von Muggelchen
Vom Brunnen im Innenhof marschierte die DA über die Brücke in Richtung Verbotenen Wald, wo die Thestrale weideten. Der Himmel wurde immer dunkler. Vor dem erneut eintretenden Regen waren sie durch einen Zauber geschützt. Allen voran lief Harry. Aus unerfindlichen Gründen ging Charlie dicht an seiner Seite und schien etwas abzuwarten. Je näher Harry dem Wald kam, desto weniger traute er seinen Augen. Eine massige Gestalt wartete friedlich vor den Bäumen. Es wunderte ihn etwas, dass seine Freunde hinter ihm wegen des riesigen Tieres nicht die Flucht ergriffen, nicht einmal miteinander tuschelten oder Fragen stellten.
„Charlie!“ Harry wandte den Kopf und blickte in ein breit grinsendes Gesicht, das von roten langen Haaren umrandet wurde. „Ich hätte es wissen müssen!“ Harry grinste zurück, bevor er den wuchtigen Körper des Tieres aus sicherer Entfernung musterte.
„In Anbetracht der Ereignisse der letzten Tage verwundert es mich nicht wirklich, dass du etwas sehen kannst, das ich durch einen Desillusionierungszauber geschützt habe.“ Charlie packte Harry an der Schulter und schob ihn nach vorn, immer näher an das beeindruckende magische Tier heran. „Möchtest du einem alten Freund nicht 'Hallo!' sagen?“
Als Charlie mit Hilfe seines Stabes den Zauber entfernte, erschien fĂĽr die anderen DA-Mitglieder ein ausgewachsener Norwegischer Stachelbuckel aus dem Nichts. Alle machten einen Satz nach hinten, auch Harry, doch Charlies Hand hielt ihn in Position.
„Das ist doch nur Norbert“, erklärte Charlie mit unschuldiger Miene.
„Norbert?“, wiederholte Dean ungläubig. „Das ist ein blutrünstiger Drache!“
„Ist er nicht! Er ist handzahm, zumindest bei mir“, beteuerte Charlie und hob daraufhin demonstrativ seinen Arm. Der lange Hals bewegte sich schlangenartig, bis der klobige Kopf freundlich an die grüßende Hand stupste. Aus der Nähe konnte Harry die lebhaften Augen des Drachen sehen. Sie zeugten von Intelligenz.
„Habt ihr Hagrid schon Bescheid gegeben?“
Auf Harrys Frage hin nickte Charlie. „Natürlich! Gleich nachdem ich hier angekommen bin. Er hat ihn schon begrüßt. Wir wollten eigentlich heute wieder zurück nach Rumänien.“
„Warum ist Norbert hier?“ Voller Unverständnis schüttelte Harry den Kopf, bis ihm eine wilde Idee kam. „Du willst ihn doch nicht etwa fliegen?“
„Willst du?“, bot Charlie sofort an.
Das war ganz sicher ein verlockendes Angebot, doch er vertraute bei dieser Mission lieber auf seinen Twister, den superschnellen Rennbesen.
„Dankeschön, aber ich habe heute lieber etwas unter dem Hintern, das ich in- und auswendig kenne. Vielleicht kennt er mich ja nicht mehr? Ist immerhin schon eine ganze Weile her, dass wir uns gesehen haben“, meinte er und wartete ab, was Charlie dazu sagen würde. Dennoch näherte Harry sich dem Geschöpf, welches seine Freunde und er damals beim Schlüpfen aus dem Ei beobachteten durften. Der Kopf des Drachen kam dichter an Harry heran. Die Nüstern bebten, als Norbert an ihm schnupperte. Es roch ein wenig nach Schwefel, aber auch nach Äpfeln, als der Atem des Drachen sein Gesicht streifte.
„Siehst du, Harry?“ Charlie lächelte breit. „Kein Problem, er erinnert sich an dich.“
Vorsichtig befühlte Harry die schuppige Haut am Kopf, direkt an den großen Nasenlöchern. Hinter ihm fragte Colin: „Sagt mal, woher habt ihr bitteschön einen Drachen?“
Auch die anderen wollten eine Antwort darauf, die Charlie ihnen geben wollte, aber nicht sofort. „Das ist eine lange Geschichte, die erzähl' ich euch später.“
Die Truppe war vollständig. Harry drehte sich zu seinen Freunden um. Da standen sie alle und warteten, bis er sein Okay geben würde. „Dann sind wir alle flugbereit? Gruppe 2 kann zu den Thestralen gehen.“ Harry nickte zum Wald hinüber, wo sich Luna bereits zu den geflügelten Wesen gestellt hatte und wartete.
Ein Drittel der DA machte sich auf den Weg zu den geflügelten Wesen, während die anderen sich um Harry und den Drachen scharte. Ein Drache – dazu noch ein zahmer – war ein seltener Anblick. Ein paar überwanden ihren Respekt und befühlten vorsichtig das Gesicht des Drachen, der sich die Streicheleinheiten mit einem tiefen, gurgelnden Geräusch gefallen ließ.
Als sich die Thestrale erhoben, bestiegen die anderen beiden Gruppen ihre Besen. Auch Harry stieß sich vom Boden ab und erhob sich in die Lüfte. Unbemerkt von ihm selbst setzte er sich an die Spitze des Trupps. Mit Hilfe von Desillusionierungszaubern unsichtbar gemacht flogen sie in Formation dicht über die Bäume hinweg.
Niemand bemerkte die Gestalt am Boden, die immer kleiner wurde. Es war Hermine, die denen hinterherschaute, die sie so gern begleiten wollte. FĂĽr einen Moment glaubte sie, einen Drachen gesehen zu haben, doch es konnten auch nur die dunklen Wolken gewesen sein, die die Form von groĂźen Schwingen angenommen hatten.
„Viel Glück!“, flüsterte sie ihren Freunden hinterher, die sich nach und nach mit einem Zauber unsichtbar machten und in den sich aufblähenden Cumulonimbuswolken verschwanden. Schwermütig seufzte sie und setzte ihren Weg fort. Obwohl es mittlerweile wieder stark regnete, schlenderte sie über die Wiesen und ließ ihre Gedanken schweifen. Vielleicht, dachte sie, hätte sie einen Felix Felicis einnehmen sollen. Jetzt, nachdem sie laut der Prophezeiung das tränende Herz finden sollte, würde sie mit einem Glückstrank wahrscheinlich bei ihrem Spaziergang stolpern und mit dem Gesicht in der gesuchten Zutat landen. Im Moment wollte sie jedoch einfach nur ihren Kopf beruhigen. Albus hatte ihr gesagt, sie würde ihren Verstand benötigen.
„Hermine?“
Aufgeschreckt drehte sie sich um und stolperte, landete dabei mit der Hand auf einer Diestel, anstatt auf der letzten gesuchten Zutat. „Autsch!“
„Hast du dir was getan?“ Eine einzige große Hand half ihr mit Leichtigkeit auf.
„Hagrid!“
„Ich wollt dich wirklich nich' erschreck'n.“
„Schon gut.“ Mit einer Hand befreite sie ihre Hose von Grashalmen und kleinen Ästen.
„Was tust du hier drauß'n? Es regnet in Strömen.“ Ohne ihr die Zeit für eine Antwort zu gewähren fragte er: „Willst du auf einen heißen Tee reinkommen? Hab' gerade das Wasser aufgesetzt und wollte noch Fang reinrufen.“ Schon kam der schwarze Sauhund angerannt. Der Hund war völlig durchnässt, freute sich aber trotz des hohen Alters des Lebens. „Da bist du ja, alter Junge.“ Obwohl Hermine ihm nicht geantwortet hatte, legte Hagrid eine seiner warmen Hände, die so groß wie ein Mülltonnendeckel war, auf ihren Rücken und schob sie in Richtung Hütte.
Hermine ließ sich bedienen. Der Halbriese schien zu wissen, dass sie nicht in Höchstform war.
„'s war 'ne schreckliche Nacht, hab ich gehört.“ Hagrid hatte seine Ohren immer überall.
„Ja“, stimmte sie halbherzig zu. Nach Reden war ihr nicht zumute, aber nach Gesellschaft und Ablenkung.
„Mach dir mal keine Sorgen, Ginny wird schon nichts passier'n.“ Er reichte ihr eine seiner kleineren Tassen mit nur einem halben Liter Fassungsvermögen. Der Tee duftete nach Himbeeren. Severus. Seit wann hatte sie solche Assoziationen?
„Rubus idaeus“, murmelte sie, bevor sie einen Schluck nahm.
„Was?“
„Die Himbeere, das Aspirin der Natur.“
Hagrid machte ein besorgtes Gesicht. „Hast du Kopfschmerzen?“
„Ein bisschen schon.“
„Ja“, der Halbriese nickte, blickte betreten drein. „Ja, das glaub ich gern.“ Plötzlich stand er auf und holte etwas. Als er sich wieder setzte, hielt er ihr eine Büchse mit Keksen entgegen.
„Nein, vielen Dank.“
„Die sind nich' von mir. Hab ich von Professor McGonagall geschenkt bekommen.“
„Oh.“ Verlegen griff Hermine zu und knabberte an ihrem Walkers Shortbread. Wären es selbst gebackene Kekse von Hagrid gewesen, würden die erst schmecken, wenn man sie zuvor eine halbe Stunde im Tee eingeweicht hätte.
„Ich hab auch gehört“, begann Hagrid vorsichtig, „was Professor Snape passiert ist. Und auch dem jungen Mr. Malfoy.“
Woher 'hörte' Hagrid so etwas nur immer, fragte sich Hermine? „Im Krankenflügel hat eine Heilerin gesagt, dass es im Mungos ähnlich aussehen soll.“ Hagrid horchte auf und lauschte. „Es hat alle Todesser getroffen.“
„Tatsächlich? Wie ist das nur passiert?“
So begann Hermine zu erzählen, was sie wusste. Hagrid hing ihr an den Lippen. Offenbar hatte er von Albus nur Bruchteile von dem erfahren, was sich im Krankenflügel abgespielt hatte. Der Halbriese fühlte wegen seines großen Herzens bei jedem ihrer Worte mit den Patienten mit. Durch die Nacherzählung der Geschehnisse erlebte Hermine alles noch einmal ganz bewusst, aber mit einem notwendigen, emotionalen Abstand. Auf diese Weise konnte sie die Ereignisse viel besser verkraften, überdenken und analysieren. Als sie mit der Geschichte fertig war, war auch der halbe Liter Tee aus ihrer Tasse verschwunden.
„Möchtest du noch ...?“
Hermine winkte ab. „Nein danke, ich werde noch etwas spazieren gehen. Ich suche etwas. Vielleicht finde ich es durch Zufall.“
„Was suchst du denn? Vielleicht kann ich dir helfen.“
„Das ist lieb, Hagrid, aber ich weiß nicht genau, was es ist oder wie es aussehen soll. Es kann eine Blume sein, eine Grassorte, eine Holzart oder eine Frucht, sogar ein Mineral. Du weißt ja, dass man selbst Mondstein für Zaubertränke benutzt.“ Ihr Kopf war nun wieder klar, nur ihr Körper blieb weiterhin müde.
Hermine stand bereits auf, als Hagrid sagte: „'s ist schade, dass du nicht früher hergekommen bist. Dann hätte ich dir ein ganz prächtiges Tier zeigen können.“
Eines seiner Monster, dachte sie. „Was für ein Tier?“
„Charlie war vorhin hier. Weiß du, wen er mitgebracht hat?“ Weil sie den Kopf schüttelte, rückte er mit der Sprache heraus, während sich ein Lausbubenlächeln auf seinem Gesicht niedergeschlagen hatte. „Norbert!“
„Nein, wirklich?“
„Wenn ich es dir doch sage. Ein wundervolles Wesen, ganz wundervoll und so sanft“, begann er zu schwärmen. „Er hat mich sofort wiedererkannt!“ Auf den Drachen war Hagrid besonders stolz. Immerzu hatte Charlie ihm Fotos aus Rumänien geschickt, damit der Halbriese nicht zu sehr unter der Trennung leiden würde.
„Ich habe Neville vorhin gesehen“, sagte Hagrid verabschiedend, als er sie bereits zur Tür begleitet hatte. „Sah sehr blass aus, der Arme. Ist wohl jetzt im Gewächshaus und ruht sich aus. Vielleicht braucht er Gesellschaft?“
„Vielleicht besuche ich ihn. Bis dann, Hagrid. Und vielen Dank für den Tee.“
Mit einem aufgefrischten Impervius wanderte Hermine erst ziellos umher. Dabei hielt sie die Augen nach ihr unbekannten Pflanzen offen und die, die sie nicht kannte, pflĂĽckte sie.
Auch die Mitglieder der DA erneuerten ihren Zauber, um während des Fluges vor dem Regen geschützt zu bleiben. Wie vorhergesagt dauerte es nicht mal eine halbe Stunde. Sie konnten die Festung von Hopkins am Horizont ausmachen konnten. Direkt darüber hatten sich schwarze Wolken zusammengebraut, die den Tag zur Nacht machten.
Ein Schauer lief Harry über den Rücken, als er das alte Gebäude und den hohen Turm sah.
Keine Toten.
Der Plan stand fest. Es gab kein zurück. Man wurde erwartet, das wusste man von den Aufzeichnungen von Rons Patronus'. Sie erwarteten Harry Potter und den sollten sie bekommen. Ein Überraschungsangriff war unter diesen Umständen kaum möglich, also sollten die Muggel eine Show bekommen, die es in sich haben würde. Wenn für die Muggel eine Überraschung vorhanden war, dann hieß die klipp und klar Norbert. Den Muggeln einen Drachen zu präsentieren würde ihnen einen mächtigen Schrecken einjagen. Charlie beteuerte, dass die Haut von Norbert so schwer gepanzert war, dass selbst eine kleine Rakete dem Tier nichts anhaben könnte. Trotz seiner Ideale gefiel Harry die Idee mit dem Drachen besonders.
Wie ein bedrohliches Gebilde kam die Festung immer näher. Die Gruppen 1 und 3 flogen – noch immer getarnt – ihre Bögen, um sich in einiger Entfernung um das Gebäude herum zu positionieren. Harry blieb in der Luft stehen, die Thestrale hinter ihm ebenfalls. Nur Charlie flog mit dem Drachen über ihre Köpfen hinweg, was man nur an den heftigen Windstößen durch die kräftigen Flügel spüren könnte.
'Jeden Moment', dachte Harry, 'wĂĽrde Charlie als Erster den Desillusionierungszauber aufheben und fĂĽr alle Muggel sichtbar werden.'
Neugierig blickte Harry nach oben und sah, wie sich erst die Umrisse des gewaltigen Drachen vom finsteren Himmel abzeichneten, bis er im Landeanflug komplett sichtbar war. Keine Sekunde später schlug Norbert seine stählernen Klauen in die Mauern der Festung. Unter dem ungeheuren Gewicht des Feuerspeiers barsten die Steine auseinander, als wäre eine Bombe eingeschlagen. Im gleichen Augenblick entfernten auch alle anderen ihre Desillusionierungszauber.
Die paar Figuren auf dem Innenhof, die verschreckt hin und her liefen, blieben plötzlich stehen und schauten nach oben. Für Hopkins' Leute breitete sich am Himmel eine Schar magischer Feinde aus, als die Gruppen nach und nach sichtbar wurden – auf Besen und dämonisch aussehenden Thestralen. Irgendjemand schrie beim Anblick des Drachen. Für Charlie ein Stichwort.
Auf ein Zeichen seines Herrn holte Norbert tief Luft und erhellte den tiefschwarzen Wolkenhimmel mit einem laut rauschenden Feuerball und dem wahrnehmbaren Geruch von Schwefel. Der Feuerschweif berührte nicht einen einzigen Stein der Festung, sondern driftete nach oben – eine Warnung für die Muggel. Bei diesem angsteinflössenden Anblick brach in der Burg die Hölle los. Hopkins' Männer rannten wild durcheinander, brüllten sich gegenseitig Befehle zu. Am lautesten schrie Hopkins selbst, der eine Handfeuerwaffe auf den Drachen richtete. Erste Schüsse fielen. Durch Norberts langen und dicken Hals war Charlie vor den Kugeln geschützt. Man konnte erkennen, wie einige Männer zu einer Kiste rannten und sich die Taschen mit schwarzen, eiförmigen Gebilden voll stopften, um sich danach in das Getümmel des Kampfes zu stürzen, der im Moment noch sehr ungerecht schien, denn der Feind schwebte unerreichbar am Himmel.
„Die Zauberer, sie greifen an!“, rief eine der Gestalten im Innenhof der Festung. Eine Lüge, denn bisher hatte keiner von der DA seinen Finger krumm gemacht.
Ein Muggel warf eines der eiförmigen Gegenstände nach oben. Der Wurfarm war schwach, das Ei flog von der Anziehungskraft getrieben einen Bogen und explodierte an einem Nebengebäude der Festung, dessen Fenster durch den Druck zersplitterten.
„Bist du übergeschnappt?“, rügte eine gesichtslose Stimme. „Willst du uns umbringen?“
Für Granaten waren sie also zu hoch, nahm Harry erleichtert zur Kenntnis. Über Granatenwerfer, von denen Dean erzählt hatte, verfügten die Muggel offenbar nicht.
Trotzdem warfen in ihrer Panik noch andere Personen mit diesen Sprengkörpern. Jedes Mal, wenn eine der Granaten flog, landete es nach gebogener Flugbahn wieder auf dem Boden im Innenhof und explodierte mit einem ohrenbetäubenden Knall, gefolgt von umherfliegendem Sand und Geröll.
„KEINE GRANATEN MEHR!“, befahl Hopkins, der noch immer mit seiner Waffe wahllos ein Ziel am Himmel anvisierte und feuerte, doch er traf niemanden. Starker Wind und der in die Augen fallende Regen erschwerten einen Treffer. Hopkins' Stimme hallte über den ganzen Platz. „Greift euch die Maschinenpistolen, lasst niemanden am Leben! Wir machen keine Gefangenen!“ Einen Moment später ließen seine Männer die Rhapsodie in Blei erklingen.
Die Formation der Besenflieger löste sich auf. Einige machten sich unsichtbar, andere flogen in einem Affenzahn um die Festung herum. Verwirrungstaktik. Bei unter Imperius stehenden Feinden hatte das damals stets wunderbar gefruchtet.
Es war ein ungleicher Kampf. Einerseits warteten die Muggel mit schwerem Geschütz auf, doch die Zauberer machten keine Anstalten, sich zur Wehr zu setzen. Stattdessen trieben sie ihre Spielchen mit den Muggeln, zeigten ihre Schnelligkeit auf Besen und Thestralen und machten sich unsichtbar, bevor sie aus dem Nichts wieder auftauchten. Bisher hatte kein einziger von der DA auch nur einen Zauberspruch gegen Hopkins' Männer abgefeuert. Lediglich sich selbst hatten sie magisch gegen Kugeln geschützt.
Um die Muggel abzulenken, flogen Angelina und Alicia dicht nebeneinander einmal komplett um die Festung herum. Als sie den Turm erreichten, sah Angelina etwas aus dem Augenwinkel.
„Alicia!“, schrie sie der ehemaligen Mitschülerin hinterher, so dass die eine Wende machte.
„Was ist? Wir haben keine Zeit zum Ausruh...“
Mit ausgestrecktem Zeigefinger deutete Angelina auf den Turm und da sah Alicia es auch. Jemand klammerte sich an der Außenseite fest, kletterte bei dem Regen und dem starken Wind Stein für Stein hinunter. Wenn einer der Muggel so sehr in Panik geraten war, dass er sogar einen so gefährlichen Ausweg wie diesen in Betracht zog, mussten sie eingreifen. Niemand durfte ums Leben kommen. Gemeinsam näherten sich die beiden langsam der Person.
„Ist das etwa …?“
Angelina erkannte die Frau, die sich im ungesicherten Freiklettern übte. „Ja, es ist Ginny!“
„Worauf warten wir dann?“
„Wir müssen vorsichtig sein“, mahnte Angelina, „damit sie nicht erschrickt und fällt.“
Beide flogen auf Ginny zu, die sich einige Meter über der Erde mit ihren Fingerspitzen an den Steinen festkrallte. Die Kraft hatte sie verlassen. Die Hälfte des Weges war sie bereits hinuntergeklettert, doch jetzt konnte sie weder weiter nach unten noch zurück nach oben. Die Muskeln waren so angespannt, dass ihre Gliedmaßen vollkommen steif waren. Sie konnte nicht mehr.
Alicia nahm die Position an Ginnys Beinen ein und war bereit zuzugreifen. Angelina flog in Höhe des Oberkörpers. Leise, damit sie nicht zusammenfahren und den Halt verlieren würde, flüsterte Angelina ihren Namen: „Ginny?“ Ginny hatte die Augen geschlossen und flüsterte unentwegt „Ich muss weiter! Ich muss weiter!“ zu sich selbst. „Ginny?“, wiederholte Angelina und erst da öffnete die gesuchte Freundin die Augen.
„Träum' ich?“ Die Stimme war beängstigend schwach. Der geisterhafte Hauch eines Lächelns war zu erkennen.
„Nein Ginny, du träumst nicht.“
Mit einer ausgestreckten Hand umfasst Angelina Ginny vorsichtig am Oberkörper, von einer Achselhöhle zur anderen. „Unter dir ist Alicia mit dem Besen. Ich hab dich, aber du musst auf den Besen aufsteigen.“
„Ich kann nicht loslassen!“, wimmerte Ginny. Ihre Hände waren durch Regen und Wind steif und gefühllos geworden. Die Hände waren blau, die Finger weiß sie Kreide. Angelina bemerkte den Stoff an der linken Hand, mit dem der unnütze Daumen zurückgebunden war.
„Ich halte dich, Ginny. Alicia hat deine Beine. Lass los“, bat Angelina erneut.
Vorsichtig blickte Ginny nach unten, was alles andere als leicht war. So dicht wie nur möglich war sie an der Wand geblieben. Nur so hatte sie die Strecke zurücklegen können. Mit den nackten Füßen hatte sie vorsichtig nach dem nächsten Stein gefühlt, der ein wenig aus dem Mauerwerk herausragte, hatte sich immer weiter hinuntergelassen, bis sie nicht mehr konnte.
Ginny erblickte den Besen zu ihren Füßen und nahm all ihren Mut zusammen, ihren linken Fuß mit seinen zersplitterten und blutenden Nägeln von dem minimalen Vorsprung zu lösen. Sie fühlte mit den Zehen nach dem Besen, spürte plötzlich eine Hand an ihrem Fußgelenk. Alicia leitete sie, gab ihr von unten Halt und umfasste sie sogar am Oberschenkel, während Angelina sie weiterhin am Oberkörper festhielt. Die beiden hatten sie fest im Griff. Selbst wenn sie zusammensacken würde, dachte Ginny, würde sie nicht fallen.
„Ich lass jetzt los“, warnte Ginny vor, doch erst als Angelina bestätigte, entkrampfte sie ihren Hände und warf ihre steifen Arme um Angelina.
„Keine Angst, wir haben dich!“
Zitternd und völlig durchnässt atmete Ginny heftig, als sie von den beiden Freundinnen mitten in der Luft gehandhabt wurde. Eine große Hilfe war sie wegen ihrer kaum noch beweglichen Gliedmaßen nicht. Jeder einzelne Muskel schmerzte, manche hatten durch die Anstrengung mit schweren Krämpfen zu kämpfen. Nach einem kurzen Augenblick nahm sie mit Erleichterung das Gefühl des Polsterungszaubers wahr. Sie saß, wurde von hinten von Alicia umarmt. Endlich, dachte Ginny, konnte sie ihre Arme und Beine entspannen. Locker baumelten ihre Gliedmaßen an der Seite ihres Körpers herab.
„Bring sie weg“, Angelina sah sich am Himmel um. „Ich werde Harry Bescheid geben!“
„Wohin soll ich sie …?“
„Erst einmal auf den Boden und etwas weg von der Festung. Kümmer dich um ihre Wunden und halte sie warm.“
„Okay“, Alicia nickte Angelina zu, bevor sie Ginny noch fester umarmte und in ihr Ohr sprach. „Wir bringen uns erstmal in Sicherheit.“
Geschwächt nickte Ginny, bevor Alicia den Besen zum Rande des Verbotenen Birkenwaldes steuerte.
Ganz in der Nähe von der Stelle, wo die beiden Frauen landeten, materialisierten sich Fogg und Stringer. Beide gingen erst einmal in die Hocke, um nicht gesehen zu werden. Die Lage wollte geprüft werden. Durch die Bäume hindurch konnte man ein steinernes Gebäude erkennen.
„Da“, Fogg zeigte mit ausgestrecktem Arm in die Richtung, „da ist die Festung.“
„Und da“, erwiderte Stringer um einiges leiser, als er in die entgegengesetzte Richtung deutete, „ist irgendjemand.“
Fogg wandte sich um und musterte die Gegend. Bäume, Sträucher, ein fliehendes Reh und – tatsächlich – eine Gestalt, die sich hinter einem Busch versteckte und etwas beobachtete. Aufmerksam suchten Fogg und Stringer mit den Augen die Gegend ab, die die Gestalt zu beobachten schien. Sie sahen zwei Frauen.
„Verdammt!“, flüsterte Fogg. „Wer sind die beiden? Und was will die Gestalt hinter den Büschen?“
„Wir müssen still sein!“, mahnte sein Freund. „Der Typ ist mir nicht geheuer.“ Stringers Augenmerk war weiterhin auf den Fremden gerichtet. „Jemand, der in einem Wald hinter einem Busch hockt und zwei Frauen beobachtet, kann nichts Gutes im Sinn haben.“ Er sprach da aus Erfahrung. „Wir sind noch nicht bemerkt worden, weder von den Frauen noch von ...“ Er verzog das Gesicht. „Was ist das?“ Stringer kniff die Augen zusammen, um die Figur besser erkennen zu können. „Ist das sein Tier?“
Nervös fuhr sich Fogg mit einer Hand über das Gesicht. „Scheiße Mann, wir sind im Verbotenen Birkenwald! Hier sind eine Menge Viecher unterwegs, denen man normalerweise aus dem Weg geht!“
„Wer sind die Frauen?“
Auf die Frage hin sprach Fogg leise einen Zauber, der eine durchsichtige Blase an seiner Stabspitze hervorbrachte, durch die man die Gegend wie durch ein Fernglas vergrößert wahrnehmen konnte. Er blickte zu den beiden Damen hinüber.
„Das ist die Tochter des Ministers!“ Der Zustand der jungen Frau war nicht der beste, was in Fogg ein Schuldgefühl aufkommen ließ. „Sie ist verletzt, aber die andere sorgt sich um sie.“
„Und der Typ hinter dem Busch?“
Mit seinem Stab drehte sich Fogg, damit er die Gestalt besser erkennen konnte. Das Gesicht der Person konnte er nicht sehen.
„Ich bin mir nicht sicher ...“ Er schaute genauer hin, bemerkte den bulligen Körper, der durch den schlammigen Waldboden vollkommen verschmutzt war. „Kein Tier, nein, aber für einen Menschen viel zu ...“ Plötzlich bewegte sich die Gestalt, um an einer anderen Seite des Busches hervorzulugen, die Augen weiterhin starr auf die Frauen fixiert. Spitze Zähne, verfilzte Haare und ein gieriger Blick auf die beiden Ahnungslosen. „Oh, Merlin! Das ist ...“
Der Anblick verschlug Fogg die Sprache. Er kannte den Mann. Ganz allein suchte sein Gehirn die entsprechende Erinnerung von vor elf Jahren heraus. Eine schmerzhafte Rückblende, die er all die Jahre verdrängt hatte. Die Unheil bringenden Worte aus kratziger Kehle echoten in seinem Geist, als dieser Kerl ihn auf dem Weg zur Kirmes ans Schlaffitchen genommen hatte und ihm ins Ohr flüsterte: 'Pass heute Nacht auf deinen Hals auf!' Ein wahnsinniges Grinsen hatte die Worte begleitet. Den ganzen Abend lang hatte er nur an diesen Mann und die Drohung denken müssen, die sich in der Nacht auf dem Weg nachhause erfüllte. Kurze Zeit später hatte sein Freund Stringer ihn schwer verwundet im Wald gefunden.
„Das ist ...“ Fogg war zu geschockt.
„Wer ist das? Kennst du den?“ Erst jetzt bemerkte Stringer, wie sein Freund zitterte. Mit einer Hand auf dessen Schulter wollte er ihn beruhigen. Leise und eindringlich fragte er wiederholt: „Wer ist das?“
„Der Typ ...“ Wut kam auf. Die Lust auf Rache zeichnete sich mit tiefen Furchen in seinem Gesicht ab. Fogg biss die Zähne zusammen und zischelte: „Der Typ hat mich gebissen!“
„WAS? Wie willst du das wissen? Du kannst ihn doch gar nicht erkennen!“ Kein Vollmond.
„Er hat mich auf dem Kieker gehabt, den ganzen Abend lang. Er hat mir gedroht, mich sogar vorgewarnt, was passieren wird.“ Fogg ballte seine Fäuste. „Ich sollte auf meinen Hals aufpassen, hat er gesagt. Dieser Mistkerl ...“
Fogg wollte bereits losstürmen und den Mann zur Strecke bringen, doch Stringer hielt ihn am Arm fest. Als er sich wehrte, brachte Stringer ihn zu Fall. Er presste Fogg mit dem Gewicht seines eigenen Körpers auf den Boden, bis der Aufgebrachte sich beruhigt hatte.
„Keine Selbstmordmission, mein Freund!“, befahl Stringer. „Wenn er das wirklich sein sollte, dann nehmen wir ihn uns gemeinsam vor, aber im Moment“, er blickte auf, um den Mann zu beobachten, „hat er ganz offensichtlich Interesse an den Frauen.“
„Fein!“, herrschte Fogg in an. „Gehst du jetzt wieder runter von mir?“
„Ich weiß nicht, du bist trockener als der Boden“, scherzte Stringer, ließ aber gleichzeitig von seinem Freund ab. „Also“, er überblickte die Lage, „Miss Weasley hat es offensichtlich geschafft zu fliehen und ist mit ihrer Bekannten vom Regen in die Traufe gekommen. Sie wissen nichts von dem Kerl, der sie beobachtet.“
„Und der Kerl weiß nicht“, fügte Fogg mit bebender Stimme hinzu, „dass wir ihn beobachten.“
„Richtig! Ich würde sagen, der Vorteil liegt ganz klar bei uns.“
Mit einem Male hörte man ein lautes Krachen in der Nähe. Fogg und Stringer sowie die Frauen und auch Greyback schaute gemeinsam in die gleiche Richtung. Das Geräusch kam von der Festung. Durch die Bäume hindurch konnte man einen Drachen erkennen, der eine der Wände auseinander nahm, weil er an ihr Halt suchte.
„Himmel, ist das ein Drache?“, fragte Ginny leise.
Alicia nickte, betrachtete sich dabei die verletzten Finger ihrer Freundin. „Charlie hat ihn 'Norbert' genannt.“
„Ah!“ Ihr Bruder hatte ihr oft geschrieben, dass ein Tier, um das er sich in Rumänien kümmerte, sehr zahm war, weil er es schon als Baby unter Obhut hatte. Natürlich wusste sie von Erzählungen auch von der Geschichte um Hagrid und das Drachenei.
„Deine Finger sehen scheußlich aus“, murmelte Alicia mit verzogenem Gesicht. Der Nagel des linken Mittelfingers war in der Mitte gespalten und bis hinauf zum Nagelbett eingerissen. Die kleine Wunde blutete unaufhörlich.
Ginny betrachtete den Finger. „Es tut nicht halb so weh wie es aussieht. Ich bin nur froh, dass ich die Nägel immer so kurz schneide, sonst wären alle gebrochen.“
„Was haben die dir nur angetan?“
„Mich ruhiggestellt.“ In Ginnys Stimme konnte Alicia all die Verachtung für die Muggel heraushören. „Ich glaube, sie wollten Harry herlocken.“
„Was auch funktioniert hat“, bestätigte Alicia. „Allerdings anders, als sie es sich vorgestellt haben dürften.“ Mit einem Episkey, einem praktischen Heilzauber für kleinere Wunden, stoppte Alicia die Blutung am Finger. „Tut mir leid, mehr Heilzauber habe ich nicht drauf. Was ist mit dem Daumen?“ Vorsichtig strich sie über den Stofffetzen, der mittlerweile nass und dreckig war.
„Ich musste ihn mir brechen, damit ich mich befreien konnte.“
Alicias Augen wurden ganz groß, als sie versuchte, sich diese Situation vorzustellen. „Bei Merlin, das muss wehgetan haben.“
„Durch die ganzen Beruhigungsmittel ging es eigentlich.“
„Beruhigungs... Herrje, die Muggel verdienen wirklich eine Abreibung. Einen Ferula zum Schienen würde ich noch hinbekommen.“
„Ist nicht nötig.“ Neugierig blickte Ginny in Richtung Festung. „Wer von uns ist alles hier?“ Ginny blickte hinüber zum Turm, in dem sie vor kurzem noch gefangen gehalten wurde.
Alicia schmunzelte. „Frag mich lieber, wer nicht hier ist, das ist schneller zu beantworten.“
Endlich fand Ginny ihr Lächeln wieder. Alle waren gekommen, fast alle, nur um sie zu befreien. Es war ein wunderschönes Gefühl, so viele Freunde zu haben. Sie würde das Gleiche für die anderen tun.
„Neville ist nicht hier. Er musste Blut spenden und war danach nicht mehr zu gebrauchen.“
Ginny runzelte die Stirn. „Blut spenden? Wem?“
„Snape. Bei dem Treffen im Raum der Wünsche ist etwas ganz Seltsames geschehen. Ich weiß nicht, ob es gut oder schlecht ist.“
„Erzähl schon!“, forderte Ginny.
Alicia kam der Bitte nach, auch wenn sie nicht viel erzählen konnte, weil sie die ganzen Hintergründe nicht kannte. Sie konnte nur schildern, wie Draco mit Harrys Hand und Stab sein dunkles Mal berührte und daraufhin zusammengebrochen war. Im Krankenflügel lag ihr ehemaliger Professor für Zaubertränke mit einer ähnlichen Wunde im Bett. Ginny, die zusammen mit Draco die Prophezeiung von Trelawney gehört hatte, wusste mit den Ereignissen etwas mehr anzufangen.
„Und Harry geht es wieder gut?“, wollte Ginny wissen.
„Seine Narbe hat geblutet. Danach ist er vom Schlaf übermannt worden, hat sich eine Stunde erholt und ist pünktlich zu uns gestoßen. Gleich danach sind wir gemeinsam los.“ Alicia stoppte nach und nach die vielen kleinen Blutungen an Händen und Füßen. „Hermine ist auch nicht mitgekommen. Warum, das weiß ich nicht.“
Für Ginny war klar, dass Hermine wegen Snape und der Prophezeiung zurückgeblieben war. Immerhin war sie auch Heilerin und würde Poppy im Krankenflügel sicherlich zur Hand gehen. Und außerdem, das wusste Ginny, sorgte sich ihre Freundin um den Tränkelehrer. Hermines Anwesenheit war auch gar nicht notwendig, dachte sie, als sie erneut zur Festung blickte. Norbert hatte den Turm erklommen und spie sein Feuer gen Himmel. Auch ohne Hermine hätten die Muggel es schwer, gegen die DA anzukommen.
Ginny behielt Recht. Die Muggel hatten es wahrlich schwer. Sie schossen auf die fliegenden Feinde, warfen vereinzelt mit Granaten oder aus Verzweiflung auch mit Steinen der Mauer, die von dem Drachen zerstört worden war.
„Was können wir schon dagegen“, Alejandro deutete auf das Feuer speiende Ungeheuer, „ausrichten? Wir sind erledigt, Robert! Wir müssen uns ergeben, wenn uns unser Leben lieb ...“
Hopkins ergriff Alejandro am Hals und drückte zu. „Ist uns unser Leben so lieb?“, murmelte er bedrohlich leise. Der Wahnsinn schimmerte in Hopkins' Augen, in denen sich das Feuer des Drachen spiegelte. Er drückte noch viel stärker zu, so dass Alejandro es mit der Angst zu tun kam. „Was nützt uns das Leben, wenn es mit Qualen begleitet wird, die von diesem Abschaum hervorgerufen werden?“
„Lass meinen Vater los!“ Mit einer Handfeuerwaffe zielte Pablo aus einigen Metern Entfernung unsicher auf Hopkins.
„Du wagst es, eine Waffe auf mich zu richten? Bist du auch Manns genug, um abzudrücken?“
Von oben aus wurde das Szenario aufmerksam verfolgt. Ron flog zu Harry hinĂĽber, bis er direkt neben ihm in der Luft schwebte.
„Siehst du das?“ Ron nickte in den Innenhof.
„Ja, sie lehnen sich gegeneinander auf. Gut!“
„Gut?“, fragte Ron irritiert nach, zog dabei die Augenbrauen zusammen.
Harry nickte. „Ihre Gruppe hat keinen Zusammenhalt, Ron, hatten sie wahrscheinlich nie. Sie splittern auf. Das ist gut für uns. Nicht mehr alle werden sich uns in den Weg stellen!“
„Schön und gut“, stöhnte Ron, „doch wie sehen wir, wer uns gefährlich werden kann und wer nicht?“
„Vielleicht werde ich es sehen können?“ Mit schräg gelegtem Kopf betrachtete Harry den Innenhof. Einige Muggel waren längst ins Gebäude geflüchtet. In etwa fünfzig waren es noch, die sich mit Waffen in dem großen Innenhof verschanzt hatten. „Es ist Zeit. Wir gehen runter!“
Der zweite Teil des Plans war, mit einigen Mitgliedern der DA in den Innenhof zu treten. Die meisten sollten von oben Rückendeckung geben, denn es könnte gefährlich werden. Handgranaten würden viel Schaden anrichten, auch bei Zauberern.
„Soll ich das Zeichen geben?“, fragte Ron, den Stab bereits zum Himmel gerichtet, um sein 'signo dato' zu sprechen. Harry nickte und gleich darauf stieben roten Funken aus Rons Zauberstab, die sich hoch oben am Himmel sammelten, bevor sie wie eines der Feuerwerke der Zwillinge auseinander brachen. Das Signal für die zehn im Vorfeld bestimmten Mitglieder der DA, den Innenhof anzusteuern.
Als Erste landeten Colin, Dennis, Fred und George, die sofort unter Beschuss genommen wurden, doch ihre Freunde in der Luft vereitelten die Angriffe der Muggel.
„So“, Ron stieß Harry mit seinem Ellenbogen an, „dann lass und die Muggel mal etwas aufmischen. Schade, dass Ginny das nicht sehen kann.“
„Ich bin froh, dass Angelina und Alicia sie gefunden und in Sicherheit gebracht haben.“ Harrys Miene war ernst. „Aber wir werden ihr davon erzählen.“
„Nach dir, Harry.“
Als würde Ron höflich eine Tür aufhalten machte er eine einladende Handbewegung in Richtung Innenhof. Sofort sauste Harry nach unten, dicht gefolgt von Ron. Beide waren für die Muggel noch unsichtbar.
Colin und Dennis waren bereits kräftig dabei, sich gegen zwei Muggel zu wehren, die auf sie schossen. Mit ihren Zauberstäben verwandelten sie die Kugeln in Murmeln, die kraftlos aus dem Lauf der Waffen rollten, doch als Dennis auf einer ausrutschte und auf den Allerwertesten fiel, änderte Colin die Taktik.
„Abwarten und Tee trinken“, rief er den Männern mit den Waffen zu, bevor er seinen Stab schwang. Im Nu hielt einer der Muggel eine Tasse in der Hand, der andere eine gläserne Kanne mit heißem Tee, die er vor Schreck fallen ließ. „Mag wohl kein Hagebutte“, murmelte Colin, als er seinem Bruder vom Boden aufhalf. Die Tasse ließ der andere auch fallen, bevor die beiden entwaffneten Männer das Weite suchten und ins Hauptgebäude rannten.
Zur gleichen Zeit hatte sich Luna einem Mann genähert, der hinter ein paar prall gefüllten Säcken saß und sein Gewehr zu laden versuchte. Die nassen Haare hingen ihm ins Gesicht. Er hatte die Hexe längst bemerkt und bekam es mit der Angst zu tun. Eine Patrone fiel ihm aus der zitternden Hand und rollte auf Luna zu, die dem Projektil mit verträumten Blick nachschaute. Der Muggel nahm eine neue Patrone und stopfte sie in die Vorrichtung seines Mehrladergewehrs. Er lud durch und zielte auf die lächelnde junge Frau, die gemächlich darauf wartete, bis er abdrücken würde. Der Mann zögerte, gab sich jedoch einen Ruck und zielte auf ihren Oberschenkel. Kaum hatte er den Finger gekrümmt, wedelte Luna mit ihrem Stab und man hörte ein leises Klick. Keine Kugel kam geflogen. Stattdessen kroch aus dem langen Lauf ein kleiner blauer Schmetterling heraus, der seine Flügel langsam ausbreitete. Fasziniert und geschockt zugleich beobachtete der Muggel den Schmetterling, bevor er den Schrecken überwandte und seine Hand erneut nach der Kiste mit Munition ausstreckte. Luna nahm das als Anlass, erneut mit dem Stab zu wutschen. Einen Augenaufschlag später war die Kiste nicht mit goldfarbenen Patronen gefüllt, sondern mit unzähligen blauen Schmetterlingen. Manche flatterten verträumt von dannen, andere ließen sich auf dem Arm des Muggels nieder, der sich nun darüber bewusst wurde, keine Chance gegen die Blonde zu haben.
„Sie sind schön, oder?“, fragte Luna mit verzücktem Lächeln. Einen der blauen Falter, den sie mit Bewunderung betrachtete, ließ sie auf ihrer Hand landen. „Beim Teeblätter-Lesen bedeuten Schmetterlinge Glück!“
Der Muggel nickte. Wie in Zeitlupe hob er beide Hände und ergab sich wortlos.
Ähnlich lief es bei den Zwillingen ab. Drei Männer waren es, die sich in einem der Nebengebäude verschanzt hatten und aus den Fenstern im Erdgeschoss mit Granaten warfen. Jede einzelne von den Pineapples verzauberten Fred und George in ein harmloses Feuerwerk, das Funken sprühte und mit knatternden und zischenden Geräuschen im Innenhof umhersauste.
„Langsam wird es langweilig.“ Mit frech funkelnden Augen blickte Fred zu George hinüber. „Wir sollten nicht immer warten, bis sie so ein Ding rauswerfen.“
„Hast recht!“ Beide hoben ihre Stäbe. „Auf drei!“
Ein, zwei, ...
In dem Nebengebäude war mit einem Male die Hölle los. Alle Handgranaten waren in Windeseile in Feuerwerkskörper verwandelt, die zeitgleich explodierten. Davon aufgescheucht verließen die drei Muggel das Gebäude, um draußen nach frischer Luft zu schnappen. Als sie die Zwillinge sahen, machte einer der Männer ganz große Augen.
„Verdammte Scheiße, die können ihre Körper verdoppeln!“ Seine beiden Kumpane blickten ebenfalls zu Fred und George hinüber. „Das ist unser Ende!“
Alle drei hoben ihre Hände. Fred und George grinsten sich siegessicher an, bevor sie die Männer mit einem Incarcerus fesselten und an Ort und Stelle zurückließen.
Beide näherten sich Angelina. Sie wurde von einem Mann, der sich hinter steinernen Blumenkübeln versteckte, mit etwas beworfen, das wie metallene Klingen aussah. Als sie sich ihr näherten, hörten sie, wie Angelina den Mann zähneknirschend fragte: „Wie viele von diesen Dingern hast du denn noch?“ Kaum hatte sie die Frage gestellt, kam bereits der nächste Wurfstern geflogen, den sie mit einem Wutsch in eine Haubenmeise verwandelte, die fröhlich zwitschernd direkt an ihrem Kopf vorbeisflatterte. Die nächste Wurfwaffe verwandelte Angelina in einen blaugrauen Kronwaldsänger mit gelben Flanken.
„Du magst Vögel, oder?“, scherzte Fred.
„Ah“, machte sie erleichtert. „Gut, dass ihr da seid. Ich verliere hier langsam die Geduld.“
„Versuch es einfach mit 'Metall in Pflanzen'“, empfahl George.
Angelina schüttelte den Kopf. „Bedaure, so einen Spruch kenne ich nicht.“
„Aber ich!“
Schon erhob George seinen Stab. Sein gesprochener Zauber wanderte hinter die steinernen Blumenkübel, genau dorthin, wo sich die Waffen des Mannes befinden mussten. Man hörte einen Aufschrei. Der Muggel verließ aufgeschreckt sein Versteck und rannte Fred in die Arme. Der Grund für seine Flucht waren die vielen bis zu ein Meter hohen, Fleisch fressenden Pflanzen, die ein sehr aktives Eigenleben hatten, denn sie rissen ihre Klappfallen wie hungrige Mäuler auf. Die Wurfsterne waren Vergangenheit.
„Genug?“, fragte Fred den Muggel, der daraufhin betreten zu Boden blickte und nickte. Anscheinend rechnete er mit seinem Tod, doch er wurde nur magisch gefesselt.
Mit ihrem Desillusionierungszauber standen Harry und Ron auf dem großen Innenhof und verschafften sich einen Überblick. Sie standen keine drei Meter von Hopkins entfernt, der wie von Sinnen in den Himmel schoss. All seine Kugeln wurden von den Freunden im Himmel in Vögel, Federn oder Motten verwandelt, was ihn nur noch rasender machte. Die anderen Mitglieder der DA hatten bereits einige Muggel im Innenhof außer Gefecht gesetzt, doch je näher man dem Hauptgebäude kam, desto mehr bereitwillige Muggel fand man hinter Schubkarren, Blumenkübeln und drall gefüllten Sandsäcken.
Als Harry seinen Blick schweifen lieĂź, verblassten einige der Muggel. Erschrocken ergriff er Rons Arm.
„Ron“, flüsterte Harry, „ich sehe einige von ihnen nicht mehr. Sie sind verschwunden!“
„Echt? Ich sehe noch alle.“
„Aber warum ...?“ Er hielt inne, denn noch mehr von den bewaffneten Muggeln verschwanden. „Es sind wieder welche weg. Ron, was passiert hier?“
„Frag doch nicht mich. Du bist derjenige, der Leute manchmal nicht sehen kann.“
„Wie soll ich denn kämpfen, wenn ich niemanden mehr sehe?“ Unsicher ging Harry ein paar Schritte zurück, zog Ron dabei hinter sich her.
„Sind denn alle weg?“, wollte sein Freund wissen.
Harry schüttelte den Kopf. „Nein, nur ...“ Er betrachtete diejenigen, die er klar und deutlich wahrnahm. Es waren durchweg Männer, die sehr aggressiv wirkten und ständig auf etwas feuerten. „Ich sehe nur welche, die wie irre schießen.“
„Aha“, machte Ron, dem das Ganze etwas zu lapidar erklärt war. „Alle schießen wie irre. Wäre nett, wenn du mir die zeigen würdest, die du siehst.“
Harry zeigte nach vorn. „Die dort ganz links am Eingang hinter dem Karren. Die sehe ich alle und auch“, sein Zeigefinger wanderte, „Hopkins und den Mann schräg dahinter. Dann noch“, er zeigte nach rechts, „die an den Säulen da drüben.“
„Das ist nur ein Bruchteil von den Leuten, die hier unterwegs sind, Harry! Die anderen siehst du wirklich nicht?“ Nochmals verneinte er mit einem Kopfschütteln. „Das ist nicht gut, das gefällt mir nicht“, zeterte Ron leise. „Was, wenn du dich auf die konzentrierst, die du sehen kannst und dann greift dich einer von den anderen an?“ Mit einer Hand fuhr sich Ron aufgebracht durchs Haar. „Mir wäre am liebsten, wenn du wieder auf den Besen steigst.“
„Nein, es muss ja einen Grund haben! Vielleicht konzentriere ich mich nur auf die, die tatsächlich eine Gefahr darstellen?“
Rons Stirn schlug Falten. „Machst du das mit Absicht?“
„Nein! Ich schwöre, ich mache gar nichts. Es ist einfach so.“
Gleichgültig zuckte Ron mit den Schultern. „Wenn du es nicht ändern kannst, dann halten wir dir die anderen vom Leib. Ich sag unseren Freunden Bescheid, wen du sehen kannst. Vielleicht ist der Spuk schneller zu Ende, wenn wir die erst dingfest gemacht haben.“
„Ja, tu das. Und wenn du schon bei Fred und George bist ...“
Von oben hörte man plötzlich eine wohl bekannte Stimme rufen, gefolgt von einem krächzenden Laut, der an einen Adler erinnerte. Neugierig blickten Harry und Ron nach oben. Sie erkannten Seidenschnabel und auf dessen Rücken saß ...
„Was zum Teufel hat Sirius hier verloren?“
Ron war genauso überrascht. „Ich habe keine Ahnung, Harry!“
„Sorg' dafür, dass er verschwindet!“
„Warum? Hast du Angst, ihm könnte was passieren? Das glaub ich ehrlich gesagt nicht.“
„Ich habe keine Angst um ihn, aber um die Muggel! Er weiß nicht, dass wir niemanden verletzten wollen. Ich will siegen, ohne dass auch nur ein Mensch dabei draufgeht, Ron. Los, geh schon und sag ihm das!“
„Aye, Aye, Sir!“, spaßte Ron, bevor er auf seinen Besen stieg und abhob.
Harry blieb am Boden zurück. Sein Blick fiel auf Hopkins, dessen lichter Verstand im Kernschatten seiner Verblendung stand. Hopkins beobachtete nervös die Feinde am Himmel und schoss ziellos nach oben. Für einen Bruchteil einer Sekunde fragte sich Harry, ob er mit dem Mann einfach heimlich wegapparieren sollte, um mit ihm allein zu reden. Wild funkelnde Augen hielten ihn von der Idee ab, denn sie zeugten von einem Geist, der von einem eigentümlichen Hass gequält und von ungestümer Heftigkeit angetrieben wurde. Harry wusste, dass man mit diesem Mann kein vernünftiges Wort wechseln könnte.
Plötzlich verlor Harrys Umfeld an Farbe. Ein paar Male blinzelte er, doch die Farbe kam nicht zurück, jedenfalls nicht so, wie er es kannte. Alles verschwamm miteinander. Für einen kurzen Augenblick befürchtete er, ohnmächtig zu werden, doch sein Verstand verließ ihn nicht. Die Festung, die Gegenstände, die Menschen – alles und jeder – ging grau in grau ineinander über und dann, völlig unerwartet, zeichneten sich Schatten ab. Harry konnte die Festung wieder sehen, aber nur als nebelhaften Umriss. Jeder Gegenstand, ob ein Blumenkübel, eine Bank oder eine Wand, war nur noch eine Silhouette. Einige der Schatten bewegten sich, nur wenige von ihnen zeigten Farbe. Es waren Menschen.
Neugierig schaute Harry nach oben. Auch am Himmel konnte er Umrisse erkennen. Gestalten, die in einen hellen Strahlenkranz aufwiesen und umherflogen – seine Freunde. Wenige Silhouetten am Boden waren von einer bunten Korona umgeben, doch die, die seine Aufmerksamkeit erlangten, waren die dunklen Figuren, die wie lebendige Scherenschnitte wirkten – Feinde, die bereit waren zu töten.
Auf den Ländereien von Hogwarts sah auch jemand anderes die Umrisse einer Gestalt.
Hermine lugte durch das Glas eines der Gewächshäuser und sah die Gestalt eines Mannes. Mit den ganzen Pflanzen und Blumen, deren Namen sie nicht kannte und die sie während ihrer kleinen Tour gesammelt hatte, ging sie zum Eingang des Gewächshauses. Sie klopfte, doch ein „Herein“, wenn dazu aufgefordert wurde, war zu leise. Vorsichtig öffnete sie die Tür. An einem Tisch bemerkte sie Neville, der durch die glasige Wand hinaus zum Regen schaute. Er war blass.
„Neville?“
Er drehte seinen Kopf. Aus seinem blutarmen Gesicht zeichnete sich die Freude über ihr Erscheinen ab. „Hermine, komm doch rein.“ Der Stuhl ihm gegenüber war noch frei. „Setz dich doch.“ Die ganzen Gräser und Blumen fächerte sie auf dem Tisch auf, bevor sie Platz nahm. „Sind sie schon weg?“
„Die DA?“, fragte sie nach, woraufhin er nickte. „Ja, die sind schon weg. Ich drücke die Daumen, das alles gut geht.“
„Hoffentlich finden sie Ginny. Ich weiß nicht, was Harry tun würde, sollte man ihr etwas angetan haben. Als ich ihn aufgehalten habe, da ...“
„Du warst das?“ Voller Bewunderung schenkte sie ihm ein respektvolles Nicken. „Ich habe mir solche Sorgen gemacht, Harry würde allein losziehen.“
„Das wollte er auch und ich kann ihn verstehen. Wenn es Luna wäre ...“ Er schüttelte langsam den Kopf, um die bösen Bilder loszuwerden, die sich seine Fantasie ausmalen wollte. „Wie geht es Severus und Draco?“
„Das Gröbste haben sie offenbar überstanden. Seltsam ist, dass weder Schlaf- noch Schmerzmittel helfen. Man könnte meinen, sie sind dazu verdammt, die Qualen zu ertragen“, erwiderte sie gewissenhaft.
„Voldemort hat bestimmt nie in Betracht gezogen, dass einer seiner Leute das Zeichen jemals wieder loswerden könnte. Das war auch gar nicht so gedacht. Vielleicht ist es die schwarze Magie, die solche Schmerzen bereitet, während sie den Körper verlässt?“ Nevilles Worte klangen logisch. Nur zu gut erinnerte sich Hermine an Ollivanders Worte. Das dunkle Mal hätte den Zauberstab verdorben, weil Severus ihn immer am linken Unterarm getragen hatte. „Was mit dem dunklen Mal passiert ist, war weder vorhersehbar noch gibt es etwas Ähnliches in der Geschichte.“
Sie stimmte ihm zu. „Hoffentlich wird so etwas auch nie wieder geschehen.“
„Ich ...“ Ihr Gegenüber zögerte, blickte verloren aus dem Fenster. „Ich wünschte, ich wäre jetzt bei Luna. Andererseits bin ich froh, dass du hier bist“, gestand er. „Irgendwie fühle ich mich schlecht, weil ich hier sitze und Däumchen drehe, während ...“
Eine Hand auf der seinen unterbrach ihn. Sie blickte ihm in die Augen. „Niemand macht dir Vorwürfe, nur weil du nicht mitgegangen bist. Dein Wohlbefinden ist genauso wichtig wie das der anderen. Du hast eine Menge Blut gespendet, Neville. Deine gute Tat hast du heute schon hinter dir.“
Einen Moment lang saßen sie einfach nur da, still und gedankenverloren. Als Hermines Worte bei ihm für inneren Frieden sorgten, musste er lächeln. Die DA würde es auch ohne ihn und Hermine fertigbringen, den Muggeln zuzusetzen. Neville schmunzelte und deutete mit einem Kopfnicken auf die Pflanzen, die sie vorhin auf dem Tisch ausgebreitet hatte.
„Brauchst du meine Hilfe?“
„Ja, ich weiß nicht, was das für welche sind und wollte die Namen hören.“
„Warum willst du das wissen?“
„Ich suche etwas Bestimmtes.“ Als sie aufblickte, fiel ihr erneut sein kreideweißes Gesicht auf. „Dir geht es noch immer nicht besonders gut?“
„Nein.“ Ein tiefer Seufzer untermalte sein Unwohlsein. „Ich habe mein Blut gesehen.“ Er verzog das Gesicht. Allein bei der Erinnerung an den roten Lebenssaft, der aus seiner Vene lief, wurde ihm ganz schlecht.
„Ich verstehe dich“, sie nickte, „geht mir genauso. Ich kann mein eigenes Blut nicht sehen und ...“ Ein grabendes Geräusch erschreckte sie. Es kam von einem der großen Pflanzenbehälter, in denen verschiedene Gewächse gezogen wurden. „Was war das?“
„Das ist mein 'Hausgnom'.“
„Hausgnom?“, fragte sie irritiert nach.
„War ihm wohl zu regnerisch draußen. Pomona wollte ihn schon rauswerfen, aber ich habe ihm gesagt, er kann hier bleiben, wenn er unsere Pflanzen in Ruhe lässt und stattdessen den Horklump vertilgt.“ Neville deutete auf das Unkraut – einen rosafarbenen Pilz, der unter den Orchideen wucherte.
„Und er hat dich verstanden?“
Neville hob und senkte die Schultern. „Ich denke schon. Er hat nur den Pilz gefressen und der hätte mir fast meine Zucht zerstört.“
Hermine konnte es kaum glauben. „Du hat einen Gnom als Unkrautvernichter?“
„Wenn man es so sehen will, ja. Er ist hier, seit es so schlimm regnet.“ Um das Thema wieder zu wechseln, nahm er eine von Hermines gesammelten Pflanzen in die Hand und betrachtete sie. „Weidelgras oder auch Lolium.“ Den Grashalm, an dessen Verzweigungen Ähren wuchsen, die an Roggen erinnerten – nur in grün – drehte er langsam in der Hand. „Kommt weltweit vor und ist nicht Besonderes. Zählt zu den Süßgräsern, genau wie das“, er nahm nach und nach die anderen Halme und legte sie übereinander, „das und das.“
„Nur stinknormales Gras?“, fragte sie enttäuscht.
„Ja leider, das hier auch.“ Er nahm den längsten Halm zwischen die Finger, der oben wie eine zerrupfte Feder wirkte. „Das ist Fioringras, kommt in ganz Europa bis hin nach West-Asien vor.“ Er legte den Halm wieder weg und nahm einen anderen, der feine Blüten aufwies, deren längere Härchen an der Hand kitzelten. „Ebenfalls Süßgras, Echter Schaf-Schwingel und hier“, der nächste Halm, „der Wiesenfuchsschwanz, gleiche Familie.“
„Für mich ist das alles nur“, sie zuckte beschämt mit den Schultern, „Gras.“
Sein Lächeln zeugte von Verständnis. „So geht es mir bei Zaubertänken, Hermine. Tränke sind Tränke.“ Neville spielte mit etwas, das wie ein rosafarbener Tannenzapfen aussah. „Ein schon verblühter Zapfen der Rotföhre mit“, er betrachtete sich den Zapfen genauer, „Bissspuren von einem Hund, würde ich sagen.“ Hermine grinste, weil sie an Harry und Fang denken musste. Als Neville zu der einzigen Blüte griff, die sie gesammelt hatte, hielt sie den Atem an. Sie hatte so eine Gefühl, das könnte die gesuchte Pflanze sein. Sie war rosa und bestand aus fünf Blütenblättern, die zum Stempel hin weiß wurden. „Die Hundsrose.“
„Hundsrose? Was es nicht alles gibt.“ Nun konnte sie ihre Enttäuschung nicht mehr zurückhalten, denn sie seufzte und presste die Lippen zusammen.
„Hermine?“ Als sie aufblickte, noch immer mit der Rose in der Hand, fragte er geradeheraus: „Warum läufst du bei strömendem Regen umher und sammelst Pflanzen?“
„Ich suche ...“
„Ja, du suchst etwas Bestimmtes, das hast du schon gesagt.“ Sein Blick hielt den ihren. Er forderte wortlos eine Erklärung.
„Eine Zutat“, entwich es ihr leise. „Ich suche eine Zutat und ich habe keine Ahnung, was das sein kann.“
„Aber wie willst du denn wissen, was du suchst, wenn du nicht weißt, um was es sich handeln könnte?“
„Das ist es ja eben!“ Aufgebracht schlug sie mit der flachen Hand auf den Tisch. „Ich bin völlig überfordert. Es könnte alles sein! Irgendein Stein oder eine Pflanze. Sogar eine Pflanze, die eigentlich keine magische Wirkung hat, denn dank Takeda wissen wir ja nun, dass das nicht so bleiben muss. Man kann Pflanzen magisch machen.“
„Und was für Anhaltspunkte hast du für das, was du suchst?“, wollte er wissen.
Sie stöhnte. „Es hört sich albern an“, winkte sie ab, weil sie sich vor einer Erklärung drücken wollte. „Weil das auch noch aus einer Prophezeiung stammt, kann es unter Umständen nur symbolisch gemeint sein.“
„Und?“ Langsam aber sicher wurde er ungeduldig.
„Lach aber nicht, ja?“
Er schüttelte den Kopf und behielt eine ernste Miene bei. „Würde ich nie.“
„Ich muss etwas finden, dass sich 'Tränendes Herz' nennt.“
Neville blinzelte einmal, dann noch einmal, bevor er verdattert wiederholte: „Das Tränende Herz?“
„Ich sagte ja, es hört sich albern an. Mittlerweile glaube ich, dass es sich um eine Metapher handelt oder ...“
„Nein“, widersprach er, „das ist keine Metapher, sondern eine Blume. Zählt zu der Familie der Mohngewächse.“
„Es müssen Ranunculales sein. So viel habe ich bereits herausgefunden.“
„Die Blumen gehören zur Gattung Ranunculales“, bestätigte Neville mit einem Nicken. „Es ist eine krautige Pflanze, die zu den Herzblumen gehört. Eine einfache Zierpflanze. Ich denke, du hast sie gefunden.“
Sie traute ihren Ohren nicht, fragte daher vorsichtig nach: „Hab ich?“ Neville nickte und strahlte bis über beide Ohren.
Die Hundsrose legte er beiseite. Ein überlegener Ausdruck hatte sich im Gesicht des häufig unsicher wirkenden jungen Mannes ausgebreitet. Er hielt ihr seine Hand entgegen, die sie zögernd und zugleich neugierig ergriff. Von ihm ließ sie sich an eine Ecke des Gewächshauses führen, in der auch die Blumen wuchsen, die er auf Lunas Wunsch hin gezüchtet hatte.
„Da!“ Mit einem Nicken deutete er auf die Pflanzen vor sich, doch Hermine sah nur die ihr bereits bekannten rosafarben Blüten, die an ihrem Stängel nach unten hingen.
„Wo?“
Schnaufend fragte er: „Siehst wohl den Wald vor lauter Bäumen nicht?“
Mit einem Finger strich er ĂĽber eine BlĂĽte und erst da fiel ihr die Form auf. Alle hatten eine rosafarbene Herzform, aus deren spitzen Enden ein weiĂźes BlĂĽtenblatt kroch, das im geschlossenen Zustand wie ein Tropfen aussah.
„Die habe ich dir schon vor einiger Zeit vorgestellt: Lamprocapnos spectabilis.“
Ihre Stirn schlug Falten. „Lampro... Was?“
„Lamprocapnos spectabilis oder auch einfach Tränendes Herz genannt.“
In diesem erleuchtenden Moment weinte Hermines Herz nicht, sondern es schrie und zwar noch bevor ihre Stimme unkontrolliert die Kehle hinaufgeschossen kam.
Draußen, um das Gewächshaus herum, flatterten wegen des lauten Geräusches zwei Eulen aufgeschreckt davon. Ein paar Doxys hielten sich die Ohren zu und flüchteten, und auch der Gnom, der das trockene Gewächshaus der verregneten Erde vorgezogen hatte, wieselte wie von der Tarantel gestochen nach draußen, denn der schrille Freudenschrei von Hermine drohte, alles Glas zum Bersten zu bringen.
Von den Winden wurde der Schrei bis hinauf in den ersten Stock getragen, wo die Fenster im Krankenflügel wegen der übel riechenden Wunden noch immer geöffnet waren. Aus seinem dösigen Zustand schreckte Severus auf, als er den ohrenbetäubenden Lärm hörte.
Von der unangenehmen Lautstärke, vor allem aber wegen des hohen Tonfalls, der sehr an die unerträglichen Gesangeskünste der Fetten Dame erinnerte, fühlte sich Severus mehr als nur gestört. Er fühlte sich belästigt. Mürrisch rief er in das Zimmer, das er nur noch mit Draco teilte: „Kann nicht jemand das Fenster schließen? Das ist ja grauenvoll!“
„Da hat doch nur jemand geschrien“, spielte Draco die Sache hinunter. „Ist doch schon vorbei.“
Susan, die an der Seite ihre Mannes saß, äußerte sich nicht dazu. Wortlos stand sie auf und ging zu Severus hinüber, um das Fenster auf seinen Wunsch hin zuzumachen. In diesem Augenblick betrat Madam Pomfrey das Zimmer.
„Was ist hier los? Wer schreit hier so?“, wollte die Heilerin wissen.
Sofort giftete Severus sie an: „Das würde ich auch gern wissen! Da draußen hat jemand ...“
„Unfug, ich habe dich rufen hören. Was ist?“ Poppy stemmte beide Fäuste auf die Hüfte. „Ein Geschäft?“
Damit, das wusste sie, konnte sie ihn auf der Stelle mundtot machen. Vor Draco war es ihm nicht peinlich, dafür hatte er mit seinem Patensohn über fünf Jahre lang viel zu eng zusammengelebt, aber mit dessen Gattin im Zimmer wollte er seine normalen Körperfunktionen auf keinen Fall bereden. Severus blieb stumm, was Poppy mit Wohlwollen zur Kenntnis nahm.
„Albus wollte dich heute noch besuchen“, sagte die Heilerin an Severus gewandt.
„Ich möchte meine Ruhe haben!“
„Na wie wunderbar. Wie ich sehe, bist du wieder ganz der Alte.“
Poppy trat an sein Bett heran und zog das Tuch vom Arm, das die Wunde vor Schmutz, aber auch vor neugierigen Blicken schützte. Kaum sah Severus das Loch in seinem Arm, das sich bisher nur wenig verkleinert hatte, schossen die brennenden Schmerzen wie frisch erweckt durch seinen Körper. Er sog Luft durch die Zähne ein.
„Ich bedaure, dass keine Mittel helfen, um den Schmerz zu lindern, Severus.“ Nach dieser Mitleidsbekundung wechselte Poppy die metallene Schale unter seinem Arm, die überschüssige Flüssigkeit auffing. „Weißt du“, sagte sie leise, so dass Draco und Susan nichts hören konnten, „was mir besonders gut an der Wunde gefällt?“
„Wie kann daran etwas gefallen?“, zischte er gereizt durch die Zähne. Hätte er nur nicht den Arm gesehen, dessen Anblick das Schmerzzentrum in seinem Gehirn zu stimulieren schien.
„Diese Flüssigkeit“, mit wachem Blick musterte sie den Sud in der Schale, „deutet nicht auf eine Entzündung hin. Kein bisschen Eiter ist vorhanden, obwohl du eine nicht gerade kleine Gewebsverletzung erlitten hast.“
„Wie aufregend“, fauchte er missgelaunt.
Poppy wurde genauso schnippisch wie er. „Ich will damit nur sagen, dass diese durchsichtige Flüssigkeit, die aus der Wunde tritt, einen positiv verlaufenden Heilprozess verspricht. Es hätte immerhin sein können, dass du Interesse daran hast zu wissen, ob man den Arm amputieren muss oder nicht.“
Erschrocken blickte er ihr in die Augen. „Ampu...?“ Er wollte dieses Wort nicht einmal aussprechen.
„Es wäre möglich gewesen. Ich habe sogar damit gerechnet, aber glücklicherweise helfen die Phönixtränen. Also keine Sorge, Severus. Eine Amputation kommt gar nicht mehr in Frage.“
Ein Leben mit nur einem Arm? Nachdem Poppy gegangen war, zeigte ihm sein lebendiges Vorstellungsvermögen ungewollt einen zukünftigen Werdegang – einen Einblick, wie sein Leben verlaufen würde, hätte er nur noch einen Arm, nur eine Hand. Die Gedanken formten sich ganz von allein, auch wenn Poppy gerade eben versichert hatte, er würde die Gliedmaße nicht verlieren. Mit einem Arm ließ sich kaum noch ein Trank brauen, geschweige denn, die Zutaten dafür schneiden. Rühren und gleichzeitig Zutaten unterzumischen wäre unter diesen Umständen undenkbar. Im Kopf ging Severus sämtliche Tränke durch, die ihm einfielen, und er kam zu dem Schluss, dass er für alle zwingend beide Hände benötigte. Ohne linke Hand wäre er kein Tränkemeister mehr, nicht einmal ein halber. Darüber erschrocken, mit wieviel Glück er diesem Schicksalsschlag entgangen war, schloss er die Augen und stellte sich seine rosige Zukunft in der Apotheke vor. Er sah sich im Labor stehen und – mit beiden Händen – einen Wolfsbanntrank brauen. Vor seinem inneren Auge sah er auch Hermine, wie sie ihm gegenüber an einem Euphorie-Elixier arbeitete und immer wieder aufblickte, um ihm ein Lächeln zu schenken. Er konnte sie sogar riechen. Hermine duftete immer nach Blumen oder Früchten. Diesmal vernahm er einen frischen Duft. Unbewusst nahm er einen tiefen Atemzug, doch er wurde stutzig, als der Duft, den er sich nur vorstellte, mit einem Male sehr intensiv war. Zu intensiv, um nur seinem Geist zu entspringen. Um dieses Mysterium zu lüften, öffnete er die Augen.
Das Erste, was er verschwommen sehen konnte, war etwas Rosafarbenes. Sein Blick wurde erst schärfer, als der Gegenstand sich einige Zentimeter von seinem Gesicht entfernte. Jemand, der laut schnaufte, als wäre er einen weiten Weg gerannt, hielt ihm eine Blume unter die Nase und dieser jemand war niemand anderes als Hermine. Mit einer Hand stützte sie sich auf seiner Matratze ab, so dass er durch die kleine Kuhle leicht in ihre Richtung rollte.
„Ein etwas mickriger Strauß für eine Patienten, meinst du nicht?“, scherzte er mit einem Schmunzeln. Gleich darauf betrachtete er ihr Gesicht. Von den Wangen war die Blässe verschwunden und durch eine ebenso zarte Farbe ersetzt wie die Blüten sie trugen.
„Das ist nicht nur irgendeine Blume“, noch immer atmete sie heftig. „Es ist 'die' Blume, Severus!“
„Sei so freundlich und erleuchte mich. Ich möchte nicht dumm sterben.“
„Wie sehen die Blüten aus?“
Ein Seufzer entwich ihm. „Ich habe keine Lust auf Rätselraten“, wollte er ihr weismachen, betrachtete jedoch längst die herzförmigen Blütenblätter. Die Form, kombiniert mit dem in Hermines Gesicht gemeißelten Lächeln, ließ sein Herz höher schlagen.
„Ist das etwa ...?“
Plötzlich konnte er nichts mehr sehen, weil seine Augen durch ihre Haare bedeckt waren, denn sie war ihm – obwohl er im Bett lag – um den Hals gefallen und presste ihre Wange an seine. Diese Nähe war vertraut und willkommen, vor allem aber lenkte sie von dem Schmerz im linken Arm ab. Er genoss den Moment. Severus nahm einen tiefen Atemzug und bemerkte, dass sie nach Himbeeren duftete. Hermine blieb still und lag weiterhin halb auf ihm. Ihre Atmung normalisierte sich langsam. Seine Nase wurde die ganze Zeit von ihren Haaren gekitzelt und es machte ihm nichts aus.
Ganz nahe an seinem Ohr hörte er ihre Stimme. Es war jedoch ihr Atem in der Ohrmuschel, der ihm ein wohlig Gefühl im Nackenbereich bescherte, als sie versprach: „Ich werde sofort mit dem Blumenkasten weitermachen. Neville will mir helfen. Und ich gehe nochmal die Anleitung für den Gegentrank durch und lerne sie am besten gleich auswendig, damit mir kein Fehl...“
„Du solltest dich schlafen legen und Kraft sammeln“, riet er ihr gelassen.
Auf der Stelle war er von ihren Haaren befreit, denn sie richtete sich auf und blickte ihn scharf an. „Ich soll schlafen gehen? Ich kann nicht schlafen! Ich ...“
„Du hast eine Menge Aufregung durchlebt und bist nicht bei Kräften.“ Mit aufgesetzt arrogantem Blick musterte er sie. „Das sehe ich doch von hier aus.“
„Mir geht es gut, im Gegensatz zu dir. Dein Arm ...“
Wieder der Schmerz, weil er daran erinnert wurde. Es war ihm ein Rätsel, warum er kaum leiden musste, wenn er abgelenkt war. „Poppy hat mir versichert, dass die Wundflüssigkeit auf einen positiven Heilprozess deutet.“
„In der Prophezeiung heißt es aber ...“
Er unterbrach. „Ich kenne den Wortlaut! Es wurde nirgends erwähnt, dass du auf der Stelle handeln musst, Hermine. Lass dir Zeit. Ich werde hier sowieso ein paar Tage verbringen müssen, bis der Arm geheilt ist.“
Beleidigt machte sie einen Schmollmund und Severus wünschte sich, sie wäre dichter bei ihm, um die Himbeeren zu kosten. Der Gedanke erschrak ihn im ersten Moment, weil er solche Wünsche seit langer Zeit nicht mehr gehabt hatte.
„Na gut.“ Sie gab nach und setzte sich auf den Stuhl an seinem Bett. „Und wenn der Arm geheilt ist, dann heilen wir“, sie legte eine Hand auf seine Brust, „das hier.“ Den Thymus, den Sitz der Seele.
Über die Seele – vor allem aber über ihr Seelenheil – machten sich gerade einige Menschen Gedanken, die ins Innere von Hopkins' Festung geflüchtet waren. Die Hexen und Zauberer jagten ihnen Angst ein.
Die über sechzig Jahre alte Eleanor versteckte sich in ihrem Zimmer, lugte ab und zu aus dem Fenster hinaus. Jedes Mal lief ihr ein Schauer über den Rücken, wenn sie die vielen Menschen auf den Besen in der Luft sah. Nicht nur sie war der festen Überzeugung, dass heute ihr letztes Stündlein geschlagen hätte. Die Hexen hatten mit wenig Aufwand deutlich gemacht, wer der Stärkere war. Mit zittrigen Händen griff Eleanor nach der kleinen Dose, die ihre Herztabletten beinhalteten. Obwohl sie morgens schon eine genommen hatte, nahm sie vorsichtshalber eine zweite. Die Aufregung war zu viel für sie. Sie war Hopkins nur aus dem Grund gefolgt, etwas über den Verbleib ihres Sohnes zu erfahren, den ihr ehemaliger Lebensgefährte ohne Ankündigung in die Zaubererwelt mitgenommen hatte, als er sie verließ. Als eine Hexe dicht an ihrem Fenster vorbeiflog, ging Eleanor heftig atmend in die Knie, fasste sich dabei ans Herz. Das Zittern der Hände hatte sich auf den gesamten Körper ausgebreitet. Nervös zog sie die Pistole aus ihrer Jackentasche. Vorhin auf dem Flur hatte ein Mann ihr die Waffe mit den Worten in die Hand gedrückt „Einfach zielen und schießen!“. Eleanor kannte sich mit solchen Dingen überhaupt nicht aus, fühlte sich mit der Handfeuerwaffe nicht einmal sicherer.
Eleanor wusste nicht, dass sich ein paar Zimmer weiter zwei andere Menschen genauso fĂĽrchteten wie sie. Jakob und Claudine.
Mit verweintem Gesicht schluchzte Claudine: „Warum tun sie das?“ Jakob verstand seine Frau. Die Hexen könnten kurzen Prozess machen, fanden stattdessen offenbar Gefallen daran, die Menschen zu quälen – jedenfalls wirkte es so auf sie. Sie trieben ihre Spielchen mit ihnen, verletzten aber niemanden. Seine Frau war mit den Nerven völlig am Ende und saß heulend auf dem Bett, wimmerte dabei: „Sollen sie doch endlich mit uns Schluss machen, dann sehen wir wenigstens unsere Kinder wieder!“
Auf der Stelle war Jakob bei ihr und ergriff ihre Hände. „Sag so etwas nicht! Ich will nicht sterben und du auch nicht! Wir bleiben hier, verhalten uns ruhig. Wenn alles vorbei ist, werden wir vielleicht mit ihnen reden können.“
Durch die Tränen hatte seine Frau ganz verklebte Wimpern. Sie blinzelte mehrmals, als sie ihn schockiert anblickte. „Dann rechnest du damit, dass wir verlieren?“
„Die haben Kräfte, gegen die wir nicht ankommen.“
Der Körper seiner Frau begann heftig zu beben. „Ich will nicht in deren Hände fallen.“ Die Erinnerungen an die in schwarze Kutten gekleideten Männer, die ihre drei Kinder gefoltert hatten, waren wieder sehr präsent. „Ich will nicht ... Wer weiß, was die mit uns anstellen? Jakob“, sie drückte seine Hände, „ich hab Angst!“
„Ich bin bei dir. Wenn sie dich haben wollen, müssen sie erst an mir vorbei.“
Claudine schloss ihre Augen, presste damit die Tränen heraus, die sich gesammelt hatten. „Wir wissen, dass das für die keine Hürde ist.“ Die Resignation, die in ihrer Stimme zu vernehmen war, ließ Jakob aufhorchen. Sie war kurz davor, mit ihrem Leben abschließen zu wollen.
„Lass mich mit ihnen reden, wenn sie herkommen.“
„Sie werden uns nicht anhören!“
Jakob schüttelte den Kopf. „Das weißt du nicht. Vielleicht wollen sie nur zeigen, dass sie könnten – dass sie uns töten könnten, wenn sie wollten, aber sie tun es nicht. Bisher ist niemand gestorben. Hoffen wir, dass es so bleibt.“ Eine seiner Hände wanderte zu seiner Innentasche. Er zog eine Waffe heraus. „Und zur Not haben wir noch die hier.“
Den Gegenstand, der dazu imstande war, einen Menschen zu töten, legte er vorsichtig auf dem altmodischen Nachttisch ab. Jakob strich seiner aufgewühlten Frau übers Haar, bevor er sich zum Fenster begab und vom zweiten Stock hinunterblickte. Mit einem Male kam ihm eine Idee. Zum Erstaunen seiner Frau eilte er euphorisch zum Bett hinüber und zog dem Kissen das weiße Bettzeug ab.
„Wir brauchen etwas langes, eine Holzlatte oder ...“ Jakob hielt inne und blickte sich im Raum um. Das einzige, was seiner Vorstellung entsprach, war ein Besenstiel.
„Was hast du vor?“ Skeptisch beobachtete Claudine, wie ihr Mann das Kopfkissen am Ende des Stiels verknotete. „Was wird das?“
„Wir wissen ja aus dem Tagespropheten und von Alex, dass einige Zauberer und Hexen in unserer Welt aufgewachsen sind.“ Er ging zum Fenster hinüber und öffnete es. Es regnete so stark, dass sofort einige Tropfen das Fensterbrett bedeckten. „Ich denke, ein paar werden wissen, was eine weiße Fahne zu bedeuten hat.“
„Wir ergeben uns“, sagte Claudine trübsinnig. „Das macht es ihnen nur noch einfacher.“
Jakob hatte den Besen mit dem weißen Kopfkissen so weit hinaus in den Regen gehängt, wie es möglich war. „Wir ergeben uns, das ist richtig. Ich hoffe, sie sind gut genug erzogen worden, um uns entsprechend zu behandeln.“
Die weiße Fahne, ein Zeichen der Bereitschaft zur Unterhandlung oder der Kapitulation, wurde sofort vom Regen durchnässt. Dennoch schwang der schwere Stoff gut sichtbar am offenen Fenster hin und her und wurde auch von den Menschen gesehen, für die sie bestimmt waren.
Ron, der wieder zurück zu Harry gegangen war, flüsterte ihm ins Ohr: „Sieh nur!“ Er deutete zu einem Fenster im zweiten Stock. „Was hat das zu bedeuten?“
Hören konnte Harry seinen Freund bestens, aber er sah ihn nur als bunte Gestalt. „Ein paar ergeben sich bereits. Das ist gut!“
„Aha“, machte Ron verwirrt, „wenn du es sagst.“ Ihm war die Bedeutung einer weißen Flagge nicht geläufig. „Die anderen habe ich informiert. Sie kämpfen sich langsam nach vorn zum Eingang. Die meisten Muggel sind in die Festung geflohen.“
Harry nickte. Er hatte die schwarzen Gestalten rennen sehen. „Wir werden ihnen folgen und gehen rein, aber erst kümmern wir uns um die Schützen.“
„Fred, George und Angelina nehmen sich schon die ganz links vor.“
Harry folgte dem bunten Finger, der ihm die Richtung wies. Ganz hinten sah er die leuchtenden Gestalten seiner Freunde. Sie näherten sich den Scherenschnitten, die sich hinter einem großen hölzernen Karren versteckten, mit dem man früher Stroh transportiert hatte.
„Fred“, George zog seinen Bruder am Arm, „warte. Das sind zu viele. Luna, Colin und Dennis kommen gleich.“
„Das sind zwar viele, aber wozu warten? Wir haben sie doch im Nu entwaffn...“
Ein Schuss fiel. Gleich darauf hielt sich Fred den Hals und ging in die Knie. Angelina war an seiner Seite, riss ihm die Hand vom Hals.
„Ein Streifschuss!“, stellte sie erschrocken fest. Sofort schwang George seinen Stab und machte sie unsichtbar, schwor auch eine magische Wand herauf, die von keiner Kugel durchbrochen werden konnte. „Ist nicht schlimm“, beruhigte sie und sprach einen Heilzauber.
„Die Mistkerle!“ Am liebsten wäre George zu den Männern hinübergestürmt und hätte sie nach und nach mit einem Petrificus Totalus verhext, aber das richtete sich gegen Harrys Auflagen. Lediglich ein Fesselungszauber war erlaubt und jede Menge Verwandlungszauber, um die Waffen unnütz zu machen.
Vom Schuss aufgeschreckt kamen von der anderen Seite des Hofes Luna, Dennis und Colin angerannt. Sofort sahen sie das Blut an Freds Hals, doch die Wunde war längst verheilt.
„Alles okay hier?“, wollte Colin wissen, griff Fred dabei besorgt an die Schulter.
„Ja, aber ich schlage vor, wir umzingeln uns ihnen zu sechst.“
Aus der Ferne hatten Ron und Harry, die noch immer dicht bei Hopkins standen, die Lage ihrer Freunde beobachtet. Ron schlug seinem Freund auf die Schulter.
„Da drüben scheint alles in Ordnung zu sein.“
Harry nickte. „Was machen wir mit ihm?“ Beide blickten zu Hopkins, der irritiert ein paar Schritte nach links ging, dann wieder nach rechts. Er torkelte, schoss trotzdem mit seiner Waffe um sich.
Mit den Schultern zuckend erwiderte Ron: „Er gehört dir, mein Freund. Mach mit ihm was du willst.“
„Wenn ich ihn nur sehen könnte, dann ...“
Harry hielt inne, weil Hopkins plötzlich in seine Richtung blickte. Sie hatten Augenkontakt, was nicht sein konnte, denn Ron und Harry waren noch unsichtbar.
„Ich kann euch hören“, murmelte Hopkins mit schiefem Grinsen. Die Waffe hielt er so locker in der Hand, als würde er mit einer Zigarre spielen. Seine Stimme erhob er, als er beteuerte: „Ich höre euch, Höllenbrut!“ Hopkins richtete seine Waffe ins Leere, denn sehen konnte er niemanden. Er bemerkte auch nicht, dass Ron mit seinem Stab wutschte und somit einen magischen Schutzwall herbeirief. Der Hexenjäger schoss. Die Kugel prallte an der unsichtbaren Wand ab und fiel zu Boden, was Hopkins durchaus sehen konnte. „Feiglinge!“ Überheblich lachte Hopkins. „Zeigt euch, ihr Missgeburten!“
Harry beugte sich zu Ron und flüsterte: „Geh, das ist meine Angelegenheit.“
„Ich kann dich mit dem Irren doch nicht alleine lass...“
„Geh!“
Man hörte Ron wütend schnaufen, was Hopkins ebenfalls wahrnehmen konnte. „Was denn?“ Seine unsichtbaren Gegner aus lachte er aus. „Ist eure Angst so groß?“ Übermütig streckte Hopkins beide Arme seitlich vom Körper weg, womit er sich für einen Moment verwundbar machte. Auf diese Weise wollte er seine Gegner dazu ermutigen, sich zu zeigen. Als er damit keine Reaktionen erhielt, schnaufte diesmal Hopkins. „Ihr seid eben doch nur Feiglinge!“
Von dem, was in der Burg vor sich ging, bekamen die Menschen im Verbotenen Birkenwald nichts mit. Die Festung war nur ein graues Objekt, das man gerade so durch die Bäume hindurch sehen konnte.
Alicia hatte Ginnys kleinen Wunden geheilt, hatte ihr mit einem Aguamenti Wasser gegeben und mit ihrem Stab für eine wohlige Wärme gesorgt.
„Ich bringe dich jetzt besser ins Mungos.“
Ginny schüttelte den Kopf. „Was ist mit Harry?“
„Dem wird schon nichts passieren“, beruhigte Alicia. „Dein Daumen sieht nicht gut aus. Der sollte schnell behandelt werden.“
„Das kann Madam Pomfrey machen.“ Nachdem sie sich den Knochen absichtlich gebrochen hatte, waren ihr ständig Bilder von der Heilerin von Hogwarts durch den Kopf gegangen, wie die sich die Wunde betrachtete, ihr einen Trank gab und am nächsten Tag war alles wieder in Ordnung. „Ich will nicht ins Mungos. Ich will gar nicht ohne Harry weg.“
„Ginny“, Alicia setzte sich direkt neben sie, „du hast eine schlimme Zeit durchgemacht und bist verletzt. Harry würde wollen, dass ich dich in Sicherheit bringe.“
„Hier ist es doch sicher.“
„Wie kann man nur so dickköpfig sein?“ Einen Arm legte Alicia über Ginnys Schultern, zog ihre Freundin an sich heran. „Es regnet, wir sitzen in einem Wald, du hast einen gebrochenen Daumen. Was würde jeder normale Mensch jetzt tun?“
Seufzend gab Ginny nach. „Hast ja Recht.“
Die beiden standen auf, was Fogg und Stringer genau beobachteten. Sie bemerkten auch, wie der Werwolf, der Fogg vor elf Jahren angefallen hatte, die Frauen nicht gehen lassen wollte, denn er pirschte sich langsam an.
„Was tun wir jetzt?“, wollte Fogg wissen. „Er darf den beiden nicht zu nahe kommen!“
„Wir schleichen uns auch an!“ Grob packte Stringer seinen Freund am Umhang und riss ihn hoch. „Aber sei leise!“
Parallel näherten sich die beiden Gauner den Frauen, behielten dabei immer den Werwolf im Auge, der sich geräuschlos anschlich und dabei die Zähne fletschte. Plötzlich hörte man es laut knacken. Der Werwolf ging in die Knie und suchte Schutz. Fogg und Stringer taten es ihm gleich.
„Was war das?“, flüsterte Fogg.
Stringer suchte die Gegend mit den Augen ab und bemerkte vier andere Personen, auf die er mit dem Finger deutete. „Dort drüben! Zwei Männer und zwei Frauen. Sind wie Auroren gekleidet.“
Tonks und Kingsley waren mit Kevin und Tracey zu tief in den Wald appariert, aber Hopkins' Festung war nicht mehr weit entfernt. Den restlichen Weg hatten sie zu FuĂź zurĂĽckgelegt. Ihren inoffiziellen Auftrag, die Tochter des Ministers zu finden, hatten sie gerade eben erfĂĽllt, als sie Ginny und Alicia am Boden sitzen sahen. Kevin und Tracey hielten mit Kingsley zusammen die Gegend im Auge. Nur Tonks rannte ĂĽberglĂĽcklich zu Ginny hinĂĽber und erkundigte sich nach ihrem Wohlbefinden.
„Ginny, oh Ginny! Wie gut, dass dir nichts Schlimmes passiert ist. Alle haben sich furchtbare Sorgen gemacht.“ Tonks' Wortschwall wollte gar nicht mehr abbrechen. Kingsley nutzte den Moment, um Kevin und Tracey dazu anzuhalten, weiter vorn in der Nähe der Festung nach dem Rechten zu sehen. Die zwei jungen Auroren gingen an Ginny vorbei und lächelten ihr erleichtert zu, bevor sie hinter den dicht wachsenden Bäumen verschwanden. Tonks hingegen widmete ihre ganze Aufmerksamkeit Ginny. „Dein Daumen!“ Sie machte ein mitleidiges Gesicht. „Wir bringen dich besser nach Hogwarts. Das Mungos ist zur Zeit überfüllt.“
Endlich hatte sich auch Kingsley den dreien genähert. Die Umgebung musterte er weiterhin mit wachem Blick, falls Zentauren oder andere Kreaturen sich in der Nähe aufhalten würden. „Ginny!“ Der kräftige Auror half ihr hoch. „Alles okay?“
„Ja, ich hab nur Hunger, bin müde und der Daumen tut mir weg, sonst ist alles in Ordnung.“
„Gut, dann lasst uns ...“
Ein paar Meter weiter schlug Foggs Herz höher. Erschrocken packte er seinen Freund am Oberarm. „Er greift an!“
Blitzschnell kam der Werwolf aus seinem Versteck gesprungen. Der kräftige Dunkelhäutige bekam einen Schlag in den Magen. Kingsley wurde umgerannt, landete unsanft auf dem Boden. Sein Stab flog durch die Luft. Man hörte die Frauen schreien. Die mit den pinkfarbenen Haaren zielte auf den Angreifer. Der Werwolf griff nach dem Stab und zerbrach ihn mit einer seiner Pranken.
Das alles hatten die beiden Gauner aus sicherer Entfernung beobachtet. Nach einer Schrecksekunde sprach Stringer einen Impedimenta, der den Werwolf lähmen sollte. Der Zauber traf nicht genau, erwischte nur einen Unterschenkel. Die Bewegungen des klobigen Angreifers wurden schwerfällig, hielten ihn aber nicht auf. Fogg schleuderte ihm einen Beinklammerfluch hinterher, traf in mit voller Wucht. Der gewichtige Mann fiel vorüber – direkt auf eine der jungen Frauen.
Alicia schrie auf, als der massige Körper auf ihr landete. Spitze Zähne konnte sie aus nächster Nähe sehen. Der faulige Gestank aus dem aufgerissenen Mund war kaum zu ertragen. Fauliges Fleisch. Tonks hatte sich vor Ginny gestellt. Auch ohne Zauberstab wollte sie sie schützen. Auf dem Boden hatte Kingsley seinen Zauberstab wiedergefunden. Die beiden Flüche, die aus dem Nichts gekommen waren, hatten ihnen das Leben gerettet. Wer die Flüche gesprochen hatte war Nebensache. Vorrangig war, Greyback von Alicia herunterzuzaubern.
Ein weiter Schrei entwich Alicia. Greyback hatte mit beiden Händen ihren Kopf gepackt. Sein Mund kam dem ihren immer näher. Eine Karikatur von zwei Liebenden, die sich küssen wollten. Er fletschte die Zähne, wollte sie beißen. Was der Mann mit Bills Gesicht getan hatte, war kein Geheimnis. Ihre vollen Lippen waren sein Ziel.
„Mobilicorpus!“ Kingsley musste Acht geben, nicht Alicia zu treffen, wählte daher einen harmlosen Transportzauber. Der Zauberspruch traf Greybacks Rücken. Das Gewicht des kolossalen Mannes war mit einem Male von Alicia abgefallen, als er magisch zur Seite geworfen wurde. Der Spruch wirkte nicht lange, denn Greyback war kein bewegungsloser Körper. Er war quicklebendig und wandte sich. Wenigen Sekunden später befreite er sich aus dem Wirkungsbereich des Mobilcorpus. Bevor Alicias Stupor ihn treffen konnte, suchte er sein Heil in der Flucht und schlug sich ins dichte Unterholz.
„Das war Greyback!“, stellte Alicia mit bebender Stimme fest. In Windeseile erhob sie sich vom Boden, hielt ihren Stab schützend vor sich. Sie zitterte am ganzen Leib, besonders ihre Lippen, aber wenigstens hatte sie die noch.
Kingsley war von allen der ruhigste. „Ja, das war er! Fragt sich nur, wer unsere unsichtbaren Helfer waren.“ Er drehte sich langsam im Kreis. Ein Stupor lag ihm allzeit bereit auf den Lippen, doch Greyback schien verschwunden. „Ich traue der Stille nicht. Er ist noch hier!“
Tonks stimmte ihm mit einem Kopfnicken zu. „Er hat meinen Stab zerbrochen, King.“
Der Schrecken trieb Ginny ebenfalls in die aufrechte Position. Sie war sehr wackelig auf den Beinen. „Ich habe auch keinen Zauberstab. Die Muggel haben ihn mir abgenommen.“
„Du solltest nach Hogwarts gehen.“ Er wandte sich der anderen jungen Frau zu. „Alicia?“ Man kannte sich noch aus der Zeit, als DA und Phönixorden eins waren. „Gibt Tonks deinen Stab und bring Ginny hier weg!“
Unerwartet krachte es in der Ferne. Kingsley ging einige Schritte in Richtung Waldesrand, um durch die Bäume hindurch einen Blick auf die Festung zu werfen. Er sah ganz vorn Kevin und Tracey, die sich hinter einem Baum in Sicherheit brachten, denn ein Drache spie sein Feuer versehentlich in ihre Richtung. Irritiert zog Kingsley die Augenbrauen in die Höhe.
„Was ist denn da los?“ Von dem geplanten Angriff der gesamten DA wussten Tonks und er nichts, Kingsley hatte jedoch geahnt, dass Harry – mit oder ohne Arthurs Segen – die Sache selbst in die Hand nehmen würde, aber ein Drache?
„Harry kümmert sich um den Muggel, der Ginny entführt hat“, erklärte Alicia.
„Ihr solltet trotzdem ...“
„King“, unterbrach Tonks, „da hinten hab ich jemanden gesehen!“
Einige Meter weiter drĂĽckte sich Stringer gegen einen Baumstamm.
„Verdammt, sie haben uns gesehen“, murmelte er zu Fogg.
„Warum zeigen wir uns dann nicht?“
„Weil ...“ Stringer stutzte. „Ja, warum eigentlich nicht? Wir haben ihnen immerhin geholfen!“
Bestätigend nickte Fogg. „Eben! Wir sollte nur unsere Stäbe auf den Boden richten, damit wir ihnen zeigen, dass wir nichts Böses im Sinn ...“
Ein Knurren und Fauchen war zu vernehmen. Einen Augenaufschlag später stürzte sich Greyback auf Stringer und Fogg. Beide riefen um Hilfe. Sie wehrten sich mit aller Macht gegen den Werwolf, der auch in seiner normalen Gestalt das Fleisch von Menschen nicht verschmähte. Stringers Zauberstab flog in hohem Boden davon und landete ungesehen im Laub der Bäume. Fogg zielte mit seinem Stab, wurde aber mit einem kräftigen Schlag umgehauen. Greyback fiel Fogg an und biss ihm in die Schulter. Fogg schrie auf, schlug wie von Sinnen auf den massigen Oberkörper ein. Sein Zauberstab war längst vom Waldboden verschluckt. Stringer hatte seinen wiedergefunden. Aus einem Meter Entfernung zielte er auf Greyback. Zu einem Schockzauber kam es nicht, denn eine Sekunde später wurde er unter einem bulligen Körper begraben. Stringer konnte seinen Stab nicht mehr halten. Greybacks lange Fingernägel schlitzten die empfindliche Stelle am Puls auf. Schockiert musste Stringer mit ansehen, wie der Werwolf sein Handgelenk zum tierähnlichen Maul führte. Als die heiße Zunge sich Appetit an seinem Blut holte, schrie Stringer aus voller Kehle. Greyback schenkte ihm ein fieses Lächeln, zeigte damit die scharfen Zähne, die er ihm ins Fleisch hauen wollte.
„Expelliarmus!“, schrie eine junge weibliche Stimme. Greyback wurde von Traceys Zauberspruch getroffen und mit voller Wucht von Stringer weggeschleudert.
„Stupor!“ Kevin hatte dem gesuchten Anhänger Voldemorts gleich noch einen Schockzauber hinterhergeschickt, doch der verfehlte sein Opfer. Greyback war trotz seiner Fülle flink wie ein Wiesel. „Scheiße!“ Kein Zauberspruch, nur ein unkontrollierter Ausruf der Frustration. Auf der Stelle waren Kingsley und Tonks bei den jungen Auroren angelangt. Kevin zeterte: „Er ist mir entwischt!“
Mit erhobenem Stab bereitete sich Kingsley auf einen weiteren Angriff vor. „Er ist gewieft, nicht zu unterschätzen.“ Als er Alicia und Ginny sah, die sich dem Szenario näherten, wurde er wütend. „Ihr seid ja immer noch hier!“
„Harry ...“
Ginny wurde von dem sonst so ausgeglichenen Auror barsch unterbrochen. „Alicia, bring sie auf der Stelle nach Hogwarts!“ Ginny öffnete bereits ihren Mund, doch Kingsley fuhr ihr über denselben. „Jede Widerrede ist eine Missachtung von Befugten des Ministeriums und wird mit acht Wochen Askaban bestraft!“
Die Tochter des Ministers riss ihre Augen weit auf, die Augenbrauen wanderten zum Haaransatz. „Das würdest du nicht tun!“
Die Situation wollte Tonks entschärfen, während sie sich Alicias Zauberstab schnappte. „Ich würde ihn nicht reizen, Ginny. Geht jetzt beide. Ihr habt hier nichts verloren. Greyback ist eine Angelegenheit des Ministeriums.“
Das erste Mal warf Ginny einen Blick auf die beiden Männer. Der eine, der noch am Boden lag und stark an der Schulter blutete, löste ein Déjà -vu-Erlebnis bei ihr aus, aber es war keine Täuschung – sie hatte diesen Mann tatsächlich schon einmal verletzt auf dem Boden liegen sehen und zwar in der Gasse, in der man sie entführt hatte. Plötzlich spürte sie eine Hand an ihrem Oberarm. Bevor sie ihre Erkenntnis über die beiden Männer mitteilen konnte, wandte Alicia eine Seit-an-Seit-Apparation an. Sie verschwanden beide mit dem krachenden Geräusch, das das Apparieren in der Regel mit sich brachten.
Erleichtert darüber, dass Ginny endlich den Verbotenen Birkenwald verlassen hatte, kümmerte sich Kingsley erst einmal um die beiden Männer. Als er ihre Gesichter musterte, kamen sie ihm bekannt vor.
„Habe ich Sie nicht neulich erst in der Winkelgasse in Begleitung von Mr. Snape gesehen?“ Nach Kingsleys Worten blickte auch Tonks zu den beiden hinunter. Innerlich stimmte sie Kingsley zu. Die beiden Männer waren von Severus als Diebe betitelt worden. Tracey begutachtete derweil die Bisswunde an der Schulter von Fogg und heilte sie mit einem der Sprüche, die sie während ihrer Ausbildung zur Aurorin gelernt hatte. Kevin tat das Gleiche mit dem Handgelenk von Stringer.
„Sie können von Glück sagen“, begann Tracey, „dass heute nicht Vollmond ist, sonst hätte er sie zu einem Werwolf gemacht.“
„Das hat der Kerl vor elf Jahren bereits getan“, erwiderte Fogg betreten. Zur Bestätigung zeigte er ihr die alte Narbe am Hals.
„Oh“, machte sie betroffen. „Ist das der Grund, warum Sie ihm aufgelauert haben?“
„Was für ein Grund? Rache?“ Fogg schnaufte. „Wir wussten nicht einmal, dass er sich hier tummelt!“
Kingsleys tiefe Stimme war zu vernehmen, als er fragte: „Warum halten Sie sich dann in einem Wald auf, der den Zentauren als Reservat dient und auch von anderen dunklen Wesen bewohnt wird?“ Der dunkelhäutige Auror blickte Fogg nicht an, sondern suchte weiter nach Greyback, der sicherlich noch in der Nähe war. „Zum Pilze sammeln sind Sie etwas zu spät dran.“
„Wir ...“ Stringer fiel keine passende Ausrede ein, was an dem Schrecken lag, von einem verrückten Anhänger Voldemorts angefallen worden zu sein. Der Name Greyback war jedem Zauberer und jeder Hexe ein Begriff. Die Zeitungen waren voll mit Warnungen, dass dieser Mann noch immer auf freiem Fuß war.
Mit zusammengekniffenen Augen fixierte Kingsley Stringer. „Haben Sie irgendwas mit den Muggeln zu tun, die dort in der Festung hausen?“
„Ich ... Wir ...“
„Wie ist Ihr Name?“
Die Autorität, die Kingsley ausstrahlte, brachte Stringer zum Stottern. „Str- Stringer, Sir.“ Das angefügte „Sir“ sollte den Auror milde stimmen.
„Und Ihr Freund?“
„Das ist Mr. Fogg.“ Damit man ihnen nichts anhängen konnte, versicherte Stringer. „Er ist als Werwolf registriert, hat seinen Pass bei sich, wenn Sie das prüfen möchten.“
„Glauben Sie, das interessiert mich im Moment? Wir haben es hier mit Greyback zu tun!“, zischte Kingsley angespannt. „Der wird uns diesmal nicht entwischen. Sie beide sind mir allerdings suspekt, deswegen möchte ich Sie ungern laufen lassen.“
„Wir könnten außerhalb des Waldes warten, bis Sie ...“
Kingsley fuhr Stringer über den Mund. „Für wie dumm halten Sie mich?“
„Dann ...“ Mit gesenktem Haupt blickte Stringer zu seinem Freund, dem es mittlerweile wieder besser ging. „Es wäre nett, wenn Sie uns nicht fesseln und zurücklassen würden. Wir wären diesem Monster hilflos ausgeliefert.“
„Das werden wir schon nicht. Sie dürfen sich verteidigen, aber Sie bleiben im Hintergrund.“ Mit seinem Zeigefinger drohte Kingsley. „Und funken Sie uns bloß nicht dazwischen, haben Sie verstanden?“
Eingeschüchtert nickten Fogg und Stringer. Unter dem Laub hatte Fogg seinen Stab wiedergefunden, der ihm etwas Sicherheit vorgaukelte. Beide blieben zurück, immer auf der Hut vor Greyback, während die vier Auroren sich vornahmen, das Gebiet abzusuchen. Langsam entfernten sich die Auroren von den beiden Männern, die sich ängstlich gegen den Baum drückten und um ihr Leben bangten.
Auch der unsichtbare Ron hatte sich wie befohlen von Harry entfernt, jedoch nur ein paar Schritte. Seinen besten Freund wollte er nicht aus den Augen lassen. Harry wiederum ließ Hopkins nicht aus den Augen, auch wenn er ihn nur als schwarze Gestalt wahrnehmen konnte. Einige Personen waren lediglich grau gewesen, hoben sich nicht von der Umgebung ab. Es waren die dunklen Silhouetten, die wichtig waren. Das waren die Menschen, die töten wollten. Allen voran Hopkins, dessen tiefschwarze Gestalt Harry sehr gut erkennen konnte.
Völlig unerwartet – vielleicht weil er es sich wünschte – wandelte sich Harrys Wahrnehmung wieder in die natürliche. Nun, nachdem er alle tatsächlichen Feinde einmal als pechschwarze Schattengestalten gesehen hatte, konnte er die Umgebung wieder so in sich aufnehmen wie sie war.
Der Stab in Harrys Hand wedelte fast von selbst, als er sich für jedermann sichtbar machte. Von dem plötzlichen Auftauchen war Hopkins erschrocken, ging daher einen Schritt zurück. Schwäche wollte der Rothaarige keinesfalls zeigen, weshalb er sofort wieder seine ursprüngliche Position einnahm. Seinen Stab hatte Harry nicht erhoben. Sein Arm hing locker an der Seite herab, genau wie der von Hopkins, dessen Hand die Pistole hielt. Die beiden Männer blickten sich in die Augen. Harry war der Erste, der die Stille unterbrach.
„Guten Tag, Sir“, sagte er mit wenig Respekt. „Ich glaube, Sie erwarten mich.“
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