von Muggelchen
Der Tag war so grau wie der Umhang von Mr. Fogg, auch genauso feucht wie seine Stirn, auf denen Schweißperlen glänzten. Nebelschwaden schlangen sich um seine Waden. Der unruhige Blick und sein hektischer Gang waren die einzigen Anzeichen dafür, dass er etwas im Schilde führte, denn nur deswegen drehte er sich stetig um. Niemand sollte sehen, wohin er ging. Sein Ziel war die Adresse, die Sirius Black ihm genannt hatte; das Haus eines gewissen Mr. Bloom, dem Leiter der Initiative.
Als er durch die Straßen huschte, versteckte er sein Gesicht, vor allem aber die verräterische Narbe an seinem Hals, hinter dem hochgeklappten Kragen des Umhangs. Endlich hatte er die Straße gefunden. Viele Menschen waren wegen des feuchten Wetters in ihren Häusern geblieben. Nur wenige waren durch Haustiere gezwungen, das gemütliche Heim zu verlassen. Fogg hatte seinen Blick auf den gepflasterten Gehweg gerichtet und erschrak, als plötzlich ein Dackel in sein Sichtfeld kam. Der Hund knurrte. Tiere wussten, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Fogg machte einen Bogen um den Hundebesitzer und seinen Vierbeiner, hörte dabei die Worte „Er beißt nicht.“, aber darauf ankommen lassen wollte er es nicht.
Das Anwesen von Mr. Bloom konnte sich sehen lassen, dachte Fogg, als er vor dem gusseisernen Tor stand und durch die Stäbe einen Blick aufs Grundstück riskierte. Auf dem Schild links von ihm stand der vollständige Name der Initiative, darunter aufgelistet waren einige der Dienste, die sie anbot. „Rechtsberatung für diskriminierte Mitbürger“ stand an erster Stelle. Kaum war er einen Schritt näher getreten, um den Rest zu lesen, da öffnete sich das Tor. Er hätte vermutet, es würde laut quietschen, aber kein Geräusch war zu hören, außer dem Rascheln des nassen Grases, über das das Tor strich.
Ein fester Sandweg führte zu dem restaurierten Gesindehaus, in dem früher Knechte und Mägde gehaust haben mussten. Von einem dazugehörigen Herrenhaus war weit und breit allerdings keine Spur. Möglicherweise wurde es abgerissen, vermutete Fogg, oder aber es stand unter Fidelius. Das Gebäude im rustikalen Stil war bewohnt, denn in vielen Fenstern brannte Licht. Nach etlichen Schritten näherte er sich den Stufen, dann der Tür. Er hob die Hand, um zu klopfen, doch da wurde die Tür weit aufgerissen. Man hatte ihn noch nicht bemerkt, so dass er einen Schritt zur Seite tat, um im Schatten darauf zu warten, dass die Leute gehen würden.
„Vielen, vielen Dank nochmals, Mr. Black.“ Der Mann, der ein müdes Kind auf dem Arm trug, das um die zwei Jahre alt sein musste, schüttelte wie wild eine Hand. Die zur Hand dazugehörige Person konnte Fogg nicht sehen, denn die Tür verdeckte sie. Fogg beobachtete die Frau, die nach dem Mann auf die Veranda hinauskam und sich ebenfalls bedankte. Sie gehörte offenbar zu dem Herrn, denn sie strich ihm liebevoll über den Rücken – auf die gleiche Weise, erinnerte sich Fogg wehmütig, wie seine Clara es damals auch bei ihm gemacht hatte. An der anderen Hand hielt sie ein Kind, das schon gut zu Fuß war.
Ungesehen betrachtete er die kleine Familie, die den Sandweg zurück zum Tor ging. Als sie es passiert hatten und Fogg zur Seite blickte, bemerkte er, dass dort noch immer jemand stand, der wie er den Leuten hinterhergesehen hatte und dabei zufrieden lächelte. Es war Black. Sein Gesicht kannte Fogg aus Zeitungen, nur hatte er ihn noch nie im Profil gesehen. Black schien die Augen auf sich zu spüren, denn er drehte sich um und bemerkte Fogg.
„Entschuldigen Sie bitte, ich habe Sie gar nicht bemerkt.“ Black hielt dem Fremden kontaktfreudig die Hand entgegen und stellte sich vor, bevor er fragte: „Sind Sie Mr. Fogg? Wir haben einen Termin.“
„Ich …“ Fogg schüttelte nur sehr kurz die Hand des Mannes, dessen Haar er stehlen sollte. „Ja, ich bin Mr. Fogg.“
Fogg verlor nicht viele Worte. Er zögerte sogar einen Moment, als er von Sirius ins Haus hineingebeten wurde. Am Ende stand er doch im Flur und blickte sich aufmerksam um, als sein Gastgeber die Tür schloss.
„Darf ich Ihnen den Umhang abnehmen?“ Bei diesen Worten griff sich Fogg an die durch den Kragen bedeckte Kehle. „Nur“, beruhigte Sirius, „damit er ein wenig trocknen kann. Ein furchtbares Wetter, finden Sie nicht?“
„Ja“, erwiderte Fogg sehr unsicher und leise, woraufhin er ein zuversichtliches Lächeln von Sirius erntete. Auch bei dem Anblick der nun nicht mehr verdeckten Narbe am Hals verschwand dieses Lächeln nicht, nachdem Fogg sich bereitwillig den Umhang ausgezogen hatte, der von Sirius an der Garderobe untergebracht wurde. Sirius bedeutete seinem Gast, dass er ihm folgen sollte.
Auf dem Weg durch das warme und gemütliche Haus erklärte Sirius, als würde er wie vorhin schon über das Wetter reden: „Der Familienvater, der eben gegangen ist, wurde vor etlichen Jahren von einem Werwolf gebissen. Er hat danach mit seiner Frau mehrere Kinder bekommen, die alle bei den Großeltern leben mussten, weil es …“
„… verboten ist“, vervollständigte Fogg.
Sirius nickte. „Das wird sich bald ändern, Mr. Fogg. Wir können nämlich belegen, dass der Fluch nicht vererbt wird.“
„Tatsächlich nicht?“
„Nein. Haben Sie auch Kinder?“
Fogg schwieg.
Als sie in einer bäuerlich eingerichteten Küche angekommen waren, bot Sirius dem Gast einen Platz, darüber hinaus sogar noch etwas zu essen an. Fogg war sehr mager. Der Hunger übernahm die Leitung seines Sprachzentrums und bejahte unüberlegt, so dass ihm aufgetischt wurde. Deftiger Gemüseeintopf mit frisch gebackenem Brot. Im Waschbecken wurde gerade auf magische Weise Geschirr gespült, so dass Fogg annehmen musste, diese Freundlichkeit wurde jedem Gast zuteil – auch der Familie vor ihm.
Während Fogg aß und sich die vielen Informationen anhörte, mit denen sein Gastgeber ihn versorgte, betrachtete er dessen schwarzes langes Haar, das bis über die Schulter gewachsen war. Eines dieser Haare reichte aus, um sich für eine Stunde in Sirius Black verwandeln zu können. Dem Hals seines Gastgebers widmete er ebenfalls seine Aufmerksamkeit. Fogg stellte sich vor wie es sein würde, einmal nicht bei jeder Kopfbewegung die leichte Einschränkung zu spüren – das Ziehen am Hals, weil die vernarbte Haut nicht mehr nachließ, wenn er über seine Schulter sehen wollte.
„Und Sie?“
Der Löffel hielt auf halben Weg zum Mund inne, als Fogg bemerkte, dass er nicht zugehört hatte. „Wie bitte?“
„Ich fragte, ob Sie einen Beruf anstreben? Wissen Sie, es gibt ein paar Menschen, denen es egal ist, ob man ein Werwolf ist oder nicht. Ich könnte Ihnen einen Job vermitteln.“
„Wirklich?“ Man wollte Fogg bisher nicht mal als Hausmeister oder Feldarbeiter einstellen.
„Also haben Sie Interesse“, stellte erfreut Sirius fest. „Es kommt natürlich ein bisschen darauf an, was Sie im Leben alles gelernt haben, was Sie können. Waren Sie in Hogwarts?“
„Nein, ich hatte Privatunterricht.“
Verblüfft zog Sirius eine Augenbraue in die Höhe. Privatunterricht war genauso gut wie Hogwarts, nur sehr viel teurer.
„Dann war Ihre Familie reich?“
Fogg nickte und murmelte: „Ist sie noch.“
Während Fogg den Rest der Suppe mit dem Brot vom Teller fischte, war er sich des observierenden Blickes des Schwarzhaarigen bewusst. Gedankenverloren fuhr sich Sirius Black mit dem Daumen über die Lippen, während er Fogg musterte.
„Hat man Sie enteignet, nachdem Sie gebissen wurden?“ Die Frage traf Fogg so schmerzlich wie ein Cruciatus, weil er sie bejahen musste, was er nur mit einem Nicken tat. Bevor Black noch etwas fragen konnte, forderte er ihn dazu auf, diese Belange nicht mehr anzusprechen, doch Black hakte trotzdem nach. „Aber warum, Mr. Fogg? Ich frage Sie nämlich nur, weil es eine Möglichkeit gibt – schon immer gab –, auf rechtlichem Wege Ihr Eigentum zurückzuerlangen.“
Als ihm ein Ausweg aus seiner misslichen Lebenslage auf einem silbernen Tablett präsentiert wurde, begann Fogg schwer zu atmen. Das Eigentum zurückzuerlangen würde für ihn bedeuten, sich in einem – in seinem – prächtigen Herrenhaus niederlassen zu können, in dem Bedienstete jede Arbeit verrichten würden. Er könnte sich den Wolfsbanntrank sogar gegen Aufpreis nachhause liefern lassen oder gar einen eigenen Zaubertränkemeister einstellen. Er könnte wieder Gesellschaften geben, bei denen sich herausstellen würde, welche seiner Freunde trotzdem zu ihm standen. Er würde seine Frau wiedersehen. Und was für ein Spaß wäre es, ihre Eltern vom Grundstück zu verbannen, wie sie es mit ihm getan hatten, weil es angeblich das Beste für Clara sein würde?
„Mr. Fogg?“ Black klang besorgt.
„Es wäre möglich, mein Eigentum zurückzubekommen? Alles?“
„Ja, aber wenn Sie von diesem Gesetz Gebrauch machen möchten, Mr. Fogg, wird man von Ihnen erwarten, dass Sie auch Ihren gesetzlichen Pflichten nachkommen. Sie sind nicht als Werwolf registriert, oder?“ Fogg schüttelte den Kopf. „Ich werde Sie nicht dazu zwingen“, beteuerte Sirius, „auch wenn ich dazu verpflichtet bin, es zu melden. Mit einer Registrierung wird aber einiges für Sie anders werden, im positiven Sinne. Das Ministerium bezahlt für die monatlichen Tränke. Außerdem wird mit den neuen Gesetzen, die in naher Zukunft gelten werden, auch die arbeitsrechtliche Situation für Werwölfe geregelt.“
Wieder zeigte Sirius seine fachliche Kompetenz, in dem er Möglichkeiten aufzählte, die für Fogg ein besseres Leben versprechen würden, alles aber unter der Voraussetzung, dass sich der Werwolf registrieren würde. Nach einer ganzen Weile bat Sirius seinen Gast ins Wohnzimmer, indem Sid gerade noch ein paar letzte Worte an einen Kobold richtete. Dieser kleine Gast war der Grund, warum Sirius den Werwolf erst in die Küche geführt hatte.
„Ah, Duvall“, grüßte Sirius den dunkelhaarigen Herrn mit den stechend blauen Augen.
„Wir sind gleich fertig, Mr. Black.“ Duvall betrachtete den Herrn an Sirius‘ Seite, so dass Sirius es übernahm, die Männer miteinander bekannt zu machen.
Der Kobold, stellte sich heraus, war ein Mitglied des Bankvorstands von Gringotts. Duvall hatte ihn darüber informiert, dass die Bank nach der Gesetzesänderung mit viel Zulauf rechnen konnte, denn frei arbeitende Hauselfen wollten ihr Gehalt sicherlich auch gut untergebracht wissen. Der Kobold hatte zugestimmt, den Hauselfen mit geringeren Verliesführungsgebühren entgegenzukommen. Sehr bald verabschiedete sich der Kobold, dessen Name Fogg auch nach dem dritten Mal nicht auszusprechen wagte, so dass er mit Duvall und Black allein war.
Sid bot Fogg einen Platz auf der gemütlichen Couch neben sich an. Es war Sirius, der das Thema ansprach, das sie schon in der Küche angeschnitten hatten. Im Anschluss wandte sich Sid an den Gast.
„Dann möchten Sie also gern Ihr Eigentum zurück, Mr. Fogg? Das ist verständlich. Ich werde Ihnen gern helfen, den Antrag vorzubereiten. Aber erst nach Inkrafttreten der neuen Gesetze sollten Sie den Antrag einreichen. Auf diese Weise können wir verhindern, dass Ihre Verwandten das Vermögen an sichere Orte bringen und behaupten, es wäre nichts mehr zu holen. Erst nach den neuen Gesetzen wird nämlich nach Einreichung eines solchen Antrags sämtliches Kapital für beide Parteien eingefroren, bis die Sachlage geklärt ist. Deswegen ist es auch wichtig, dass Sie niemanden über Ihr Vorhaben informieren.“
Sirius warf ein: „Mr. Fogg ist noch nicht registriert.“
„Oh“, machte Sid, „dann sollten Sie das wirklich tun. Ansonsten würde man Ihnen diese Ordnungswidrigkeit negativ auslegen, den Antrag vielleicht sogar ablehnen. Es soll doch alles seinen rechten Weg gehen, nicht wahr?“
„Was muss ich dafür tun?“
„Um sich zu registrieren?“, fragte Duvall nach. Als Fogg nickte, zog er ein Formular aus einer Mappe. „Wir können es gleich tun, wenn Sie möchten. Dann wird der nächste Betrag für den Wolfsbanntrank schon vom Ministerium übernommen.“
Die Chance, die man ihm hier bot, machte Fogg sprachlos. Er überflog das Formular und nahm die ihm gereichte Feder entgegen, mit der er die Felder ausfüllte. Sein Auftrag, ein Haar von Sirius Black zu stehlen, schien nicht mehr die größte Priorität zu haben, aber dennoch hatte er dieses Vorhaben nicht vollständig abgeschrieben. Stringer würde ihm die Ohren langziehen, sollte er ohne Haar zurückkehren. Nachdem der Antrag ausgefüllt war, wurde ihm sofort ein Tränkepass überreicht, den er immer mit sich führen sollte.
Im Laufe des Abends informierten ihn die beiden Herren von der Initiative abwechselnd über seine vielen Möglichkeiten, über Jobangebote, über finanzielle Hilfen und …
„Haben Sie einen Wohnsitz, Mr. Fogg?“, fragte Sid.
„Mit einem Freund teile ich mir ein Zimmer im ‘Gehängten‘.“
Sirius verzog das Gesicht. „Den Laden gibt’s noch?“
„Was mein Kollege damit sagen möchte, ist“, Sid blickte Sirius maßregelnd an, „dass es preiswerte Unterkünfte für Menschen wie Sie gibt, die jedoch in weniger zwielichtigen Gegenden liegen und auch wesentlich besseren Service bieten.“ Sids Augen ruhten einen Augenblick auf der Garderobe des Gastes. „Und Sie könnten auch von Kleiderspenden profitieren, wenn Sie nicht über genügend finanzielle Mittel verfügen.“ Unangenehm berührt durch die Anspielung auf seine schäbige Kleidung rutschte Fogg auf seinem Platz hin und her. „Mr. Black wird Ihnen eine Liste mit Adressen geben.“
Da er noch andere Dinge zu erledigen hatte, verabschiedete sich Sid freundlich von den beiden. Sirius nahm Sids Platz direkt neben Fogg ein, um ihm Formulare und Listen mit Anlaufstellen zu überreichen. Zu jedem Pergament lieferte er Erklärungen und beantwortete offene Fragen.
„Zum Abschluss einen Sherry?“ Sirius wartete nicht einmal auf eine Zustimmung, sondern ging bereits hinüber zum Alkoholschränkchen. Während er die Gläser bereitstellte und die richtige Flasche zwischen den vielen suchte, erzählte und erzählte er. In dieser Zeit kämpfte Fogg mit sich. Er brauchte dem Gastgeber zum Abschied nur einmal freundschaftlich auf die Schulter klopfen, um an ein Haar zu gelangen. Und dann? Nicht Stringer, sondern er müsste sich in Black verwandeln, denn der Fluch seines Freundes war übergreifend – er würde auch als Sirius Black nach altem Schweiß riechen. So müsste er selbst die Gestalt eines Mannes annehmen, durch dessen Hilfe er wieder sein Grundstück, sein Haus und den Inhalt seines Verlieses erhalten könnte. Fogg seufzte und blickte zur Seite. Auf dem hellen Stoff der Rückenlehne bemerkte er ein schwarzes Haar; es war zum Greifen nahe. Instinktiv nahm er es an sich und stopfte es hinter den Tränkepass in seine Brusttasche, gerade noch rechtzeitig, bevor Black sich ihm näherte, um ihm ein Glas Sherry zu reichen.
„Auf Ihr Wohl, Mr. Fogg.“
„Nein, auf Ihr Wohl und vielen Dank für alles.“
Den Heimweg über schüttete es kräftig. Trotzdem ging Fogg einige Straßen zu Fuß, weil seine Gedanken sich überschlugen. Er könnte das Haar hier irgendwo fallen lassen, damit das Wasser am Bordstein es in den nächsten Einlaufschacht in die Kanalisation spülen würde, dann wäre die Sache vergessen, wenn es nicht noch Stringer geben würde, der auf das Geld von Hopkins hoffte. Seinen Freund konnte er nicht enttäuschen. Wenn er ihm nur sagen könnte, dass er in einigen Monaten vielleicht wieder über sein gesamtes Hab und Gut verfügen würde. Natürlich müsste sich dann auch sein Freund keine Sorgen mehr machen. So wie Stringer sich nach dem Biss um ihn gekümmert hatte, ihn versorgt und für ihn das erste Mal einen Wolfsbanntrank gestohlen hatte, so würde sich Fogg gern darum kümmern, dass der Fluch gebrochen wurde, der auf Stringer lastete. Immer wieder fuhr sich Fogg durchs nasse Haar. Er wusste nicht, was er tun sollte.
Dieses ohnmächtige Gefühl war auch Hermine nicht fremd. Sie wusste nicht weiter. Nach unzähligen Nachrechnungen war sie sich sicher, dass das Ergebnis stimmte, aber sie wurde nicht schlau daraus. Kein Buch über Arithmantik konnte weiterhelfen. So saß sie verzweifelt über ihrer fünf Seiten langen Lösung und stieß Schimpfwörter aus, die jedem anständigen Menschen die Schamesröte ins Gesicht treiben würden. Zum Glück war Severus heute nicht hier. Er benötigte nach seiner Verausgabung eine kleine Auszeit, die sie ihm natürlich nicht verwehren wollte.
„Wen kann ich nur fragen?“
Maunzend antwortete ihr Fellini, da er glaubte, sie hätte mit ihm gesprochen. Den Kater zu kraulen beruhigte sie wieder. Sein Schnurren war Balsam für ihre aufgewühlten Nerven.
Arithmantik. Hermine konnte sich nicht mal mehr daran erinnern, ob einer ihrer engen Freunde dieses Wahlfach belegt hatte. Unweigerlich musste sie an die Einzige denken, die ihr weiterhelfen könnte: Septina Vektor. Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, ob sie damit Severus‘ Privatsphäre verletzten würde, legte Hermine ihre Berechnungen und die Lösung in eine Mappe und machte sich per Apparation auf nach Hogwarts.
Die Tore ließen sie passieren. Den Weg zum Schloss wollte sie trotz des Regens nutzen, um sich Worte zurechtzulegen, wie sie ihr Anliegen erklären könnte. Professor Vektor war nicht dumm. Aus den Werten könnte sie mit Hilfe von Tabellen mit Leichtigkeit die Dinge herausbekommen, die sich hinter den Zahlen verbargen, die Zutaten, die Feder der Animagusgestalt und wenn sie sich Mühe gab, auch die fehlende Seele, für die die Lösung stand. Sie war uneins mit sich selbst, ob sie ihren Weg fortsetzen oder lieber kehrtmachen sollte. War Severus‘ Wunsch nach Verschwiegenheit wichtiger als ein Heilmittel für ihn? Hermine verneinte innerlich, als sie den Rundbogen durchquerte, der ins Schloss führte. Dass ihre Kleidung bereits triefte, bemerkte sie erst, als Filch ihr im Eingangsbereich einen fiesen Blick zuwarf. Neben ihm stand ein Mob. Der von ihm frisch gewischte Boden war mit ihren matschigen Fußabdrücken übersät.
„Das tut mir furchtbar leid, Mr. Filch.“ Dank ihres Zauberstabs war nicht nur der Boden wieder sauber, sondern auch ihre Kleidung trocken.
Den Weg zum Klassenzimmer von Professor Vektor kannte Hermine bestens. Dort hatte sie einige der schönsten Schulstunden ihres Lebens erfahren. Der Unterricht war immer ruhig und gemütlich gewesen, aber dennoch durchstrukturiert wie der von Severus. In der Nähe des Klassenzimmers befanden sich die privaten Räume der Lehrerin. Als sie an der Tür stand, überkamen sie erneut Zweifel, ob sie Professor Vektor einweihen durfte. Bevor sie vor der einzigen Möglichkeit, die Lösung zu entschlüsseln, Reißaus nahm, klopfte sie.
„Herein!“, hörte man von drinnen. Zaghaft öffnete Hermine die Tür. Professor Vektor saß am Wohnzimmertisch und korrigierte die Hausaufgaben von Schülern. „Hermine?“, kam es zunächst erstaunt, dann viel freundlicher, „Was machen Sie denn hier? Treten Sie doch ein.“
„Guten Abend, Septina“, grüßte sie vertraut, denn während ihrer Lehre bei Severus hatte sie das Kollegium durchweg beim Vornamen nennen dürfen. „Ich hoffe, ich störe Sie nicht.“
„Nicht doch, nicht doch. Setzen Sie sich bitte. Darf ich Ihnen etwas anbieten?“
Dankend schlug Hermine das Angebot aus. „Ich würde nur gern einen Augenblick Ihrer Zeit in Anspruch nehmen. Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.“
„Aber gern, um was geht es denn?“
Aus ihrer Tasche zog sie die Mappe mit der gesamten Berechnung, nahm aber nur die letzten fünf Seite mit der Lösung, die sie an Septina weitergab. „Ich habe da ein arithmantisches Ergebnis erhalten, aber es sagt mir einfach nichts. Alles nach dem Gleichheitszeichen ist für mich komplizierter als der Rechenweg davor.“
Septina beäugte das erste Pergament sehr aufmerksam. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie das zweite in Augenschein nahm.
„Darf ich den Rechenweg sehen?“ Weil keine Antwort kam, blickte Septina auf. Wie versteinert saß Hermine auf dem Sessel. „Hermine, ich würde gern die Rechnung sehen. Vielleicht sagt mir das Zahlenchaos dann etwas.“
„Heißt das, Sie wissen auch nicht, was es ein kann?“
Septina lächelte zuversichtlich. „Ich habe eine vage Ahnung, die ich bestätigt wissen möchte. Deswegen benötigte ich alle Unterlagen.“
Stockend griff Hermine nach der Mappe, doch sie gab sie nicht her, sondern presste sie stattdessen an ihre Brust, als würde ihr Leben davon abhängen. „Das ist sehr persönlich, Septina. Ich dürfte Ihnen nicht einmal das Ergebnis zeigen, aber die Situation ist so verfahren.“
„Sie beleidigen mich, Hermine. Den Ruf einer Klatschtante hatte ich nie inne. Ich habe nicht einmal die Vermutung laut geäußert, dass die Pflanze, die Harry ständig mit sich herumtrug, von Ihnen stammte.“ Als Hermine aufblickte, zwinkerte Septina ihr zu. „Ich habe Recht, oder? Mit der Pflanze, meine ich.“
„Ja, aber das hier“, sie strich über die lederne Mappe, „ist etwas ganz anderes.“
„Ich werde nicht herumposaunen, dass Sie meine Hilfe benötigen, Hermine. Manchmal, diese Erfahrung habe ich während des Krieges gemacht, muss man einfach vertrauen können.“
Diese Worte hatten Hermine überzeugt, so dass sie die Mappe mit ihren Berechnungen, die so viel Mühe und Zeit gekostet hatten, an Septina übergab. Als die Lehrerin für Arithmantik sie aufschlug, stutzte sie beim Anblick der Menge.
„Ein wenig“, sie blätterte, „umfangreich, Ihre Berechnungen. Aber ich bin so hocherfreut darüber, dass Sie sich nach der Schule noch mit diesem Thema befassen, dass ich Ihnen verspreche, alles komplett durchzurechnen.“
„Was?“
„Natürlich nicht jetzt, das würde ich gar nicht schaffen. Lassen Sie mir Ihre Unterlagen hier und …“
Hermine unterbrach. „Nein, das geht nicht. Ich kann das nicht einfach hier bei Ihnen lassen. Es muss einen anderen Weg geben!“
„Wie soll ich auf die Schnelle eine so komplexe Aufgabe auf ihre Richtigkeit überprüfen?“
Es war keine gute Idee gewesen, Septina um Hilfe zu bitten, denn wieder kamen die Zweifel auf, mit denen Hermine vorhin schon kämpfen musste.
Am Gesicht ihrer ehemaligen Schülerin erkannte Septina den inneren Zwiespalt an den kleinen Fältchen, die sich über ihrer Nasenwurzel gebildet hatten. Das war während der Schulzeit genauso gewesen, wenn Hermine an einer wirklich kniffligen Berechnung gesessen hatte. Aber da war noch etwas anderes an ihrem Gesichtsausdruck auszumachen. Septina glaubte zu sehen, dass Hermines Aussichtslosigkeit so groß schien, dass sie sogar bereit war, etwas zu tun, was ein Versprechen brechen würde.
„Hermine?“ Als ihr Gast aufblickte, erschrak Septina, denn in Hermines Gesicht hatte sich nun der gesamte Konflikt niedergeschlagen, den sie durchmachte. Die Augen wirkten traurig, die Mundwinkel waren nach unten gezogen und die Stirn war in Falten gelegt. Ihre ehemalige Schülerin, die jetzt Mitte zwanzig sein musste, wirkte mindestens zehn Jahre älter. „Hermine, wie kann ich Ihnen nur versichern, dass ich Ihre Berechnungen mit Respekt behandle? Haben Sie Angst, dass ich Ihnen Ihre Arbeit stehle und als meine ausgebe?“
Sie schüttelte den Kopf und schnaufte. „Nein, das ist es ganz sicher nicht. Wenn es funktioniert, dann können Sie die Berechnungen ruhig behalten, verkaufen oder ein Buch drüber schreiben, das ist mir gleich. Die Hauptsache ist nur, dass es funktioniert. Das ist so wichtig für mich und wichtig für …“
Die Befürchtung, ihre Mühen könnten doch umsonst gewesen sein, schnitten Hermine das Wort ab. Sie benötigte Hilfe, um ihre Sache beenden zu können. Gedankenverloren knabberte sie an ihrem Daumennagel. Wie ein gefangenes Tier lief sie unruhig in Septinas Wohnzimmer auf und ab, zerbrach sich dabei den Kopf darüber, welche Entscheidung sie verantworten könnte. Würde Severus erfahren, dass sie Septina eingeweiht hatte, war es nicht auszuschließen, dass er sie für diesen Vertrauensbruch nicht mehr sehen wollte. Das war nur ein kleines Übel im Vergleich zu der Chance, ihm zu einer vollständigen Seele zu verhelfen. Um ihm das zu ermöglichen, würde sie eine persönliche Niederlage in Kauf nehmen. Die Entscheidung, auch wenn sie die nur schweren Herzens fällen konnte, stand fest.
„Behalten Sie die Berechnung hier“, sagte Hermine mit zittriger Stimme. „Ich drücke Ihnen die Daumen.“
„Sollte ich Fragen haben, werde ich Sie kontaktieren, Hermine. Sie besitzen die Apotheke in der Winkelgasse, wie ich hörte?“
Zu mehr als nur einem Nicken war Hermine nicht mehr fähig. Ihr Herz schlug wie wild. Jetzt schon erwartete sie ein Donnerwetter, sollte Severus eines Tages davon erfahren. Sie warf einen letzten Blick auf die Mappe in Septinas Händen, bevor sie das Wohnzimmer verließ und sofort den Heimweg antrat. Sie durfte nicht riskieren, dass Severus sie durch Zufall hier in Hogwarts sehen würde. Ihm würde ihre niedergeschlagene Stimmung sofort auffallen und er würde sie solange nach einem Grund fragen, bis sie seiner Fragerei nicht mehr standhalten könnte.
Es kam, wie es kommen musste. Als sie die Ländereien von Hogwarts überquerte, um zum Tor zu gelangen, sah sie in der Ferne Severus und den Hund. Letzterer kam so schnell auf sie zugeprescht wie der Hogwarts-Express. Severus benötigte für die Strecke etwas länger, aber er schien sich genauso über die unerwartete Begegnung zu freuen wie sein Hund. Durch den Regen waren die unzähligen Locken in Hermines Haaren herausgewaschen und es hing schwer an ihrem Körper hinunter. Severus betrachtete es von oben bis unten.
„Was ist?“, wollte sie wissen.
„Wenn es nicht gewellt ist, geht dein Haar bis zum …“ Ein angedeutetes Lächeln war auf ihrem Gesicht zu sehen. Seit vielen Jahren hatte sie nur noch die Spitzen schneiden lassen. Offenbar war sie nicht die Einzige, die langes Haar mochte. „Warum bist du denn so durchnässt?“, fragte er, um von seinem unvollendeten Satz abzulenken.
„Möglicherweise weil es regnet?“, entgegnete sie scherzhaft.
„Das ist mir nicht entgangen, aber dagegen gibt es doch einen Zauber.“
Mit seinem Zauberstab trocknete er zunächst Hermines Kleidung und ihr Haar, bevor er einen Impervius-Zauber sprach. An den hatte sich gar nicht mehr gedacht, obwohl sie in der dritten Klasse damit Harrys Brille gegen Wasser imprägniert hatte, damit er bei strömendem Regen gegen Hufflepuff Quidditch spielen konnte. Jetzt war sie fast vollständig gegen das schlechte Wetter gefeit.
„Möchtest du uns etwas begleiten?“ Severus schaute zu Harry hinüber und Hermine folgte seinem Blick. Der Hund mochte den Regen. Aufgeregt hüpfte er im Gras umher und jagte Frösche, die vor ihm fliehen wollten.
„Ja gern.“
Sie waren keine drei Schritte nebeneinander gegangen, da fragte er bereit: „Was bedrückt dich?“
Wie sie es befürchtet hatte, fragte er mehrmals, weil sie nicht antwortete. Um ihn zum Schweigen zu bringen, nahm sie einfach seine Hand, als sie dem Hund hinterherschlenderten, der mehrmals wahllos die Richtung wechselte. Manchmal blickte Severus gen Himmel. Hermine wusste, was seine Aufmerksamkeit erlangt hatte, aber er selbst sprach es an, als er mit den Augen der einen Eule folgte, die den Weg zur Eulerei einschlug.
„Ich frage mich, wie es wäre, im Regen zu fliegen.“
„Das wirst du nur herausfinden, wenn du es mal machst.“ Sie zerrte zaghaft an seiner Hand, so dass er sie anblickte. „Kannst es jetzt mal versuchen.“
„Nein, lieber nicht auf dem Schulgelände. Jemand könnte mich sehen.“ Wachsam blickte er sich um, dann hielt er abrupt inne. „Ist das da drüben etwa …“
Hermine schaute in die gleiche Richtung und erkannte die Person. „Das ist Albus.“
Auf der Stelle ließ Severus ihre Hand los, was sie kommentieren musste. „Bin ich dir so peinlich?“
„Natürlich nicht, aber ...“ Es war neu für sie, offenbar auch für ihn, dass er nicht mehr imstande war, Sätze zu beenden, obwohl das eine Angewohnheit war, die er bei anderen Menschen verabscheute. Ohne Scheu ergriff er wieder nach ihrer Hand. „Möchtest du noch auf einen heißen Tee mit reinkommen?“
Wie schon bei Septina lehnte sie auch bei ihm dankend ab. „Ich werde lieber nachhause gehen und mal richtig ausschlafen.“
„Dann sehen wir uns Morgen?“
„Machen wir übermorgen draus. Dann hat jeder noch etwas Ruhe.“
Diese Ruhe war ihm offenbar nicht willkommen. Severus machte sich nicht einmal die Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen. Ihr lag jedoch viel daran, den nächsten Tag damit zu verbringen, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Vielleicht, wenn sie den Mut dazu aufbringen könnte, würde sie ihm erzählen, dass sie die Berechnungen von einer weiteren Person überprüfen ließ. Sie hoffte innig, dass er wenigstens noch soweit mit ihr kooperieren würde, bis sie den Heiltrank gebraut hatte.
„Wie du meinst. Dann wünsche ich dir noch einen guten Abend, Hermine.“
„Dir auch, Severus.“
Während Hermine das schuleigene Grundstück verließ, rief Severus den Hund, um den Heimweg einzuschlagen. Albus wartete noch immer am überdachten Eingang. Je näher Severus dem Direktor kam, desto deutlicher wurde, dass er etwas in den Händen hielt. Es sah wie ein Umschlag aus.
Durch den Regen, der auf die Ziegel schlug, war es im überdachten Gang sehr laut, so dass Albus ihn nicht ansprach, sondern mit einer Handbewegung erst dazu aufforderte, ihm ins Schloss zu folgen. Im leeren Eingangsbereich kamen sie zum Halt.
„Eben ist für dich eine Eule gekommen, Severus. Sie konnte dich nicht finden und flog zu mir. Das arme Ding war völlig durchnässt.“ Severus machte die gedankliche Notiz, dass Eulen nicht wie Enten wasserabweisende Federn besaßen – seine Animagusform sicherlich auch nicht. „Hier.“ Albus überreichte ihm den großen feuchten Umschlag. Die mit Tinte geschriebene Adresse war etwas verlaufen, aber man konnte sie noch lesen. „Ich hoffe“, begann Albus, „ich habe euch nicht gestört.“ Sein Bart konnte das Schmunzeln nicht verbergen.
„Nein, Hermine wollte sowieso gerade gehen.“
Nach diesen Worten marschierte Severus in die Kerker, gefolgt von Harry, der den Eingangsbereich mit vielen großen Abdrücken seiner Pfoten verzierte. Erst vor der Tür war Severus so umsichtig, den Hund per Zauber zu trocknen und zu säubern, denn er wollte keinen Schmutz in seinen Räumen.
Den Umschlag öffnete Severus auf der Stelle. Was zum Vorschein kam, machte ihn sprachlos. Es war ein Bild, aber nicht irgendeines, sondern ein bewegtes Foto von Hermine, die – wie gerade eben – traurig dreinblickte. Sie saß auf den Stufen eines Korbflechters, von dessen handwerklichen Arbeiten sie umgeben war. Unbewusst legte Severus den Kopf schräg, während er das Bild genau musterte. Er zog die Möglichkeit in Betracht, dass ihm sie damit womöglich etwas sagen wollte, doch er fand keinen Hinweis. Nochmals nahm er den Umschlag zur Hand. Trotz der verschwommenen Tinte war ihre Handschrift auszumachen, aber er konnte sich bei bestem Willen nicht erklären, was dieses Bild für eine Bedeutung haben sollte.
Ohne damit zu rechnen, etwas zu finden, drehte er das Foto um. Tatsächlich befanden sich dort zwei Zeilen. Ihre Handschrift war eindeutig, er kannte sie in- und auswendig. In geschwungenen Buchstaben las er die Worte „Ich habe so viele Körbe von dir bekommen, damit könnte ich glatt ein eigenes Geschäft eröffnen.“. Severus blinzelte einige Male, falls seine Augen ihn getäuscht haben sollten, doch als er nochmals las, wieder und wieder, veränderte sich die Aussage des Satzes nicht. Er musste kräftig schlucken.
Die Vermutung lag nahe, dass Hermine deswegen heute hier gewesen war. Es könnte sein, vermutete er, dass sie den Brief abfangen wollte, weil sie es sich anders überlegt hatte. Oder sie wollte seine Reaktion sehen, doch dann hätte sie die Einladung nicht ausgeschlagen. Das kurze Treffen mit ihr ließ er, so gut er es noch in Erinnerung hatte, Revue passieren. Sie schien mit sich im Zwiespalt gewesen zu sein. Die ganzen Zurückweisungen seinerseits – die Körbe – waren allesamt nur einem Thema zugeordnet. Vor seinem inneren Auge sah Hermines unglücklichen Ausdruck und den, das nahm er sich fest vor, würde er das nächste Mal aus ihrem Gesicht zaubern. Oder auch erst, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen war.
Der Regen, der in vielen Teilen des Landes niederschlug, wollte sich nicht verziehen. Verdunkelnde Wolken zogen auf und ließen der Abendsonne keine Chance, sich für heute zu verabschieden.
In der Winkelgasse war scheinbar niemand mehr unterwegs, außer Hermine, die vor ihren Eingang apparierte und sich schnell vor den geöffneten Schleusen des Himmels in Sicherheit brachte.
Ein paar Ecken weiter bog Fogg gerade neben Flourish und Blotts ab und betrat die Nokturngasse, die wegen des regnerischen Wetters bestialisch stank. Feuchter Müll verströmte einen üblen Geruch. Bei Hunden war es nicht anders, dachte Fogg, denn wenn die nass wurden, rochen sie auch wesentlich unangenehmer. Der Fluch, unter dem Stringer litt, war ganz ähnlich, denn je öfter er sich wusch, desto penetranter wurde der Gestank. Mehr als einmal die Woche war zu einem heißen Bad nicht zu raten. Kurz nach dem Bad hatte man für ungefähr eine Stunde Ruhe von den Geruchsbelästigungen, doch danach begann es von Neuem und zudem viel stärker. Der Fluch war unbekannt und entsprang einem vererbten Familienbuch von Stringers Frau. Er war sicherlich zu brechen, aber damit musste sich ein Fachmann auseinander setzen.
Im Gasthaus „Der Gehängte“ angekommen betrat Fogg den leeren Schankraum. Der Wirt hatte nur wenig Licht entzündet, denn offenbar rechnete er nicht mit Gästen und wollte deswegen Kerzen sparen. Von einem Balken in der Mitte des Raumes baumelte der Geist des Gehängten. Fogg war so leise wie möglich. Eine Unterhaltung mit dem Geist wollte er auf jeden Fall vermeiden.
Am Zimmer angelangt öffnete er die Tür. Der vertraute Geruch von Stringer schlug ihm konzentriert entgegen.
„Meine Güte, warum hast du das Fenster zugemacht?“
Stringer blickte von seiner Zeitung auf. „Es regnet! Reicht es nicht, wenn es durch das Dach tropft? Die Fenster sind auch nicht dicht. Sieh mal …“ Stringer deutete auf das Fensterbrett, auf dem sich eine Wasserlache gebildet hatte.
„Hast du den Wirt benachrichtigt? Dagegen muss es doch einen Zauberspruch geben.“
„Er sagte, er hätte keine Bücher über Handwerkszauber.“ Die Zeitung legte Stringer auf den Tisch, um sich seinem Freund zuzuwenden. „Hast du das Haar?“
Fogg bejahte nicht, sondern wechselte unerwartet das Thema. „Vielleicht sollten wir aussteigen?“
„Aussteigen? Und wann glaubst du, wird uns das nächste Mal jemand so viele Pfund für einen Job bieten?“
„Jemanden zu entführen kann man schlecht als ‘Job‘ bezeichnen“, murmelte Fogg.
„Warum willst du aussteigen? Weil du das Haar nicht bekommen hast, richtig? Ich wusste, dass du es vermasseln wirst.“
Wütend griff Stringer nach einer Flasche Whiskey und bemühte sich nicht um ein Glas. Nach zwei kräftigen Schlucken knallte er die Flasche auf den Tisch, bevor er Fogg von oben bis unten betrachtete. Anstatt etwas zu sagen oder ihm Gemeinheiten an den Kopf zu werfen, setzte Stringer die Flasche erneut an seine Lippen. Erst dann fragte er erneut.
„Hast du nun ein Haar bekommen oder nicht?“
„Ja, ich habe eines“, beteuerte Fogg, der gleich darauf in seiner Brusttasche danach suchte. Als er es hinauszog, fiel dabei etwas Helles heraus.
„Was ist das?“ Stringer war schneller, als er sich bückte und den Gegenstand vom Boden auflas. Es war ein gefaltetes Stück Pergament mit dem Siegel des Ministeriums. „Was zum Teufel …?“
„Ich habe mich registriert“, offenbarte Fogg.
Stringer benötigte einen Moment, um diese Tatsache zu verarbeiten, doch dann brach sein ganzer Zorn aus. „Bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Du warst doch derjenige, der sich über zehn Jahre gesträubt hat, seinen guten Namen in den Schmutz zu ziehen und jetzt verbringst du ein paar Stunden bei diesem bescheuerten Verein und was machst du? Lässt dich bequatschen und dich offiziell als Werwolf registrieren.“ Wutschäumend schleuderte Stringer ihm den bandneuen Tränkepass entgegen.
Auf die anfeindenden Worte ging Fogg gar nicht ein, denn er hatte im Gegensatz zu Stringer die Aussicht auf ein einigermaßen normales Leben in Reichtum. Reichtum, den er mit seinem Freund zu teilen bereit war. Zwar war Stringer sein bester Freund, aber sollte er ihm von diesen Aussichten erzählen, wäre damit zu rechnen, dass Stringer wieder alles auf die Schnelle erledigt haben wollte. Sein Freund würde wieder alles überstürzen, ihn dazu drängen, schon früher das Vermögen zurückzuholen, deswegen sagte er ihm nichts.
„Wir sollten Hopkins den Rücken kehren. Man hat mir Listen gegeben. Hier, schau …“ Aus der Innentasche seines Umhangs fischte er die Informationsblätter heraus. „Hier stehen Arbeitgeber, die auch Werwölfe einstellen. Und hier steht“, er tippte auf eine bestimmte Stelle, „dass der Wolfsbanntrank vom Ministerium bezahlt wird.“
„Wir haben ihn auch immer so bekommen, warum plötzlich einen auf ehrlich machen?“, schnauzte sein Freund ihn an.
„Ehrlich währt am längsten“, war das Einzige, was Fogg ihm entgegnete.
Stringer schnaufte ungläubig. „Wo ist das Haar?“
Widerwillig gab Fogg es ihm. „Vielleicht ist das gar nicht nötig, um an Geld zu kommen. Wir sollten abwarten.“
„Und Tee trinken? Tee, den wir uns nicht einmal kaufen könnten, hätten wir von Hopkins nicht den Vorschuss bekommen oder die Süße aus der Apotheke beklaut.“ Stringer schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe alles genau geplant. Ich habe erfahren, wann wir zuschlagen können und es passt bestens mit dem Vielsafttrank zusammen, der bald fertig sein müsste.“
„Wie kannst du irgendwas geplant haben?“
„Ich habe erfahren, wann wir Potter abfangen können, der war nämlich heute hier, mit seiner Verlobten!“
Fogg machte ganz große Augen. „Hier? Bei dir?“
„Sei nicht albern! Ich meine hier in der Winkelgasse. Haben sich wohl ihre Hochzeitsgarderobe angesehen. Die beiden kommen noch zweimal her: Einmal für eine weitere Anprobe und wenn es da nichts zu meckern gibt, um sie beim zweiten Besuch abzuholen. Wir haben zwei Chancen“, Stringer warf Fogg einen warnenden Blick zu, „also vermassel nur eine, wenn es überhaupt sein muss.“
„Ich vermassel schon nichts. Du hast doch das Haar oder etwa nicht?“
„Ja, aber du bist derjenige, der sich in Black verwandeln muss!“
Das Haar der besagten Person steckte Stringer in einen Umschlag, den er nicht versteckte, sondern in seiner Brusttasche verschwinden ließ. Fogg hatte das beobachtet.
„Traust du mir etwa nicht?“
Stringer zog ein Gesicht. „Ich traue dem Wirt nicht! Und dem Geist auch nicht. Der Vielsafttrank ist unsere einzige Chance, Potters Vertrauen nicht erst gewinnen zu müssen, damit er uns folgt, denn er vertraut seinem Patenonkel, richtig?“
Gedankenverloren nickte Fogg, als er vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen sagte: „Es ist bald Vollmond. Am dritten Juni.“
„Na, da brauchst du mich ja nicht mehr. Hast ja jetzt deinen echten Pass.“ Für Stringer war die Unterhaltung damit erledigt, so dass er sich wieder seiner Zeitung und auch der Flasche Whisky widmete.
Jetzt hieß es: warten.
Das Warten war auch für Severus nur schwer zu ertragen, aber wie versprochen kam er erst am übernächsten Tag zur Apotheke, um beim Brauen zu helfen, die frisch gelieferten Zutaten einzuräumen und sich um den Vielsafttrank zu kümmern. Hermine war im Verkaufsbereich und hatte alle Hände voll zu tun, denn die ersten Werwölfe wollten sich für die Tränke anmelden. Sie kamen wahrscheinlich so früh, weil sie nicht riskieren wollten, wegen zu vieler Reservierungen abgewiesen zu werden. Ausnahmslos jeder lobte den Geschmack des Trankes. Das war auch der Grund, warum so viele Werwölfe ihn bei ihr einnehmen wollten.
Nach 18 Uhr schloss Hermine erleichtert das Geschäft. Der Tag war anstrengend gewesen, aber das Schlimmste war, dass sie Severus noch etwas beichten musste, nämlich dass Septina sich die Berechnungen anschaute. Sie stählte ihre Nerven und wollte gerade ins Labor gehen, da kam Severus heraus und ging an ihr vorbei. Er hatte seinen Umhang übergeworfen und Harry an der Leine.
„Willst du schon gehen?“
Abrupt hielt er an und drehte sich um. „In zwei Stunden bin ich wieder da. Ich habe drei Besichtigungstermine.“
„Was den für Besichtigungstermine?“
„Zwei Wohnungen und ein Haus. Die Wohnungen sind ganz in der Nähe, das Haus außerhalb von London.“
„Darf ich mitkommen?“ Sie war neugierig, aber es interessierte sie auch sehr, auf was er bei einem Zuhause achtete.
„Von mir aus.“
Die erste Wohnung lag in der Winkelgasse, aber ziemlich am Ende, beziehungsweise an einem Ende. Die Räume lagen direkt über einer Bäckerei. Severus ahnte bereits, dass er morgens ab drei Uhr mit Lärmbelästigungen zu rechnen hätte, wenn der Bäcker mit seiner Arbeit begann. Eine junge Frau führte sie in die Wohnung. Sie war groß und ausladend – die Wohnung im ersten Stock allerdings auch. Die füllige Frau war sehr darauf erpicht, nur die positiven Aspekte zu nennen. Als Severus ein Mauseloch in der Wand ausmachte, sprach er sie darauf an.
„Probleme mit Nagern?“
Die Frau lächelte, was sie noch pausbäckiger aussehen ließ. „Hatten wir, ist aber schon lange beseitigt. Wenn Sie möchten, werden wir das Holz erneuern.“
„Und mir dann auf die Miete aufschlagen?“
Hermine griff das Thema auf. „Wie viel beträgt die Miete überhaupt?“
„860 Galleonen“, erwiderte die rundliche Dame.
Sehr erbost warf Severus ein: „Das ist mehr als manch einer verdient!“
„Die Winkelgasse ist nun einmal die beliebteste Einkaufsstraße …“
Severus fuhr ihr über den Mund. „Bitte ersparen Sie mir Belehrungen über wirtschaftliche Aspekte. Der Preis ist zu hoch und für die Wohnung nicht angemessen.“
„Wir könnten …“
Wieder schnitt er ihr das Wort ab. „Vielen Dank, ich nehme lieber Abstand von dem Angebot. Ich habe noch andere Termine.“
Den ganzen langen Weg der Winkelgasse gingen Severus und Hermine wieder zurück, bis sie am anderen Ende beim Tropfenden Kessel angelangt waren.
„Du willst doch nicht hier ein Zimmer nehmen?“, fragte sie verwundert.
„Nein, ich möchte nur nach Muggellondon gelangen. Ganz in der Nähe führt ein Squib ein Mietshaus.“
Im Tropfenden Kessel war schon kräftig Stimmung. Die Besucher der Winkelgasse ließen hier gern nach Ladenschluss ein paar Galleonen springen, um bei einem Butterbier oder Feuerwhisky den Tag ausklingen zu lassen. Hermine ging dicht hinter Severus und weil die Menschen so drängten, fühlte sie sich sicherer, als sie seinen Umhang packte.
Die Tür nach London war schnell überwunden. Beide standen mit dem Hund auf der Straße der Muggelwelt. Severus blickte an seiner Seite hinunter und erspähte ihre Hand, die sich in seinen Umhang krallte. Hermine ließ sofort los. Gleich darauf fiel ihr etwas auf.
„Severus, dein Umhang. Wirst du nicht auffallen?“
Mit einem Wutsch seines Stabes trug er einen leichten schwarzen Mantel. Niemand auf der belebten Straße hatte die Veränderung bemerkt. Es begann wieder leicht zu nieseln.
Wegen Harry benötigten sie einige Zeit, um voranzukommen, denn der Hund schnüffelte an jeder Laterne, an jedem Papierkorb und an den Häuserwänden. Vorsichtshalber hatte Hermine, weil der Regen immer stärker wurde, aus einer weggeworfenen Zeitung im Handumdrehen einen Regenschirm gezaubert, damit es nicht auffiel, dass sie nicht nass wurden.
Als ihnen ein junges Mädchen mit einem Golden Retriever an der Leine entgegenkam, spitzte Harry aufmerksam die Ohren. Bis auf Fang und Tatze hatte er noch keinen anderen Hund gesehen. Von der Art her sahen Kuvasz und Golden Retriever nicht sehr verschieden aus. Harry war einige Zentimeter größer und schneeweiß, außerdem ungewöhnlich aufgeregt, als der beigefarbene Hund näher kam. Wie wild zog Harry an der Leine, fixierte dabei das andere Tier.
Das Mädchen, höchstens zehn Jahre alt, hatte arge Schwierigkeiten, ihren Hund zu halten und mit der anderen Hand den pinkfarbenen Regenschirm gegen den Wind auszubalancieren. Noch aus der Ferne fragte sie: „Ist Ihr Hund ein Junge?“ Hermine bejahte, woraufhin das Mädchen kommentarlos den Bürgersteig wechselte.
„Was sollte das?“, fragte Severus irritiert. Wie sein Hund blickte er zur anderen Straßenseite hinüber, auf dem der Golden Retriever temperamentvoll an der Leine zerrte, um zu Harry zu gelangen. Auch Harry zog an seiner Leine, doch Severus hatte sie fest im Griff.
„Ich nehme an, die Hundedame befindet sich gerade in der Zeit der Hitze. Deswegen die Frage von dem Mädchen, ob Harry männlich ist.“
Als sie ihren Weg fortsetzten, wurden sie durch Harrys ständige Fluchtversuche gestört, denn er schmeckte die holde Weiblichkeit noch immer mit seinem Gaumen. Seine beinah 200 Millionen Riechzellen informierten ihn darüber, wo sie sich gerade befand, aber vor allem, dass sie bereit war. Harry winselte und hoffte darauf, dass sein Herrchen versehentlich die Leine fallenlassen würde.
„Vielleicht solltest du eine Kastration in Erwägung ziehen.“
„Kommt gar nicht in Frage!“, blockte Severus sofort ab.
„Ich meinte ja auch den Hund“, scherzte Hermine mit einem Schmunzeln auf den Lippen.
„Das war mir schon klar, aber trotzdem: nein.“
„Dann besorg ihm eine Hundedame.“
„Um dann eine Zucht aufzumachen? Auf keinen Fall!“
„Vielleicht …“
Hermine kam nicht mehr dazu, ihren Satz zu beenden, denn Severus ging die Stufen eines Hauses hinauf, das äußerlich einen sehr guten Eindruck machte. Ein Herr öffnete und begrüßte beide sehr freundlich.
„Mr. Snape, Sie sind sehr pünktlich. Treten Sie bitte ein, ich zeige Ihnen die Wohnung.“
Die Räume waren fantastisch geschnitten, ein Kamin war vorhanden und der Preis war akzeptabel. Severus war kurz davor, den Vertrag zu unterschreiben, als ihm das Kleingedruckte auffiel. Als hätte man ihn persönlich beleidigt, legte Severus den Füllfederhalter beiseite und stand auf.
„Gehen wir, Hermine.“
Der Vermieter und auch Hermine waren sehr überrascht über seine plötzlich ablehnende Haltung. „Mr. Snape? Darf ich fragen was Ihnen missfällt?“
Severus drehte sich zu dem Herrn um. Seine Nasenflügel bebten kurz, was in Hermines Augen ein sicheres Anzeichen dafür war, dass er Schwierigkeiten hatte, seine Wut im Zaum zu halten. „Wann hatten Sie vor mir mitzuteilen, dass Haustiere hier nicht erwünscht sind? Stattdessen machen Sie mir alles schmackhaft, um mich zur Unterschrift zu bewegen. Mein Glück, dass ich alles lese, bevor ich unterzeichne.“
„Ist das wahr?“ Hermine griff nach dem Vertrag und stieß auf die entsprechende Vertragsklausel. Aufgebracht wandte sie sich an den Vermieter. „Sie sehen den Hund an seiner Leine und verschweigen ihm diesen Punkt? Mit so einer schlechten Vertrauensbasis kann kein gutes Mietverhältnis zustande kommen.“ Sie legte den Vertrag wieder auf den Tisch. „Auf Wiedersehen.“
Auf der Straße regte sich besonders Hermine über den Mann und seine Taktik auf.
„Der hat bestimmt keine Probleme, einen Mieter zu finden, ohne ihn an der Nase herumzuführen. Warum versucht er es überhaupt?“, meckerte sie.
„Reg dich nicht auf. Die Sache ist erledigt. Es bringt nichts, sich darüber noch Gedanken zu machen.“ Severus blieb kurz stehen, um in seiner Manteltasche nach einem Zettel zu suchen. „Wir sollten uns eine ruhige Ecke suchen, um zu apparieren.“
„Wo geht es denn hin?“ Hermine lugte auf den Zettel. „Torquay? Du sagtest doch, es liegt außerhalb von London.“
„Tut es doch auch oder etwa nicht?“
„Natürlich, genauso wie Hogwarts außerhalb von London liegt“, konterte Hermine augenrollend. „Torquay liegt ein kleines Eckchen abseits, eher in Richtung Südwesten.“
„Durch Apparation gut zu erreichen.“
„Zusammen!“
Er nahm den Hund auf den Arm und Hermine ergriff seine Schulter, damit Severus die Seit-an-Seit-Apparation durchführen konnte. Die Apparation dauerte bei der Entfernung eine Weile. Am Ende fanden sie sich in einer gut situierten Gegend wieder.
„Schick!“, war Hermines erster Eindruck, als sie die edlen Häuser mit ihren großen Gärten betrachtete. Die Straße führte bergauf. Ein Gebäude war hübscher als das andere. Da gab es Familienhäuser, Appartements und sogar ein Manor. Gleich gegenüber von dem Manor war das Gebäude, um das sich Severus bemühte.
„Gehört einer alten Zaubererfamilie“, informierte er sie. „Seit dem Krieg steht es leer und man möchte nun, dass es wieder bewohnt wird.“
„Ich ziehe gern mit ein“, schlug sie unbefangen vor. „Allein der Garten ist wundervoll.“
Ein älterer Herr empfing Severus und Hermine, tätschelte sogar den Hund und erwähnte, wie wohl der sich in dem weitläufigen Garten fühlen würde. Ein Pluspunkt, den Severus aufmerksam zur Kenntnis nahm. Das Haus, durch das sie geführt wurden, war ein Traum. Viele Räume, ein Keller, den man zum Labor umfunktionieren könnte und eine große Küche. Hermine hätte sofort zugeschlagen.
„Etwas groß für eine Person“, stellte Severus am Ende der Führung fest.
„Da behalten Sie Recht, Mr. Snape. Sich um das Haus und den Garten zu kümmern wird einige Zeit in Anspruch nehmen.“
„Wenigstens verfügt es über einen Kamin.“
Der Vermieter zögerte, rückte dann aber mit der Sprache raus: „Er ist aber nicht ans Flohnetzwerk angeschlossen.“
„Warum nicht?“
„Weil das Gebäude nach Muggelgesetzen unter Denkmalschutz steht und wir keine Veränderungen dieser Art durchführen dürfen. Mein Großvater hat das Haus von seinen Muggelvorfahren geerbt. Die Regelungen sind eindeutig: kein Flohnetzwerk, kein Fideliuszauber. Posteulen sind wegen des Schmutzes, den sie verursachen, auch nicht erwünscht. Der alte Weinkeller darf nicht verändert werden. Überhaupt sind bauliche Änderungen nicht gestattet. Sie wären auch dazu verpflichtet, den Garten ausschließlich für Zierpflanzen zu nutzen, also kein Anbau von Gemüse, wegen des äußeren Erscheinungsbildes des Grundstücks.“
„Sehr unerfreulich.“ Severus war sichtbar enttäuscht. „Sie sollten dieses Haus lieber einem Muggel anbieten, Sir. Die Einschränkungen werden ihn kaum so tief treffen wie einen Zauberer.“
„Es tut mir sehr leid, Mr. Snape.“
Nach dem letzten Besichtigungstermin entschlossen sich Hermine und Severus, wenn sie schon gerade hier der verträumten Hafenstadt Torquay waren, das wegen der Häuser an den steilen Hängen sehr an eine italienische Stadt erinnerte, etwas am Wasser entlangzuspazieren. Zum Glück regnete es hier nicht. Severus warf einen Stock, dem Harry freudig hinterherrannte; sein Spieltrieb hatte die Erinnerung an die willige Hundedame längst verdrängt. Hermine hingegen blickte auf den Ärmelkanal.
„Vor zwei Jahren ist hier irgendwo ein Schiff gesunken.“ Aufgrund ihrer Worte kam er näher an sie heran, um ebenfalls aufs Wasser zu schauen, auf dem ein paar Frachtschiffe schipperten. „Man hat erst vor kurzem das letzte Stück bergen können. Sie haben es in mehrere Teile zersägt.“
„Warum hat man es nicht unten gelassen, wenn die Bergung so lange dauerte?“
„Wenn das Wasser niedrig stand, sind andere Schiffe mit den Wrackteilen kollidiert. Es stellte eine Gefahr dar.“
„In der Zaubererwelt hätte man es in zwei, drei Tagen aus dem Wasser holen können.“
„Mag sein, dass das bei uns schneller geht. Andererseits ist es gut, dass die Kapitäne der anderen Schiffe die Bergung im Vorbeifahren immer wieder beobachten konnten. Auf diese Weise wurden sie geprägt. Kein Kapitän möchte, dass es seinem Baby genauso ergeht.“
„Haben Unfälle immer so eine Wirkung auf die Muggel?“
Hermine nickte. „Ich denke schon. Den Unfall selbst muss man gar nicht miterleben. Es reicht vollkommen, wenn man auf der Straße den gestreuten Sand sieht, mit dem die Feuerwehr das Blut eines Unfallopfers bedeckt hat. Das ruft immer eine Reaktion hervor.“
„Eine Art Mahnung also?“
Sie nickte. „Kann man so sehen. Eine Erinnerung daran, dass es immer und überall passieren kann und man stets aufpassen muss. Nach einigen Tagen wird der Sand weggefegt, aber die Erinnerung, dass dort mal etwas Schlimmes passiert ist, die bleibt noch eine Weile.“
Zusammen genossen sie den Sonnenuntergang, bis es zu kühl am Wasser wurde.
„Wir sollten gehen“, schlug Severus vor. „Ich werde später nach anderen Wohnungen suchen.“
„Schon daran gedacht, in die Wohnung über der Apotheke einzuziehen?“, fragte sie unschuldig.
„Ich glaube, die ist leider schon belegt.“
„Es ist aber noch ein Zimmer frei und es ist sehr günstig“, machte sie es ihm mit einem Schmunzeln schmackhaft.
„Günstig?“
„Ja, genau genommen umsonst.“
Für einen kurzen Augenblick spielt er mit dem Gedanken, sofort zuzusagen, denn besser konnte die Lage gar nicht sein. Es war der kürzeste Weg zu seinem Arbeitsplatz, der nur einen Stock tiefer lag. Ihn hielt jedoch etwas davon ab. Leise seufzte er.
„Hermine, meinst du nicht, es würde einen falschen Eindruck machen?“
„Was ist denn der richtige Eindruck?“
Ihre Gegenfrage hatte ihn sprachlos gemacht. Die Erinnerung an das bewegte Foto, das sie ihm geschickt hatte, drängte sich wieder in den Vordergrund. Er war sich sicher, dass sie das Angebot mit dem Zimmer nicht nur aus Nettigkeit unterbreitete. Ihre Motive hatte sie ihm offen dargelegt, ohne jegliches Versteckspiel, was er sehr begrüßte. Es war ihm in der Schule immer ein Gräuel gewesen, sich zaghaft an ein Mädchen heranzutasten, um erst herauszufinden, was sie von ihm hielt. Bei Hermine wusste er bereits, wie sie von ihm dachte.
„Was würden deine Freunde sagen?“
Sie schnaufte. „Ist das so wichtig? Dir gehören die Hälfte der Apotheke und die Hälfte der dazugehörigen Wohnung. Was sollen die schon sagen?“
Severus spitzte die Lippen, dachte nach und nickte letztendlich. „Es ist mein gutes Recht, das zu nutzen, wofür ich bezahlt habe.“
„Siehst du? Geht doch!“ Ihre Hand fand seine. „Wollen wir uns noch den Taufstein von Agatha Christie ansehen? Ich weiß in etwa, wo die Kirche liegt; ich habe darüber gelesen.“
„Machst du das immer?“
„Was?“
„Dir stets alles ansehen, immer dazulernen, egal wo du bist.“
Sie grinste. „Du warst noch nie mit mir im Urlaub. Frag mal meine Eltern.“
Die All Saints‘-Kirche hatte bereits geschlossen, aber Hermine nahm sich vor, dieses Ausflugsziel in naher Zukunft nochmals anzusteuern. Die beiden apparierten zurück nach London. Es überrascht keinen von beiden, dass es nun in Strömen regnete. Für die ganze Woche war schlechtes Wetter angesagt. Schnellen Schrittes gingen sie die Straße entlang, um zum Tropfenden Kessel zu gelangen, als sie an einem Restaurant vorbeikamen. Von der draußen präsentierten Speisekarte magisch angezogen blieb Severus stehen und warf einen Blick darauf.
„Hast du schon zu Abend gegessen?“, wollte er wissen, ohne seine Augen von den Köstlichkeiten abzuwenden, die sich ihm nur aufgrund der Beschreibungen sehr bildhaft in seinem Kopf formten.
„Nein, habe ich nicht.“
„Dann darf ich dich einladen?“
„Jetzt?“
Severus wandte seinen Blick von der Karte ab und schaute ihr in die Augen. „Ich habe jetzt Appetit.“
„Von mir aus. Ich hoffe, Hunde sind erlaubt.“ Als Severus auf ein Schild deutete, das ihre Frage beantwortete, nickte sie. „Dann mal los.“
Galant hielt er ihr die Tür auf. Auf der Stelle kam ein Keller mit einem scheinbar vom Arbeitgeber ins Gesicht gebrannten Dauerlächeln auf sie zu. Er wollte ihnen die Mäntel abnehmen. Severus zögerte. Unter seinem zu einem Mantel verzauberten Umhang trug er seinen üblichen Gehrock. Hermine nickte zuversichtlich, so dass er sich vom Keller helfen ließ, aus dem Mantel zu schlüpfen. Kommentarlos gab dieser Jacke und Mantel an die Garderobiere weiter, die längst in der Nähe stand.
„Ein Tisch für zwei oder erwarten Sie noch jemanden?“
„Für zwei“, bestätigte Severus.
„Dann bitte hier entlang.“
Vorbei an den Tischen für kleinere Grüppchen, von denen einige aufblickten, um Severus‘ außergewöhnliche Kleidung zu mustern, führte der Keller sie durch einen türlosen Durchgang in einen Nebenraum. Hier waren die Tische kleiner und durch ein Trennwandsystem voneinander separiert. Das Licht war gedimmt, denn jeder Tisch verfügte über einen Kerzenhalter. Hier und da saßen sich Pärchen gegenüber.
Nachdem die beiden Platz genommen hatten, die Kerzen vom Keller entzündet waren und sie von ihm die Karte gereicht bekamen, blickte sich Hermine erst einmal um. Einige Paare hielten sich an der Hand, andere flüsterten dem Partner etwas ins Ohr.
„Ich denke“, begann sie bedächtig, „wir vermitteln durchaus den richtigen Eindruck.“
Bevor er irgendetwas entgegnen konnte, hob sie die große Speisekarte und versteckte sich grinsend dahinter.
Das Abendessen war köstlich; die Stimmung, wie Hermine sie bezeichnete, amüsant bis romantisch, auch wenn Severus letzteres vehement abstritt. Nachdem er bezahlt hatte, gingen sie schnellen Schrittes zum Tropfenden Kessel. Es hatte nun auch noch angefangen, kräftig zu blitzten und zu donnern.
Kaum hatten sie die Winkelgasse betreten, bekam Hermine wieder ein schlechtes Gewissen wegen der Berechnung, die sie Septina überlassen hatte. Severus war sehr aufmerksam. Entweder hatte er sie ständig im Auge oder es war ihm nur durch Zufall aufgefallen, denn er als sie die Apotheke betreten hatten, sprach er sie auf ihren plötzlichen Stimmungswechsel an.
„Was ist los? Ich dachte, du hattest Spaß.“
„Ach, es geht nur um das Ergebnis, aus dem ich nicht schlau werde“, erklärte sie.
Sie war kurz davor, ihm von Septinas Hilfe zu erzählen, da schlug er vor: „Kannst du nicht jemanden fragen, der sich damit auskennt?“
„Gut, dass du das ansprichst. Ich habe nämlich schon jemanden gefragt.“
Hermine erwartete das Donnerwetter, das offenbar nur draußen tobte. Severus war die Ruhe in Person.
„Das ist doch gut. Oder kann dir die Person etwa nicht weiterhelfen?“, wollte er wissen.
„Kann ich noch nicht sagen. Die Aufgabe und auch die Lösung sind so komplex, dass ich ihr eine Woche Zeit geben musste.“
„Ihr?“, fragt er in der Hoffnung nach, einen Namen zu erfahren.
„Ich kenne niemand anderen, dem ich zutrauen würde, damit zurechtzukommen.“
„Wer ist sie?“
Jetzt war es an der Zeit, dachte Hermine, ihm die Wahrheit zu sagen.
„Septina.“ Kurz, knapp, präzise. Jetzt würde er mit dem Fluchen beginnen, doch er überraschte sie erneut. Er verhielt sich nicht mehr vorhersehbar, wie sie es ihm anfangs oft unter die Nase gerieben hatte.
„Ah“, machte er optimistisch. „Ich denke, du kannst beruhigt sein.“
Hermine traute ihren Ohren kaum. „Kann ich?“
„Natürlich, Septina ist eine Meisterin ihres Fachs. Wenn jemand helfen kann, dann sie.“
„Und es macht dir gar nichts aus?“, fragte sie vorsichtig nach.
„Warum sollte es?“
„Weil die Berechnung dich betrifft.“
Gelassen zuckte er mit den Schultern. „Sie hat eine Menge Zahlen vor Augen. In deiner Rechnung steht wohl kaum meine gesamte Lebensgeschichte.“
Dabei beließ es Hermine. In gewisser Weise hatte Severus Recht, denn die Zahlen würden nur Genaues verraten, wenn man sich die Mühe machte, die Werte wieder den Objekten zuzuordnen, für die sie standen. Hermine hatte allerdings das dumpfe Gefühl, dass Septina genau das tat, um ein besseres Verständnis für die gesamte Aufgabe zu bekommen.
Beide ließen sich im Wohnzimmer nieder. Es war ein eigenartiges Gefühl, den Abend für sich zu haben. Keine Tränke waren zu brauen, keine Berechnungen zu machen.
„Danke für das Abendessen, Severus.“
„Gern geschehen“, erwiderte er knapp. „Wegen des freien Zimmers …“ Er hielt kurz inne, um sich die Lippen zu befeuchten. „Wann könnte ich es renovieren? Ich würde das gern erledigt haben, bevor ich Hogwarts verlasse.“
„Ach, das geht schnell, wenn du Harrys Elf fragst, ob er dir dabei helfen würde. Das dauert keine Stunde und es ist komplett erneuert und eingerichtet.“
Severus schaute auf die Uhr, die an der Wand hing. Um den Elf jetzt zu rufen, war es schon zu spät. So ganz ohne Arbeit wusste er gar nicht, wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte und bevor er etwas Falsches sagte, hielt er lieber den Mund.
„Wie geht es mit den UTZen voran? Irgendwelche Probleme mit den Schülern?“
Er war erleichtert, dass sie ein Thema gefunden hatte. „Keine Probleme meinerseits. Ich habe allerdings von Professor Binns erfahren, dass bei einigen seiner Schüler Hopfen und Malz verloren wäre.“
„Ginny hat davor auch schon Bammel. Wann werden Ginny und Draco ihre Zaubertränkeprüfung haben?“
„Einen genauen Plan habe ich noch nicht erhalten. Die ersten beiden Juni-Wochen werden recht stressig werden. Für die Schüler natürlich, nicht für mich.“
Ruhe kehrte ein. So schnell hatte Severus das Thema UTZe noch nie abgehandelt, außer damals mit Lockhart. Verzweifelt grübelte er über ein anderes Thema nach, denn er würde sich gern mit ihr unterhalten. Ihm fiel aber einfach nichts ein.
„Ich traue mich gar nicht, den Computer anzumachen, den mein Vater mir geschenkt hat.“
Wieder konnte Hermine ein Thema vorgeben. Dankbar registrierte er, dass sie seine Wortkargheit nicht als Zeichen von Ablehnung deutete. Vor zwei Jahren noch hätte er alles Mögliche getan, um lapidaren Gesprächen wie diesen aus dem Weg zu gehen, aber jetzt war es angenehm, mit ihr hier zu sitzen und sich einfach nur zu unterhalten, egal über was.
„Warum traust du dich nicht? Wegen der Magie?“
Sie nickte. „Ich habe Angst, dass er sofort kaputtgeht.“
Sich an ein Gespräch erinnernd, dass er mit ihr einmal geführt hatte, erwähnte er: „Du sagtest einmal, dass das Gerät deiner Vaters unbrauchbar wurde, als du in der Nähe einen Aufrufezauber angewandt hast.“
„Richtig, er konnte ihn danach wegwerfen. Da war alles durchgeschmort.“
„Du selbst bist auch magisch, aber allein deine Anwesenheit hat nichts ausgerichtet.“ Er blickte sie fragend an, bis sie seine Aussage bestätigte. „Dann wirst du nur nicht mit dem Stab zaubern dürfen, aber du solltest es benutzen können. Das Gerät sollte keinen Schaden davontragen. Es wäre einen Versuch wert.“
Sie nickte. „Das wäre aber ein teurer Versuch.“
„Man wird es sonst nie herausfinden.“
Das Gefühl des Vertrauens gewann Oberhand. Die beiden konnten sich gelassen über alles Mögliche unterhalten und so ging es auch die nächsten Tage. Immer, wenn sie die Arbeit beendet hatten, ließen sie sich im Wohnzimmer nieder, um sich bei einem Tee oder Glas Wein zu unterhalten, wie sie es damals während ihrer Ausbildung bei ihm schon getan hatten. Nur an einem Abend hatten sie einen weiteren Gast. Wobbel war so hilfsbereit, das freie Zimmer ganz nach Severus‘ Wünschen zu gestalten. Wie Hermine es vorausgesagt hatte, benötigte der Hauself nicht einmal eine ganze Stunde.
Die Woche, die sie Septina gegeben hatte, war schnell vergangen. Hermine hatte sich über das Flohnetzwerk bei ihr gemeldet und wurde sofort eingeladen, persönlich vorbeizukommen. Natürlich schlug Hermine das Angebot nicht aus, denn die Neugierde war viel zu groß.
„Hermine, guten Abend. Nehmen Sie doch Platz.“
„Sie haben die Werte wieder umgerechnet oder? Sie wissen genau, welche Zahl für was steht.“ Es war Hermine rausgerutscht, aber sie musste es wissen – musste wissen, ob Septina genau wusste, wessen Seelenkern sie zum Wachsen bringen wollte.
Septina nickte freundlich. „Anders war es nicht möglich, die Lösung zu entschlüsseln, aber es ist mir am Ende gelungen. Allerdings …“
Die lange Pause mochte Hermine gar nicht. Diese Pause konnte alles Mögliche bedeuten, auch das Ende aller Hoffnungen. Hermine spürte das pochende Herz in ihrem Brustkorb so heftig toben, als wollte es ausbrechen.
„Spannen Sie mich nicht auf die Folter!“ Der scharfe Ton passte nicht zur sonst so ausgeglichenen Hermine.
„Ganz ruhig, meine Gute. Warten Sie noch einen Moment, dann erklären wir Ihnen, was das alles zu bedeuten hat.“
Erst nickte Hermine erleichtert, dann stockte sie. „‘Wir‘? Was meinen Sie damit?“
„Ich sagte doch, Sie möchten bitte einen Moment warten.“
Es klopfte. Hermines Atmung wurde immer heftiger. Alles deutete darauf hin, dass Septina noch jemanden eingeweiht haben musste. Der Gast, der nun eintrat, war Hermine genauso bekannt wie Septina selbst. Es handelte sich um Professor Aurora Sinistra. Die Lehrerin für Astronomie führte eine Menge Unterlagen mit sich, darunter auch große zusammengerollte Papiere, die so aussahen wie die Sternenkarten, die Hermine noch vom Unterricht in Erinnerung hatte.
„Was hat das zu bedeuten?“ Aufgebracht fasste sich Hermine an die Stirn, gleich darauf legte sie dieselbe Hand über ihren Mund.
„Setzen Sie sich bitte endlich“, forderte Septina ihren Gast ein wenig energischer auf. Aurora hingegen war der Bitte sofort nachgekommen.
Hermine fühlte sich betrogen. „Ich habe Ihnen vertraut!“
„Das können Sie noch immer“, versicherte Septina, die sich Hermine genähert hatte und sie zaghaft am Oberarm berührte, um sie zur Couch zu führen. „Nehmen Sie Platz und hören Sie einfach zu. Es gibt einen Grund, warum Sie die Lösung nicht verstanden haben. Das war der gleiche Grund, warum ich das arithmantische Ergebnis auch nicht sofort entschlüsseln konnte.“
„Was für einen Grund?“ Das aufgeregte Herz begann zu flattern, Hermines Stimme war zittrig. „Oh Merlin, haben Sie einen Drink für mich? Irgendwas!“
Im Moment hielt sich die Aufregung darüber, dass Septina offenbar noch ihre Kollegin Aurora eingeweiht hatte, die Waage mit der Information, das Ergebnis nun endlich entschlüsselt zu haben. Was war schon ein kleiner Nervenzusammenbruch im Vergleich zu einer Seele für Severus? Sie könnte ihn heilen, könnte die Wirkung des Ewigen Sees rückgängig machen. Ihr war danach, einen Freudenschrei auszustoßen, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt.
Jemand hielt ihr ein Glas unter die Nase, dessen Inhalt sehr scharf roch. Hermine griff zu und leerte es in drei großen Schlucken. Erst beim nächsten Atemzug spürte sie das Kratzen im Hals und das Verlangen zu husten. Eine Hand schlug ihr zaghaft auf den Rücken, bis sie sich wieder erholt hatte.
„Bekomme ich noch einen?“, fragte Hermine höflich.
„Später. Ich möchte, dass Sie alles verstehen, was wir Ihnen mitzuteilen haben. Das Thema, wie Sie sich denken können, ist nicht gerade leichte Kost.“
Hermine blickte zu Aurora hinüber, dann zu Septina. „Sie beide haben daran gearbeitet?“
Nickend stimmte Septina zu. „Es war nicht zu vermeiden und Sie werden auch gleich verstehen, was ich meine. Lassen Sie uns erklären, was die Lösung beinhaltet.“
Diesmal ergriff Aurora das Wort. „Septina hatte eine Vermutung, die ich bestätigen konnte. Ihr Ergebnis, Hermine, ist nicht vollständig arithmatischen Inhalts.“
„Nicht?“
Hier erklärte Septina: „Sie haben die Zahlenwerte einiger Zutaten errechnet, richtig?“ Hermine nickte, so dass Septina fortfuhr. „Für die Feder der Animagusgestalt haben Sie den Wert 414,40 errechnet. Der Wert für …“, Septina zögerte, bis sie die Bedeutung des Wertes völlig wegließ und nur die Zahl nannte. „1294,2 steht, wie der Wert der Feder auch, für etwas ganz anderes.“
Der große Wert war der, den Hermine für Severus‘ Seelenkern errechnet hatte. Es war kein Wunder, dass Septina es nicht aussprechen wollte. In Hermines Augen war es schon schlimm genug, dass sie es wusste.
„Die Werte stehen für etwas anderes?“, fragte Hermine nach. „Für was?“
Aurora meldete sich wieder zu Wort. „Die Zahl vor dem Komma steht jeweils für den Quadratgrad, die hinter dem Komma für den Rang.“ Die Begriffe waren Hermine nicht fremd, aber noch formte sich keine einleuchtende Erklärung in ihren Gedanken. Sie hing Aurora an den Lippen, bekam selbst kein einziges Wort heraus. „Sie wissen schon: Raumwinkel“, half ihr die Lehrerin auf die Sprünge. „Die von Ihnen errechneten Werte sind übergreifend und stehen zusätzlich für Sternbilder.“
Hermine blinzelte ein paar Male, bevor sie fragte: „Bekomme ich bitte noch einen Schluck zu trinken?“
Offenbar sah man ihr an, dass sie noch etwas nötig hatte, denn Septina füllte ihr Glas ohne Widerspruch auf. Dieses Mal nippte Hermine genüsslich an dem Alkohol und atmete mehrmals durch, bevor sie sich, jetzt viel ruhiger, wieder den beiden Lehrerinnen widmete. Eine Sache interessierte Hermine ganz besonders.
„Was bedeuten die geometrischen Formen in der Lösung?“ Die hatten ihr die meisten Kopfschmerzen bereitet.
„Gut, dass Sie das fragen, Hermine.“ Aurora nahm eine der großen Rollen in die Hand.
Zusammen mit Septinas Hilfe wurde der Tisch abgeräumt, damit die Karte – zumindest dachte Hermine, dass es eine wäre – ausgebreitet werden konnte. Um eine astronomische Sternenkarte handelte es sich nicht. Stattdessen konnte man eine geometrische Form darauf erkennen. Ein Dreieck, dessen Ecken in drei gleichgroßen Kreisen mundeten. In den drei Linien, die diese Kreise verbanden, waren nochmal je zwei kleinere Kreise gezeichnet.
„Was ist das?“, wollte Hermine wissen, als sie sich darüber beugte. Überall neben, unter und über der präzise gezeichneten Form erkannte sie Auroras Handschrift, die sie seit der Schulzeit nicht mehr gesehen hatte.
„Das, Hermine, ist ein Teil der Lösung“, offenbarte Aurora stolz.
Hermine öffnete mehrmals den Mund, doch es hatte ihr die Sprache verschlagen. Stattdessen las sie die Schrift bei den Pfeilen, die zu jeweils einem der neun Kreise führten. An einem stand „Pfeilkraut“, an einem anderen „Zuckerbüsche“ – die Zutaten.
„Ein Teil der Lösung?“, murmelte Hermine und dann, wie aus heiterem Himmel, hatte sie die Antwort. „Eine Bauanleitung!“
„Richtig! Das hier habe ich in einem Maßstab von 1:5 gezeichnet. Man kann es als eine Konstruktion für einen ungewöhnlichen Blumenkasten sehen. Ein Gebilde, in welchem verschiedene Zutaten gemeinsam, aber doch voneinander getrennt gezogen werden.“ Aurora deutete auf die vielen Kreise. „Dank der Berechnungen habe ich bei allen Vertiefungen bereits die Reihenfolge der Pflanzen bestimmen können, in der sie gesät werden müssen. Ich habe mir erlaubt, gleich die Namen der Pflanzen daneben zu schreiben und nicht ihre Zahlenwerte – nur bei einer konnte ich das nicht, da hatte ich nur den Wert.“
„Mir fehlt eine Pflanze. Mehr als ihren Wert habe ich nicht.“ Als Hermine das zugab, hörte man, wie sehr sie das bedauerte.
Septina strich ihr über den Rücken. „Kopf hoch, Hermine. Wenn Sie das alles schon geschafft haben – und ich muss zugeben, dass das eine Glanzleistung ist –, wird es an einer Pflanze bestimmt nicht scheitern. Sie werden Sie schon noch finden, da bin ich ganz sicher.“
Ihrer Kollegin stimmte Aurora zu, bevor sie Hermine noch in andere Aspekte der Lösung einweihte. „Diese Bauanleitung ist aber nur die Spitze des Eisbergs, Hermine. Es gibt noch viel mehr zu beachten. Nicht nur die Aneinanderreihung der Pflanzen ist wichtig, sondern auch der Einfluss, dem sie laut der Lösung unterliegen müssen.“
„Einfluss? Jetzt ist der Moment gekommen, wo ich nicht mehr folgen kann“, gab Hermine resignierend zu.
„Mir ging es nicht anders“, offenbarte Septina mitfühlend, „aber Aurora kann alles ganz fantastisch erklären.“
Das Glas ließ Hermine auf ihr Knie sinken, als sie die Augen schloss. Nach einem kurzen Augenblick fragte sie: „Was ist mit Einfluss gemeint?“
Aus ihren Unterlagen fischte Aurora eine Mappe heraus, die sie aufschlug. Sie blätterte nicht lange darin herum, bis sie fand, was sie gesucht hatte.
„Mit Einfluss meine ich, dass bestimmte Pflanzen einem bestimmten Sternzeichen zugeordnet sind. Das Pfeilkraut beispielsweise ist dem Löwen zugeordnet, die Feder dem Steinbock. Ich habe noch Fische, Zwillinge und Jungfrau errechnet, wobei das Sternbild Jungfrau mit dem Endergebnis übereinstimmt, also mit dem Trank, der gebraut werden soll.“
Hermine runzelte die Stirn. „Inwiefern stimmt das Endergebnis mit dem Sternbild Jungfrau überein? Entschuldigen Sie bitte, wenn ich solche dummen Fragen stelle.“
„Das sind keine dummen Fragen“, versicherte Septina. „Das war genau die Frage, die ich mir ebenfalls gestellt habe, als ich mit Aurora alles durchgegangen bin.“
Die Lehrerin für Astronomie übernahm die Erklärung. „Ihr Endergebnis ist die Zahl 1294,2 – wie ich vorhin schon sagte, steht die Zahl vor dem Komma für den Quadratgrad, die danach für den Rang. Der Quadratgrad des Sternbilds Jungfrau ist 1294, der Rang ist die 2, Sie verstehen? Beim Wert der Feder ist es genauso. Die Zahl 414,40 setzt sich aus Quadratgrad und Rang des Sternzeichens Steinbock zusammen. Auf diese Weise war die gesamte Rechnung verschlüsselt und zwar in astronomischen Kombinationen, die auch arithmantischen Sinn ergeben. Ich hätte die Rechnung allein genauso wenig lösen können wie Septina oder Sie. Hier war Zusammenarbeit gefordert.“
Überfordert von den vielen Informationen lehnte sich Hermine zurück. In ihrem Kopf formte sich ein Zahlenwirrwarr, das es aufzuflechten galt.
Von Aurora bekam Hermine eine Liste gereicht. Aurora deutete auf das Pergament und erklärte: „Diese Sternzeichen sind, wie Sie der Tabelle entnehmen können, den dort genannten Pflanzen zugeschrieben.“
„Ich bin im Moment ganz erschlagen“, wimmerte Hermine. „Ich sehe nur noch Zahlen.“
Septina lachte freundlich. „Wenn Sie eine Nacht drüber geschlafen haben, sehen Sie das Ganze viel gelassener. Was glauben Sie, wie ich aus dem Häuschen war, als Aurora meine Vermutung bestätigte, es handele sich um eine fachübergreifende Rechnung?“ Aufmunternd zwinkerte Septina ihr zu.
Einmal musste Hermine tief durchatmen, bevor sie die Liste mit den Sternbildern und den Zutaten hob und sich auf die Schrift konzentrierte. Das Pfeilkraut und der Löwe. Unweigerlich musste sie an Harry denken, der sich liebevoll um das Pfeilkraut gekümmert hatte. Durch seine Hilfe hatte die Pflanze einen bis dato nicht gelisteten Wirkstoff produziert, den sie für den Heiltrank benötigte. Harry! Hermines Augen fixierten das Wort Löwe, das neben der Pflanze stand. Harry war ein Löwe und das nicht nur, weil er ein Gryffindor war. Sein Geburtstag, Löwe war sein Sternzeichen!
Aufgeregt schnappte Hermine nach Luft. Sie überschlug sich fast, als sie fragte: „Kann es sein, dass hier Astronomie und Astrologie miteinander verschmelzen?“
Septina bestätigte ihre Vermutung. „Astrologie ist, wie Sie wissen, ein kleiner Bestandteil der Artithmantik und wird für das Wahrsagen benötigt. Astronomie hingegen ist rein wissenschaftlich. Nichtsdestotrotz kennen beide Fächer diese Sternbilder, nur dass sie in der Astrologie als Tierkreiszeichen bezeichnet werden, mit denen man unter anderem Horoskope erstellt. Trotzdem gibt es sie am Himmel; sie zählen zu beiden Fachrichtungen. Warum fragen Sie?“
„Weil ich glaube zu wissen, warum die Pflanzen bestimmten Sternbildern zugeordnet sind, die zufälligerweise auch für Tierkreiszeichen stehen.“
„Mmmh“, machte Septina nachdenklich. „Meinen Sie, dass sich Personen, die im entsprechenden Tierkreiszeichen geboren wurden, um die jeweiligen Pflanzen kümmern müssen?“
„Genau das denke ich“, bestätigte Hermine, die das Gefühl hatte, jeden Moment in Ohnmacht zu fallen.
Erinnerungen an Takedas Gewächshaus überfluteten sie. Die Pflanzen, die die Magie des japanischen Professors aufgenommen hatten. Das sichtbare Loch im Kreis der Gewächse, nachdem Takeda eines umgetopft hatte. Die auf andere Pflanzen überspringende Magie und die miteinander verschmolzene Einheit, die sie bildeten. Die Magie der Bäume, die sich nach den Vögeln streckte. Auf einmal erinnerte sie sich an die Tentakel von Dracos Magie, die sich vorsichtig an Harrys herangetastet hatten.
„Alles macht Sinn“, murmelte Hermine ehrfürchtig.
Aurora musste zustimmen. „Der Gedanke klingt plausibel und deckt sich mit allen Berechnungen. Ich muss aber zugeben, dass ich nicht einmal eine Vermutung habe, warum Personen mit bestimmten Sternzeichen sich um ihnen zugeteilte Pflanzen kümmern sollen.“
„Ich weiß es aber“, versicherte Hermine. Die beiden Damen waren ganz Ohr und deswegen erklärte sie ihnen so kurz wie nur möglich, was sie mit ihrem Farbtrank alles in Erfahrung gebracht hatte.
„Ganz erstaunlich!“, lobte Septina.
Ihr leeres Glas stellte Hermine auf den Tisch, bevor sie sich nochmals die Zeichnung von dem Blumenkasten ansah, an dem auch die genauen Maße zu finden waren.
„Ihr errechnetes Ergebnis war so umfangreich“, begann Septina, „weil alles darin sehr genau beschrieben wird. Angefangen vom Bau des Blumenkastens, der Reihenfolge der Aussaat und die Einwirkung der Sternbilder bis hin zur Verarbeitung der Zutaten. Am Ende steht natürlich der eigentliche, sehr exakt beschriebene Brauprozess.“ Septina legte eine Hand auf Hermines Unterarm und lächelte warm. „In diesem Sinne haben Sie eine wirklich fantastische Arithmantikarbeit vorgelegt, die nicht korrekter hätte sein können.“
Leise, fast wimmernd, erwiderte Hermine: „Ich durfte doch keinen Fehler machen.“
„Sie haben sich meine Worte offenbar sehr eingeprägt.“
Hermine nickte Septina zu und wiederholte, was sie damals im Arithmantikunterricht schon immer befolgt hatte: „Schätzungen sind etwas für Anfänger.“
„Sie, Hermine, haben gar nicht mehr geschätzt, haben nichts dem Zufall überlassen. Könnte ich Ihnen noch eine Note geben, dann wäre diese Arbeit ein ‘Ohnegleichen mit Auszeichnung‘, das entspricht einem ‘Phänomenal‘, nur habe ich diese Note während meiner gesamten Zeit als Lehrerin hier noch nie vergeben.“
Man mochte es kaum glauben, aber diese Note, auch wenn sie niemals schriftlich in ihrem Lebenslauf auftauchen würde, machte Hermine wieder glücklich. Nur eine Sache bedrückte sie noch und das war die fehlende Zutat.
„Ich werde mich morgen gründlich damit auseinander setzen.“ Hermine deutete auf die vielen Unterlagen von Aurora und Septina, die beide bereits wieder zusammenlegten, damit Hermine sie mitnehmen konnte. „Im Moment qualmt mein Kopf.“
„Das verstehen wir“, beruhigten die beiden Lehrerinnen. „Es ging uns genauso. Wir haben jeden Abend bis tief in die Nacht hier gesessen und gerechnet.“
Das kam Hermine mehr als nur bekannt vor. „Vielen Dank, vielen, vielen Dank! Ihre Mühe weiß ich wirklich zu schätzen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie erleichtert ich bin.“
Als sie Septinas Räume verließ, war sie auf einer Seite tatsächlich erleichtert, auf der anderen aber tief betrübt, diese eine Pflanze bisher noch nicht gefunden zu haben.
Zuhause kramte sie in ihrer geräumigen Tasche, bis sie ihr Notizbuch aufspürte. Sie schlug die letzte beschriebene Seite auf und blätterte dann einige zurück, bis sie sie fand: die Prophezeiung.
„Ein jettschwarzes Symbol auf schneeweißem Grund kann nicht allein durch die Geheimnisse des Willens und seiner Gewalt schwinden. Feuer verzehrt, ein Brand erneuert. Erst nach dieser Reinigung wird seine Flamme es finden, das tränende Herz, um damit seine Wunden zu heilen“, las Hermine leise.
Noch lange grübelte sie über die Worte nach.
„Muss Fawkes erst brennen?“, fragte sie laut in den Raum hinein.
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