt der Kiste, „befindet sich womöglich eine alt bewährte Heilmethode für die Taubheit in deinem Unterarm.“
„Ach ja? Um was handelt es sich?“ Severus nahm neben ihr Platz und blickte auf das Kästchen. Hermine öffnete es und zeigte ihm den Inhalt, vor dem Severus zurückwich. Es waren viele, einzeln vergepackte Nadeln mit bunten Plastiksteckköpfen. „Und was hast du damit vor?“
„Die Nervenbahnen anregen.“
Er fragte sich ernsthaft, wozu sie die Nadeln benötigte. „Wie soll das vonstatten gehen?“
„Das nennt sich Akupunktur, Severus. Damit kann man unter anderem neurologische Störungen beheben.“
„Du willst mich damit stechen?“, fragte er verdutzt nach.
„Das war der Sinn der Sache. Bei Behandlungen von Schlaganfallpatienten wird das häufig eingesetzt, wenn gewisse Taubheiten auftreten.“
„Nicht mit mir, Hermine. Ich bin der Überzeugung, dass sich der Arm allein regeneriert, sobald die Wunde vollständig verheilt ist.“
„Nein!“, widersprach sie. „Wir machen Akupunktur!“
„Warum bestehst du so darauf?“
„Weil“, sie nickte mit dem Kopf hin und her, „ich das heute über mich ergehen ließ. Ich hab es mir zeigen lassen. Sie hat mir vorgeführt, wie man sticht, an welchen Stellen und wie tief.“
Im ersten Moment blickte er sie irritiert an, bevor Schadenfreude über sein Gesicht huschte. „Du hast dir deinen Arm behandeln lassen, damit du es lernst?“
„Beide ...“, murmelte sie.
„Entschuldige, das habe ich nicht verstanden.“
Sie grinste. „Beide Arme.“ Hermine zog die Ärmel des Schlafanzugs hoch, weshalb einige der gestickten Kniesel auf dem Rücken Schutz suchten. Man sah an ihren Unterarmen nur noch undeutlich leicht errötete Stellen. „Hier waren die Nadeln drin. Man sieht nicht mal mehr alle Einstiche.“
„Können wir die Nadeln bitte auf morgen verschieben?“, fragte er hoffnungsvoll nach. Weil sie enttäuscht wirkte, schlug er vor: „Ich rechnete heute mit der gestrigen Behandlung.“
Hermine spitzte die Ohren. „Hat es denn gut getan?“
„Ja, er wurde heiß und kalt, fing nach etwa dreißig Minuten an zu kribbeln.“
„Kribbeln ist fantastisch!“, bestätigte sie voller Begeisterung. Bei ihr kribbelte es momentan auch, nur an anderen Stellen. „Ich sagte ja, es sorgt für eine gute Durchblutung. Dann machen wir nochmal das, wenn es hilft.“ Die Kiste stellte sie auf den Tisch, griff stattdessen zum Franzbranntwein.
Severus legte seinen Gehrock ab und öffnete die Knöpfe am Ärmel seines Hemdes. Er legte den Arm frei und setzte sich wieder neben sie. Hermine untersuchte seinen Arm zuerst gründlich. Die Wunde, die das dunkle Mal mit seinem Brand für eine Erneuerung vorbereitet hatte, war mit keinem medizinischen Fall vergleichbar. Phönixtränen schrieb man außergewöhnliche Heilkräfte zu, doch noch nie war bekannt geworden, wie sie bei großen Wunden wirkten. Konnten die Phönixtränen das Gewebe nicht nur nachwachsen lassen, sondern tatsächlich auch die feinen Nervenbahnen wieder korrekt miteinander verbinden? Es gab keine Berichte darüber, was auch der Grund für Hermines Befürchtung war, der Arm könnte gefühlsarm bleiben. Ihre Diagnosesprüche brachten keinerlei Erkenntnisse. Alles schien normal zu sein. Vielleicht mussten die neuen Nervenbahnen wirklich nur leicht stimuliert werden, zum Beispiel mit Wechselduschen des Unterarms oder eben mit einer einfachen Massage.
Den Zauberstab legte Hermine auf den Tisch, bevor sie zum Franzbranntwein griff. Der strenge Geruch von Kampfer trat aus und wurde noch intensiver, als sie die Flüssigkeit in den Händen warm rieb. Es brannte ein wenig in den Augen. Gleich darauf fühlte er die belebende Wirkung an seinem Unterarm, in den Hermine das Heilmittel einrieb.
„Ich hab mir Gedanken gemacht, Severus.“ Jetzt war der Moment gekommen, wo sie fragen würde, vermutete er, und er ließ sie sprechen. „Über den Wolfsbanntrank.“ Sie bemerkte, wie er stutzte. „Es sind jeden Monat so viele Anmeldungen bei uns, dass ich annehmen muss, ganz Schottland fliegt hier ein, nur um bei uns den Trank einzunehmen.“
„War es nicht das, was du wolltest?“
Sie blickte auf. „Nein, ich wollte den Trank für die Werwölfe nur angenehmer gestalten. Ich habe die Originalrezeptur mehrmals vor der Nase gehabt, und von Remus weiß ich aus erster Hand, wie grauenvoll dieser Trank schmeckt, wie er den Magen aufwühlt. Das hat mir leid getan. Ich wollte es ändern.“
„Dann war es also reine Herzensgüte?“, scherzte er.
„Na ja, ein bisschen verdienen wollte ich schon daran, aber wenn die uns weiterhin die Türen einrennen, werden wir uns bald auf den Wolfsbanntrank spezialisieren müssen und so eine berufliche Einschränkung lasse ich nicht zu.“ Sie ergriff seine Hand und massierte den Ballen mit kreisenden Bewegungen. „Deshalb dachte ich, wir könnten vielleicht Lizenzen verkaufen. Jeder, der nach meinem Rezept brauen will, muss mir eine kleine Gebühr zahlen. Nicht viel, nur ein paar Sickel pro Kunde. Die Gewinnspanne ist sowieso vom Ministerium vorbestimmt. Man bekommt nur elf Galleonen. Ein paar Sickel davon genügen mir völlig. Dann würde sich die Kundschaft auch wieder besser auf die Apotheken und Tränkemeister verteilen.“ Ihre Finger strichen sanft über seine, obwohl der Franzbranntwein längst verflogen war.
„So ähnlich“, begann er mit vom erfrischenden Effekt des Kampfers ganz rauer Stimme, „ habe ich es mir mit dem Bluttrank vorgestellt. Er wird sich sicherlich, wie auch der Wolfsbanntrank, einer politischen Regel unterordnen müssen, aber er wird nichtsdestotrotz für viel Wirbel bei den Tränkemeistern sorgen.“
„Stimmt. Es ist eine großartige Erfindung von dir, aber sie wird dich nicht reich machen. Belby hatte auch nur jede Menge Ruhm geerntet, weil seine Erfindung zum Wohle der Gesellschaft war.“
„Ruhm öffnet einem Türen, Hermine. Belby profitierte sein gesamtes Leben lang von seinem bekannten Namen.“
„Ah, ich verstehe“, sie tätschelte seine Hand, „du willst dir also erst einen Namen machen.“
„Natürlich! Wenn wir beide mit außergewöhnlichen Arbeiten Aufmerksamkeit auf uns ziehen, dann wird unser Geschäft explodieren. Du hast bereits mit dem Vanillegeschmack für Aufsehen gesorgt. So etwas muss man erst einmal erreichen.“
„Luna meinte damals schon, ich sollte mit meinen Stimmungsaufhellern an den Markt gehen. Sie hätten allen wunderbar geholfen.“
Severus ließ seine Finger kneten, während er sagte: „Die werden wir auch noch erfolgreich vermarkten sowie deinen Farbtrank und später vielleicht sogar den Trank“, er blickte zu dem Becher mit dem Heiltrank, „den du für mich braust. Vielleicht kann man damit tatsächlich Menschen behandeln, die von einem Dementor geküsst wurden.“
Hermine blickte neugierig auf. „Dann heißt das, er wirkt bei dir?“, flüsterte sie ehrfürchtig.
Trotz der Erleichterung darüber, dass sie endlich gefragt hatte, fiel seine Antwort minimal aus, denn er erwiderte lediglich: „Bestens!“
„Das freut mich, Severus. Ich habe schon Angst gehabt, etwas könnte schiefgegangen sein und dass alles umsonst gewesen wäre. Gibt es auch keine unangenehmen Nebenwirkungen?“
Severus betrachtete verzückt, wie seine Hand von den ihren umfasst wurde. „Nebenwirkungen nicht im eigentlichen Sinne. Ich ...“ Er hatte das Bedürfnis, offen zu sprechen. „Meine Gedanken schweifen. Manchmal bemerke ich es nicht einmal. Ich bin unkonzentriert.“
Sie drückte seine Hand und scherzte: „Dann solltest du bis zum Ende der Einnahme besser keine Tränke mehr brauen. Wir wollen doch keinen Brauunfall provozieren.“
Eine Viertelstunde lang hatte sie seinen Arm gestreichelt, massiert und geknetet. Der Franzbranntwein sollte besser nicht in die Augen kommen, deswegen entschloss sich Hermine, sich die Hände zu waschen. Zu Severus' Erstaunen kam sie danach zurück in sein Zimmer und setzte sich wieder auf die Couch.
„Ich werde Draco fragen, wie ich das am besten anstellen kann“, sagte Hermine entschlossen.
„Von was redest du jetzt wieder?“ Ihren Gedankengängen konnte er wegen der kleinen Pause nicht mehr folgen, bat daher um Aufklärung.
„Wegen der Lizenzsache mit dem Wolfsbanntrank. Draco verdient sich doch mit solchen Dienstleistungen was hinzu, nicht wahr? Er hilft bei finanziellen Fragen, berät einen und verlangt einen kleinen Obulus für seine cleveren Ideen, wie man aus Geld und Geschäft noch mehr macht.“
„Ja, Draco macht eine Menge. Pass auf, sonst möchte er noch in unser Geschäft einsteigen. Sein kleines Imperium beinhaltet mittlerweile die breite Palette von wirtschaftlicher Beratung, finanzieller Unterstützung für Jungunternehmer und die gewinnbringende Beteiligung an anderen Firmen.“ Ungefragt suchten seine Gedanken wieder nach Assoziationen zu vergangenem Momenten. „Er ist wie sein Vater.“
„Wer? Draco?“
Severus lächelte. „Ja. Der gleiche Schlag Mensch.“
Schnaufend bemerkte Hermine: „Draco mag ich aber viel lieber als seinen Herrn Papa.“
„Geld hat den Malfoys stets viel bedeutet. Sie wussten schon immer, wie sie ihr Vermögen vergrößern können.“ Severus war von diese scheinbar vererbte Eigenschaft beeindruckt. „Draco hat allerdings zusätzlich den Weg der Uneigennützigkeit eingeschlagen. Das hat seinen Vater nie interessiert.“
„Das interessiert ihn auch heute nicht.“ Hermine zuckte mit den Schultern. „Na ja, ich werde mal mit Draco drüber reden. Womöglich findet sich am Samstag eine freie Minute.“
Severus stutzte. „Samstag?“
„Jaaa“, erwiderte sie lang gezogen. Er hatte es nicht vergessen, aber er kam im Moment nicht drauf. Mit einem Schmunzeln half sie ihm auf die Sprünge. „Du weißt schon, die Hochzeit von Harry und Ginny. Dafür haben wir uns doch die neue Garderobe gekauft.“
„Ah, natürlich.“
„Die Portschlüssel sind heute übrigens gekommen. Es kommen Samstag früh noch ein paar Leute zu uns.“
„Was denn für Leute?“, fragte er irritiert nach.
„Das ist ein Sammelportschlüssel. Der wird erst aktiv, wenn alle Personen ihn berühren, für die er gemacht wurde. Wir benutzen ihn mit fünf anderen Personen: Fred, George, Verity, Remus und Tonks.“
„Hoffen wir, es wird keiner krank, sonst ist der Portschlüssel nicht mal mehr so viel wert wie der alte Schuh, aus dem man ihn gemacht hat.“ Severus gönnte sich ein halbseitiges Lächeln. „Gehe ich dann Recht in der Annahme, dass George Weasley noch ungebunden ist? Denn soweit ich weiß, ist die junge Dame namens Verity seit einigen Jahren die Lebensgefährtin seines Zwillingsbruders.“
„Wow!“, machte Hermine erstaunt. „Das nenne ich Beobachtungsgabe. Aber du hast Recht. George kommt allein, weil er niemanden hat, den er mitbringen möchte.“ Sie grinste. „Er hätte eine Freundin fragen können, er kennt ja genug Leute. Den Gefallen hätten ihm einige gemacht, aber er wollte nicht nur mit einem Gefallen am Arm auf der Hochzeit aufkreuzen. Nicht dass noch jemand falsche Schlüsse zieht. Er ist Single und das sollen die anderen ruhig wissen. Er braucht keine Pseudo-Freundin zum Vorzeigen.“
Severus nickte zustimmend. „Diese Ansicht teile ich.“
Im ersten Moment rutschte ihr das Herz in die Hose, als sie Severus' Kommentar vernahm. Schon einige Male hatte sie ihn gebeten, sie auf eine Feier zu begleiten und jedes Mal hatte er zugesagt, wenn manchmal auch nur mit Ach und Krach. Wollte er ihr jetzt durch die Blume sagen, dass Schluss damit war? Dass sie Feiern in Zukunft nur noch getrennt besuchen würden, damit die Freunde keinen falschen Eindruck bekommen? Remus war längst der Meinung, Severus und sie wären zusammen. Selbst ihre Eltern ahnten, dass Severus mehr als nur ein Geschäftspartner für sie war, sonst hätte ihr Vater ihm nicht so zweideutige Fragen gestellt. Manch einer ging bereits fest davon aus, dass Severus und sie liiert wären. Viktor beispielsweise wollte während ihrer letzten Unterhaltung gar nicht wissen, ob, sondern wie lange sie schon zusammen waren. Aber nein, dachte Hermine, sie waren nicht nur nach außen hin ein Paar. Sie empfand zu viel, als dass es nur Freundschaft sein könnte. Ihm ging es nicht anders, aber er konnte es vielleicht nicht genau beurteilen. Möglicherweise verwirrten ihn die ganzen Erinnerungen, die plötzlich mit Gefühlen verbunden waren. Sie hoffte nicht, dass er sich erst jetzt über seine wahren Emotionen klar wurde und in Hermine höchstens eine Freundin sah. Hermine wusste, sie war mehr als das.
„Das heißt dann, wir schlagen am Samstag wie üblich Hand an Hand auf der Hochzeit auf?“ Damit hatte sie eindeutig offenbart, dass sie für viel mehr in ihrer Beziehung bereit war. Sie wollte sich offen eingestehen, dass sie nicht mehr nur aufgrund von Gerüchten ein Paar darstellten, sondern aus freien Stücken. Lange blickte Severus ihr in die Augen. Er ließ sich Zeit, weil von seiner Antwort so viel abhing. Am Ende kam er gar nicht dazu, etwas zu sagen. Seine Geste sprach stattdessen Bände, als er seine Hand an ihre Wange legte und sie mit dem Daumen streichelte. Hermine freute sich über diese positive Äußerung, die mehr sagte als tausend Worte. Sie legte ihre Hand über seine. „Ich bin müde. Ich leg mich hin.“
Weil sie nicht zur Tür ging, sondern sie sich seinem Bett näherte, fragte verdutzt: „Hier?“
Gelassen drehte sie sich um. „Ich dachte, wir könnten wie gestern … Na ja, nebeneinander eben. Nur für den Fall, dass etwas Unerwartetes passiert.“ Seine leicht gehobene Augenbraue nannte sie schelmisch eine Lügnerin, was sie nicht auf sich sitzen lassen wollte. „Wenn du nicht möchtest, dann gehe ich zu mir rüber.“
Severus verneinte wortlos, nickte zum Bett hinüber und scherzte: „Nur zu, ich zähle auf deine ausgeprägte Tugendhaftigkeit.“
Ein Grinsen konnte sie sich nicht verkneifen, als sie schäkerte: „Vertrau mir in dieser Angelegenheit nicht einfach blind, Severus.“
„Das tu ich nicht. Ich weiß sehr genau, wie ich deine Worte deuten darf und darüber bin ich froh.“
Severus nahm den Heiltrank ein, den Hermine auf dem Tisch abgestellt hatte. Gleich darauf ging er ins Badezimmer, während Hermine „ihre Seite“ des Bettes bestieg. Sie war aufgeregt. Ihr Herz pochte hinauf bis zur Kehle. Einen genauen Grund dafür gab es nicht. Es würde eine ganz normale Nacht werden, genau wie gestern. Vielleicht war die knappe Bestätigung seinerseits, dass auch er dazu bereit war, die Beziehung vor der Öffentlichkeit nicht weiter zu verheimlichen, die Ursache für die Schmetterlinge im Bauch. Einige Freunde würden sicherlich aus allen Wolken fallen, wie Ron oder Angelina. Harry wäre im ersten Moment vielleicht ein wenig überrascht, würde sich damit aber schnell mit der neuen Situation abfinden. Remus und Luna würden ihnen beiden dazu gratulieren, dass sie endlich selbst dahinter gekommen waren, und Neville war auch nicht blind. Leute wie Takeda hingegen würde so eine Bekanntmachung nicht ein bisschen überraschen. Fast alle Gäste der Körperschaft hatten Hermine und Severus als Paar wahrgenommen.
Als Severus ins Bett kam, war Hermine noch immer hellwach. Nach Schlafen war ihr offenbar noch nicht, denn sobald er sich neben sie gelegt das Licht gelöscht hatte, grüßte sie ihn mit dem Beginn einer neuen Unterhaltung.
„Severus, meinst du, wir können uns später auf geschäftlicher Basis mit Neville einigen? Ich möchte gern Zutaten von ihm kaufen, wenn er mit seiner Ausbildung fertig ist und sich selbstständig macht. Bei ihm weiß ich hundertprozentig, dass er mit Herz bei der Sache ist und die Pflanzen Qualität haben werden.“
„Warum nicht? Auf diese Weise wird auch er von einer Zusammenarbeit profitieren. Wenn herauskommt, dass wir uns exklusiv von ihm beliefern lassen, werden auch andere seine Produkte zu schätzen wissen. Und später, wenn sich alles ein wenig gelegt hat ...“ Er nannte Beispiele. „Wenn wir nicht mehr bei Vollmond überfüllt sind, wenn wir genug Geld verdienen, dann kümmern wir uns um weitere Forschungsprojekte.“ Ein zufriedenes Seufzen entwicht ihm, als er sich die Zukunft so lebhaft und ganz nach seinen Wünschen ausmalte. „Wir könnten zum Beispiel studieren, was für Erinnerungen der verstorbene Alchimist zurückgelassen hat.“
„Was für ein …?“ Es dämmerte ihr. „Ah, die Erinnerungen, die Harry uns geschenkt hat. Wie kommst du jetzt auf die?“
„Bevor ich mit dem Stein der Weisen gearbeitet habe, habe ich einen Blick in jede einzelne Erinnerung geworfen. Es gibt eine Menge guter Denkansätze, die mit unserem vereinten Wissen bestimmt vervollständigt werden könnten.“
Hermine war still geworden, als wäre sie – wie Severus – an eine besondere Erinnerung geraten, die sie vollkommen einnehmen wollte. Unerwartet flüsterte sie: „Ich frage mich, was er damit vor hat.“
„Wer hat mit was etwas vor?“
„Ich meine Harry mit dem Elixier. Warum wollte er es? Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken.“
Sie hörte Severus belustigt schnaufen. „Solche Übermächtigkeiten wie das Elixier des Lebens kann man getrost in Harrys Hände legen. Auch eine orientalische Öllampe, die einen Dschinn beherbergt und somit unvorstellbare Macht verleiht, ist bei ihm genauso sicher wie wertvolle Schätze. Harry kann nicht verführt werden“, behauptete Severus.
„Ginny ist da aber anderer Meinung“, konterte Hermine kichernd.
„Du weißt, was ich meine. Die Dunklen Künste beißen sich an ihm die Zähne aus. Harry kann nicht von der schwarzen Magie verführt werden.“
„Und deswegen ist es dir egal, was er damit anstellt, weil du weißt, dass Harry ein guter Mensch ist.“
„Das ist ...“ Ihren Satz nahm er in Gedanken auseinander. „Das hört sich an wie ein Zitat aus einem billigen Groschenroman, aber ja, im Prinzip ist es so. Ich befürchte nicht, dass Harry Unfug damit anstellt. Hätte ich auch nur geringste Zweifel gehabt, hätte ich ihm diese Bitte abgeschlagen.“
„Du vertraust ihm“, brachte sie es auf den Punkt.
„Es ist an der Zeit ...“, er stockte. „Nach all den Jahren kann ich ihm ein wenig von dem Vertrauen zurückgeben, das er mir entgegengebracht hat.“
Unerwartet rutschte Hermine an ihn heran. Ihre Finger suchten nach seiner Hand. Sie ergriff seine linke und zog sie in die Mitte des Bettes. Ihre Beine berührten versehentlich seinen Oberschenkel.
„So viel zu deiner Tugendhaftigkeit“, scherzte er mit vorgespielt enttäuschter Stimme.
Sie verharmloste ihr Verhalten. „Ach, ich wollte doch nur sehen, wie es dem Arm geht. Spürst du was?“
Ihre Fingerspitzen strichen über die Oberseite des Unterarms. Gänsehaut formte sich, die sogar Hermine fühlen konnte. „Ja“, hauchte er als Antwort. „Ich sagte doch, es ist nicht immer taub. Deine Behandlung wirkt Wunder.“
Er sah ihre Zähne im Mondlicht glänzen, was ihm vor Augen hielt, dass sie breit lächeln musste. „Ich bin froh, dass ich helfen konnte.“ Sie drückte seine Hand und schloss die Augen.
Vor dem Einschlafen dachte Hermine über ihre Zukunft nach. An ihre Arbeit als Tränkemeisterin und ihr Leben mit Severus. Ihm kamen die gleichen Gedanken. Doch nicht nur Hermine und Severus waren in der stillen Zeit des Übergangs vom Wachen zum Schlafen mit Wunschträumen beschäftigt.
Harry und Ginny teilten den Wunsch nach einem erfüllten Leben. Einer sportlichen Karriere bei Eintracht Pfützensee schien nichts mehr im Weg zu stehen. Ginny würde an der Seite ihres Bruders Quidditch spielen. Harry hingegen war noch uneins mit sich selbst. Er liebte Hogwarts. Es war sein Zuhause, aber alle Kinder werden einmal flügge – auch er. Die Kataloge der Immobilienmakler machten Lust auf mehr. Ein Haus mit einem Wassergrundstück war Harry ins Auge gefallen. Das Gebäude selbst war extrem renovierungsbedürftig, weshalb es seit Jahren leer stand. Nach der Hochzeit, das nahm er sich fest vor, würde er mit Ginny über ein eigenes Haus sprechen und über seine Idee, mit ganz jungen Kindern arbeiten zu wollen.
In dieser Nacht hatte sich Maries Wunschtraum, eine Anstellung im Gorsemoor-Sanatorium zu bekommen, in einen Alptraum verwandelt. Sie träumte von einem grauenvoll verlaufenden Vorstellungsgespräch mit vielen Patzern. Nacheinander waren ihr Fehler unterlaufen, Tollpatschigkeiten und böse Versprecher.
Nicht schweißgebadet, dafür aber mit rasendem Puls wachte Marie auf. Dies war einer von den Tagen, bei denen man von Anfang an ein schlechtes Gefühl hatte. Es würde sie nicht wundern, wenn die Toilettenspülung heute ihren Geist aufgeben würde oder ein Vogel im Vorbeiflug sein Geschäft auf ihrem Kopf verrichten würde. Marie hatte ein ganz schlechtes Gefühl für heute. Trotzdem machte sie sich fertig, um bei Mrs. Gorsemoor vorzusprechen.
Umrandet von Mischwäldern war das magische Sanatorium vor neugierigen Blicken gut geschützt. Muggelabwehrzauber taten ihr Übriges. Marie hatte die Apparation gewählt, damit ihr Albtraum nicht wahr werden und sie unbeholfen aus dem Kamin stolpern würde. Die Umgebung war ein Traum. Ein Sanatorium im Grünen. Das Gebäude war gut in Schuss, auch wenn hier und da etwas ausgebessert werden könnte. Am Empfang begrüßte man sie herzlich und erklärte ihr den Weg zum Büro der Leiterin. Auf ihrem Weg traf Marie bereits auf Professoren, Auszubildende und Patienten und jeder hatte ein Lächeln für sie übrig.
„Mrs. Amabilis?“, fragte plötzlich eine Frauenstimme, als Marie gerade an die Bürotür klopfen wollte.
Marie drehte sich um. Das Gesicht der Leiterin Adina von Gorsemoor war schon einige Male durch die Presse gegangen. „Miss“, verbesserte Marie freundlich und hielt ihr Hand entgegen, die gleich ergriffen wurde.
„Treten Sie doch bitte ein.“ Im Büro bot Mrs. Gorsemoor ihr einen Stuhl an. „Die Bewerbungsunterlagen, die Sie mir zukommen ließen, habe ich mit Interesse gelesen. Was mich jedoch wundert ist das fehlende Abschlusszeugnis vom Mungos. Dort waren sie immerhin die längste Zeit beschäftigt.“
Verlegen strich sich Marie mit einer Handfläche über ihren Arm. „Das liegt daran, dass Professor Puddle mir trotz mehrmaliger Aufforderung noch keines ausgestellt hat.“
„Hat er nicht?“ Marie schüttelte beschämt den Kopf, weshalb Mrs. Gorsemoor nachhakte. „Hatten Sie Probleme mit ihm?“
Das war eine Fangfrage, wusste Marie. Man sollte niemals über seinen vorherigen Arbeitgeber schlecht sprechen. „Es gab am Ende eine kleine Auseinandersetzung.“
„Eine kleine?“, fragte die abgebrühte, dennoch elegante Sanatoriumsleiterin nach. „Ich kenne Professor Puddle. Er ist in der Regel ein zuversichtlicher Mann.“
„Ich habe mich wohl unbeliebt gemacht.“ Maries Albtraum wollte sich offenbar für dieses Vorstellungsgespräch manifestieren. Es lief schlecht.
„Erzählen Sie mir ein wenig über sich, Miss Amabilis.“
Erleichtert darüber, dass sie nicht über Professor Puddle sprechen musste, erzählte Marie von ihrer Arbeit, von ihren Vorlieben und Fähigkeiten und natürlich von ihrem Traum, die Heilerausbildung zu bestehen. Sie beeindruckte mit ihrem Fachwissen, das sie sich durch entsprechende Literatur selbst angeeignet hatte.
„Darf ich fragen“, begann Mrs. Gorsemoor vorsichtig, „wie Ihr Verhältnis zu Mr. Malfoy ist?“
„Lucius Malfoy?“, fragte Marie nach. Nachdem ihr Gegenüber genickt hatte, fuhr sie fort: „Er war für etwa ein Jahr mein Patient.“
Diese Antwort stellte Mrs. Gorsemoor nicht zufrieden. „Inwiefern hat sich diese Beziehung gefestigt?“
Marie wusste nicht, was die potenzielle Arbeitgeberin hören wollte und erwiderte daher: „Wir hatten unsere Höhen und Tiefen. Es war nicht immer leicht mit ihm.“
„Ich meinte eher ...“ Mrs. Gorsemoor verbat sich selbst den Mund, womit sie unbewusst Maries Neugierde weckte.
„Mrs. Gorsemoor? Fragen Sie mich einfach! Frei von der Leber weg“, ermutigte Marie die Frau.
„Gut, ich will ehrlich sein: Sind Sie Mr. Malfoys Geliebte?“
„Was?“ Marie riss die Augen weit auf, begann dann zu lachen. „Bei Merlin, nein! Er ist überhaupt nicht mein Typ. Außerdem“, ein flüchtiger Gedanke an Sid, „habe ich einen Freund.“
Mrs. Gorsemoor fiel sichtlich ein Stein vom Herzen. „Das beruhigt mich ungemein. Wissen Sie, wir hatten hier schon während des Krieges Probleme mit Intrigen und Machtspielchen und ich möchte verhindern, dass das wieder anfängt.“ Mit einem Blick wollte Mrs. Gorsemoor versichern, dass ihre Frage nicht böse gemeint war. „Dann will Mr. Malfoy Ihnen aus reiner Dankbarkeit die Ausbildung finanzieren?“
Marie hob und senkte die Schultern. „Es hörte sich so an, als ich neulich beim Abendessen mit seiner Familie zusammen war. Ich glaube, er fühlt sich mir gegenüber verpflichtet.“
„Nun, solang Mr. Malfoy mir nicht in meine Geschäftsführung reinreden möchte, ist mir herzlich egal, wer hier wem unter die Arme greift.“ Deutlich konnte man heraushören, dass Mrs. Gorsemoor wenig von den Malfoys hielt. „Das bringt mich auf einen anderen Punkt, den ich ansprechen möchte. Wir bieten nämlich für unsere Mitarbeiter Behandlungsmöglichkeiten an. Wie sieht es mit magischen Erbschäden in Ihrer Familie aus?“
„Erbschäden? Wir haben nie welche gehabt. Ich dachte eigentlich, nur Reinblüter könnten damit Probleme bekomme.“
Mrs. Gorsemoor stutzte. „Ja, sind Sie denn nicht reinblütig?“
„Nein, Madam.“ Irgendetwas arbeitete im Kopf von Adina von Gorsemoor, so dass sich Marie nicht verkneifen konnte, sarkastisch anzumerken: „Ich habe nicht gewusst, dass das eine Voraussetzung für den Job wäre.“
„Was?“ Adina war aus ihren Gedanken gerissen. „Oh, nein! Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Dann sind Sie halbblütig oder muggelgeboren?“
„Halbblütig“, erwiderte Marie knapp. Wenn es darauf hinausgehen sollte, dass man viel Wert auf Reinblütigkeit legen würde, wollte Marie hier nicht arbeiten. „Warum haben Sie angenommen, ich wäre reinblütig?“
„Weil … Na ja, Mr. Malfoy tritt als Ihr Gönner in Erscheinung. Ich hätte nie gedacht ...“ Ein leichtes Zögern. „Weiß Mr. Malfoy das?“
„Dass ich halbblütig bin? Ja, das weiß er. Das war einer der Momente, den ich als 'Tief' bezeichnen möchte. Es war ein sehr angespannter Augenblick gewesen, als ich es ihm offenbarte. Er hatte nicht geahnt, dass meine Mutter ein Muggel ist.“ Plötzlich konnte Marie dem Gedankengang von Mrs. Gorsemoor folgen. „Oh, Sie dachten, ich wäre reinblütig, weil Mr. Malfoy für seine rassistische Einstellung bekannt ist.“
„So in etwa, ja. Seine Ansichten sind bekannt, daher bin ich überrascht, dass er Sie unterstützt, Miss Amabilis.“ Murmelnd fügte sie hinzu: „So kann man sich in einem Menschen täuschen.“ Ein paar Pergamente aus den Bewerbungsunterlagen wurden überflogen. „Also, warum sagten Sie hatte Professor Puddle Ihnen noch kein Zeugnis ausgestellt.“
Innerlich stöhnte Marie auf. „Er hasst mich.“ Das war deutlich, dachte sie. So deutlich, dass Mrs. Gorsemoor die Neugier ins Gesicht geschrieben stand. „Ich gebe zu: Ich habe meine Kompetenzen überschritten und Heilmittel bei einem Patienten angewandt, die ich nicht hätte benutzen dürfen.“
Mrs. Gorsemoor lehnte sich zurück und machte sich für eine längere Geschichte bereit, die sie liebend gern hören wollte. „Fahren Sie fort.“
„Mr. Malfoy war gerade bei mir als … Sie haben bestimmt davon gehört, dass die Todesser ein, ähm, kleines Problem mit dem Mal von Voldemort hatten.“ Mrs. Gorsemoor nickte, also erzählte Marie weiter: „Er war gerade bei mir, als es passierte. Es war nicht zu übersehen, dass die Wunde tödlich sein würde, sollte man sie nicht umgehend behandeln und da griff ich zur Murtlap-Essenz und anschließend zu den Phönixtränen und probierte deren Wirkung an der Wunde aus.“
„Dann stammt diese Behandlungsmethode von Ihnen?“ Marie nickte bescheiden. „Hut ab, Mrs. Amabilis! Auch in meinem Haus gab es zwei Fälle. Ohne die Information aus dem Mungos hätte ich die beiden nicht retten können. Es klang allerdings so, als wäre es Professor Puddles Idee gewesen.“
Angewidert verzog Marie den Mund. „Das sieht ihm ähnlich. Ach, was soll's. Ich habe mit ihm nichts mehr zu tun. Er hat mich dafür bestraft, mich als Heilerin aufgespielt zu haben. In seiner Beurteilung über mein Handeln hat er nicht mit einbezogen, dass ich damit das Leben eines Patienten retten konnte.“
„Mit der Einstellung, dass das Leben eines Patienten gewichtiger ist als die eigene Karriere, passen Sie hier wunderbar rein, Miss Amabilis.“ Ein freundliches Lächeln folgte den netten Worten. „Welches Gebiet interessiert Sie besonders? Zaubertränke, Kräuterkunde?“
Lange musste Marie nicht überlegen. „Fluchschäden! Damit habe ich mich schon als Kind beschäftigt. War immer ein Steckenpferd von mir.“
„Sie wissen, dass Sie neben Ihrer Ausbildung als Heilerin auch gleichzeitig eine der Fachrichtungen studieren können?“
„Das kostet aber extra, oder?“, fragte Marie unsicher nach.
Mrs. Gorsemoor zuckte gelassen mit den Schultern und grinste. „Solange Mr. Malfoy dafür aufkommt, müssen Sie sich doch keine Gedanken machen.“ Die Direktorin des Sanatoriums reichte einige Pergamente an Marie weiter. „Ihr Vertrag. Lesen Sie ihn in Ruhe. Ich hoffe auf eine Zusammenarbeit.“
Irritiert über die fast schon schnelle Zusage wollte Marie wissen: „Und das, obwohl ich vom Mungos noch kein Zeugnis habe?“
„Ich sagte doch bereits, dass ich Professor Puddle kenne.“ Adina zwinkerte Marie zu. „Er ist zuverlässig, wie ich schon sagte, aber er ist auch ein arroganter Volldepp.“
Die beiden Damen lachten. Es stellte sich heraus, dass Mrs. Gorsemoor mit Professor Puddle zusammen in Hogwarts war. Sie kannte seinen launischen Charakter, der meist zum Fiesling tendierte. Es folgte ein angenehmer Plausch über Merlin und die Welt. Der Albtraum hatte sich für Marie zum Glück nicht bewahrheitet. Mit dem Vertrag in der Hand, den sie nur noch unterzeichnen musste, machte sie sich auf den Weg zu Sid, mit dem sie zum Mittagessen verabredet war. Ihm lag viel daran, den Vertrag zu lesen, bevor sie ihn unterschreiben würde. Diesmal besuchte er sie in ihrer Wohnung in der Winkelgasse.
In der Seitenstraße neben Flourish und Blotts lag nicht weit entfernt das Gasthaus „Der Gehängte“. Die Nokturngasse war schon eine üble Gegend, stellte aber lediglich die Verbindungsstraße zu noch viel zwielichtigeren Gegenden dar. Foggs Ziel war das Gasthaus. Er kam gerade vom Werwolf-Unterstützungsamt, bei dem er sich informiert hatte, ob sich ein Zaubertränkemeister weigern darf, den Wolfsbanntrank an einen bestimmten Kunden zu verkaufen. Die Antwort war nicht eindeutig, ließ aber subtil verlauten, dass sich ein Tränkemeister strafbar machen würde, sollte er in Notfällen einem Werwolf den Trank verweigern. Das wäre eine mutwillige Gefährdung der Öffentlichkeit und würde mit dem Entzug der Tränkemeisterlizenz und einer saftigen Geldstrafe enden. Das bedeutete wiederum, dass die Granger-Apotheke ihn nicht abweisen dürfte, selbst wenn ihm gegenüber ein Hausverbot ausgesprochen worden war – und das hatte Miss Granger getan, dachte Fogg. Es lag ihm fern, den Wolfsbanntrank von ihr zu erzwingen, aber für den Fall, dass er in der Gegend keinen anderen Tränkemeister finden würde, hielt er sich diese Option offen. Die Neuigkeit wollte er unbedingt Stringer mitteilen, doch der war sehr wahrscheinlich noch im Mungos. Erst gestern hatte sein übel riechender Freund wegen des Fluchs eine Voruntersuchung über sich ergehen lassen. Heute wollte man bereits mit der Behandlung beginne. Fogg konnte sich gar nicht vorstellen, wie es in Zukunft sein würde, wenn Stringer mal nicht diesen ätzenden Buttersäuregeruch verströmte.
Zum Mittagessen hatte Fogg zwei gebratene halbe Hähnchen besorgt – wohl bemerkt gekauft und nicht gestohlen. Bis zur Rückkehr seines Freundes würde er sie mit einem Zauber warmhalten. Einer der wenigen Sprüche, die er von seiner Gattin gelernt hatte. Seine Frau nebst der Schwiegereltern würde er, sobald die neuen Gesetze in Kraft treten, aus seinem Haus werfen. Es gehörte ihm. Es war sein Vermögen, das die Familie ihm gestohlen hatte, nur weil er unter dem Fluch litt. Die Gesichter der drei konnte er sich gut vorstellen. Alle drei wären schockiert über seine unerwartete Herzlosigkeit. Die sollten sich an die eigene Nase fassen, dachte Fogg wütend, als er die Tür des gemieteten Zimmers öffnete.
Frische Luft wehte ihm entgegen, was dank seines verfluchten Freundes Seltenheitswert besaß, besonders wenn die Fenster geschlossen waren. Die Informationsbroschüren des Werwolf-Unterstützungsamtes legte er zunächst auf den kleinen Tisch neben der Tür ab, damit er sich den Umhang ausziehen konnte. Die Wartezeit im Ministerium war lang gewesen, der Weg zu einer Toilette noch länger, so dass er seine Blase an ihre Grenzen brachte, denn die Wartenummer wollte er auf keinen Fall verlieren. Die eigene Toilette war sein nächster Halt. Zielstrebig eile er zur Badezimmertür und riss sie auf, nur um wie angewurzelt im Türrahmen stehenzubleiben und auf Stringer zu blicken. Der hatte es sich mit der neusten Ausgabe des Tagespropheten auf der Toilettenschüssel gemütlich gemacht, um erst die reißerischen Artikel zu lesen, bevor er die Journalisten dieses Revolverblattes auf seine ganz eigentümliche Art und Weise ehrte: Er riss ein großes Stück schriftstellerischer Tätigkeit ab und wischte sich damit den Allerwertesten.
„Das kann hier noch einen Moment dauern“, versuchte Stringer so gelassen wie nur möglich zu vermitteln. Peinliche Situationen wie diese waren der Tod jeder Kommunikation – und vor allem jeder Coolness.
„Tut mir echt leid.“ Verlegen blickte Fogg auf die abgeplatzten Fliesen am Boden. „Ich habe nicht gewusst, dass du schon zurück bist.“ Dann dämmerte Fogg, warum ihm dieses Detail entgangen war. Kein beißender Geruch! Er blickte seinem Freund erwartungsvoll in die Augen. „Die Heiler haben es geschafft, oder? Ich rieche nichts mehr!“ Er nahm einen tiefen Atemzug, bevor ihm sein Fehler eine intensive Geruchsuntermalung von Stringers derzeitiger Tätigkeit bescherte.
„Hey“, drängte Stringer, „ich hab gesagt, das dauert hier noch einen Moment. Selbst wenn ich von dem Stinkefluch befreit bin, dann heißt das noch lange nicht, dass ich alle Dinge im Leben komplett geruchslos verrichten kann. Also, wenn du bitte die Tür ...“
Das Wort „Entschuldigung“ hörte man am Ende nur noch gedämpft, weil Fogg die Badezimmertür längst hinter sich geschlossen hatte. Natürlich war es unangenehm, seinen besten Freund auf dem Klo zu überraschen, aber solche Dinge geschahen einfach und man musste damit leben, dachte Fogg, als er die öffentliche Toilette des Gasthauses aufsuchte, um seiner Blase Erleichterung zu verschaffen. Zurück im Zimmer richtete er die halben Hähnchen auf Tellern an. Möglicherweise litt Stringer nur an den Nebenwirkungen eines Heiltrankes, die den Magen anregten, denn sein Freund war noch immer auf der Toilette. Zum Glück hatte Fogg den Tagespropheten schon gelesen. Er hörte die Spülung, dann den Wasserhahn, bevor sich die Tür öffnete und Stringer ins Zimmer trat. Beide sprachen die peinliche Situation nicht an. Fogg war von ganz anderen Dingen angetan, zum Beispiel vom Geruch des Essens, das er endlich wahrnehmen konnte. Wenn Stringer in der Nähe gewesen war, hatte man nie etwas anderes gerochen als alten Schweiß.
„Hähnchen?“ Stringer strahlte. „Daran habe ich heute morgen erst gedacht.“ Schwungvoll gesellte er sich zu Fogg an den Tisch. „Wie war dein Ausflug ins Ministerium?“
Fogg schüttelte den Kopf, grinste dabei breit. „Das Ministerium ist scheiß egal! Erzähl mir lieber, was die im Mungos gemacht haben. Offensichtlich hat es gewirkt!“
Das breite Lächeln ahmte Stringer nach, während er Fleisch von einer Keule mit den Fingern abzog. „In den letzten elf Jahren hat sich einiges im Mungos geändert. Andere Heiler, andere Diagnosemethoden. Erst hat man nach einem Fluch gesucht, aber keinen gefunden.“
Fogg runzelte die Stirn. „Keinen einzigen? Deine Frau hat dir aber einen Fluch entgegengeschleudert, oder?“
Erst stopfte sich Stringer das Essen in den Mund. Von Kaubewegungen unterbrochen antwortete er: „Hat sie! Sie muss mir vorher allerdings heimlich etwas verabreicht haben, die Kuh.“
Fogg riss die Augen auf. „Einen Trank?“
Heftig nickte Stringer, während er das Geflügelfleisch hinunterschluckte. „Sie hat mich vergiftet! Die Heiler haben mir alles genau erklärt. Die Partikel des Tranks setzen sich in den Drüsen fest, besonders in den Schweißdrüsen. Dort verändern sie die Produktion von Schweiß, was für den Gestank sorgte.“ Ein Schluck Butterbier von gestern spülte das Hähnchen hinunter. Gespannt wartete Fogg darauf, dass Stringer die Geschichte von seinem Besuch im Mungos weitererzählte und das tat der auch. „Die von der Abteilung für Fluchschäden haben mich zur Abteilung für Vergiftungen geschickt und die haben den Grund für den Gestank tatsächlich gefunden. Ein einfacher Heiltrank hat geholfen, der war nicht einmal teuer. Sie haben mir erklärt, dass das hinterlistige Geschenk meiner Frau die eigene Fähigkeit, Gerüche wahrzunehmen, extrem beeinträchtigt hat. Zum Beweis ließen sie mich nach der erfolgreichen Behandlung an einer Probe riechen, die den gleichen Geruch hatte wie mein Körper im vergifteten Zustand.“ Stringer schnaufte. „Ich sag dir, mir ist speiübel geworden. Mir war nie bewusst, wie mein Körpergeruch auf andere wirkte.“ Perplex schüttelte er den Kopf. „Wie hast du das nur über elf Jahre ausgehalten?“
Fogg spitzte die Lippen, zuckte dann mit den Schultern und erwiderte todernst: „Ich habe durch den Mund geatmet.“
Im ersten Moment schaute Stringer seinen Freund entgeistert an, bis er plötzlich so laut losprusten musste, dass ihm sogar ein Stück Hühnchen aus dem Mund fiel. Die gute Laune steckte Fogg an und er stimmte in das Gelächter seines Freundes ein.
„Warte einen Moment!“ Fogg bewegte sich zur Tür und verschwand. Schritte waren zu hören, die nach unten in die Schankstube führten. Von dort kam Fogg nach nicht mal einer Minute mit einer Flasche in der Hand zurück. „Elfenwein!“ Gerade eben vom Wirt erworben. Fogg betrachtete das mit Blumenmuster verzierte Etikett, bevor er zwei Gläser einschenkte und eines davon Stringer reichte. „Ist ein ganz edler Tropfen. Stoßen wir darauf an, dass du ab heute deinen Fluch los bist.“
Stringer drehte das Glas in seiner Hand, sein Gesicht war mit einem Mal ganz ernst geworden. „Ich wünschte, wir könnten eines Tages in gleicher Angelegenheit auf dich anstoßen.“
Ein Wunschtraum. Gegen den Werwolfsfluch gab es keine Heilung.
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