von Muggelchen
Nur in Gedanken war Harry längst vor den Toren Hogwarts‘. Von dort aus wollte er nach Clova apparieren. Für ihn war es ein Katzensprung, keine 160 Kilometer. Einen Plan hatte Harry nicht. Wie schon so oft konnte es auch diesmal von Vorteil sein, sich selbst zu überraschen, denn nur so war gewährleistet, auch den Gegner unvorbereitet zu wissen.
Harrys Schritte hallten in dem steinernen überdachten Gang wider. Es blieb wenig Zeit, sich Gedanken über einen Angriff zu machen. Er würde sich hineinstürzen, kämpfen und als Sieger hervorgehen. Längst hatte er sich ausgemalt, mit Ginny bereits nach Hogwarts zurückzukehren, da rammte er etwas. Ein Klirren war zu vernehmen. Harry ließ sich von nichts aufhalten, nahm den Lärm nur am Rande wahr und ging vom Zorn getrieben weiter.
„Harry?“, wurde ihm zaghaft hinterhergerufen.
Neville betrachtete den Blumentopf, den er aus seinem Zimmer geholt hatte, um die Mimbulus Mimbeltonia im Gewächshaus unterzubringen. Er war gern so früh auf den Beinen, wenn die Blüten der vielen Blumen noch geschlossen waren und sich erst öffneten, wenn die ersten Sonnenstrahlen sie trafen. Die seltene Mimbulus Mimbeltonia konnte er nicht aufheben. Durch den Sturz war sie so gereizt, dass sie ihren eklig stinkenden, grünen Schleim aus den vielen Beulen verspritzte. Die Pflanze war Neville im Moment egal. Viel mehr sorgte ihn Harrys Verhalten. So hatte er seinen Freund selten erlebt und wenn, dann nur in Situationen, in denen es um Leben und Tod ging.
Flugs rannte Neville seinem Freund hinterher. Bald hatte er ihn eingeholt, doch Harry reagierte nicht auf seinen Namen. Stattdessen war sein Blick stur nach vorn gerichtet, das Gesicht entschlossen, die Züge hart. Er marschierte unbeirrbar weiter, hielt dabei seinen Zauberstab in der geballten Faust.
„Harry!“, versuchte Neville es noch einmal, wieder ohne Erfolg. Irgendetwas stimmte nicht, das war Neville klar. Er musste nicht lange überlegen und zog seinen Stab. Mit einem kurzen Sprint überholte er Harry und blieb vor ihm stehen, womit er Harry zum Anhalten zwingen wollte. Neville richtete seinen Stab auf ihn und forderte: „Bleib stehen!“
Verdutzt blickte Harry auf den Stab vor sich, schnaufte dann vorgetäuscht amüsiert, obwohl seine gesamte Körperhaltung, seine Mimik verriet, dass er auf eine Auseinandersetzung vorbereitet war. „Was soll das werden?“ Harry schnaufte nochmals, was Neville deutlich machte, wie gereizt er war. Ein Stier in der Arena. „Willst du dich mir etwa in den Weg stellen?“ Eine versteckte Drohung schwang in diesen Worten mit.
„Wäre ja nicht das erste Mal, oder?“, erwiderte Neville tapfer, wenn auch stotternd. Sein eigener Stab zitterte in seiner Hand. Harry war ein Gegner, der ihn in null Komma nichts zu Staub verwandeln könnte, der vom Morgenwind in alle Richtungen verstäubt werden würde. Das wussten beide.
Unverhofft trafen Nevilles Worte eine Stelle tief in Harrys Herzen. Es war eine Stelle, die schöne Erinnerungen an sein erstes Schuljahr barg – an Neville, der sich Hermine, Ron und ihm in den Weg gestellt hatte, um sie davon abzuhalten, irgendwelche Dummheiten anzustellen. Dieser Einsatz war sogar mit Punkten belohnt worden, rief sich Harry ins Gedächtnis. Eine Würdigung seitens Albus für den Mut, sich seinen eigenen Freunden in den Weg gestellt zu haben. Harry blickte Neville in die Augen, die scheu den Blickkontakt aufrecht erhielten, dabei nervös blinzelten, weil er mit dem Schlimmsten zu rechnen schien. Neville war ein Freund. Einer, der sich ihm in den Weg stellte, um ihn – wieder einmal – vor unüberlegten Dummheiten zu bewahren.
Harry schloss die Augen und atmete tief durch. Er hoffte, auf diese Weise seinen Groll verdrängen zu können, der dafür verantwortlich war, nicht mehr klar denken zu können. Der innere Frieden, den er nach Voldemorts Tod verspürt hatte, war das Gefühl, an das er sich jetzt klammerte. Diese Ausgeglichenheit wollte er wieder zurückhaben, doch erst mit Ginny an seiner Seite wäre sein emotionales Gleichgewicht wieder vorhanden. Er musste sich beruhigen, musste einen klaren Gedanken fassen, der nicht seinem jugendlichen Temperament entsprach, sondern dem des abgeklärten erwachsenen Harry. Der Harry, der im Krieg Menschen angeführt hatte, die doppelt und dreifach so alt und erfahren waren wie er. Sie hatten ihm vertraut, weil er sich nur selten aus der Ruhe bringen ließ.
Der Wind streichelte Harrys Wange, spielte mit seinen Haaren. Es roch nach Regen. In der Ferne hörte er das Zwitschern von Vögeln. Da war eine Hand auf seiner Schulter. Harry blickte auf.
Neville war bei ihm und schenkte ihm Kraft. Wortlos ließ Harry sich von ihm zu einem der Gewächshäuser führen. Sein Freund strahlte so eine Ruhe aus, dass Harry sie wie ein Schwamm in sich aufsaugen wollte. Ruhe war der Schlüssel.
Ruhe war der Schlüssel, der für die Eingesperrten weit weggeworfen worden war.
„Wie kann er uns einfach hier zurücklassen?“ Diese Frage stellte Ron mehrmals und offenbar sich selbst, als er mit den Zwillingen den Kamin nach einem Ausweg untersuchte. Harry hatte ganze Arbeit geleistet. Keiner konnte die unsichtbaren Barrieren durchbrechen, die Harry damals ausgetüftelt hatte, um Feinde einzusperren, die er nicht töten wollte, wie beispielsweise Menschen, die unter dem Imperius standen. Neben Hedwigs Käfig stand Hermine, die sich wenig enthusiastisch am Fenster versuchte, denn sie kannte den Zauber. Keiner ihrer Zaubersprüche konnte Harrys Bann durchbrechen. Mit ihren Gedanken war sie bei Ginny.
„Wie lange hält dieser Unfug an?“, hörte man Severus‘ aufgewühlte Stimme fragen.
Einer der Zwillinge antwortete. „Nie länger als eine Stunde.“
„Und Sie als seine Freunde kennen diesen Zauber nicht?“
„Natürlich kennen wir ihn“, fuhr Fred ihn grantig an, „aber das hier ist Harrys Macht. Wir wissen durchaus, wie er funktioniert, aber keiner von uns war bisher stark genug, diesen Zauber zu brechen.“
Hermine drehte sich um und betrachtete die anderen. Die Zwillinge und Ron beschäftigten sich noch immer mit dem Kamin, um wenigstens eine Verbindung zu den Eltern aufzubauen, doch jeder Versuch schlug fehl. Gemeinsam an der Tür verweilten Remus und Severus, die die Türklinke betrachteten, als wäre sie ein atemberaubend schönes und gleichzeitig ein skurril scheußliches Kunstobjekt in einer Ausstellung. Severus hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Mit der rechten hielt er seinen Zauberstab. Remus tippte mit einem Zeigefinger auf seine Lippen, während er nachdachte. Dann richtete er unerwartete den Stab auf die Klinke.
„Aloho …“
Ganz außer sich unterbrach Severus ihn: „‘Alohomora‘? Sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Wir haben es hier mit einem ungewöhnlich starken Schutzzauber zu tun und Sie wollen einen Spruch aus der ersten Klasse anwenden? Ich fasse es nicht!“
Es war der abwertende Tonfall, der Remus ebenfalls zur Weißglut brachte. „Es könnte ja sein“, knurrte er den Tränkemeister an, „dass Harry einen Notausgang eingefügt hat, der so plausibel ist, dass wir ihn gar nicht erst in Erwägung ziehen.“
„Ich glaub’s zwar nicht, aber bitte.“
Mit einer präsentierenden Geste seiner Hand deutete Severus auf die Tür und machte dem Kollegen Platz. Remus ahnte, dass ein Misserfolg ihm einen beißenden Spott einbringen würde und wappnete sich innerlich schon dafür. Ein Blick nach links offenbarte ihm, dass selbst die drei Weasleys ihm gespannt zuschauten. Er würde sich bis auf die Knochen blamieren. Er richtete seinen Zauberstab auf das Schloss.
„Alohomora“, sprach er und es passierte nichts.
„Zufrieden?“ Das spottende Funkeln in Severus‘ Augen kündigte noch mehr Boshaftigkeiten an. „Vielleicht sollten Sie jetzt ein paar Sprüche aus der zweiten Klasse probieren?“
„Severus!“, warnte Remus durch zusammengebissene Zähne.
„Oder vielleicht …?“
Ron zeigte Mut und stand für Remus ein. „Lassen Sie ihn in Ruhe, Snape!“
„Sonst was?“, drohte der ehemalige Todesser, der aus einem bisher nicht bekannten Grund gereizter war als alle anderen.
„Sonst …“ So sehr er sich auch anstrengte, es fiel Ron nichts ein, mit dem man Severus drohen könnte. „Lassen Sie ihn einfach in Ruhe.“
„Wie können Sie alle so gelassen hier herumstehen, während Ihr Freund eine Rettungsaktion, die einer genauen Planung bedarf, einfach so übers Knie bricht und genauso leichtfertig mit dem Kopf durch die Wand geht, wie es vor ihm sein dämlicher Vater schon unzählige Male getan hat?“
Die Beleidigung wollte Remus nicht auf James sitzen lassen. „Es reicht, Severus. Wenn du eine Idee hast, wie wir hier herauskommen, dann bitte, aber hör auf …“
Severus deutete auf Remus. „Das ist diese Ruhe, die ich nicht nachvollziehen kann.“ Jeder im Raum hatte seine Augen auf Severus gerichtet. „Sie scheinen allesamt nicht zu verstehen, dass nicht nur Harry und Miss Weasley in Gefahr sind, sondern dass seine unüberlegte Aktion auch einen Krieg auslösen kann!“ Weil Ron die Augen weit aufriss, fügte Severus hinzu: „Einen Krieg, den wir nebenbei erwähnt mit Leichtigkeit gewinnen würden. Es handelt sich bei dem Gegner nur um ein paar von diesen dummen Muggeln.“
„Hey!“, wies Hermine ihn zurecht, doch er ignorierte sie.
Als Severus zu ihr hinüberschaute, hob er seinen Stab und bat sie mit einer Geste, vom Fenster wegzugehen. Vorsichtshalber nahm sie Hedwigs Käfig mit. Unheilvolles Gemurmel ertönte aus Severus‘ Mund. Zwar verstand niemand die Worte, aber Hermine hatte die Befürchtung, er würde dunkle Magie anwenden. Seine Zauberformel war kaum gesprochen, dass schleuderte er den schwarzen Fluch, der sich bereits an der Stabspitze geformt hatte, auf die Fensterscheibe. Wie ein Schneeball zerbröckelte der Fluch auf dem Glas, aber er verschwand nicht sofort. Ein Summen war zu hören, dann ein Dröhnen, als der dunkle Klecks auf der Scheibe seine Macht ausübte, doch er wurde von Harrys Schutzwall zerstört. Mit einem Male flammte der sichtbare Fluch auf. Möbelstücke in der unmittelbaren Umgebung fingen Feuer, das sofort von den Zwillingen und Hermine gelöscht wurde, während Remus und Ron den Verursacher böse anschauten.
„Du wagst es, die schwarzen Künste mitten in Hogwarts anzuwenden?“
Severus blickte Remus durch zusammengekniffene Augen an. „Natürlich! Wenn Albus DAS nicht bemerkt hat, dann muss er wirklich taub sein.“
„Keine schwarze Magie mehr!“, befahl Hermine. „Im Nebenzimmer schläft ein Kind und werde nicht zulassen, dass es in diesem zarten Alter mit so einem Schmutz in Berührung kommt.“
Es gefiel ihm gar nicht, vor allen anderen zurechtgewiesen zu werden. Ohne ihre Warnung zu beherzigen, wandte er sich der Tür zu und schleuderte ihr einen anderen Fluch entgegen, von dem er erhoffte, dass man ihn draußen hören würde. Ein ohrenbetäubendes Knarren und Klopfen hallte durch den Raum. Jeder, selbst Severus, musste sich die Ohren mit den Händen bedecken.
Aus dem Schlafzimmer ertönte herzzerreißendes Kindergeschrei.
„Jetzt reicht es! Genug mit diesen Spielereien!“ Wütend marschierte Hermine ins Schlafzimmer und knallte die Tür hinter sich zu, um sich in Ruhe dem Patenkind zu widmen.
„Hermine hat Recht“, stimmte Remus zu, „keine weiteren Zaubersprüche dieser Art.“
„Sie wollen hier wohl gar nicht raus, wie es aussieht.“
Remus atmete einmal tief durch. „Ich weiß, zu was Harry in der Lage ist und bereite mich darauf vor, den Rest der Stunde einfach zu warten, bis der Zauber vergeht, so schwer es mir auch fällt.“
„Es sieht nicht aus, als würde es Ihnen schwerfallen.“ Ungläubig sah Severus dabei zu, wie die Weasleys und Remus auf den Sitzmöglichkeiten um den Couchtisch herum Platz nahmen. „Bin ich wirklich der Einzige, der hier dieses Zimmer verlassen möchte?“ Man ignorierte ihn. „Oh Merlin“, seufzte Severus theatralisch, „ich bin mit fünf Hohlköpfen aus Gryffindor eingesperrt.“
„Fünf?“, hörte er plötzlich Hermine fragen, die gerade mit einem schluchzenden Nicholas auf dem zurück ins Wohnzimmer kam.
„Vier“, verbesserte er.
Alle Gryffindors hatten sich gesetzt, nur Severus ging im Zimmer auf und ab. Als er die Gesichter der anderen betrachtete, bemerkte er deren gedankenverlorenen Gesichtsausdrücke. Nur nach außen hin hatten sie die Ruhe inne. Mit Zeigefinger und Daumen knetete Remus seine Lippen, als er sich den Kopf über einen Ausweg aus dieser Situation zerbrach. Die Zwillinge hatten wieder die Köpfe zusammengesteckt und flüsterten sich Dinge ins Ohr. Einzig der kleine Junge machte Geräusch, schluchzte manchmal erschöpft oder machte erste Versuche mit seiner Stimme.
„Dadadada“, wiederholte Nicholas, bis er Luft holen musste und von vorn begann. Hermine hielt ihm ihre Finger hin, die er neugierig betastete. Ihr Blick war starr. Sie sah nicht das Kind auf ihrem Schoß, sondern – so vermutete Severus – viel schlimmere Bilder, wie die der geborgenen Leiche ihrer besten Freundin, an deren Tod sie sich jetzt schon die alleinige Schuld gab. So unglücklich, so verschämt. Hermine grämte sich.
„Ich habe einen Vielsafttrank gebraut.“ Die gebrochene Stimme der Freundin ließ alle aufhorchen. „Der Mann, der mich auf der Straße überfallen hat, stand vor mir und ich dachte, ich könnte ihn reinlegen.“ Sie errötete, weil sie wusste, dass alle Augen auf sie gerichtet waren. Severus schritt nicht ein. Wenn sie sich diese Sache von der Seele reden wollte, war es ihr gestattet. Ron schenkte ihr all seine Aufmerksamkeit, wollte den Zusammenhang verstehen, aber er gab sich nicht die Blöße nachzufragen, denn noch konnte er keinen Bezug erkennen.
Hermine seufzte. Die Dummheit mit dem Vielsafttrank war eine ihrer größten gewesen. „Ich habe mich mit dem Brauen strafbar gemacht“, sie zog die Nase hoch, „aber das Schlimmste ist, dass mein Plan nicht mal aufging. Der Typ hat den Trank einfach geklaut.“
„Und was willst du uns damit sagen?“, hakte Ron endlich nach, weil ihm der Geduldsfaden gerissen war.
Sie zögerte und blickte auf ihre Hände. Als sie den Zeigefinger streckte, wurde der sofort von einer kleinen Hand umfasst. Sollte alles schiefgehen, dachte Hermine, dann würde sie ein Kind in ihre Obhut nehmen, dessen Eltern durch ihren Fehler ums Leben kamen. Der Gedanke war so grauenvoll, dass die ersten Tränen über die heißen Wangen liefen.
„Der Mann“, sie musste sich erst räuspern, „wollte den Trank haben, um Harry zu entführen.“
Ron fiel aus allen Wolken. „Wie bitte?“
Einschreitend erklärte Severus die Situation für alle und sprach Hermine mit Inbrunst von jeglicher Schuld frei, was alle nachvollziehen konnte, nur nicht Hermine. Remus hatte einen Arm um sie gelegt, einfach nur um für sie da zu sein.
Wütend stand Ron auf, stolperte dabei über Freds Füße und stieß gegen den Tisch, der mit seinen hölzernen Standbeinen laut über den Boden schabte. Von diesem Missgeschick ließ sich Ron nicht aufhalten. Mit sicherer Hand griff er seinen Stab und gab sich viel Mühe, sich zu konzentrieren.
„Was hast du vor?“, wollte George wissen, während sich der Jack-Russell Terrier bereits aus den silbernen Fäden formte, die Rons Stabspitze verließen.
„Wonach sieht’s denn aus?“, giftete er zurück. „Ich will was probieren!“
Neugierig beobachtete Severus, wie der kleine silberne Hund hasenartige Zickzackmuster sprang, bevor er zum Erstaunen aller durch das Fenster flitzte und in der Dunkelheit verschwand.
„Der Patronus ist durchgegangen!“, stellte Ron überrascht fest, obwohl alle das gesehen haben mussten. „Harry hat also doch eine Hintertür offen gelassen.“
„Und wohin, wenn ich fragen darf, haben Sie ihn geschickt?“ Geduldig wartete Severus auf eine Antwort, die Ron gewissenhaft gab.
„Zu Ginny!“
„Ah“, machte Severus enttäuscht. „Und warum nicht zu Professor Dumbledore? Oder zu Ihren Eltern?“
„Ich …“ Er hatte die ganze Zeit so intensiv an seine kleine Schwester gedacht, dass der Patronus zur ihr eilte, anstatt zu jemandem, der sie aus diesem Zimmer holen könnte.
„Ist ja auch unwichtig“, winkte Severus ab. „Wer von uns benachrichtigt Albus?“
Alle zogen ihren Stab.
Von den Aktionen seiner Freunde bekam Harry nichts mit. Er saß mit Neville im Gewächshaus und sammelte sich, um wenigstens etwas von der Bedächtigkeit zurückzuerlangen, die er schon damals innehatte, als er so viele Menschen ihr Vertrauen in ihn gesetzt hatten. Auch jetzt hatten Arthur und Molly all ihre Hoffnung auf ihn gesetzt. Er wollte niemanden enttäuschen, durfte niemanden enttäuschen.
Erst nach einer kurzen Weile, die sie zwischen den bunten Blumen und den süßen Gerüchen verbrachten, fragte Neville ihn, während er ihm eine Tasse Tee reichte, nach dem Grund für sein ungestümes Verhalten.
„Was ist denn nur los gewesen, Harry? So habe ich dich ewig nicht mehr erlebt.“
Sein ursprünglicher Plan, sofort loszustürmen und Hopkins anzugreifen, war völlig verpufft. „Ginny“, hauchte er. „Man hat sie gestern Abend entführt.“ Laut klirrend landete die Teetasse seines Freundes auf dem Boden. Schockiert riss Neville seine Augen auf, als Harry anfügte: „Sie ist in Clova, dort wollte ich eben hin. Hexenjäger …“ Harry stockte und war froh, dass Neville die Stille überbrückte.
„Hexenjäger?“, fragte sein Freund irritiert nach, als würde er nicht glauben, dass es so etwas geben konnte.
„Ich würde eher sagen, es sind ein paar realitätsferne Muggel, denen ich wohl Manieren beibringen muss.“ Ein gequältes Lächeln huschte über Harrys Gesicht. Auch wenn es Muggel waren, konnten sie Ginny gefährlich werden. „Ich will sie zurückholen.“
„Ich kann es nicht glauben!“, wetterte Neville aufgebracht. „Hexenjäger? Das ist doch Wahnsinn! Weiß Arthur davon?“
„Ja, aber er kann als Minister nichts machen. Er wollte schon sein Amt niederlegen.“
Nervös machte Neville kleine Schritte, die ihn nirgendwo hinführte. Er trat auf der Stelle. Ginny war für ihn eine gute Freundin, auch wenn sie sich selten sahen. Sie waren in den schlimmsten Stunden ihres Lebens zusammen gewesen, hatten Momente miteinander geteilt, die die Freundschaft auf die Probe gestellt und auch gefestigt hatten. Wäre er in Schwierigkeiten, dachte Neville, würde sie nicht zögern, alles stehen und liegen zu lassen, um ihm zu helfen.
„Weiß man, wie es ihr geht?“, fragte er vorsichtig nach.
Harry schüttelte den Kopf. „Ich habe nichts mehr von ihr gehört.“
„Aber“, mit einer Geste seiner Hände untermalte er seine Unverständnis, „wenn man sie entführt hat, dann muss es doch einen Grund geben! Was können die wollen?“
„Vielleicht wollen sie mich“, warf Harry halbherzig in den Raum.
Diese vage Vermutung bestätigte Neville: „Ja, das kann es sein. Dich oder Arthur! Er ist immerhin Minister. Aber was können die gegen Hexen haben? Was für Motive stecken dahinter?“ Neville fasste sich ans Kinn und rieb es nachdenklich. „Sie wollen Macht haben, macht über uns. Wir sind ihnen unheimlich!“ Er zählte diese Punkte auf, als stünden sie auf der To-do-Liste von Hopkins. „Sie haben Angst, wollen uns aber das Gegenteil weismachen.“
„Woher willst du das wissen?“
Neville zuckte mit den Schultern. „Ich stell es mir so vor. Aber viel wichtiger ist jetzt, Ginny da rauszuholen! Ich hoffe, es ist nicht schon zu …“ Er wollte nicht alles schwarz malen, aber es wäre möglich, dass Ginny längst ein Opfer geworden war.
„Es geht ihr gut“, bestätigte Harry sehr überzeugt. Weil Neville fragend dreinschaute, führte Harry eine Hand an seine Brust und erklärte: „Ich spüre das hier. Sie lebt.“
Das milde Lächeln seines Freundes steckte Harry an. Neville nickte verständnisvoll. „Das geht mir mit Luna ganz ähnlich.“ Auch Neville zeigte auf die gleiche Stelle an seinem Körper. „Sie ist hier drin.“ Als würde er sich einen Moment konzentrieren, atmete er tief durch, bevor er Harry verriet: „Sie lacht gerade.“
Die kurze Ruhe, die dieser Moment brachte, war ein wahrer Segen. Zu viel Zeit durfte jedoch nicht verstreichen, darüber war sich auch Neville klar, als er seine Augenbrauen zusammenzog und über eine Lösung nachdachte.
„Arthur muss gar nicht zurücktreten, Harry.“ Die ungewohnte Selbstsicherheit, die Neville plötzlich innehatte, bewunderte Harry, doch er fragte sich, wo sein Freund diese Kraft hernahm. „Es gibt einen anderen Weg.“
Harry war ganz Ohr. „Welchen?“
Mit einer Hand griff sich Neville an die Gesäßtasche, aus der er etwas herausholte. Einen Moment lang blickte er zuversichtlich auf den in seiner Hand verborgenen Gegenstand. Neville strahlte eine Entschlossenheit aus, mit der er Harry ansteckte. Den Gegenstand in offenbarte Neville ihm mit ausgestreckter Hand.
Es war die falsche Galleone mit dem Proteus-Zauber, mit der Harry damals immer die DA zusammengerufen hatte.
Ein Zauber ganz anderer Art huschte in diesem Moment wie eine Gams über Stock und Stein. Der Jack-Russell Terrier wurde einen Moment lang von ein paar Rehen begleitet, die aber nicht lange mit ihm mithalten konnten. Einige Hasen wurden aufgeschreckt, als der silberne Schutzherr über den Boden jagte. Er wurde schneller und schneller, flog in unmessbarer Geschwindigkeit über die Wiesen des schottischen Hochlands. Nach nicht allzu langer Zeit passierte er den Devil’s Elbow mit seinen wahnwitzig steilen Straßen. Noch zwei Hügel überquerte er, bevor er wieder langsamer wurde. Hüpfend durchquerte er den Verbotenen Birkenwald und schreckte dabei Zentauren auf, die friedlich hier lebten.
An einem kleinen See, der tief im Wald lag, beobachtete ein Mensch, der selbst mehr Ähnlichkeit mit einem Tier hatte, den silberfarbenen Hund. Erschrocken über das erscheinen dieser magischen Gestalt ganz in seiner Nähe seiner Fluchtstätte suchte er Schutz hinter einem Baum. Neugierig und gleichzeitig vorsichtig blickte er dem Hund hinterher, der seinen Weg unbeirrt fortsetzte. Man suchte also nicht ihn, dachte der Mann, der wieder langsam hinter dem Baum hervorkroch, um seinen Durst zu stillen. Er schöpfte das Wasser nicht mit seinen Händen, an deren Fingerspitzen dicke gelbe Fingernägel wie Krallen herausbrachen, sondern soff es wie ein Tier. Nachdem er getrunken hatte, tauchte er den Kopf mit den grauen verfilzten Haaren einmal komplett unter Wasser, bevor er sich mit seinem massigen Körper erhob und nochmals in die Richtung blickte, in die der Patronus gehuscht war. Neugierig schlug er den gleichen Weg ein.
Rons Patronus näherte sich der Wand eines stabilen Gebäudes, die er mit Leichtigkeit überwinden konnte. Mit seinem silbernen Schein erhellte er den gesamten Innenhof, womit er einige Menschen auf sich aufmerksam machte.
„Da! Was ist das?“, rief irgendjemand aus einem der vielen Fenster hinunter.
Tyler stürzte aus der Eingangshalle nach draußen und sah den hellen Schein noch durch die Tür des Turmes flitzen, hinter der man die Hexe gefangen hielt. „Sag Hopkins Bescheid!“ Er wandte sich Alejandro zu, der bereits die Waffe gezückt hatte. „Komm mit!“
Nicht nur die beiden näherten sich dem Turm, sondern auch einige Schaulustige und auch Hopkins selbst. Alejandro schloss die Tür auf, die Tyler öffnete. Sofort zielte er mit seiner Waffe auf den silbernen Hund und schoss, doch er traf nur die steinerne Wand dahinter.
„Die Kugel ist durchgegangen!“
„Was ist das?“, brüllte Hopkins. „Was will das hier?“
Der Jack-Russell Terrier sprang munter um Ginny herum, die jedoch von alledem nichts mitbekam, da man sie ruhiggestellt hatte. Plötzlich hörte man die Stimme eines jungen Mannes, die offenbar der geisterhafte Hund von sich gab. „Ginny, geht es dir gut? Gib mir eine Nachricht!“
Hopkins schwankte. Gerade wollte er hinausstürmen, weil die Angst ihn übermannte, man könnte ihn von allen Seiten angreifen, da kam Alex herein. Er sah den Hund und schaute verdutzt drein, als der die Worte wiederholte.
„Ein Patronus! Ich wusste gar nicht, dass die reden können“, murmelte er fasziniert.
„Was ist das?“ Hopkins forderte eine Antwort und bestärkte das, indem er Alex ans Schlafittchen nahm.
Erschrocken nahm Alex einen Atemzug. „Das ist ein Zauber, der Böses abwehren kann.“
„Warum spricht er? Ist das ein Späher?“
„Ich weiß nicht. Ich …“
Mit Wucht drückte er Alex von sich weg und starrte mit Verachtung für alles Magische den Hund an. Zu Tyler sagte er: „Sorg dafür, dass die Hexe nicht so schnell zu Bewusstsein kommt. Der Doktor soll sich drum kümmern! Alle anderen sollen auf ihre Posten. Ich möchte Potter herzlich willkommen heißen, wenn er hier auftaucht!“
Tyler nickte. Kaum war er aufgestanden, huschte der Hund zurück in den Innenhof. Einige der Frauen schrien bei dem ungewöhnlichen Anblick.
„Ja!“, brüllte Hopkins und trat aus dem Turm heraus ins Freie. „DAS ist die Magie, von der ich euch erzählt habe. Der Beweis für die Hexen, die so viele von uns gequält haben und es noch immer tun! Macht euch darauf gefasst, dem Feind bald ins Auge zu blicken!“
Jetzt, als jeder dem silberfarbenen Geistwesen in Form eines Hunden nachschaute, wie er über die Mauer flog, waren alle Anhänger davon überzeugt, dass es tatsächlich all die Dinge gab, von denen Hopkins immer gesprochen hatte. Und diejenigen, die Zweifel hatten, waren mit einem Male wieder umgestimmt.
„Okkulter Abschaum!“, schimpfte Hopkins laut und aufgebracht in dem Wissen, die Menschen um ihn herum damit aufzustacheln. „Teuflische Kreaturen sind das, die unsere Kinder mit ihren hübschen Zaubertricks zu sich locken wollen.“
Er sah Claudine in der Menge, die von ihrem Mann Jacob im Arm gehalten wurde. Die beiden nannten damals einen landwirtschaftlichen Betrieb ihr Eigen, den die drei Söhne eines Tages übernehmen sollten. Stattdessen tauchten Todesser auf, quälten die Jungen und warfen ihre geschundenen Körper in das Schweinegehege.
Als Hopkins die beiden eindringlich anblickte, sagte er: „Und wenn sie genug von ihnen haben, dann bringen sie sie einfach um!“ Claudine begann zu schluchzen. „Ihr habt es gesehen, wie sie mit einem glitzernden Hündchen vorgaukeln, wie harmlos sie seien, aber einige von euch wissen“, wieder schaute er zu Claudine, die ihr Gesicht in der Halsbeuge ihren Mannes vergraben hatte, „wie sie wirklich sind! Sie zerstören und morden! Es sind Dämonen in Menschengestalt, die erst unsere Werte mit Füßen treten, bevor sie nach unserem Leben trachten!“
Hopkins wollte einen Schritt machen, begann aber zu wanken, fasste sich an die Stirn. Schmerzen. Stechende Schmerzen, als würde man ihm heiße Stricknadeln durch Kopf bohren. Für einen Augenblick wurde ihm schwarz vor Augen. Dann fühlte er eine Hand an seiner Schulter. Alejandro.
„Komm rein. Leg dich hin“, sagte der Mann, der einer der Ersten gewesen war, die sich ihm angeschlossen hatten. Alejandro hatte ihm nun beide Hände auf die Schultern gelegt.
„Nein!“ Hopkins hob nahm die Hand von der Stirn. Ein Raunen ging durch die Menge, als man das viele Blut aus dessen Nase laufen sah. „Es darf ruhig jeder sehen, was sie mit mir anstellen, denn mich fürchten diese schwarzen Kreaturen, weil ich sie durchschaut habe!“
Von Alejandro stemmte er sich weg. Mit einer Hand wischte Hopkins das Blut von Mund und Nase, bevor er sie hochhielt, damit es jeder sehen konnte. Die Nase lief weiter und beschmutzte sein Hemd.
„Diese Hexen sind nur die Vorboten – die Türsteher zum Reich der Finsternis, wo noch ganz andere Monster lauern. Riesen, Kobolde und Werwölfe!“ Er drehte sich, um zu den Menschen auf der anderen Seite zu sprechen. „Geister, Monsterspinnen und Vampire, aber das sind längst nicht alle!“ Nach einem falschen Tritt knickte Hopkins um und ging zu Boden, doch weder Alejandros helfenden Hände, noch die Tatsache, dass er saß, hielten ihn davon ab, weiter auf die ihm so verhassten Welt zu schimpfen. „Übernatürliche Phänomene sind unnatürlich, aber in deren Welt ‘normal‘. Sie verwandeln ihren Körper in Tiere, sie stehlen Erinnerungen und sie trinken Plörre mit Dingen, die wir normalerweise mit dem Schuh zertreten! Welcher normale Mensch nimmt etwas zu sich, das aus Maden und Kakerlaken besteht? Das ist ekelhaft! Deren ganze Welt ist ekelhaft und spiegelt ihre eigene Abnormität wider!“
„Komm, steh auf.“ Alejandro packte ihn von hinten unter den Oberarmen und hievte ihn hoch. Sein Freund war schwach. Das Blut floss unaufhörlich.
„Sie reiten auf Besen“, zeterte Hopkins unbeirrt, dem es sichtlich schlechter ging, denn er konnte kaum noch allein stehen. „Wir müssen diese verwerfliche Welt entschieden ablehnen, aber selbst unser Herr Minister operiert und kooperiert mit denen. Das dämonische System ist ihm nicht fremd, es unterwandert unsere Regierung, unser Land, unsere Familien!“ Mit aller Kraft hielt Alejandro seinen Freund auf den Beinen, machte erste Schritte mit ihm. „Das okkulte Denken verdirbt uns alle, wenn wir uns nicht wehren!“ Nochmals wischte er das frische Blut von seinem Mund und hielt die Hand wie ein Märtyrer in die Höhe. „Die Hexen wollen mir den Mund verbieten, weil ich die Wahrheit spreche. Seht, was sie mit mir tun!“
Durchweg alle blickten mitleidig zu dem Mann hinüber, der ihnen seit langer Zeit die Augen öffnen wollte. Viele hatten sich abgewandt und waren seiner Einladung nur gefolgt, weil er versprach, Beweise für die Existenz der Hexen zu liefern. Der Geisterhund war Beweis genug.
Schwer atmend wandte sich Hopkins an seinen Helfer und flüsterte: „Bring mich rein, hier bin ich ein zu großes Ziel.“
An den Menschen vorbei, die ihm mitfühlend hinterherschauten, ließ sich Hopkins nach drinnen begleiten. Er kam an dem Arzt Mr. Andersen vorbei, der seine Hilfe anbot und ihn untersuchen wollte.
„Nein, Mr. Andersen. Keine Medizin wird gegen Hexerei helfen können. Sie müssten das doch am besten wissen! Kümmern Sie sich bitte um unseren ‘Gast‘. Sie darf nicht aufwachen, sonst könnte sie gefährlich werden.“
„Mr. Hopkins, was haben Sie mit der jungen Frau vor?“
Hopkins zog eine Augenbraue in die Höhe, was sein blutverschmiertes Gesicht wie eine dämonische Fratze aussehen ließ. „Die Hexe wird brennen, wenn Mr. Potter hier nicht bald auftaucht. Vielleicht lockt ihn ja der viele Rauch hierher.“
Von dieser Information war der Arzt schockiert. Er konnte nur noch nicken, bevor er mit seinem Arztkoffer zum Turm watschelte. Schnell konnte er wegen der Zehen, die ihm vor wenigen Jahren von einem Zauberer zusammengehext worden waren, nicht laufen.
„Wohin soll’s denn gehen, Mr. Andersen?“
Tyler hatte sich dem Arzt angeschlossen und begleitete ihn. „Mr. Hopkins möchte, dass die Dame noch eine Dosis bekommt.“
„Dame? Wir sprechen von der Hexe, oder?“, fragte Tyler skeptisch.
„Natürlich, von wem denn sonst?“
Von drinnen rief Hopkins ihm nach. „Tyler, ich brauch dich. Und Sie, Mr. Andersen, nehmen sich jemand anderen mit, der Ihnen hilft.“
Tyler überreichte dem Arzt den Schlüssel zum Turm, in welchem die Hexe gefangengehalten wurde. Mr. Andersen war nicht wohl bei dem Gedanken, Mitschuld am Mord einer jungen Frau zu haben. Es ging gegen all seine Prinzipien. Er war Arzt. Bei Auseinandersetzungen dieser Art würde er normalerweise den Gegner vor den Kadi ziehen und auf sein Recht pochen, nicht aber auf einen Scheiterhaufen binden. Andersen blickte sich um. Die meisten gingen wieder ins Schloss hinein, weil es wie angekündigt wieder zu regnen begann. Sein Blick traf den von einem Mann, der seine Frau im Arm hielt. Claudine und Jakob. Das Schicksal der beiden wurde jedem Neuankömmling brühwarm erzählt, um zu unterstreichen, wie brutal die Hexen und Zauberer vorgingen. Das Ehepaar war für Hopkins eine Art Mahnmal für alle anderen. Als Eleanor an dem Paar vorbeiging, ließ Jakob seine Frau plötzlich los, damit er sie in die Hände der älteren Dame geben konnte. Die beiden Frauen gingen hinein, doch Jakob kam auf Mr. Andersen zu.
„Hallo, Mr. …“
„Andersen“, stellte sich der Arzt vor.
„Mr. Andersen. Tut mir leid. Ich kann mir nicht alle Namen beim ersten Mal merken. Sie sind der Arzt, richtig?“ Andersen nickte. „Ich habe eben mitgehört, dass Sie sich Hilfe suchen sollen. Nun, ich hab gerade nichts anderes vor.“
„Sie wollen mit zum Turm?“ Jakob bestätigte wortlos. „Dann sollten wir rennen, sonst werden wir pitschnass.“
Gesagt, getan. Beide Männer rannten über den weiten Innenhof, bis sie ganz hinten an der Tür angelangt waren. Mr. Andersen drehte den Schlüssel, was ein wenig dauerte, denn das rostige Schloss hakte. Endlich drinnen angekommen blickten beide auf die junge Frau, deren rechter Arm durch die Handfessel nach oben gehalten wurde. Es sah sehr ungemütlich aus, dachten beide unabhängig voneinander.
„Vielleicht sollten wir ihr wieder die Hose anziehen? Die ist ja jetzt trocken.“ Jakob befühlte das Stück Stoff auf dem Tisch.
„Es wundert mich ehrlich gesagt, dass man so freundlich war, sie ihr überhaupt auszuziehen. Wie ich eben von Mr. Hopkins erfahren habe, liegt ihm nicht viel an ihrem Leben.“
„Und wie sehen Sie das?“, fragte Jakob ein wenig zu schnell.
Der Arzt stellte seine Tasche auf dem Tisch ab und öffnete sie, während er seelenruhig fragte: „Wie hoffen Sie, wird meine Antwort ausfallen?“
„Weiß nicht“, erwiderte Jakob vorsichtig. „Sie sind Arzt. Sie haben den Hippokratischen Eid geschworen.“
„Dann wissen Sie, wie meine Meinung ist.“
„Dann wollen Sie nicht, dass ihr etwas geschieht?“, wollte Jakob nochmal bestätigt haben.
„Mir gefällt es nicht einmal, dass ich sie ruhighalten soll, aber ich tu es, weil dieser Tyler gedroht hat, ihr selbst etwas aus meiner Tasche zu spritzen und das lasse ich nicht zu!“
Vom Boden hörte man ein leises Stöhnen. Die Wirkung ließ nach. Die Gefangene wurde langsam wach.
„Meine Frau und ich sind der Meinung, dass nur diejenigen büßen sollten, die unsere Söhne auf dem Gewissen haben. Diese Frau dort“, er deutete auf Ginny, „ist viel zu jung. Sie war damals bestimmt nicht dabei.“
„Und sie war es auch nicht, die mich angefallen hat“, bestätigte der Arzt. „Das war ein Mann gewesen.“
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Tylers nasser Kopf lugte herein.
„Was dauert hier so lange?“, wollte Hopkins‘ Wachhund wissen.
„Sie ist noch nicht wach. Ich warte, bis sie ansprechbar ist, bevor sie die neue Dosis bekommt. Außerdem werden wir ihr noch die Hose anziehen.“
„Was soll der Blödsinn?“
„Wenn Sie nicht möchten, dass die“, er überwand sind, sie so zu bezeichnen, „Hexe an einer Unterkühlung stirbt, bevor sie irgendjemandem von Nutzen sein kann, dann lassen Sie nur uns machen.“ Tyler verzog das Gesicht, weswegen Mr. Andersen noch eine Zugabe gab: „Und außerdem müssen wir den Arm wechseln. Dafür brauchen wir den Schlüssel für die Fessel.“
„Kommt gar nicht in Frage!“
„Die Vene ist schon völlig zerstochen. Ich kann sie nicht noch mehr malträtieren. Ich brauche die andere Armbeuge, Mr. Tyler.“
„Verdammter Arzt“, murmelte Tyler, bevor er in den Turm kam.
Den Schlüssel für die Fessel zog er aus seiner Innentasche. Als er bei der jungen Frau stand, trat er sie nach Gutdünken, nur aus Spaß. Jakob und Mr. Andersen tauschten Blicke aus. Beide waren mit dieser Behandlung nicht einverstanden. Die Handfessel war genauso alt wie das Schloss zur Tür. Es dauerte, bis der Schlüssel sich drehte, aber am Ende war das Handgelenkt befreit. Als er den Arm einfach nach unten fallen ließ, wimmerte die noch nicht vollständig erwachte Patientin. Es musste wehtun, wusste der Arzt, das rechte Schultergelenk mit einem Male entlastet zu haben. Tyler griff den anderen Arm, legte die Schelle ums Handgelenk und schloss zu.
„So, zufrieden?“, meckerte er. „Ich muss langsam zurück. Geben Sie ihr schon die Spritze!“ Tyler wollte es sehen, denn er schien niemandem zu trauen.
Mr. Andersen packte eine der Einwegspritzen aus. Die Kanüle mit der Schutzhülle ließ er an der Spritze einrasten. Nur Jakob bemerkte, dass der Arzt erst eine Flasche mit durchsichtiger Flüssigkeit in die Hand nehmen wollte, sich aber für eine andere entschied. Auf der Flasche stand „NaCl – 0,9%“. Tyler stand an der Tür und beobachtete das schlechte Wetter draußen. Diesen Moment nutzte Mr. Andersen, um Jakob zu bitten: „Lenken Sie ihn ab, während ich ihr die Spritze gebe.“
Von dem Schmerz an ihrer rechten Schulter wurde Ginny wach. Sie hörte Leute flüstern und traute sich nicht, ihre Augen zu öffnen.
„Hören Sie mich?“, fragte plötzlich eine männliche Stimme ganz nahe bei ihr. „Sie hören mich!“, stellte der Mann klar, der offenbar genau wusste, wie lange das Zeug, das man ihr einflößte, sie außer Gefecht setzte. Erst als sie eine Hand an ihrem rechten Handgelenk spürte, dann wieder den kalten Wattebausch an ihrer Armbeuge, da regte sie sich, doch die Augenlider wollten noch nicht gehorchen.
„Bitte nicht!“ Ihre Stimme war ein Wispern. „Ich hab einen kleinen Sohn. Werde bald heiraten.“
„Wissen Sie, was eine Kochsalzlösung ist?“ Weil sie den Kopf schüttelte – zumindest hoffte sie, dass sie das tat, denn so richtig fühlte sie noch nichts – erklärte der Mann ihr: „Das ist nichts Schlimmes, aber Sie müssen so tun, als würden Sie wieder einschlafen.“
Im Hintergrund hörte sie zwei Männer miteinander reden. Ihre Lider flatterten, als sie versuchte, die Augen zu öffnen. An der nun offenen Tür erblickte sie zwei Fremde. Der eine schien den anderen absichtlich mit Fragen zu löchern. Ihre Augen konnten sich noch nicht scharfstellen. Es dauerte einen Augenblick, um den Mann erkennen zu können, der bei ihr kniete. Seine Schläfen waren graumeliert. Er wirkte konzentriert, sein Blick war starr auf eine Stelle gerichtet. Als sie seinem Blick folgte, sah sie die lange Nadel in ihrem Arm verschwinden. Panik übermannte sie. Sie kannte das nicht.
„Bleiben Sie still!“, warnte der Mann, der nun die Nadel wieder herauszog und ihr ein Pflaster auf die kleine blutende Stelle klebte.
„Probleme?“, fragte der Mann an der Tür, der von dem anderen abgelenkt worden war.
„Nein, sie war nur kurz erschrocken, wird aber gleich wieder einschlafen.“ Es klang wie eine Empfehlung an sie.
Weil der Mann an der Tür darauf zu warten schien, tat Ginny ihm den Gefallen und ließ das Kinn zur Brust sinken. Sie hörte, wie der mit der aggressiven Stimme ein paar Anweisungen gab, bevor er das Zimmer verließ. Die Tür wurde geschlossen, aber es war noch jemand im Raum. In diesem Moment öffnete Ginny wieder ihre Augen.
Jakob bemerkte, dass sie wach war, obwohl sie etwas gespritzt bekomme hatte. „Was haben Sie ihr gegeben?“
„Infusionslösung“, war die knappe Antwort.
Ginny verstand nicht, was das zu bedeuten hatte und fragte schwächlich: „Was ist das?“
„Das nimmt man in der Medizin, um Flüssigkeitsverluste des Körpers auszugleichen.“
„Medizin?“, wiederholte sie benommen. „Sind Sie Arzt?“
„Ja.“
„Die Eltern“, sie schluckte kräftig, ihr Mund war trocken, „meiner besten Freundin sind Ärzte. Zahnärzte.“ Sie hoffte, Vertrauen zu den beiden aufbauen zu können. Vielleicht konnten sie ihr noch von Nutzen sein.
Ihre Aussage schien den Mann zu verwundern. „Zahnärzte? Kennen Sie viele von uns?“
„Von wem?“ Für längere Gespräche war sie noch nicht zu gebrauchen. Sie konnte Gesprächsinhalten schlecht folgen, war zu unkonzentriert.
„Menschen, die nicht zaubern können“, verdeutlichte der Arzt.
Ginny nickte. „Ich kenne ein paar.“ Ihr Geist wurde nur langsam klarer. Ihr Körper blieb schlapp. „Wo bin ich? Warum halten Sie mich gefangen.“
„Oh, das sind nicht wir. Das ist jemand, der einen sehr ausgeprägten Hass auf ihresgleichen hat.“
„Und Sie? Sie helfen ihm doch!“, warf sie dem Arzt vor.
„Ich bin hier, weil das, was man mir angetan hat, bestimmt von jemandem wie Ihnen auch wieder rückgängig gemacht werden kann.“
Ginny runzelte die Stirn. „Was meinen Sie?“
Ohne Worte zu verlieren bückte sich der Arzt und löste die Schnürsenkel an seinem eleganten Herrenschuh. Er streifte Schuh und Socke ab, so dass sie seinen Fuß sehen konnte. Die Zehen waren eine Masse, auf der vereinzelt die Zehennägel zu sehen waren.
„Das ist ein Scherzzauber“, flüsterte sie peinlich berührt.
„Ein Scherz? Wie lustig würden Sie es finden, drei Jahre damit herumlaufen zu müssen? Der Mann, der das getan hat, hat mir noch ganz andere Dinge angehext. Die meisten konnte ich mit Hilfe von plastischer Chirurgie entfernen lassen, aber hier“, er trat zweimal mit dem Fuß auf, „hat sich kein Mediziner rangetraut.“
Ginny seufzte. „Es ist verboten.“
„Was ist verboten?“
„Auch nur in der Nähe von Muggeln zu zaubern und schon gar nicht sowas …“ Sie blickte auf seinen Fuß und atmete tief durch. „Ich könnt es wegmachen. Brauche dafür nur meinen Zauberstab.“ Sie wagte es, eine Forderung zu stellen: „Und ich möchte danach freigelassen werden!“
„Tut mir leid, junge Dame. Wir haben weder den Schlüssel zu Ihren Fesseln noch wissen wir, wo Hopkins all die Stäbe aufbewahrt.“
Bei dem erwähnten Namen lief es Ginny eiskalt den Rücken hinunter. „Hopkins? Der Hopkins, der so viele von uns …?“ Sie schluckte kräftig. „Aber warum hasst er uns so?“ Sie blickte nochmals auf seinen Fuß, der ihre Frage beantwortete.
„Andere hat es noch viel schlimmer erwischt“, sagte er Arzt, der gleich darauf zu Jakob hinüberblickte.
Ginny folgte seinem Blick. „Was hat man Ihnen angetan?“
„Mir und meiner Frau hat man die Söhne genommen. Maskierte Männer in schwarzen Roben haben sie gequält und getötet“, erklärte Jakob so gelassen wir nur möglich, was ihm schwerfiel, denn die Erinnerung daran war immer schmerzhaft.
„Todesser“, hauchte Ginny.
„Von denen haben wir gelesen“, bestätigte Jakob. „Es ist für mich schwer zu glauben, dass alle von euch solche Schweine sein sollen.“
Ginny schüttelte den Kopf. „Sind wir nicht. Genauso wenig wie alle Muggel schlecht sind, nur weil einer einen Feldzug startet.“
„Hoffen wir nur“, begann der Arzt, „dass Mr. Potter diesen Unterschied auch kennt.“
„Er ist hier?“ Hoffnung flammte auf, die sie gleich mit einem heftigen Schwindelgefühl bezahlte.
„Nein, aber Hopkins will, dass er hier auftaucht, um Sie zu retten.“
„Er sollte das zu seinem eigenen Wohl lieber nicht wollen.“
Von den beiden Männern fühlte sich Ginny nicht bedroht, aber womöglich hatten sie die Mittel nur gleichgültig gemacht. Beide schienen sehr umgänglich und vor allem vernünftig zu sein, doch die Situation selbst fand sie mehr als beklemmend.
„Ich möchte hier weg“, wimmerte sie. „Können Sie mir nicht helfen? Ich schwöre, dass man sich um diesen schrecklichen Zauber kümmern wird.“
Den Fuß mochte man heilen können, aber andere Wunden würden bleiben, woran Jakob sie erinnerte. „Und was ist mit meinen Kindern? Das wird man nicht rückgängig machen können.“
„Nein“, gab sie betrübt zu, „aber man kann diejenigen finden, die das getan haben und sie dafür ins Gefängnis bringen!“
Jakob seufzte. Genau deswegen hatte er sich ursprünglich Hopkins angeschlossen. Er wollte die Mörder finden, damit sie ihre gerechte Strafe erhalten würden.
„Ich weiß nicht, was es zu bedeuten hatte“, begann der Arzt, „aber vorhin war ein Hund hier, ein durchsichtiger, silberfarbener Hund.“
Ginny blickte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. „Ein Hund? Mein Bruder! Das war sein Patronus! Hat er was gesagt?“
„Er fragte, ob es Ihnen gut geht und dass Sie eine Nachricht hinterlassen sollen.“
Besagter Patronus war längst wieder durch den Verbotenen Birkenwald, vorbei an dem Mann mit den langen Fingernägeln, zurück nach Hogwarts gejagt. Dort traf er auf eine aufgebrachte Truppe, die sich in ihrer Verzweiflung gegenseitig anbrüllte, wovon Hermine und Nicholas nichts mitbekamen, denn sie hatte eine magische Blase um sich herumgezaubert, um dem Jungen das Geschrei zu ersparen. Erst der Anblick des zu Ron zurückgekehrten Patronus ließ sie den Zauber aufheben.
„Da ist dein Patronus!“, sie deutete mit dem Zeigefinger drauf.
Jeder hatte ihn gesehen und war auf der Stelle still geworden. Ron richtete seinen Stab auf ihn, um eine mögliche Nachricht anzuspielen. Man hörte Stimmen, die sein Patronus aufgefangen hatte, aber Ginnys war nicht mit dabei.
Eine junge Stimme hörte man murmeln: „Ein Patronus! Ich wusste gar nicht, dass die reden können.“
Jemand anderes war nicht ganz so ruhig, als er wissen wollte: „Was ist das?“
Die gleiche junge Stimme wie zuvor antwortete: „Das ist ein Zauber, der Böses abwehren kann.“
„Warum spricht er? Ist das ein Späher?“
„Ich weiß nicht. Ich …“
„Sorg dafür, dass die Hexe nicht so schnell zu Bewusstsein kommt. Der Doktor soll sich drum kümmern! Alle anderen sollen auf ihre Posten. Ich möchte Potter herzlich willkommen heißen, wenn er hier auftaucht!“
Hier endete die Unterhaltung, die zwar keine Nachricht von Ginny gewesen war, aber in ihrer Nähe stattgefunden haben musste. Ron begann zu zittern und wurde ganz blass. Niemand konnte etwas sagen, bis auf Severus, der seinen klaren Verstand nicht durch Sorgen unterhöhlen ließ.
„Zumindest wissen wir jetzt, dass Miss Weasley lebt, leider auch, dass Harry diesem Mann in die Falle tappen wird, weil man ihn bereits erwartet.“
„Merlin, wir müssen hier raus!“ Ron stürmte zum Kamin und benutzte aus lauter Verzweiflung Zaubersprüche, die er vorhin schon mit seinen Brüdern ausprobiert hatte.
Hermine kam eine Idee und sie sagte laut und deutlich: „Wobbel?“ Harrys Elf erschien nicht.
„Es ist sein Elf, Hermine“, meckerte Ron. „Der wird uns bestimmt nicht gegen den Willen seines Meisters hier rauslassen.“
Sie versuchte es anders. „Dobby?“ Ein Krachen war zu hören, als der Elf aus der Küche offenbar versuchte, Harrys Schutzzauber zu durchbrechen. Er kam nicht durch.
Fred richtete das Wort an George und Ron: „Sobald wir hier raus sind, werden wir losmarschieren!“
Arrogant zog Severus eine Augenbraue hoch. „Und dann, wenn ich fragen darf?“
„Dann befreien wir Ginny!“, untermauerte George.
„Das ist mehr als nur dämlich!“
„Aber …“
Severus fuhr allen über den Mund. „Wollen Sie einfach aufs Geratewohl losstürzen? Das wäre wieder einmal typisch Gryffindor! Ohne Sinn und Verstand einfach mit dem Kopf durch die …“
„Haben Sie eine bessere Idee?“ Mit hochrotem Gesicht stellte sich Ron direkt vor seinen ehemaligen Tränkelehrer und plusterte sich auf – versuchte es zumindest, denn Severus war noch immer einen Kopf größer als er.
„Man sollte, weil die Zeit leider keine Gründlichkeit zulässt, zumindest grob planen, wer mitgeht und wie man vorgehen will. Jedes ungestüme Verhalten bringt Ihre Schwester nur unnötig in Gefahr. Sie wissen von den Vorfällen in Hogsmeade und dass diese Muggel Waffen haben, die Zauberer töten können, wenn man nicht auf der Hut ist.“ Von oben bis unten musterte er Ron. „Sie wären in ihrem aufgebrachten Zustand ein wunderbares Ziel.“
Es waren zwei Dinge, die Ron an Severus zur Weißglut brachten. Zum Ersten die ruhige Fistelstimme, die er schon seit seiner Schulzeit hasste und zum Zweiten der bedachte, fast sogar schon gleichgültige Gesichtsausdruck, als wäre ihm völlig egal, was mit Ginny geschehen würde. Ron war so aufgebracht wegen der Ruhe, die Severus im Moment ausstrahlte, dass er ihm am liebsten eine runterhauen würde. Seine Fäuste ballten sich bereits, doch die zurückkehrenden Patronusgestalten, die sie an Albus gesandt hatten, ließen ihn sein Vorhaben vergessen. Severus hatte seinen nicht geschickt, konnte aber die anderen auch nicht davon abhalten, jeweils ihren Patronus an Albus zu senden. Es musste ein wahres Tohuwabohu im Direktorenbüro geherrscht haben, als die ganzen Tiergestalten zur gleichen Zeit ihre Hilfegesuche mitteilten.
Severus hörte von Remus‘ Patronus die vertraute Stimme von Albus sagen: „Ich bin auf dem Weg.“
Die beiden flauschigen Tiere der Zwillinge sagten mit der Tonlage des Direktors einmal „Schon gut, schon gut.“ und „Keine Sorge!“.
Der Otter von Hermine gab mit warmherziger Stimme, ganz so als wäre Albus von der Gestalt sehr angetan, die Nachricht wieder: „Nein, was bist du nur für ein drolliges Tierchen!“
Für Nicholas, der noch immer auf Hermines Schoß saß, waren die vielen aufgeweckten, silbernen Geschöpfe eine wahre Augenweide. Weil er Tiere mochte, versuchte er immer wieder, den quirligen Otter zu fassen zu kriegen, doch seine Hände gingen durch die Erscheinung hindurch. Nachdem die Nachrichten übermittelt waren, lösten sich die Schutzherren auf. Nicholas war den Tränen nahe.
„Ich sagte doch“, zürnte Severus, „dass EIN Patronus genügen würde.“
„Doppelt hält besser!“, hielten die Zwillinge dreist dagegen.
Severus biss sich auf die Zunge, um keine Bösartigkeiten zu verlieren. Jetzt hieß es: warten. Und zwar so lange, bis der Direktor von einem der höchsten Türme Hogwarts‘ hinabgestiegen war bis zum Erdgeschoss. Es war kurz vor sechs Uhr in der Früh, las Severus an der Wanduhr ab.
Die gleiche Zeit konnte man an der übergroßen Uhr ablesen, die im Eingangsbereich des Mungos angebracht war. Lucius war pünktlich gewesen, wie er es am Vorabend geplant hatte. Ab sechs Uhr würde der normale Betrieb im Krankenhaus beginnen. Nur wenige Zauberer und Hexen saßen im Wartebereich. Es waren Notfälle. Einzig seine Schuhe und das Klacken seines Gehstocks hallten im Eingangsbereich wider, als er sich der Anmeldung näherte. Die Dame hatte bereits den Blickkontakt hergestellt.
„Sir, wie darf ich Ihnen behilflich sein?“, fragte die junge Frau höflich. Auf ihrem Namensschild stand „Gwen“, was Lucius natürlich registrierte. Seit seinem Krankenhausaufenthalt hatte er ein Auge dafür, die Schilder seiner Krankenschwestern und Pfleger zu lesen, was vielen Patienten oftmals entging. Er wusste immer gern, mit wem er es zu tun hatte.
„Guten Morgen, Gwen.“ Er zog einen Brief aus seinem Umhang und entfaltete ihn. „Ich bin zu einer Untersuchung gebeten worden.“ Die offizielle Einladung von Professor Puddle hielt er ihr unter die Nase. Sie überflog den Text.
„Sie wissen noch, wo damals die Behandlung der Augen stattgefunden hat?“, wollte sie wissen, war aber sichtlich bereit, ihm den Weg zu schildern, sollte er verneinen.
„Das weiß ich noch.“
„Gut, dann finden Sie sich bitte dort ein, Mr. Malfoy. Melden Sie sich im Schwesternzimmer. Die helfen Ihnen dann weiter.“
Lucius nickte. „Danke, dann wünsche ich noch einen angenehmen Arbeitstag.“
Der erste Kontakt mit anderen Menschen war nicht so schlimm verlaufen, wie Lucius es befürchtet hatte. Die paar Notfälle im Wartebereich hatten andere Sorgen und waren weder gewillt gewesen ihn anzusehen noch ihn zu beschimpfen. Gwen war entweder zu jung, um zu wissen, wer er war oder sie hatte die gleiche gütige Einstellung wie Schwester Marie. Als er an sie dachte, freute er sich sogar auf die Nachuntersuchung. Er hoffte, ihr über den Weg zu laufen.
Die sterilen Gänge rochen nach frischem Putzmittel. Mit Zauberei war vieles zu bewältigen, aber manches nicht zur vollsten Zufriedenheit. Gerade in einem Krankenhaus wurden die Böden lieber mit selbstgebrauten Laugen gereinigt, die den höchst infektiösen Eiter von aufgeplatzten Furunkeln und andere eklige Substanzen rückstandslos entfernten und dabei wesentlich effektiver waren als ein schlichter Reinigungszauber. Ein paar Schritte weiter wurde der Boden feucht. Nachdem Lucius um eine Ecke bog, ging er an dem Wischmob vorbei, der durch Zauberei seine Arbeit ganz allein verrichtete.
Mit dem Fahrstuhl fuhr er in die entsprechende Etage, wo er damals die Augenbehandlung über sich ergehen lassen musste. Innig hoffte er, dass diese Untersuchung nicht schmerzhaft werden würde. Von Schmerzen hatte er wahrlich genug. Er wollte nicht mehr leiden müssen.
Kaum hatte er die Station betreten, tauchte vor ihm in einigem Abstand ein Pfleger auf, dessen Namen Lucius noch bekannt war. Mike. Ihm hatte er damals die Schalen mit dem Essen nachgeworfen, weil er der Meinung gewesen war, der Mann hätte ihm ins Essen gespuckt. In diesem Moment schien sich auch der Pfleger an genau dieses Ereignis zu erinnern, denn anstatt sich dem Patienten zu nähern und nach dem Begehr zu fragen, ging Mike ein paar Schritte zurück ins Schwesternzimmer und richtete das Wort an jemanden, den Lucius durch die milchige Scheibe an dieser Seite nur schemenhaft erkennen konnte. Die Gestalt – eine Frau, denn man konnte das Häubchen sehen – erhob sich und folgte dem Pfleger auf den Flur.
„Mr. Malfoy!“, hörte er Schwester Marie erfreut sagen. Ihre Stimme klang wie ein frischer Frühlingsmorgen, zumindest verströmte sie das gleiche angenehme Gefühl. Mit einem breiten Lächeln kam sie auf ihn zu. „Mr. Malfoy, schön Sie wiederzusehen.“ Lucius ergriff die ausgestreckte Hand, aber er schüttelte sie nicht, sondern gab ihr andeutungsweise einen Handkuss, wie es sich für ihn gehörte. Er war kein Häftling mehr, sondern jemand mit einem großen Namen, von dem man die Einhaltung der Etikette erwartete.
„Miss Amabilis“, hauchte er mit zufriedenem Gesichtsausdruck. Er freute sich, Sie zu sehen. „Sie haben sich nicht verändert.“ Schmeicheln war ein Teil der höflichen Umgangsformen, aber bei ihr kamen diese Worte wie selbstverständlich über seine Lippen.
„Ich war schon besorgt, dass mein Brief Sie verärgert haben könnte.“
„Nicht doch, Miss Amabilis. Ich habe mich sehr gefreut. Es war Ihr Brief, weswegen ich heute hier bin, nicht der von Professor Puddle mit seiner doch recht hölzernen Ausdrucksweise.“
Sie grinste verschlagen. „Jener Professor ist heute leider noch nicht da. Sie müssten einen Moment warten, Mr. Malfoy.“ Mit ausgestrecktem Arm deutete sie auf den Besucherbereich im Gang. Er folgte ihr, während sie fragte: „Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“
„Ja, gern.“
Es war ein seltsames Gefühl hier zu sitzen, an einem Ort, den er damals als Gefangener betreten und als freier Mann verlassen hatte. Jetzt, wo er von jeglicher Schuld freigesprochen war, schien auch der Ort ein anderer zu sein, obwohl sich die Gänge und Türen, selbst die Schwestern und Pfleger nicht verändert hatten. Das war es, was Freiheit ausmachte, dachte er erleichtert. Das Lebensgefühl war ein anderes. Es veränderte die Betrachtungsweise.
An ihre Freiheit dachten auch die in Harrys Räumen eingesperrten Personen. Das Zimmer, indem man früher schon gefeiert, lange gefrühstückt oder gar Karten gespielt hatte, war zu einem völlig anderen Ort geworden – zu einem Gefängnis, das man nicht verlassen konnte. Jede Annehmlichkeit wie der gut gefüllte Schrank mit alkoholischen Getränken, die Zeitschriften oder die Schale mit Süßigkeiten auf dem Tisch war eine bittere Beigabe zum Gewahrsam.
„Wann kommt Albus endlich?“, zeterte diesmal Remus ungeduldig. Dabei ging er auf und ab, was Severus gar nicht guthieß, denn das zerrte an seinen Nerven.
„Können Sie sich nicht wieder hinsetzen? Ich bin sicher, dass Harry nicht sehr begeistert von den Abnutzungserscheinungen auf dem Teppich sein wird, wenn er zurückkommt.“
„WENN er zurückkommt!“ Selten wurde Remus so laut wie dieses Mal.
„Halte deine Lautstärke im Zaum!“, blaffte Severus ihn an. „In diesem Raum befindet sich ein empfindsames Gehör.“
Demonstrativ blickte Severus zu Nicholas hinüber, der neben Hermine halb auf der Couch lag, halb saß und die Milch aus seiner Flasche nuckelte, die sie ihm warmgemacht hatte. Er war der Ruhigste von allen, aber nur weil er nicht wusste, wie es um seine Eltern stand.
Als Remus zurück zu Severus blickte, musste er lächeln, was sein mürrischer Kollege mit einem skeptischen Blick kommentierte, bevor er sich von ihm entfernte. In der Aufregung hatte Severus nicht einmal bemerkt, dass er die höfliche Anrede vergessen hatte und gerade das für Remus‘ Ausdruck des Wohlwollens verantwortlich war.
Völlig unerwartet sprangen die Weasleys und Hermine von ihrem Sitzplatz auf und fassten sich gleichzeitig an eine Stelle ihres Körpers, was Severus verwundert beobachtete. Fred und George griffen sich in die Gesäßtasche, Ron in die vordere Hosentasche und Hermine in die Brusttasche ihrer Bluse.
Severus‘ Stirn legte sich in Falten. „Was ist denn jetzt los?“
Der Erste war Ron, der aus seiner Tasche eine Münze gezogen hatte, die er sich dicht vor Augen hielt, um sie genau zu betrachten. „Harry, du Scherzkeks“, meckerte er. „Wie sollen wir hier rauskommen, wenn du uns eingesperrt hast?“
Auch Hermine betrachtete ihre Münze, so dass Severus sich ihr näherte und wissen wollte: „Was ist das?“
„Harry ruft uns.“ Ihre Hände zitterten. „Der Treffpunkt ist …“, Hermine blickte nochmals auf die Münze. Nach Albus‘ vermeintlichen Tod gab es für die DA drei verschiedene Treffpunkte, die jeweils mit einer Zahl am Anfang dargestellt wurden. Die Zahl Drei wären die Drei Besen gewesen, die Zwei der Grimmauldplatz Nr. 12. „Der Treffpunkt ist der Raum der Wünsche.“ Der Code, den Harry geschickt hatte, begann mit der Eins und diese Zahl stand für den ersten Treffpunkt, den die DA jemals gehabt hatte.
„Dann heißt das, er ist noch in Hogwarts!“ Die Erleichterung stand Remus ins Gesicht geschrieben, als er diesen Fakt erkannt hatte. „Bin ich froh!“
Hermine nickte. „Ich frage mich nur, wer ihn aufgehalten hat.“
Seine Vermutung gab Ron preis. „Das kann nur Albus gewesen sein. Bei Harrys Temperament würde sich sonst keiner trauen.“
„In einer halben Stunde“, murmelte George, bevor er nochmals für alle verständlich erklärte, „Er will uns in einer halben Stunde im Raum der Wünsche sehen.“
Fred nickte. „Bin gespannt, wer alles kommen wird.“
Neugierig betrachtete Severus die Münze in ihrer Hand. „Darf ich mal?“
„Sicher.“
Sie überreichte ihm die Galleone, die er neugierig inspizierte.
„Sie ist nicht echt“, bemerkte er ganz richtig.
„Stimmt, sie ist nachgemacht.“
„Wie funktioniert das? Proteus-Zauber?“
Hermine nickte und führte eine Hand an die, mit der er die Galleone hielt. Dabei strich sie über seine Finger. „Die erste Zahl in der ‘Seriennummer‘ steht für den Ort. Wir hatten am Ende drei Treffpunkte. Die Nummer dahinter sind der Monat und der Tag, gefolgt von der Uhrzeit.“
„Faszinierend! Seit wann habt ihr diese Münzen?“
„Schon seit dem fünften Schuljahr. Umbridge hat und ja geradezu gezwungen, selbstständig zu werden.“
„Ah!“ Er erinnerte sich. „Die Treffen sind alle mit diesen Münzen herbeigerufen worden? Umbridge hat sich schon gewundert, ob während der Klassen vielleicht Zettelchen umhergehen. Sie hat jeden Lehrer angewiesen, ein Auge auf die Schüler zu haben. Ich habe durchaus bemerkt, wie heimlich Pergamente ausgetauscht wurden. Offenbar war es ja nicht der Fall, dass die Informationen schriftlich verteilt wurden.“ Er grinste schief. „Dann hätte ich doch das ein oder andere Pergament konfiszieren und laut vor der Klasse vorlesen lassen können.“
„Das wäre gemein gewesen“, schimpfte Hermine. „Ich fand es auch gemein, als du den Artikel über Harry vorgelesen hast. Er konnte doch gar nichts dafür, was der Tagesprophet über ihn schreibt.“
„Was mir egal war“, gab er offen zu. „Ich bin erstaunt, dass ihr in so jungen Jahren auf einen so schwierigen Proteus-Zauber aufmerksam geworden seid.“
„Das war meine Idee. Voldemort war nicht der Einzige, der eine Möglichkeit hatte, seine Anhänger zu rufen. Ich hab’s mir von ihm abgeschaut.“
„Hat jeder so eine?“
Hermine schüttelte den Kopf. „Nur diejenigen, die damals für die DA unterschrieben haben. Für die Mitglieder des Phönixordens haben wir uns etwas anderes ausgedacht. So konnte Harry die Gruppen auch getrennt voneinander rufen, wenn es notwendig war.“
„Sie ist heiß“, stellte er fest, als er die Münze mit den Fingern drehte. „Man kann die Galleone gerade noch berühren.“
„Es musste durch Kleidung zu spüren sein. Viele haben sich nach dem Krieg aus dieser Galleone etwas Besonderes gemacht, sozusagen als Andenken. Luna trägt sie als Kette, Ginny als Unterseite ihrer Armbanduhr, die ich ihr mal geschenkt habe.“
Genau diese Armbanduhr war es, wegen der Ginny Luft durch die Zähne einsog. Die Idee war perfekt, auf diese Weise die Galleone immer bei sich zu tragen, aber an der empfindlichen Haut des Handgelenks brannte sie heißer als an anderen Stellen. Dieses Brennen bedeutete für sie jedoch Rettung, deswegen ertrug sie die Hitze gern. Da man ihr die Fessel von der rechten zur linken Hand getauscht hatte, fummelte sie die Uhr erst unter der Schelle hervor. Sie hatte arge Schwierigkeiten, die ganze Zeit über auf den Beinen zu bleiben. Obwohl der Arzt ihr kein Sedativ gegeben hatte, sondern nur eine Kochsalzlösung, kämpfte ihr Körper noch mit den Resten der vorherigen Betäubung. Wäre die längst vergangen, könnte niemand sie daran hindern, einfach aus diesem Gefängnis herauszuapparieren, aber so leicht war das nicht. Die Mittel der Muggel machten einen träge, selbst wenn man wieder bei Verstand war. Eine Apparation in diesem Zustand würde sie zerfetzen. Zudem hatte man ihr bisher weder etwas zu essen noch zu trinken gegeben. Es könnte zu Hopkins‘ Taktik gehören, sie auf diese Weise noch mehr zu schwächen.
Niemand hatte darauf geachtet, dass sie durch die Uhr nun mehr Platz zwischen eiserner Fessel und Handgelenk hatte, doch noch immer konnte sie wegen des Daumens nicht herausschlüpfen. Das Brennen wurde immer unerträglicher. Endlich hatte sie den Verschluss der Armbanduhr geöffnet. Erleichtert atmete sie aus, strich sich mit einem Finger über die leicht gerötete Stelle an ihrem Puls. Dann blickte sie auf die Uhr. Ein Riss war im Glas. Die Zeit war zu dem Augenblick stehengeblieben, zu der man sie entführt hatte. Neugierig drehte Ginny die Uhr um. Die Galleone zeigte ihr, dass Harry die Mitglieder der DA herbeirief. Wahrscheinlich würden sich alle, die das Brennen der Galleone gefühlt hatten, in der nächsten halben Stunde in Hogwarts am Eingang vom Raum der Wünsche treffen. Ginny fühlte sich auf unerklärliche Weise sicher.
Plötzlich wurde die Tür aufgeschlossen. Ginny schaffte es gerade noch rechtzeitig, sich wieder auf den Boden zu setzen und vorzutäuschen, dass sie bewusstlos war. Sie hörte keine Stimme, also war es keiner von den beiden, die ihr nichts Böses wollten, denn die wussten, dass sie nicht schlief. Als offenbar eine der Schranktüren geöffnet wurde und jemand darin herumwühlte, riskierte sie einen Blick. Was sie sah, ließ ihr Herz höher schlagen. Leise, aber dennoch enthusiastisch, nannte sie die Person mit den schwarzen wirren Haaren beim Namen.
„Harry?“ Die Person hielt mit ihren Bewegungen inne. „Harry! Ich bin so froh …“ Der Mann drehte sich um. Ihr gefror das Blut in den Adern, als sie ihn erkannte.
„Hallo Ginny“, grüßte Pablo mit kalter Stimme.
Ihre Gefühle schüttelten sie. Jetzt, wo er wusste, dass sie nicht mehr unter dem Einfluss von lähmenden Drogen stand, würde er das wieder ändern. Tränen liefen an ihren Wangen hinunter, als sie sich vor Augen hielt, dass sie diese Situation auch mit ihrem Leben bezahlen könnte.
Ganz in der Nähe der Festung hockte der Mann mit den gelben langen Fingernägeln am Rande des Verbotenen Birkenwaldes, von dem aus er trotz des Regens eine klare Sicht auf das Gebäude hatte. Er stellte sich die Frage, wer dort leben könnte. Ein Zauberer müsste es sein, wenn schon ein Patronus dorthin geschickt worden war. Vielleicht ein ehemaliger Verbündeter? Ein Todesser, der dort Unterschlupf gefunden hatte, hoffte der Mann und fragte sich, ob er es wagen sollte, die Lage zu überprüfen.
Die Lage überprüfen.
Ein Gedanke, der auch Arthur gekommen war. Auch wenn er keine Auroren zu Hopkins schicken konnte, ohne dafür sein Amt in Gefahr zu bringen, wollte er die Situation wenigstens mit Kingsley und Tonks besprochen haben. Früh am Morgen, auch noch auf einem Samstag, betraten die beiden Auroren das Büro des Ministers. Sofort fiel den beiden auf, dass mit Arthur etwas nicht stimmte. Er schien über Nacht um zehn Jahre gealtert zu sein. Sein Gesicht war mit Falten übersät, die Augen waren leblos.
„Meine Güte, Arthur …“
„King, setz dich! Du auch, Tonks.“ Er musste geweint haben, das verrieten die kleinen roten Äderchen in dem Weiß seiner Augen. „Ginny ist …“ Ein Schluchzer, den er nicht zurückhalten konnte, unterbrach den aufgeregten Mann, der einmal tief Luft holte. „Hopkins hat sie entführen lassen.“
„Arthur …“ Ein Flehen von Tonks, diese Information als dummen Scherz zu enttarnen, doch den Gefallen tat er ihr nicht.
„Und ich kann nicht einmal was tun!“ Wütend trat er gegen seinen eigenen Schreibtisch. „Ich kann euch nicht rausschicken, ich kann nicht …“
Arthur zitterte am ganzen Leib, weshalb Kingsley zu ihm hinüberging. Stärkend legte er beide Hände auf die Schultern des Ministers – des Mannes, der in der Magischen Welt den höchsten Rang innehatte und nun am Boden zerstört war.
„Du könntest mich feuern, Arthur. Kündige mir und ich gehe nach Clova!“
„Das …“ Im ersten Moment war es eine brillante Idee, die jedoch einige Nachteile mit sich brachte. Arthur schüttelte den Kopf. „Nein, mir ist was anderes eingefallen.“ Er ging zu seinem Schreibtisch hinüber, auf denen ein paar Akten lagen. Mit einigen von ihnen war Kingsley bestens vertraut. Es waren die Aussagen der Todesser. Nach und nach schlug Arthur mit Hilfe seines Zauberstabes bestimmte Seiten auf und forderte: „Lies!“
Der Aufforderung kam Kingsley nach. Tonks hatte sich neben ihn gestellt und las zusammen mit ihrem Kollegen die Auszüge aus den Aussagen, die alle einen gemeinsamen Inhalt hatten.
„Ich verstehe, was du vorhast. Sollen nur Tonks und ich gehen oder soll ich einen Trupp zusammenstellen?“, wollte der dunkelhäutige Auror wissen.
„Am besten …“ Arthur fuhr sich nervös durch die Haare. „Ich denke …“ Einen klaren Gedanken konnte er nicht fassen.
„Schon gut, Arthur. Ich werde mich mit Tonks kurz zusammensetzen und was ausarbeiten. Zumindest sind wir so“, er zeigte auf die Akten, „auf der sicheren Seite. Man wird dir nichts anhaben können.“
„Gut!“ Mit zitternden Händen nahm Arthur die Brille von der Nase und begann sie putzen. „Gut“, wiederholte er angespannt.
„Was sagt Harry?“ Tonks wartete geduldig auf eine Antwort.
„Er meinte gestern Abend, heute wäre alles wieder gut. Ich will ihm ja glauben, aber …“ Sein Gesicht verzog sich vor Qual. Die Lippen bebten und die Augen glänzten mehr und mehr, weil Tränen aufkamen. „Sie ist doch mein Baby“, wimmerte er.
Die Qual verformte sein Gesicht. Eine Träne huschte in Windeseile über seine erröteten Wangen und fiel zu Boden. Es war doch erst gestern gewesen, als er seine gerade auf die Welt gekommene Tochter in den Armen gehalten hatte. Seine einzige Tochter. Sein Nesthäkchen.
„Irgendwas muss ich doch tun können!“ Verzweiflung war ein Gefühl, das einen von innen heraus zerstören konnte, wenn niemand da war, der diesen Druck von außen ausgleichen konnte.
„Ach Arthur.“ Tonks‘ Umarmung war ihm willkommen. Er ließ sich von der jungen Frau drücken und sammelte Kraft aus dem Trost, den sie ihm wie selbstverständlich spendete.
„Ich möchte nur ungern drängen, aber wir sollten gehen“, unterbrach Kingsley, obwohl er seinen Freund in diesem Moment nicht allein sehen wollte. „Ich will nicht mehr als fünfzehn Minuten mit der Planung verbringen, bevor wir uns nach Clova aufmachen.“
„Ja“, Arthur drückte Tonks zaghaft von sich weg. Sie selbst war sichtlich berührt. „Ihr macht das schon.“ Ein Lächeln auf Arthurs Gesicht gaukelte Zuversicht vor.
„Darf ich die mitnehmen?“ Kingsley deutete auf die Akten.
„Natürlich, die Akten sind der einzige Grund, weshalb ich euch überhaupt dort hinschicken darf. Jeder der Todesser hat ausgesagt, dass sich Greyback vermutlich im Verbotenen Birkenwald aufhält. Das ist wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Hab’s deswegen nie in Angriff genommen.“
„Somit haben wir wenigstens einen offiziellen und nicht anfechtbaren Grund, uns in Hopkins‘ Gegend mal umzusehen“, bestätigte Kingsley. An Arthur gewandt empfahl er: „Geh am besten mit Molly zu Albus und bleibt dort. Dann weiß ich, wo ich mich melden kann.“
„Ja“, Arthur nickte heftig. Im Moment war er froh darüber, dass es jemanden gab, der ihm sagte, was er tun sollte. Er selbst konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. „Ja, das werde ich.“
Bei Albus würde er Trost erfahren, würde die Zeit abwarten können, in der alle anderen nach seiner Tochter suchten, nur er nicht. Wie nutzlos konnte man doch als Minister sein. Vielleicht – und das hoffte Arthur – würde sich Albus zusammen mit Harry sogar selbst auf den Weg machen. Dann wäre er zumindest sicher, seine Ginny wiederzubekommen. Er flohte erst noch Susan Bones an und gab ihr einen gut gemeinten Ratschlag, bevor er Molly kontaktierte und sich auf den Weg nach Hogwarts machte.
Von dem kurzen Gespräch mit Arthur war Susan noch ganz verstört. Sie war, auch wenn sie hätte ausschlafen können, längst hellwach, weil ihre Galleone im Nachttischchen angefangen hatte zu vibrieren. Sie trug sie beim Schlafengehen nicht als Schmuckstück am Körper, hatte sie auch nicht ständig in der Hosentasche, aber trotzdem immer in ihrer Nähe. Die Vibration, das hatte sie damals getestet, fühlte man einige Meter weit und so würde sie es immer merken, wenn sie in ihrer Handtasche zu surren beginnen würde. Diesmal surrte sie in ihrem Nachttisch. In Windeseile hatte sie die codierte Nachricht gelesen und sich angezogen, aber gerade, als sie nach Hogwarts gehen wollte, rief Arthur sie an. Seine entkräftete Erscheinung und seine näselnde Stimme waren ein Zeichen dafür, dass er sehr mitgenommen war. Dennoch hatte er ihr nichts weiter verraten, sondern nur gesagt: „Als Angestellte des Ministeriums sollten Sie bedenken, dass Sie Schwierigkeiten bekommen könnten, sollten Sie einem Ruf folgen.“
„Scheiße!“, fluchte sie leise. Draco war seit der spürbaren Vibration wach und hatte mit angesehen, wie sie sich in einem Affentempo angekleidet hatte. Der Ruf übers Flohnetzwerk war ihm ebenfalls nicht entgangen.
„Dann kannst du ja wieder ins Bett kommen“, murmelte er. Endlich war wieder unterrichtsfreies Wochenende. Er hatte sich so drauf gefreut, mit seiner kleinen Familie ein wenig Ruhe vor dem ganzen Prüfungsstress zu finden, allerdings nicht um 6:15 Uhr in der Früh. Susan stand völlig neben sich, schien hin- und hergerissen. „Was ist denn nur los?“
„Zieh dich an, Draco“, befahl sie, so dass er sie erstaunt anblickte.
„Warum sollte ich …?“
„Bitte, Draco! Tu mir den Gefallen. Ich habe eine Aufgabe für dich.“
Draco zeigte Vertrauen und pellte sich widerwillig aus den warmen Bettdecken. Er räkelte sich gemächlich und gähnte.
„Ein bisschen dalli!“
„Bei Merlin“, blaffte er sie an. Mit dem falschen Fuß aufzustehen war schon unangenehm genug. „Erzählst du mir auch, was los ist?“
„Harry braucht mich, aber ich darf nicht hingehen.“
Draco hatte sich gerade seine Hose übergezogen, da fragte er: „Harry? Wie hat er dich gerufen?“
Sie hielt ihm eine Münze entgegen. „Bevor ich’s dir erkläre, zieh dich erst einmal an!“
„Zu Befehl, Madame.“
Hemd, Socken, Schuhe. Er war fertig angezogen, musste aber dringend auf die Toilette.
„Das hier“, sieh drückte ihm die heiße Galleone in die Hand, woraufhin er erschrak, „ist dein Ausweis für die DA. Geh sofort nach Hogwarts in den siebten Stock, denk an Harry und geh dabei dreimal an dem Raum der Wünsche vorbei.“ Sie hielt kurz inne, weil sie sich an vergangene Ereignisse erinnerte. „Wo der sich befindet, das muss ich dir ja nicht erklären.“ Beschämt schüttelte er den Kopf. „Wenn du drin bist, zeig Harry die Münze. Er wird wissen, dass du an meiner Stelle mitgehst.“
„Wohin ‘mitgehen‘?“
„Das weiß ich nicht“, gab sie zu, wirkte dabei trotzdem sehr verzweifelt.
„Was ist denn nur passiert?“
„Das weiß ich auch nicht.“
„Aber …“
„Draco“, unterbrach sie, „wenn Harry ruft, dann muss es was Dringendes sein, denn er hat mir vor ungefähr einem Jahr gesagt, dass er die DA bestimmt nicht noch einmal benötigen wird. Es ist irgendetwas Schlimmes geschehen und er braucht uns!“
„Okay!“ Er nickte eingeschüchtert, bevor er sich traute zu fragen: „Darf ich trotzdem noch kurz auf die Toilette?“
Wie sein Sohn verspürte auch Lucius den Drang, seiner Blase Erleichterung zu verschaffen. Der Kaffee war gut, aber harntreibend. Damals hatte jedes Zimmer ein eigenes Badezimmer. Wo sich die öffentlichen Toiletten befanden, wusste er nicht.
„Miss Amabilis?“, er lugte vorsichtig ins Schwesternzimmer hinein.
„Oh, Mr. Malfoy. Es tut mir wirklich leid, dass Sie so lange warten müssen. Professor Puddle ist schon im Haus, aber er möchte unbedingt noch frühstücken.“
„Dann wird es hoffentlich nicht mehr allzu lange dauern. Ich wollte nur fragen, ob Sie wohl so gütig wären, mir den Weg zu den Waschräumen zu zeigen.“
„Aber sicher.“ Mit einer Hand auf ihrem Arm führte sie ihn in den Gang und drehte ihn in eine bestimmte Richtung, bevor sie geradeaus zeigte. „Gleich nach der Glastür links.“
„Vielen Dank, Marie.“ Der kleine Fauxpas fiel ihm erst auf, als er ihm herausgerutscht war. „Entschuldigen Sie bitte, ich meine Miss Amabilis.“
Sie schenkte ihm ihr breitestes Lächeln. „Ach, Sie haben mich früher auch beim Vornamen genannt. Das macht mir überhaupt nichts aus, Mr. Malfoy.“
„Aber ich sehe eine gewisse Ungerechtigkeit darin, Sie beim Vornamen zu nennen, während Sie mich weiterhin mit Mister ansprechen.“
„Sie brauchen es nur anzubieten, ich habe keine Scheu“, schlug sie keck vor, so dass er nicht anders konnte, als ihrem Vorschlag nachzukommen. Es war immerhin seine Frau gewesen, die beteuerte, die Familie Malfoy benötigte neue Freunde.
„Dann bin ich für Sie künftig nur noch Lucius.“
Vor Freude sprudelte sie beinahe über. „Danke, Lucius.“
Der Name rollte das erste Mal mit einer Eleganz von ihrer Zunge, die Lucius genauso weich im Ohr klang wie eine vollendete Symphonie, die das Ideal des Klangs in sich barg. Er nickte ihr dankend zu und ging den Gang hinunter, um die Waschräume aufzusuchen.
„Sir?“ Lucius drehte sich um, als er bereits an der Tür zur Toilette stand. Ein Hausmeister hatte es gewagt ihn aufzuhalten. „Sir, das ist die falsche Tür.“ Davon erstaunt blickte Lucius zurück zu dem Schild neben der Tür. Es war die Damentoilette.
„Vielen Dank, Sir.“
Peinlich berührt nahm er die andere Tür und verschwand. Vielleicht sollte er sich doch mal jemandem anvertrauen und gestehen, dass er manche Dinge nur verschwommen sehen konnte.
Der Regen prasselte an die Oberlichter des Waschraumes. Heute früh erst sagte man, bis Montag sollte das Wetter so bleiben.
Wie das St.-Mungo-Hospital für Magische Krankheiten und Verletzungen lag auch die Redaktion der Muggelpost im Zentrum Londons und auch dort peitschte der Regen gegen die Scheibe.
Luna saß an ihrem Arbeitsplatz und las ihren Artikel korrektur, den sie heute früh fertigstellen wollte. Unruhig rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her. Im unregelmäßigen Takt des Regens tippelten ihre Fußspitzen begleitend auf dem Boden herum, womit sie den Kollegen, der links von ihr saß, beinahe wahnsinnig machte. Aber nicht nur ihre tänzelnden Bewegungen hinderten ihn daran, seine eigene Arbeit zu erledigen, sondern auch ihr hohes Summen. Zudem hielt sie seit ein paar Minuten einen Gegenstand in der Hand, mit dem sie zu reden schien. Manchmal murmelte sie nur, aber einiges konnte er verstehen.
„Gleich, gleich“, sagte sie mit verträumter Stimme, während sie die letzte Seite ihres langen Artikels las. Sie hielt die heiße Münze fest mit der linken Hand umschlossen. Die Uhrzeit darauf hatte sie abgelesen. Weil sie direkt zu Neville flohen konnte, würde sie nicht zu spät zum Treffen kommen. Die meisten DA-Mitglieder würden vor die Tore Hogwarts‘ apparieren und erst den langen Weg zum Schloss zurücklegen müssen. Diese Zeit nutzte sie noch für ihren Artikel. Ihr fiel weder auf, dass ihre Füße sich selbstständig gemacht hatten noch dass sie eine unbekannte Melodie aus wirklichkeitsfremden Sphären summte.
Unerwartet legte sie ihre Feder in die Halterung, nahm ihre Tasche und ging in Richtung Ausgang, wo ihr Chef an seinem Arbeitsplatz saß.
„Wo soll’s denn hingehen, Miss Lovegood?“, fragte er neugierig.
Sie streckte die Arme von sich, ohne dabei anzuhalten und erklärte: „Ich muss fliegen!“
Er schnaufte und blickte ihr solange hinterher, bis sie nicht mehr zu sehen war. Erst jetzt erhob er sich und ging zu ihrem Arbeitsplatz hinüber, auf der sie ihren Artikel einfach hatte liegenlassen. Die Pergamente sammelte er auf, bevor er die erste und letzte Seite las. Den Mittelteil überflog er. Als er fertig war, warf er dem anderen Mitarbeiter den Artikel auf den Tisch.
„Hier, nochmal korrekturlesen und dann ab zur Vervielfältigung.“
„Ich hab selbst zu tun!“
„Sie haben ja nicht einmal fünf Seiten geschafft“, bemängelte der Chefredakteur. „Und was soll das für ein Thema sein?“ Er beugte sich vor und las die Überschrift. „‘Gendefekte durch Reinblüterwahn‘? Was soll das? Das Thema interessiert doch kein Schwein mehr!“
„Was hat denn Miss Lovegood geschrieben?“ Der Angestellte nahm die Pergamente und las laut den Titel vor: „‘Der Unterschied zwischen Zauberer, Squib und Muggel‘ – das ist aktueller?“
„Das ist ein gesellschaftskritischer Artikel mit einem Hauch Satire“, stellte der Chefredakteur klar. „Solange Miss Lovegood ihre Arbeit schafft und auch noch so etwas Geniales zustande bringt, kann sie von mir aus fliegen, wohin sie will.“
Betreten blätterte der Mitarbeiter bis zum Ende von Lunas Artikel und wiederholte die Worte, die ganz am Ende standen: „‘Es gibt keinen!‘. Meint sie damit, es gibt keinen Unterschied? Das wollen Sie wirklich drucken?“
„Das ist Satire, Bernie. Vergessen Sie nicht, dass eine Menge Muggel unsere Zeitschrift abonniert haben. Denen wird das ganz sicher gefallen.“
Luna wusste, dass jemand über sie redete, dann zuckte nämlich immer ihr linkes Augenlid. Wenn jemand schlecht über sie sprach, zuckte das rechte – jedenfalls glaubte sie, dass das so war. Vom Eingangsbereich der Redaktion flohte sie zu Nevilles Räumen. Es erstaunte sie nicht, dass er nicht da war. Sicherlich war er schon im siebten Stock. Beschwingt schlug sie den Weg zu den Treppen ein und während sie an den vielen Bildern vorbeiging, die sie seit ihrer Kindheit kannte, grüßte sie höflich die Personen in ihnen.
Auf ihrem Weg nach oben traf sie den Direktor, der über ihre Anwesenheit nicht verwundert schien. Seit Neville die Stelle bei Pomona angenommen hatte, traf man auch Luna häufig in der Schule an.
„Miss Lovegood, einen schönen guten Morgen.“
„Ihnen auch einen wunderschönen guten Morgen, Professor Dumbledore.“
„Wohin um diese Zeit?“, wollte er wissen.
„Zu den Wünschen“, war die knappe Antwort, die ihn nicht im Geringsten irritierte, denn offenbar lagen sie beide auf gleicher Wellenlänge.
Im Erdgeschoss angekommen steuerte Albus so schnell er konnte Harrys Räume an, die er im Nu erreicht hatte. Er legte die Hand auf die Türklinke, drückte sie und … Sie ließ sich mit Leichtigkeit öffnen.
Als er in den Raum hineinschaute, lagen sich die Weasleys mit Severus in den Haaren, Remus versuchte zu schlichten und Hermine wiegte den Jungen, der in ihrem Arm döste. Albus räusperte sich, dann ein zweites Mal, aber er beim dritten Mal hörte man ihn endlich.
Seine Erleichterung brachte als Erstes Remus zum Ausdruck. „Die Tür ist auf! Na endlich, danke Albus.“
Mehr an der Vorgehensweise interessiert fragte Severus: „Wie lange hast du gebraucht, um den Zauber zu brechen?“
„Was für einen Zauber?“, fragte Albus verdutzt nach. „Die Tür war auf.“
Severus blickte auf die Uhr. „Natürlich, die Stunde ist ja auch vorbei.“
„Entschuldigung!“ Mit diesen Worten schlüpften nacheinander die Zwillinge an Albus vorbei.
„Darf ich mal bitte?“ Ron folgte.
„Mr. Weasley!“, hielt Severus ihn auf. Als der sich umdrehte, verlangte er: „Wenn Sie Harry sehen, dann richten Sie ihm bitte aus, wenn er es noch einmal wagen sollte, mich auf diese Weise meiner Freiheit zu berauben, werde ich ihm eigenhändig den Hintern versohlen!“ Ron nickte nur und verschwand.
Hermine musste erst an etwas anderes denken. „Wobbel?“ Der Elf erschien und sie reichte ihm den Jungen. „Pass gut auf ihn auf, ja?“
Wobbel nickte, schaute sie dabei mit großen Kulleraugen an, weil er ahnte, dass die Situation sehr gefährlich war. Genauso hilflos wie der Minister musste sich auch der Elf an gewisse Gesetze halten. Nachdem sie ihm den Jungen übergeben hatte, eilte sie auf den Flur hinaus, wo Severus, Remus und Albus sich in ein Gespräch vertieft hatten. An dem fehlenden Zwinkern in seinen Augen konnte man erkennen, dass Albus schockiert war.
„Und Harry?“, fragte Albus.
„Startet einen Gegenangriff und wie es aussieht, plant er den. Außerdem ist er nicht allein“, erwiderte Severus.
Mehr hörte Hermine nicht, denn sie hatte die drei zu weit hinter sich gelassen.
„Albus?“ Noch einmal drehte sich Hermine um, weil sie Minerva laut rufen hörte. Bevor Hermine die sich bewegenden Treppen betrat, sah sie noch, wie die Lehrerin für Verwandlung, gefolgt von Arthur und Molly, sich den dreien näherte.
„Albus, gut das ich dich gefunden habe!“ Minerva war völlig außer Atem. Ihre Augen waren aufgeweckt und man konnte die Erschütterung aus ihnen lesen. Sie deutete auf Arthur und Molly, bevor sie Albus fragte: „Hast du es schon gehört?“
„Gerade eben“, bestätigte er mit harter Miene. „Molly.“ Seine väterliche Stimme brachte sie erneut zum Schluchzen. Die ganze Zeit über hatte Molly schon um ihre Tochter geweint. „Molly, nicht doch. Es wird sicher alles gut werden.“ Er blickte zu Arthur. „Wir gehen besser in mein Büro.“
Minerva war sichtlich aufgebracht. „Aber sollen wir denn nicht etwas unternehmen?“
„Ich denke, wir sollten das Harry und seinen Freunden überlassen. Sie haben eine Menge Erfahrung, aber darüber hinaus auch die jüngeren Knochen.“ Irgendetwas, das er durch das Fenster sehen konnte, erregte Albus‘ Aufmerksamkeit. Er ging hinüber und schaute einen Augenblick hinaus, bevor er sich wieder Molly und Arthur zuwandte: „Ich habe vollstes Vertrauen in Harry.“
Die beiden ließen sich von Arthur den Weg weisen. Nervös knetete Minerva ihre Hände vor der Brust, blickte derweil Severus und Remus einmal in die Augen.
„Und wir sollen untätig hier herumstehen und Däumchen drehen?“
„Ich nicht“, war Severus knappe Antwort, er auf sich auf den Hacken drehte und den Weg in die Kerker einschlug.
„Severus, warte!“ Remus eilte ihm nach und ließ Minerva allein am Fenster zurück.
Mit sich uneins, ob sie Albus oder Severus folgen sollte, schaute sie aus dem Fenster hinaus auf die verregnete Landschaft. Die Finger, mit denen sie sich über den Mund strich, bebten genauso wie ihre Lippen. Plötzlich sah sie draußen etwas, das sich bewegte. Sie kniff die Augen zusammen, um durch die Scheibe mit den vielen Regentropfen besser sehen zu können. Ganz hinten, aus der Richtung der Tore, bemerkte sie ein paar sich bewegende Punkte, die immer näher kamen. Auf einem Besen, der dicht am Fenster vorbeiflog, erkannte sie die ehemalige Schülerin Alicia Spinnet. Es waren die Menschen, die Harry um Hilfe gebeten hatte. Nicht gerade wenige waren seinem Ruf gefolgt. Ihre Hand fand einen Weg zu ihrer Brust, wo sich das aufgeregte Herz wieder beruhigte. Sie wagte zu lächeln, bevor sie Albus folgte.
„Severus!“, hallte es aus dem Zugang zu den Kerkern. Remus hatte arge Mühe, dem schnellen Schritt des Tränkemeisters zu folgen.
„Ich kenne meinen Namen! Bitte nutzen Sie ihn nicht ab.“
„Sever...“ Remus hielt inne, weil ein junger Slytherin sich ihnen näherte und ganz verschreckt dreinblickte. Er hielt einen Brief in den Händen. Sofort nahm Severus den Jungen unter Beschuss.
„Wo wollen Sie denn hin?“
„Zur Eulerei, Sir. Ich wollte etwas abschicken.“
Severus verzog das Gesicht und belferte: „Dann stehen Sie da nicht so belämmert herum und gehen Sie endlich!“
Nach einer Schocksekunde rannte der Junge los, um schnellstmöglich viel Abstand zwischen sich und seinem gereizten Hauslehrer zu bringen.
„Severus, wirklich … Du solltest deine Wut nicht an den Schülern auslassen“, mahnte Remus.
„An wem denn sonst?“
An der Tür zu seinem Labor angelangt öffnete er sie und stürzte hinein. Remus folgte ihm unaufgefordert.
An einer Stelle der Wand war Severus zum Halt gekommen, bevor er forderte: „Drehen Sie sich um.“
„Wie bitte?“
„Sie sollen sich umdrehen!“
Remus zuckte mit den Schultern und drehte sich um, so dass Severus eines seiner Geheimverstecke öffnen konnte. Er entnahm etwas, das ein metallisches Geräusch machte. Es war in ein Tuch aus Jute eingewickelt. Nachdem er das Geheimfach wieder verschlossen hatte, legte er den verhüllten Gegenstand auf den Tisch. Remus drehte sich um.
„Wir nehmen ein paar Tränke mit, nur zur Sicherheit, falls die Sache außer Kontrolle gerät.“
Remus zog die Augenbrauen zusammen. „Was denn für Tränke?“
„Heiltränke, Wundtränke, was glauben Sie denn?“ Severus nahm eine schwarze Schachtel aus einer Schublade und öffnete sie. Sie war leer, wurde aber gleich von Severus mit kleinen Ampullen gefüllt, die er in die entsprechend vorgeformten Ausbuchtungen legte.
Auf das Jutetuch deutend fragte Remus: „Was ist das?“
„Sehen Sie doch nach.“
Vorsichtig wickelte er das Tuch auseinander. Zum Vorschein kamen viele kleine Dolche, gerade mal so lang wie eine Hand. „Was ist das?“
„Dolche“, war die unbefriedigende Antwort.
„Ich bin nicht auf den Kopf gefallen, das sehe ich selbst. Aber wenn du Dolche auf den Tisch legst, beschleicht mich das Gefühl, dass es sich dabei um viel mehr handelt.“
Ein schalkhaftes Lächeln zierte Severus‘ Lippen. „Man scheint mich zu kennen. Diese Dolche verfehlen ihr Ziel nie. Sie sind nicht tödlich, aber wirksam, denn sie haben es auf die Kniekehlen abgesehen. Einmal davon getroffen kann das Opfer nicht mehr fliehen.“
„Brauchen wir sowas wirklich?“
„Ich hatte nie die Gelegenheit, sie einmal auszuprobieren.“
„Ich finde, die sollten wir hierlassen.“ Lustlos warf er das Tuch wieder über die Dolche. „Darf ich mal deinen Kamin benutzen?“
„Sicher.“
Severus war so mit seinen Tränken beschäftigt, dass er nicht mithörte, wen Remus anflohte. Er sah erst das Endergebnis und das gefiel ihm ganz und gar nicht, denn Sirius stand plötzlich direkt vor ihm.
Severus rollte mit den Augen. „Musste das denn unbedingt sein?“ Er zeigte flüchtig auf Sirius, der die Frage stellte, was überhaupt los sei.
Einige Stockwerke über den Kerkern – im siebten, um genau zu sein – fuhr sich Harry nervös durch die wirren Haare. Neben ihm stand Neville, der einigermaßen ruhig war.
„Meinst du, es kommt jemand?“
„Warum bist du da so unsicher, Harry? Natürlich kommen sie, wirst schon sehen!“
„Ich mach dann schon mal die Tür auf.“
Kaum hatte Harry sich zur Wand begeben, hinter der sich die Tür zum Raum der Wünsche befand, hörte man schon Luna, die Neville und Harry mit verträumtem Lächeln grüßte. Ihrer sanften Stimme folgte das Getrampel von Füßen. Harry blickte über seine Schulter. Es waren die Zwillinge, die durch den Gang rannten, gefolgt von Ron, der dank seines Quidditchtrainings nicht so aus der Puste war wie seine Brüder. Dass Ginnys Brüder kommen würden, war ihm klar. Außerdem waren sie längst in Hogwarts. Obwohl er nicht vorgehabt hatte, jemals wieder die Mitglieder von Dumbledores Armee zusammenzurufen, war er doch gespannt, wer alles auf der Bildfläche erscheinen würde.
Ron richtete das Wort an ihn. „Harry, ich soll dir von Snape sagen, wenn du ihn nochmal einsperrst, dann gibt’s Dresche.“
„Hat er das so gesagt?“
„Sinngemäß.“
Hinter Ron sah er Hermine, die all ihre Kraft zusammennahm, um nicht auf den Weg schlapp zu machen. Ihr Gesicht war noch immer fahl, wie er es von vorhin in Erinnerung hatte, bevor er seine Freunde zurückgelassen hatte.
„Harry.“ Sie näherte sich ihm mit schlackernden Knien.
„Setzt dich lieber auf eine der Steinbänke, Hermine. Du siehst nicht gut aus.“
„Harry.“ Es klang wie ein Flehen, wie die bitte um Vergebung.
Als Hermine bei ihm stand, brachte sie kein Wort heraus, aber dafür sprachen ihre Augen. Am liebsten hätte er gefragt, warum sie sich so schuldig fühlte, aber um solche Dinge zu klären war keine Zeit. Statt miteinander zu reden, folgte sie ihm still, als er das erste Mal am Raum der Wünsche vorbeiging. Auch als er Kehrt machte, ging sie neben ihm her, als wollte sie aus seiner Kraft eigene schöpfen. Beim dritten Mal hielt sie seine Hand und blickte beschämt zu Boden.
Der Eingang zum Raum der Wünsche erschien. Noch immer an den Händen haltend sahen beide zu, wie sich die Tür aus dem Stein meißelte.
„Ich bin nicht zu spät, wie es aussieht“, hörte man Seamus mit vollem Mund rufen. Er hatte zuvor von einem Sandwich abgebissen.
Als wäre es Blasphemie, blaffte Ron ihn unwirsch an: „Wie kannst du jetzt nur essen?“
„Hey, ihr habt mich von meinem Frühstück weggerissen! Ich bin doch hier, oder? Also lass mir mein …“
Fred unterbrach ihn mit einem freundschaftlichen Schlag auf die Schulter. „Warst noch nie ein Morgenmensch.“ Er drückte einmal zu und flüsterte dankbar: „Schön, dass du gekommen bist.“
Seamus nickte, setzte sich dann zu George auf die kühle Steinbank und aß sein Sandwich, damit er, was auch immer Harry heute von ihm verlangen würde, etwas im Magen hatte.
„Was ist denn überhaupt los?“ Obwohl er weiter an seinem Essen kaute, wartete Seamus geduldig auf eine Antwort.
„Das erklärt Harry drinnen“, erwiderte Fred mit trüber Miene.
„Wollen wir nicht drinnen warten?“
Nickend schlug Harry vor: „Von mir aus können wir auch schon reingehen.“
Dean und Angelina waren gerade um die Ecke gebogen, als die anderen den Raum schon betraten. Sie folgten ihnen.
Der Raum der Wünsche hatte etwas geschaffen, was Harry an seinem Verstand zweifeln ließ. Die Frage war nur, ob er sich das gewünscht oder ob es Hermine gewesen war? Verwirrt schaute er zu ihr hinüber, doch auch sie war offensichtlich von dem Anblick völlig irritiert, sogar erschrocken.
Diejenigen, die noch nicht wussten, warum sie gerufen wurden, waren gut gelaunt. Von hinten hörte man Dean mit einem Schmunzeln fragen: „Hey Harry, meinst du nicht, du trägst ein bisschen dick auf?“ Auch Luna, Neville, Fred, George, Angelina und Seamus blieben in der Mitte des karg gefüllten Raumes stehen und betrachteten ihn sich. Ein Merkmal stach besonders ins Auge.
Sie hatten einen weißen Raum betreten, indem sich einzig ein bunt schimmernder Thron aus Perlmutt befand. Wie abgesprochen, weil mit diesem Anblick eine bestimmte Erinnerung präsent geworden war, blickten Harry und Hermine gleichzeitig nach oben. Der Raum besaß keine Decke. Eine goldene Sonne schien mit ihrem gleißend hellen Licht auf sie herab. Genau so, wie sie es in Erinnerung hatten.
Auch Ron blickte nach oben und runzelte die Stirn. „Ich kenn das irgendwo her!“, behauptete er. Natürlich kannte er es, dachte Harry. Es waren Ron und Hermine gewesen, denen er davon erzählt hatte. Alle drei sahen zum ersten Mal mit eigenen Augen, was sie sich bisher nur vorstellen konnten, denn Harry und Hermine hatten davon gelesen und Ron hatten sie darüber unterrichtet.
„Harry“, flüsterte sie angsterfüllt. Sie nahm ihn an die Hand, so dass er sie anblickte. „Harry?“ Sie flehte, sie bat. ‘Was soll ich nur tun?‘, schien ihr Blick zu fragen.
„Geh“, riet er ihr. Dieses Omen war selbst ihm nicht geheuer.
Er fühlte noch, wie Hermines Hand die seine losließ und er hörte ihre Schritte, wie sie schnell davon lief. Sie hatte Angst um Severus und er konnte das sehr gut verstehen.
Das vertraute Gefühl der Angst übermannte auch Lucius, als Professor Puddle seine Augen mit einem Zauber malträtierte, doch entgegengesetzt seiner Befürchtung, er müsste Schmerzen leiden, fühlte er nichts außer einem Windhauch.
„Ihre Augen sind nicht die besten, Mr. Malfoy“, warf ihm der Heiler unversehens entgegen, untersuchte ihn jedoch noch weiter. Lucius war sich nicht sicher, ob Professor Puddle eine Äußerung seinerseits erwartete. Da dieser Punkt nicht klar war und er Puddle sowieso nicht ausstehen konnte, blieb er still. Nun war das andere Auge an der Reihe. Die grauen Augen wurden sorgfältig mit verschiedenen Zaubersprüchen getestet auf … Lucius wusste nicht einmal, auf was. Die Sprüche waren ihm vollkommen fremd. Deren Bedeutung konnte er nicht einmal erahnen und zu fragen traute er sich nicht. Vielleicht wurde die Netzhaut untersucht oder die Sehstärke?
„Ich werde Ihnen gleich einen Tropfen in die Augen tun, damit ich sie besser untersuchen kann.“
Mit einer kleinen Pipette zog Professor Puddle etwas Flüssigkeit aus einer brauen Flasche. Mit Zeigefinger und Daumen hielt er Lucius‘ Auge offen. Die Spitze der Pipette schwebte wie das Schwert des Damokles direkt über ihm. Den gut dosierten Tropfen sah er fallen und aus reinem Reflex wollte er das Auge schließen, doch Puddle hielt es offen. Als das Tröpfchen auf sein Auge traf, zuckte einmal sein ganzer Körper. Einerseits schämte er sich ein wenig, so zusammengefahren zu sein, doch andererseits schien es für Professor Puddle eine ganz normale Reaktion.
„Ja, das dachte ich mir“, murmelte Puddle.
„Was dachten Sie sich?“
„Sie benötigen eine Brille!“
Lucius hätte die Augen noch weiter aufgerissen, was aber nicht möglich war, weil der Heiler sämtliche Bewegungen seines oberes Lides vereitelte. „Ich will keine Brille!“
„Mr. Malfoy“, die Stimme war monoton. Der Heiler konzentrierte sich mehr auf die Untersuchung als auf das Gespräch. „Ich suggerierte Ihnen nicht, dass Sie eine Brille wollen. Ich sagte, Sie benötigen eine.“
Eine Brille.
Gern würde Lucius die Augen schließen und seufzen, doch auch das war momentan nicht möglich. Die Prozedur mit dem Tropfen wiederholte sich bei dem anderen Auge. Er verfluchte seine Reflexe, denn erneut war er zusammengezuckt.
„Ja, eine Brille“, sprach der Heiler zu sich selbst, bevor er sich aufrichtete und Lucius ein Taschentuch für die tränenden Augen reichte.
„Und?“
„Was ‘und‘?“, blaffte der Arzt zurück, der Lucius‘ Meinung nach eine Unterrichtsstunde in Sachen „Umgang mit Patienten“ nötig hatte.
„Werde ich in Zukunft befürchten müssen, wieder zu erblinden?“
„Nein“, Puddle schüttelte den Kopf, „das Spendermaterial ist gut angenommen worden. Auch der Zeitumkehr-Zauber hält perfekt. Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Da wäre noch die Sache mit der Brille …“
Wieder dieses Wort. „Brillenschlange Potter“ hatte sein Sohn damals häufig gesagt, wenn er von seinem verhassten Mitschüler sprach. Sein ehemaliger Kollege und jetziger Minister Arthur Weasley war bebrillt wie auch die Jahrmarktsseherin Trelawney. Selbst der törichte Dumbledore trug eine und auch McGonagall. Er wollte nicht so sein wie die.
„Ist eine Brille tatsächlich von Nöten?“
Endlich blickte Puddle mal von seinen Unterlagen auf. „Wenn Sie weiterhin Ihre Morgenzeitung allein lesen möchten, dann ja.“
„Aber …“
„Das kann mit dem Alter kommen, Mr. Malfoy. Eine Menge Prominente tragen Brillen. Albus Dumbledore, Harry Potter …“
Lucius stöhnte innerlich. Musste Professor Puddle gerade diese Leute aufzählen? „Ich bin nicht alt! Ich werde in wenigen Wochen erst 50!“
„Na, dann können Sie sich doch gleich eine Brille schenken lassen!“ Der Heiler grunzte wie ein Schwein, was er wahrscheinlich selbst für ein amüsiertes Lachen hielt. „Wir haben hier einige Brillen zur Auswahl.“ Ein ausgefülltes Pergament reichte er an Lucius weiter. „Geben Sie das bei der Schwester ab und Sie wird Ihnen welche zeigen. Versuchen Sie es wenigstens, Mr. Malfoy. Nicht dass Sie eines Tages noch in die Verlegenheit geraten, versehentlich die Damentoilette zu betreten, weil sie das Schild nicht erkannt haben.“
Der folgende Moment war so still, dass man draußen – etliche Gänge entfernt – jemanden niesen hören konnte. Der Hausmeister musste sich über ihn lustig gemacht haben, denn Lucius glaubte nicht an solche Zufälle wie diesen.
„Einen schönen Tag noch, Mr. Malfoy.“
Draußen auf dem Flur marschierte Lucius sofort zum Schwesternzimmer. Seine Laune war auf dem Nullpunkt. Eine Brille! Er? Niemals!
„Lucius.“ Wieder ertönte dieser melodische Klang ihrer Stimme.
„Marie“, erleichtert atmete er aus, „hat Ihnen schon einmal jemand gesagt, dass Sie der Sonnenschein des gesamten Krankenhauses sind?“
„Ja!“
„Tatsächlich?“, fragte er verwundert nach. „Wer?“
„Sie waren das. Ist schon eine Weile her.“ Das Pergament in seiner Hand war ihr nicht entgangen. „Darf ich?“ Ohne zu zögern reichte er ihr das Schreiben des Heilers. „Eine Brille!“ Fröhlich strahlte sie ihn an. „Dann kommen Sie mal mit, wir suchen Ihnen gemeinsam eine schicke aus.“
Nicht weit weg vom Mungos fanden sich zwei junge Leute im Zaubereiministerium ein. Sie trafen sich im Eingangsbereich. Tracey blickte Kevin irritiert an.
„Seit wann trägst du denn eine Brille?“, wollte sie wissen.
„Schon immer, aber ich brauche sie nicht oft.“ Schon nahm er sie ab, faltete die Bügel und ließ sie in seinem Etui verschwinden. „Warum hat Kingsley uns gerufen?“
Tracey zuckte mit den Schultern. „Ich habe keinen Schimmer. Lass uns nach oben gehen. Wir werden es sicher gleich erfahren.“
In der Aurorenzentrale im zweiten Stock klopften sie an die Tür ihres Vorgesetzten, der beide sofort hereinließ und sie mit seinem Auftrag überfiel. Es würde um Fenrir Greyback gehen. Die inhaftierten Todesser hätten alle ausgesagt, der Werwolf würde sich im Verbotenen Birkenwald versteckt halten.
„Aber Sir, der Wald ist groß und voller Zentauren und“, Tracey schluckte, „bösartiger Kreaturen.“
Kevin stimmte seiner Kameradin zu. „Die Wahrscheinlichkeit, Greyback zu finden, liegt bei …“
Mit erhobener Hand unterbrach ihn Kingsley. „Das ist unser Auftrag, Mr. Entwhistle. Wir werden uns den Wald ansehen.“
„Ich verstehe nicht, Sir.“ Kevin verstand nicht nur, er fühlte sich zudem völlig unverstanden. „Vier Auroren sollen den Wald durchkämmen? Der Wald ist riesig!“
„Ich weiß sehr gut, wie viele Hektar der Birkenwald umfasst“, bestätigte Kingsley. „Nichtsdestotrotz werden wir wenigstens versuchen, diesen Mann zu finden.“
Tracey Davis war nicht umsonst in Slytherin gewesen. Schnell hatte sie die Spannung erfasst, die im Raum lag. Tonks machte sich nicht einmal die Mühe, ihre Sorge zu verstecken, denn sie ging entweder auf und ab oder berührte sich immer wieder an der Wange. Ein Zeichen dafür, dass sie aufbrechen wollte, um etwas Schlimmes zu verhindern. Auch Kingsley verhielt sich anders als sonst, obwohl er viel mehr Erfahrung darin hatte, seine Gefühle zu verbergen. Es war die Tonlage, in der er sprach. Ein vibrierendes Brummen war auszumachen, was Tracey vor Augen hielt, dass er viel lieber schnell sprechen wollte.
„Die Aussage von Peter Pettigrew ist die aktuellste. Er hat Greyback dort selbst gesehen, wurde von ihm angeblich aus dem Wald gejagt“, erklärte Kingsley vorgetäuscht ruhig.
Tracey blinzelte einmal, dann noch einmal. „Sir, wenn mir die Frage erlaubt ist: Was ist der eigentliche Auftrag hinter dem offiziellen?“
Mit großen Augen blickte Kevin seine Freundin an. Kingsley hingegen schien nicht überrascht zu sein, dass sie diese Frage stellte und er erwiderte so ruhig wie nur möglich: „Der offizielle Auftrag ist der, von dem sie sprechen werden, wenn man sie fragt; von dem ihr Bericht handeln wird, haben wir uns verstanden?“ Tracey nickte, so dass er beide Jungauroren aufklärte: „In der Nähe des Birkenwaldes befindet sich ein altes Muggelgebäude, in dem wir eine entführte Hexe vermuten. Wir werden die Lage überprüfen und erst eingreifen, wenn wir diese Vermutung bestätigt wissen. Unter keinen Umständen darf vorher etwas in Bezug auf die Muggel passieren, haben Sie beide das verstanden?“
„Natürlich, Sir“, erwiderte Kevin und Tracey wie aus der Pistole geschossen.
„Gut, dann wird Tonks mit Ihnen kurz die Lagepläne durchgehen und die Pflichtzauber, damit wir apparieren können.“ Einer der Pflichtzauber war in diesem Fall, wie so oft, ein Desillusionierungszauber.
Mit Wehmut musste Tonks an das Denken, was Greyback Bill angetan hatte. Die Möglichkeit war gering, dem gesuchten Mann tatsächlich über den Weg zu laufen. Der Werwolf trug nicht einmal das dunkle Mal, was ihn aber nicht minder gefährlich machte. Wahrscheinlich, dachte Tonks, lebte Greyback im Herzen des Waldes, wo sich die dunkelsten Kreaturen die Hand reichten – wenn er überhaupt noch lebte. Es gab eine winzige Chance, am heutigen Tage auf ihn zu treffen. Eine so winzige Chance, dass niemand sich auf diese Möglichkeit vorbereitete.
„Weiß man, wer die vermisste Person sein soll?“ Von seinem Vorgesetzten erwartete Kevin eine klare Antwort, die er sogar bekam.
Kingsley blickte die beiden an. Es war ihm geläufig, dass diese beiden Ginny kannten, mit ihr zusammen in Hogwarts waren, auch wenn sie keine enge Freundschaft mit ihr gepflegt hatten. „Es handelt sich um Miss Weasley.“
Eine ihrer Hände wanderte ganz allein zu Traceys Mund, um ihr Erschrockenheit zu verbergen. Beiden war nun klar, warum geheim operiert werden musste. Kevin war dazu bereit und nachdem Tracey sich gefangen hatte, zeigte auch sie ihre Einsatzbereitschaft. Trotzdem musste sie an Harry denken und an all die Menschen, die sich gerade in diesem Moment um Ginny sorgten.
Hermine traf es noch härter, denn sie sorgte sich nicht mehr nur um Ginny, als sie die Treppen hinunterrannte, um so schnell wie möglich Severus aufzusuchen. Sie traf auf ihrem Weg auf Mitglieder der DA, die gerade nach oben gingen. Einige Gesichter registrierte sie sofort. Justin Finch-Fletchley und Hannah Abbott hielten sich an der Hand. Sie waren schon auf der Ordensverleihung ein Paar gewesen. Im zweiten Stock traf sie auf Ernie Macmillan, Michael Corner und Alicia Spinnet, die einen Besen in der Hand hielt, mit dem sie offenbar hergekommen war. Im ersten Stock rannte sie an Colin und Dennis Creevey vorbei, die ihr noch etwas hinterherriefen, was sie aber nicht verstehen konnte.
In der Eingangshalle traf sie auf viele bekannte Gesichter, deren Namen ihr nicht alle einfallen wollten, aber das war im Moment auch nicht wichtig. Viel wichtiger war es, sich davon zu überzeugen, dass es Severus gut ging.
Die Kerker. Endlich! Die kühle Luft tat ihrem erhitzten Körper gut. Ihr war schwindelig von all den Ereignissen, die so sehr an ihrer Kraft zehrten, wie die Schuld, die sie erdrückte und der Schlaf, der ihr fehlte. Hermine zwang ihren Körper, mit den Belastungen zurechtzukommen. Sie hatte schon ganz andere Situationen überstanden, also würde sie auch mit dem Schuldgefühl fertigwerden, dass ihr das Herz zerreißen wollte. Ginny. Severus. Zwei liebe Menschen, an die sie gleichzeitig denken musste, denn das Schicksal beider war ungewiss.
Mit einem lauten Krach öffnete sie die Tür zu Severus‘ Labor, wurde daraufhin gleich von Sirius, Remus und Severus erstaunt angesehen. Schnaufend beugte sie sich nach vorn, stützte sich auf ihren Oberschenkeln ab. Sie war völlig aus der Puste. Erst sieben Stockwerke hoch, dann wieder den Weg zurück. Ihre Kondition ließ zu wünschen übrig.
„Hermine?“ Sirius stürzte auf sie zu, doch ihr Blick haftete auf Severus. „Hermine, ist das wahr?“ Er nahm sie an der Schulter und richtete sie auf, suchte ihren Blick mit seinem und fand ihn. „Ginny …?“ Mit einem Nicken musste er sich zufriedengeben, denn noch war sie damit beschäftigt, Luft zu holen.
In seinen grauen Augen sah sie das feste Gerüst der Ordnung zusammenstürzen. Ein Trümmerhaufen blieb zurück. Ein rauchiger Haufen Schutt, den er schon einmal hatte wegräumen müssen, als er den Tod seiner besten Freunde verarbeiten musste. Nicht noch einmal wollte Sirius so eine Tragödie ertragen. Sein Patensohn durfte nicht leiden, durfte nicht sterben wie James. Und Ginny. Mit ihrem roten Haar und ihrer munteren Art war sie wie Lily.
In seinen Gedanken und seiner Verzweiflung gefangen war er für jedermann ein offenes Buch. Ein Buch, das Remus zu schließen wagte, als er sich seinem Freund näherte und ihn zaghaft von Hermine wegzog.
Ihre Atmung hatte sich wieder normalisiert. „Ist hier alles in Ordnung?“
Murrend fragte Severus zurück: „Nach was sieht es denn aus?“
Er war emsig dabei, Vorkehrungen für seinen Sturmangriff auf die Muggel zu treffen. Erleichtert atmete sie aus. Mit Severus war alles in Ordnung, mit ihr aber nicht. In ihrem Kopf drehte sich alles.
„Setz dich, Hermine!“, befahl Severus.
Sirius war von dem Tonfall gereizt und wies ihn zurecht: „Red‘ nicht so herrisch mit ihr!“
„Von mir aus“, Severus zuckte mit den Schultern. „Dann soll sie eben umfallen.“
Gleichzeitig blickten Remus und Sirius zu Hermine hinüber. Ein blasses Gesicht, Schweißperlen auf der Stirn, der unstete Blick. Sie wankte.
„Herrje“, Remus eilte zu ihr, „setzt dich bitte, sonst kippst du wirklich noch um.“
Genau einen Stock über den vieren, im Erdgeschoss, spielte Wobbel mit Nicholas. Die Bauklötze fand der Kleine besonders faszinierend. Sie fielen einfach nie um, egal wie schief der Turm wurde. Als Nicholas keinen Klotz mehr auf den Turm aufsetzen konnte, weil der nun größer war als er, stieß er ihn um. Mit seinen großen Augen blickte er Wobbel an und lachte. Wobbel lachte zurück und klatschte dann in die Hände.
„Komm mal her“, forderte Wobbel und hielt dabei seine Arme auf. Nicholas war schon recht gut zu Fuß, fiel auch nicht mehr sofort um, wenn er mal auf einen der Bauklötze trat. „Komm her.“ Wobbel klatschte nochmals, um den Jungen zum Gehen zu animieren und der tat genau das, was der Elf wollte. Nicholas fand sich in Wobbels Armen wieder. „Das hast du ganz toll gemacht!“, lobte der Hauself.
„Oll“, kam es von Nicholas zurück, woraufhin Wobbel die Ohren spitzte und sich umsah, um sich zu vergewissern, dass auch niemand heimlich zusah. Nur Hedwig beobachtete dösig das Spiel der beiden. Der Phönix hingegen atmete schwer. Man konnte hören, wie jeder Luftzug eine Menge Kraft kostete. Er lag in seiner Feuerschale. Schon einige Tage war es ihm nicht mehr gelungen, auf die Stange zu fliegen. Sonst war niemand hier und nur deswegen richtete der Elf das Wort an Nicholas. „Sag mal: ‘Wobbel‘!“
„Oll!“
„Na ja, fast“, scherzte der Elf und wiederholte, zog dabei die Buchstaben und Silben ganz lang. „Wooo - bbelll.“
„Ooobl“, quickte der Kleine fröhlich nach.
Wobbel klatschte in seine Hände. Er fragte sich ernsthaft, ob sein Meister ihm die Ohren so lang ziehen würde, bis sie auf dem Boden schleiften, sollte Nicholas‘ erstes Wort tatsächlich einmal der Name des Hauselfen werden.
Im siebten Stock hatten sich eine Menge Menschen eingefunden, die wie üblich sofort ihren Stab in die Hand nahmen, nachdem sie den Raum betreten hatten. Es war ein Zeichen der Bereitschaft. Mit so vielen hatte Harry nicht gerechnet. Selbst Ron staunte, all die alten Freunde wiederzusehen. Wer nicht durch die Münze auf Harrys Ruf aufmerksam geworden war, der hatte es von einem anderen DA-Mitglied erfahren.
Katie Bell, die Patil-Zwillinge, Anthony Goldstein, Ernie Macmillan, Terry Boot. Selbst Cho war gekommen. Seit der Schule war sie mit Michael Corner liiert, der immer an ihrer Seite war, so auch heute. Es fehlte Zacharias Smith, aber mit dem rechnete niemand. Schon damals konnte ihn keiner wegen seiner überheblichen Art und seiner ständigen Kritik an Harrys Unterricht ausstehen. Nachdem er von seinem Vater von der Schule genommen worden war, hatte man nie wieder etwas von ihm gehört.
„Wo ist Ginny?“, hörte Harry eine weibliche Stimme fragen. Er blickte sich in dem gut gefüllten Raum um und bemerkte Parvatis Augen auf sich. Sie spielte verlegen mit ihrem Stab. Der ehemaligen Gryffindor-Schülerin war nicht entgangen, dass gerade seine Verlobte auf sich warten ließ. Auch den anderen fiel es jetzt auf.
„Das ist der Grund, warum ich euch …“
Die Tür zum Raum der Wünsche öffnete sich ein weiteres Mal und es trat jemand ein, mit dem keiner gerechnet hatte. Der erste Schock war überwunden und schon begannen die DA-Mitglieder zu tuscheln, als Draco zögerlich ein paar Schritte machte. Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Als er hinter Harry den Thron aus Perlmutt bemerkte, wanderten seine Augenbrauen hinauf bis zum Haaransatz, dennoch stellte er keine dummen Fragen, machte auch keine Anmerkungen, sondern nahm das Szenario einfach als selbstverständlich hin. Was er nicht hinnehmen konnte waren die Blicke einiger ehemaliger Mitschüler.
„Draco!“ Staunen schwang in Harrys verbalem Gruß mit.
Mit der Andeutung einer höflichen Verbeugung grüßte der Blonde zurück, bevor er etwas aus seinem Umhang nahm und damit auf Harry zukam. Er zeigte ihm die Galleone. Harry verstand die Botschaft und nickte, wies ihn mit einer Geste seiner Hand an, sich zu den anderen zu stellen. Draco wählte die Nähe von Neville und Luna. Die beiden, das wusste er, würden nicht über ihn reden, ihn auch nicht scheel ansehen. Luna grüßte ihn sogar, ihr Freund ebenfalls.
Die meisten Augen waren auf Draco gerichtet. Peinlich berührt blickte er starr zu Harry hinüber. Weil sich die Tür zum Raum der Wünsche nicht mehr öffnete, hielt Harry die Gruppe für komplett.
„Ich denke“, begann Harry, womit er – zu Dracos Erleichterung – auf einen Schlag die gesamte Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich zog. Er räusperte sich und fing erneut an. „Ich denke, wenn es Nachzügler gibt, können wir sie später noch einweihen. Wir sollten beginnen, denn die Zeit wird knapp.“
Als er damals bei der Verleihung des Phönixordens seine Rede gehalten hatte, kamen ihm die Worte nach anfänglichen Schwierigkeiten viel leichter über die Lippen. Diesmal hing jedoch viel mehr von dieser Rede ab, als den Leuten zu sagen, wie sehr er Severus Snape und all das, was der für die Zaubererwelt getan hatte, schätzte. Heute ging es darum, seine Ginny unverletzt aus den Fängen von verblendeten Muggeln zu befreien.
„Wie ihr bemerkt habt, ist Ginny nicht hier und das ist der Grund, warum ich euch gerufen habe.“
„Todesser?“, fragte Dean unverhofft. Alle Augen richteten sich auf Draco, was dem diesmal nicht entging. Von Ron bekam Dean einen Schlag auf den Oberarm, damit er ruhig bleiben würde.
„Keine Todesser sind mit im Spiel.“ Die Menge atmete erleichtert aus. Viele von ihnen hatten bereits eine eigene Familie, wie auch Cho und Michael. Keiner wollte sich nochmals Todessern stellen. „Es geht um Muggel.“
Absichtlich ließ Harry eine Pause, damit seine Freunde begreifen würde, was er eben gesagt hatte.
„Äh, Harry“, jemand meldete sich genauso zögerlich, als müsste er eine Frage von Professor Snape beantworten, deren Antwort er nicht kannte. Es war Seamus, dessen Vater ein Muggel war. „Haben wir dich eben richtig verstanden? Muggel? Was können die uns schon antun?“
„Eine ganze Menge.“ Harry holte tief Luft. „Sie haben Ginny in ihrer Gewalt.“
Es war damit zu rechnen, dass es Geflüster und Gerede geben würde, weshalb Harry seinen Freunden einen kurzen Augenblick schenkte, bevor er sich wieder Gehör verschaffte.
„Diese Muggel haben sich zu einer Art Sekte zusammengeschlossen“, erklärte Harry. Einige nickten, weil sie das Wort kannten. „Das sind Leute, die ein bestimmtes Ziel verfolgen. In diesem Fall ist mir ihr Ziel nicht ganz klar, aber sie hassen Hexen und alles, was mit unserer Welt zusammenhängt.“
„Wie kommt es“, warf Dean ein, „dass man von denen noch nie gehört hat?“
„Ja“, stimmte Parvati zu, „wie können die überhaupt jemanden von uns entführen? Wir sind denen doch haushoch überlegen.“
„Das ist nicht ganz richtig.“ Ron hatte das Wort ergriffen und jeder hörte auf ihn, weil er der Sohn des Ministers war. „Immer wieder hat man vor und auch noch nach dem Krieg lesen können, dass es Vermisste gab. Im Krieg fiel das nicht auf, aber danach. Es wurden manchmal Tote gefunden. Man hat sie zusammengeschlagen, gefoltert. Es waren Zauberer und Hexen, die keinen Stab mehr bei sich hatten und genau da liegt die Stärke der Muggel. Haben sie uns entwaffnet, sind sie uns mit ihren Waffen überlegen.“
Eine gesichtslose Stimme fragte laut: „Warum hat dein Vater nichts dagegen unternommen?“
„Hat er doch! Er hat sich mit dem Muggelminister kurzgeschlossen und der wollte sich drum kümmern. Wie es aussieht, hat das nicht gefruchtet“, verteidigte Ron seinen alten Herrn.
„Das ist doch Irrsinn!“ Katie Bell war außer sich. „Warum haben die was gegen uns? Wir tun denen doch gar nichts. Warum kann Ginny nicht einfach apparieren.“
Harry fehlten die Worte, nicht aber Ron, der ihn anblickte und still um Erlaubnis bat, diesen Punkt erläutern zu dürfen. Er nickte Ron zu, der sich diesmal aber zu Harry nach vorn begab, damit man ihn besser hören könnte.
„Ich habe etwas erfahren“, er blickte direkt zu Harry, „das weißt du auch noch nicht.“ Wieder zur Menge sagte Ron: „Ich habe Ginny meinen Patronus geschickt.“ Harry musste lächeln. Es hatte gewusst, dass einer von ihnen einen Weg aus dem verzauberten Zimmer finden würde. Den Raum konnte man durch den Zauberspruch zwar nicht verlassen, aber durchaus von außen öffnen. „Der Patronus kam zurück, aber es war nicht Ginny, die eine Nachricht hinterlassen hat.“
„Was?“ Für einen kurzen Moment hatte Harry die Kontrolle über seine Beherrschung verloren.
„Es ist besser, wenn ich es euch vorspiele, denn eines ist klar: Man erwartet Harry bereits!“
Wie man auch bei Zauberstäben die ausgeführten Flüche und Sprüche, die damit angewandt worden waren, in Erfahrung bringen konnte, war es auch möglich, die Nachrichten eines Patronus mehrmals anzuhören. Ron gab sich alle Mühe, an einen glücklichen Moment in seinem Leben zu denken. Schon formte sich sein Jack-Russell Terrier aus der Stabspitze und rannte durch die Menge. Als der Hund aufgeregt von einer Person zur anderen sprang, hörte man die Worte, die er aufgezeichnet hatte. Man konnte zwei verschiedene Stimmen erkennen; die erste war sehr jung.
„Ein Patronus! Ich wusste gar nicht, dass die reden können.“
„Was ist das?“
„Das ist ein Zauber, der Böses abwehren kann.“
„Warum spricht er? Ist das ein Späher?“
„Ich weiß nicht. Ich …“
„Sorg dafür, dass die Hexe nicht so schnell zu Bewusstsein kommt. Der Doktor soll sich drum kümmern! Alle anderen sollen auf ihre Posten. Ich möchte Potter herzlich willkommen heißen, wenn er hier auftaucht!“
Nachdem der Hund verblasste, nahm besonders Harry die eben gehörte Nachricht Wort für Wort auseinander. Es fiel ihm schwer, dabei nicht den Faden zu verlieren, denn jetzt, wo er wusste, dass man Ginny offenbar ruhigstellte, wurde ihm ganz übel.
„Die betäuben Ginny!“, rief Alicia.
Dean als jemand, der bis zu seinem elften Lebensjahr vollständig in der Muggelwelt gelebt hatte, stimmte ihr zu: „Dann ist es auch kein Wunder, dass sie nicht apparieren kann, wenn ein ‘Arzt‘ sie mit Drogen vollpumpt.“
„Aber ist euch was aufgefallen?“ Alle starrten Anthony Goldstein an, der schon damals immer so ruhig gewesen war, dass sich einige nicht mal mehr an seinen Namen erinnern konnten. Als niemand antwortete, erklärte er: „Da ist jemand dabei, der genau gewusst hat, was ein Patronus ist!“
Sofort entflammte eine hitzige Diskussion, ob man es nicht doch mit Todessern zu tun haben könnte. Zumindest, das meinte Ron, wäre es nicht auszuschließen, dass sich ein paar Zauberer unter den Muggeln aufhalten könnten.
Parvati war mit den Informationen völlig überfordert. „Aber was für Zauberer würden zulassen, dass die Tochter des Ministers entführt wird? Die wissen doch, dass sie für sowas nach Askaban kommen!“
„Vielleicht sind es Muggel, die von uns wissen? Muggel, deren Kinder magisch sind“, spekulierte Seamus laut. Seine eigene Vermutung erschien für ihn jedoch keinen Sinn zu ergeben. „Das erklärt aber nicht, warum sie uns hassen.“
Sich still verhaltend beobachtete Draco den Verlauf des Treffens. Die Nachricht von Ginnys Entführung war beunruhigend. Es war ihm ein Rätsel, wie Harry in dieser Situation einen klaren Kopf behalten konnte. Würde es sich um Susan drehen, wäre Draco im Alleingang zu den Muggeln marschiert. Während er den anderen zuhörte, ließ er seinen Blick schweifen. Es war wundervoll mit anzusehen, wie so viele Menschen von dem Band der Freundschaft zusammengehalten wurden. Selbst nach so vielen Jahren gab es keinen Riss in dieser Eintracht. Er selbst fühlte sich jedoch außen vorgelassen. Niemand sprach ihn an. Er wollte auch nicht die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, indem er die Vermutung äußerte, es könnte sich womöglich um Squibs handeln, die den Muggeln bei ihrer Planung halfen. Diese Äußerung könnte man ihm als rassistisch ankreiden, denn man wusste, wie er in der Vergangenheit über Squibs gedacht hatte. Zum Glück war jemand anderem die gleiche Idee gekommen.
„Squibs?“ Jeder blickte Fred fragend an. „Warum denn nicht? Wenn ich sehe, wie die teilweise bei uns behandelt werden … Das Motiv wäre dann auch klar: Rache.“
„Auf jeden Fall wollen sie Harry haben“, stellte Ron klar, der noch immer vorn bei seinem Freund stand. „Und Ginny ist ihr Köder!“
Vorsichtig fragte Cho nach: „Mit was für Waffen müssen wir rechnen?“
„Knarren“, erwiderte Dean salopp. „Pistolen, Gewehre …“
Mit einem Male fiel es Harry wie Schuppen von den Augen. „Natürlich! Die waren schon einmal hier, ganz in der Nähe.“ Die Menge trat näher an ihn heran und hing ihm an den Lippen. „Hogsmeade!“
Luna nickte. „Das Dorf wurde im Winter evakuiert. Davon konnte man in jeder Zeitung lesen.“
„Richtig! Und man hat Waffen gefunden“, fiel ihm wieder ein, „eine Menge gefährlicher Waffen, die ganze Häuser wegsprengen können. Handgranaten und so ein Zeug.“
„Echt?“, entwich es Dean, dem die Anspannung ins Gesicht geschrieben stand.
Harry nickte und erzählte weiter: „Sie haben ihre Waffen in einer Höhle nahe bei Hogsmeade versteckt. Man hat eine Zeit lang geglaubt, sie wollten die Schule angreifen.“
„Harry?“ Langsam trat Ernie Macmillan nach vorn. Als Reinblüter wusste er wenig von Muggeln. „Aus welchem Material bestehen diese Waffen?“
„Ich habe keine Ahnung“, sagte er, obwohl er gleich darauf mit der Antwort herausrückte, „Metall, überwiegend Metall.“
Seamus, der genügend Kriminalfilme gesehen hatte, vervollständigte: „Und in den Kugeln ist meist eine Schießpulvermischung.“
„Ja“, pflichtete Harry bei. „Das sind die beiden wichtigsten Materialien, würde ich meinen. Oder hat sonst noch einer eine Idee.“ Alle schüttelten den Kopf.
Cho empfahl den Anwesenden: „Dann ist wohl ein Verwandlungszauber angemessen, um die Muggel zu entwaffnen.“
„Wir müssen aber aufpassen, wirklich aufpassen.“ Dean schob sich ein wenig nach vorn, damit alle ihn hören konnten. „Die Waffen sind schnell. Wenn die Kugel bereits fliegt, kann man sie nicht einmal sehen, so schnell ist die.“ Flüche konnte man sehen, wenn sie auf einen zugerast kamen.
„Ich will mich nicht weiter in Diskussionen verlieren“, gab Harry seinen Freunden zu verstehen. „Ich will auch keine Spekulationen anstellen, warum sie uns hassen oder was sie bereits alles auf dem Kerbholz haben könnten. Im Moment liegt mir nur daran, Ginny dort rauszuholen und dafür brauche ich eure Hilfe.“ Mit zittriger Stimme fügte er hinzu: „Ich hoffe, es ist noch nicht zu spät.“
„Kein Problem, Harry!“
„Die Muggel werden wir schon kleinkriegen!“, rief jemand aus der Menge.
Ein anderer stimmte ein: „Die werden keine Sonne mehr sehen, wenn wir mit ihnen fertig sind!“
Nur aus Spaß, das wusste Harry, rief Jordan: „Denen blasen wir das Licht aus!“
Die meisten Mitglieder der DA feuerten sich gegenseitig an, so dass die Luft brannte. Der Feind war bestimmt, jetzt wollten sie ihn niedermachen.
„Darf ich dazu mal was sagen?“ Niemand hörte Draco. Er seufzte, während die anderen schon die Hände in der Luft zusammenschlugen, weil sie sich auf den Kampf zu freuen schienen. Es war ein Enthusiasmus, der mutwillig herbeigeführt wurde, um die Angst zu verdrängen. Zwischen all den aufgebrachten Menschen ging Draco langsam nach vorn zu Harry, der nicht so recht zu wissen schien, was er von dem kleinen Aufruhr halten sollte.
„Harry?“ Als der ihn anblickte, sagte Draco, was er auf dem Herzen hatte. „Man sollte bedenken, dass es vielleicht auch welche unter den Muggeln gibt, die“, er legte kurz den Kopf schräg und zuckte dabei mit den Schultern, „die vielleicht unschuldig sind.“
Colin Creevey hatte das gehört und schüttelte den Kopf: „Was erzählst du da nur für einen Unsinn? Unschuldig? Wenn man Leute entführt ist man nicht unschuldig!“
„Ich meinte auch nur …“, er stockte, weil immer mehr DA-Mitglieder still wurden und ihm zuhörten, dabei wollte er nur Harry seine Meinung sagen. „Vielleicht sind einige von ihnen …“ Wo waren die Worte hin, denen er sich sonst so sicher war, fragte er sich? „Vielleicht sind einige von ihnen fehlgeleitet oder ... Ich weiß nicht.“ Draco wirkte verzweifelt. Er konnte sich nicht so ausdrücken, dass die anderen es verstehen würden. „Es könnte doch sein, dass manche von den Muggeln gar nicht wissen, was deren Anführer vor hat. Dass sie ihm nur aus falschen Versprechungen folgen.“
„Ah, du sprichst aus Erfahrung.“
Wütend drehte sich Draco um. „Wer hat das gesagt?“
Niemand meldete sich, schon gar nicht Dennis, dem das nur aus Versehen rausgerutscht war. Der Kommentar machte Draco so wütend, dass sein Puls rapide stieg. Der jemand, der das gesagt hatte, behielt sogar Recht, aber das wollte er nicht vor all diesen Leuten zugeben.
„Warum ist er überhaupt hier?“, wollte Cho wissen. „Ich meine, er steht nicht auf der Liste, oder?“ Er hatte nicht unterschrieben; ihm war nicht zu trauen. Jeder hörte diese versteckte Andeutung heraus, selbst Harry, der das klären wollte.
„Er hat mir die Münze gezeigt. Ich traue Susan. Sie hat ihn hergeschickt.“
„Wir trauen Susan auch“, bejahte Terry, „aber es geht nicht darum, wer wem traut.“
„Nicht?“, fauchte Draco ihn an.
Angewidert verzog Terry das Gesicht. „Nein, es geht darum, dass wir dich nicht kennen. Wir wissen nicht, wie du kämpfst, was deine Stärken oder Schwächen sind.“
Chos Hand ergreifend meldete sich Michael zu Wort. „Terry hat Recht, Harry. Es wäre ein Risiko. Wir kennen uns alle bestens, aber er kennt uns nicht und wir ihn nicht. Das kann ins Auge gehen.“
„Wir sind ein aufeinander abgestimmtes Team“, hörte man Alicia sagen.
Den meisten schien es wirklich nur darum zu gehen, dass sie mit Draco in ihrer Mitte einen Alleinkämpfer haben würden, der nicht auf Augenzeichen und auch nicht auf Handbewegungen der anderen reagieren würde, weil er diese geheimen Anweisungen einfach nicht kannte. Trotzdem, und das spürte Harry, benutzten einige von der DA dieses Manko ganz offensichtlich als Argument dafür, nicht mit Draco an ihrer Seite losziehen zu müssen.
„Draco hat Flüche drauf, die jeden von uns in den Schatten stellen würden“, argumentierte Harry, doch was er als positive Seite hervorheben wollte, wurde als negativ abqualifiziert.
„Genau da liegt doch der Hase im Pfeffer!“ Terry zeigte mit seinem Stab auf Draco, was der gar nicht leiden konnte. „Er mag eine Menge toller Flüche draufhaben, aber die wir kennen nicht! Was wenn er jemanden von uns ‘versehentlich‘ trifft.“
„Versehentlich?“, blaffte Draco ihn an. „Warum hast du das Wort so seltsam betont?“
„Hab ich gar nicht!“, widersprach Terry.
„Hey Leute.“ Mit einer beruhigenden Handbewegung wollte Jordan die aufkeimende Rivalität schlichten und meinte eher als Scherz: „Wenn wir uns hier schon fast an die Gurgel gehen, wie soll das dann da draußen aussehen?“
Ohne es zu wollen hatte er damit Öl ins Feuer gegossen. Man nutzte es als weiteres Argument, um Draco aus ihrer Mitte zu verbannen. Von Hanna wusste man, dass sie nach dem gewaltsamen Tod ihrer Mutter selbst die rehabilitierten Todesser noch Mörder schimpfte. Jordans Anmerkung nahm sie sofort als Anlass, um ihre Meinung kundzutun.
„Eben das meine ich auch! Wenn Draco uns gegenüber jetzt schon so aggressiv ist …“, zeterte sie, doch wurde harsch unterbrochen.
„ICH bin aggressiv? Wenn ich mir diese unverschämten Zweideutigkeiten anhören muss, ist das doch kein Wunder, dass ich mich wehren möchte!“
„Hey, nun beruhigt euch mal wie…“ Ron kam gar nicht zu Wort.
„Was denn für Zweideutigkeiten?“, wetterte Hannah zurück. „Es ist nun mal eine Tatsache, dass wir von deinen kämpferischen Fähigkeiten gar nichts wissen. Ergo gehörst du nicht in unser Team!“
„Ihr habt Angst vor mir, das ist es!“
Hannah schnaufte provozierend. „Angst vor dir? Ich bitte dich! Du hast doch keine Ahnung …“
„Oh, ich weiß ganz genau, was hier los ist!“, unterbrach er sie harsch. „Als die Frage aufkam, ob es Todesser wären, die Ginny entführt hätten“, seine Unterlippe bebte, „da habt ihr alle zu mir geschaut!“ Vor lauter Zorn war er ganz rot im Gesicht. „Alle!“
Einige schämten sich, darunter auch Neville, der auch zu Draco geschaut hatte, aber nur um zu sehen, wie der reagieren würde und nicht, weil er ihn für einen Todesser hielt. Hannah war kurz davor, Draco eine Bösartigkeit an den Kopf zu werfen, da schritt der diplomatische Ernie ein, der vermitteln wollte. Schon früher hatte er diese schlichtende Eigenart an sich.
„Ich denke, es geht hier nicht ‘darum‘“, das Wort betonte er, um nicht Voldemorts Zeichen zu nennen, „sondern einfach …“
„Ach sei still, Ernie!“, wetterte Hannah, die bereits heftig atmete. „Natürlich geht es darum! Ich will ihn nicht dabei haben und wenn er mitkommt, dann bleibe ich hier.“
Die Zwillinge steckten die Köpfe zusammen und besprachen, wie sie Hannah und Draco ohne Komplikationen hinauswerfen könnte. Harry hingegen blickte hinauf zur goldenen Sonne. Er gab den beiden noch zwei Minuten. Wenn sie dann ihre Differenzen nicht beiseitegelegt hätten, würde er sich herzlich für ihr Erscheinen bedanken und sie beide zurücklassen.
„Ich wusste es“, murmelte Draco durch zusammengebissene Zähne. „Es wird mir ewig anhaften, nicht wahr? Egal, ob Harry mich um Hilfe bittet oder nicht. Für euch“, er blickte Hannah in die Augen, „oder eher nur für dich bin ich weiterhin nur Abschaum!“
„Harry hat dich aber nicht gerufen“, hielt sie zornig dagegen. Sie ballte ihre Fäuste. Mittlerweile bebte ihr gesamter Oberkörper vor Spannung. „Er kann dich gar nicht rufen. Du hast ja nicht mal eine Münze!“
„Stimmt, habe ich nicht.“ Mit glasigem Blick machte er ihr klar: „Mich ruft man auf ganz andere Weise!“
Von der goldenen Sonne über ihm war Harry nicht geblendet. Ihr Anblick beruhigte ihn. Stimmen waren nicht mehr zu hören. Der Streit hatte ein Ende. Im gleichen Moment, als er seine Augen von der surrealen Decke abwendete, spürte er, wie jemand mit festem Griff seine rechte Hand packte. Draco.
Zu spät.
Es war zu spät, um einzugreifen.
Das Holz der Stechpalme berührte das dunkle Mal auf Dracos linkem Unterarm. Wie in Zeitlupe öffneten sich Dracos Augen ganz weit. Seine Wut erstarb im Entsetzen. Auf der bleichen Stirn zeichneten sich die blauen Adern ab. Der Mund war weit geöffnet im stillen Aufschrei. Dem nächsten Atemzug folgte ein Geräusch gleich dem eines Bären, der in eine Falle getreten war – brummend, aus voller Kehle und doch vom Schmerz erstickt, als die Phönixfeder ihn verbrannte.
Schreie.
In einem anderen Teil des Schlosses bot sich das gleiche Bild. Von der Qual in die Knie gezwungen stieß Severus einen Schrei aus, der durch Mark und Bein ging. Er hielt sich den linken Arm, riss den Ärmel hinunter. Fassungslos blickte er auf das geschmolzene Fleisch, in dem eine unheilvoll schwarze Brühe schwamm. Der Anblick der verdorbenen Masse entlockte ihm einen weiteren Schrei. Drei paar Hände hielten ihn davon ab, sich die schmerzende Gliedmaße vom Leib zu reißen.
St.-Mungo-Hospital für Magische Krankheiten und Verletzungen.
„LUCIUS!“ Marie hielt ihn an den Schultern, als er von einem plötzlichen Leid geplagt vornüber kippte. Der ekelerregende Geruch der Fäulnis lag in der Luft. Der mit Silber durchstickte hellblaue Brokatstoff seines Gehrocks wurde von einer unbekannten Substanz getränkt. Lucius schrie sich die Seele aus dem Leib. Marie reagierte sofort, zauberte seinen Oberkörper frei. Auf der makellos hellen Haut stach der Schandfleck ins Auge. In dem ausgeschabten Unterarm hatte sich ein Schmutzpfuhl aus faulem Fleisch gebildet, den Marie in eine Schale zauberte. Man konnte Elle und Speiche sehen. Sie musste schnell handeln.
Schreie hallten ebenfalls durch die kalten Gänge von Askaban. Viele waren schwach geworden, manche bereits verstummt.
Am Boden seiner Zelle liegend wartete Peter Pettigrew auf Erlösung. Der Schmerz fuhr ihm durch beide Arme. Zur Qual war die frische Seeluft geworden, denn jeder einzelne Atemzug verlängerte sein Leben, ließ ihn seine Wunden spüren und seine Fehler sehen. Wovor er sein Leben lang Angst gehabt hatte, empfing er nun mit offenen Armen – den Tod.
Da war plötzlich ein Licht. ‘Die Sonne‘, dachte er und drehte mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kopf, um noch ein letztes Mal aus dem vergitterten Zellenfenster hindurch dieses Naturschauspiel zu erleben, doch es war nicht die Sonne. Eine durchsichtige Gestalt, ganz und gar in goldene Farben gehüllt, näherte sich und kniete sich neben ihn. Peter blinzelte einige Male, um die Tränen zu verdrängen, um besser sehen zu können. Wirres Haar. Eine Brille. „James?“ Die Gestalt lächelte.
Vielleicht war es ein Bildnis, das sein schwindender Geist für ihn projizierte, um das Sterben erträglich zu machen. „James.“ Erleichterung. Ein Wiedersehen. Die Möglichkeit, sich zu erklären und um Vergebung zu bitten.
So kurz vor dem Tod waren die Schmerzen kaum noch zu spüren. Grüßend streckte er seine Hände nach der Gestalt aus und erschrak. Der linke Unterarm war wie ausgebrannt. Die Knochen waren zu sehen. Kein dunkles Mal mehr. Er war endlich frei. Das Silber der rechten Hand war flüssig geworden. Das schwarzmagische Metall hatte sich auf dem Boden verteilt und ließ einen in Verwesung übergegangenen Stumpf zurück. Beide Arme senkte er wieder, bevor er in das strahlende Gesicht seines ehemaligen Freundes blickte. „Nimm mich mit“, bat Peter sehnsüchtig. Einen Augenblick später schloss er die Augen für immer.
Den Tod zu bejahen lohnte sich nur für diejenigen, die ihr Leben gelebt hatten, aber auch für die, die es erneut leben wollten.
Mit getrübten Augen betrachtete der Phönix in Hogwarts das Spiel des Kindes auf dem Schoß des Elfs. Mit letzter Kraft richtete sich Fawkes in seiner Feuerschale auf und begann zu singen – für den Jungen, von dem er so geliebt wurde und für die Sonne, die er mit seinen Tönen herbeirufen wollte.
Für einen kurzen Moment lockerte sich die Schlechtwetterfront über Schottland auf. Die dunklen Wolken rissen auseinander. Als der Schein der aufgehenden Sonne auf Fawkes traf, breitete er willkommen seine Flügel aus, damit ihre Macht ihn entzünden würde.
Als der Vogel in Flammen aufging, war Wobbel wie gelähmt. Die Trauer um den Verlust eines Gefährten war nicht zu unterdrücken, obwohl der Elf wusste, dass dies nur das Ende vom Anfang war. Die gold, gelb und orange glitzernden Lohen züngelten umher und umschlossen die ausgestreckten Schwingen. Hedwig schuhute dem Freund ein liebes Lebewohl.
Es war die Verzückung, so einem seltenen Moment beiwohnen zu dürfen, dass er viel zu spät merkte, wie Nicholas um seinen Freund weinte.
„Nicht doch, er ist doch noch da. Er ist jetzt ein Baby, genau wie du“, beruhigte Wobbel den Jungen, doch der schniefte noch immer. „Ich zeig ihn dir.“ Der Vogel hatte nur kurz gebrannt, dafür sehr intensiv. Rauch hatte sich im Zimmer gebildet, so dass Wobbel mit einem Fingerschnippen die Fenster öffnete. Hedwig nutzte die Gelegenheit und flog sofort nach draußen.
Als er mit Nicholas auf dem Arm an der Feuerschale angelangt war, schauten beide auf einen Haufen Asche, unter dem es sich rührte. Ein kleiner Kopf kam zum Vorschein. Hungrig streckte der neugeborene Phönix den beiden seinen weit aufgerissenen Schnabel entgegen und piepte dabei fordernd. Nicholas‘ Tränen waren versiegt und durch ein zufriedenes Lächeln ersetzt.
„Siehst du! Unser Freund ist noch da.“ Den Jungen setzte Wobbel im Laufgitter ab, damit er sich dem neugeborenen Vogel widmen konnte, was er wie selbstverständlich zu seinen Aufgaben zählte. Das Tier hatte Hunger, das konnte Wobbel sehen. „Was frisst ein Phönix nur?“, murmelte er zu sich selbst. Er entschloss sich dazu, den Vogel erst zu säubern, weswegen er ihn vorsichtig aus der Asche nahm. Mit leichten Pflegezaubern reinigte er den hungrigen Fawkes und setzte ihn danach in ein Körbchen, das er mit weichen Tüchern ausgelegt hatte.
„Wen kann ich fragen, was ich dir für Futter geben kann?“
Die Frage beantwortete ihm Hedwig. Sie kam durch das Fenster zurückgeflogen, aber nicht allein. Eine tote Maus, frisch erlegt, war ihr Willkommensgruß an den neuen alten Freund. Wobbel wollte nicht dabei zusehen, wie die Maus verfüttert wurde. Er reinigte lieber die Feuerschale und stieß dabei auf einen Gegenstand, der in dem Vogel gewesen sein musste und die hohen Temperaturen des magischen Feuers überlebt hatte. Vorsichtig nahm er das noch warme Objekt aus der Schale und reinigte es mit einem Tuch, bis er am Ende einen unförmigen, roten Stein in der Hand hielt.
Der Stein der Weisen.
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