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Harry Potter und die Schatten der Vergangenheit - Vogelfrei

von Muggelchen

Aufmerksam verfolgte Harry von der Couch aus die Erkundungstour von Nicholas, der eine Feder von Hedwig auf dem Boden gefunden hatte. Von deren Weichheit war er vollkommen hingerissen.

„Nicht in den Mund nehmen“, sagte er ruhig zu dem Jungen, der das Verbot seines Vaters ignorierte und die Feder mit der Zunge betastete. Harry stand auf und ging hinüber, um sich neben Nicholas zu setzen. Mit seinem Zauberstab sorgte er dafür, dass ein Ball von alleine zu rollen begann. Die Feder war auf der Stelle uninteressant geworden und wurde fallengelassen, so dass Harry sie mit einem Evanesco verschwinden lassen konnte. Nicholas rollte den Ball zu Harry hinüber, der ihn stoppte und zurückrollte. Nicholas quiekte vergnügt. Während er mit dem Kind spielte, dachte er immer wieder an eine bestimmte Sache.

Es waren sieben Animagi gewesen, die Minerva damals bei Schulbeginn unter den dreizehn- bis fünfzehnjährigen Schülern ausfindig machen konnte. Harry erinnerte sich daran, dass er im Lehrerzimmer das Gespräch zwischen ihr und Albus verfolgt hatte. Die Gestalten der Kinder waren die von Fluchttieren, ein Chinchilla, eine Rennmaus, ein Pferd, zwei Rehe, ein Kaninchen und ein Meerschweinchen. Harry hatte die Formen der Schülerinnen und Schüler mehr als nur einmal gesehen, wenn sie sich mit verständlichem Stolz vor ihren Freunden verwandelten. Jetzt, nachdem auch Severus eine Form hatte, ließ ihn eine Frage nicht mehr los.

„Ginny?“ Als sie von ihren Büchern aufblickte, fuhr er fort. „Was meinst du, was ich für ein Tier wäre?“
„Was denn für ein Tier?“
„Als Animagus, was wäre ich da?“
Ihre Stirn schlug Falten. „Damit befasse ich mich erst, wenn ich weiß“, sie blickte auf ihre Astronomieberechnungen, „warum ich zweimal Kallisto habe.“
„Zweimal was bitte?“
„Ich habe einen der Jupitermonde doppelt und ich bin mir ziemlich sicher, dass das ein Fehler ist.“
Verständnisvoll nickte Harry. „Ich hatte mal zwei Neptune.“ Ein theatralischer Seufzer entwich ihm. „Glaub mir, ich weiß ganz genau, wie du dich fühlst.“
„Wie hast du den zweiten weggerechnet?“
„Mit Hermine!“

Weil Hermine nicht da war, tat Harry alles in seiner Macht stehende, um Ginny bei den Vorbereitungen für die ZAG-Prüfungen zu helfen. Leider war das nicht viel. Astronomie war nie sein Steckenpferd, aber es hieß, dass man aus Fehlern lernte und das war auch diesmal so, nur dass Ginny aus seinen Fehlern lernte. Wenn er Vorschläge machte, die nur in die Irre führten, erklärte sie ihm, wie sie auf ihr Ergebnis gekommen war. Auf diese Weise fand sie tatsächlich den Fehler und konnte ihn beseitigen.

„Du bekommst sicher überall Bestnoten“, vermutete Harry laut.
„Besonders in ‘Verteidigung gegen die Dunklen Künste‘.“ Sie grinste breit. „Aber nicht, dass man mir anlastet, ich hätte nur ein Ohnegleichen bekommen, weil entsprechender Professor mit mir liiert ist.“
„Ich prüfe euch ja nicht einmal, da kann so ein Verdacht gar nicht aufkommen. Ich weiß zufällig, dass wieder Professor Tofty vom Ministerium kommt. Er übernimmt immer den praktischen Prüfungsteil für ‘Verteidigung‘ und ‘Zauberkunst‘. Ich glaube, bei ‘Geschichte der Zauberei‘ macht er die Theorie.“
„Da werde ich versagen, das weiß ich jetzt schon“, stöhnte Ginny. „Gab es eigentlich jemals einen Schüler – und ich meine außer Hermine –, der dort ein ‘O‘ bekommen hat?“
„Ich hatte bei der Abschlussprüfung damals ein ‘S‘. Schlimmer kann es bei dir gar nicht werden.“
„Natürlich kann es schlimmer werden. Ich könnte ein ‘Troll‘ bekommen.“
Harry schüttelte den Kopf. „Die Koboldaufstände werden immer geprüft und davon weißt du eine Menge.“

Vom Lernen hatte Ginny heute genug. Ihre Bücher und Pergamente legte sie ganz weit weg, damit sie den Sonntagabend noch mit Harry und Nicholas genießen konnte.

„Er wird wohl gar nicht müde“, stellte sie fest, als Nicholas mit einem aufgeregt fröhlichen Grinsen in Richtung Tür robbte, neben der Harry seinen Twister abgestellt hatte. Der Junge streckte die kleinen Hände nach dem Flugbesen aus. „Der Besen hat eine magische Anziehungskraft auf ihn. Er wird mal ein berühmter Quidditch-Spieler werden, ganz bestimmt.“ Ginny stimmte ihren eigenen Worten mit einem Nicken zu.
Mit einer intuitiven Bewegung seiner Hand rettete Harry den Kleinen vor dem umfallenden Besen. „Herrje, wer hätte gedacht, mit was sich unser Elf so herumschlagen muss, jetzt wo Nicholas schon etwas agiler ist?“
„Wart nur ab, bis er laufen kann!“, drohte Ginny mit schelmischem Lächeln.

Ein dumpfer Aufprall war zu hören. Aufgeschreckt blickten Harry und Ginny in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Sie sahen die leere Stange, auf der sonst immer der Phönix saß.

„Fawkes?“ Harry eilte zu dem Vogel, der auf den Boden gefallen war. Benommen vom zum Glück nicht sehr tiefen Sturz blieb der kränkliche Vogel an Ort und Stelle liegen. Er versuchte nicht einmal, aus eigener Kraft zurück auf die Stange zu fliegen. „Ach du meine Güte, Fawkes. Was ist nur mit dir los?“

In der letzten Zeit war der körperliche Verfall des Phönix sehr deutlich geworden. Immer mehr kahle Stellen verunstalteten den einst prächtig scharlachrot gefiederten Freund. Harry kniete sich neben den Feuervogel nieder und streichelte den Kopf des geschwächten Tiers. Ginny kam lieber nicht zu dicht heran. Noch immer war Fawkes anderen Menschen gegenüber ungewohnt angriffslustig.

„Was hat er?“, fragte sie aus sicherer Entfernung.
„Ich weiß es nicht. Würde ich nicht wissen, dass ein Phönix nicht sterben kann, würde ich sagen, seine Zeit ist abgelaufen.“ Harry seufzte. „Als ich ihn damals bei Albus im Büro gesehen habe, bevor er brannte, sah er nicht so schlimm aus wie jetzt. Ich weiß nicht, warum er sich sträubt.“
„Vielleicht weil es wehtut?“
Harry zuckte mit den Schultern. „Er müsste es gewohnt sein, meinst du nicht?“ Vorsichtig befühlte Harry die Verhärtung am Bauch des Vogels. „Vielleicht ist es auch deswegen. Ich weiß nicht, was das ist, aber es ist hart und gehört da definitiv nicht hin.“

Weil er den Phönix zärtlich am Bauch kraulte, legte der Vogel seinen Kopf auf Harrys Unterarm und genoss die Liebkosung, schloss dabei sogar die Augen. Harry machte sich wirklich Sorgen. Von Albus hatte er nicht erfahren, was der Vogel haben könnte. Vorsichtig nahm Harry den gefiederten Gefährten in den Arm, bevor er ihn auf seinen Oberschenkeln absetzte. Ginny beobachtete das skeptisch.

„Der sicherste Platz für einen Vogel, der jeden Moment Feuer fangen kann, ist immer noch dein Schoß.“
Harry gab ihr Recht. „Aber was soll ich sonst mit ihm machen? Ich möchte nicht, dass er noch einmal fällt.“
Einen Moment lang überlegte Ginny sich eine Lösung. „Dann zaubere seine Feuerschale niedriger, aber bitte nicht so, dass Nicholas rankommt.“

Ginnys Vorschlag setzte er in die Tat um. Die Feuerschale samt Stange brache er näher an den Boden heran. Außerdem vergrößerte er die Schale noch. Er wollte verhindern, dass Fawkes in einem ungünstigen Moment auf den Teppich fallen und ihn in Brand setzten würde.

„So, mein Guter.“ Harry erhob sich und setzte Fawkes direkt in der feuerfesten Schale ab. „Ruh dich aus oder erneuere dich. Länger kann ich nämlich nicht mehr mit ansehen, wie du leidest.“

Fawkes schien verstanden zu haben, denn er nickte, bevor er den Kopf unter einen Flügel steckte, um ein wenig zu dösen. Von gegenüber hatte Hedwig alles ganz genau beobachtet. Sie hatte den Phönix in letzter Zeit nicht mehr aus den Augen gelassen.

„Was hast du eigentlich mit seinen Tränen gemacht, die ich aufgefangen habe, als du dir die Erinnerungen angesehen hast?“, wollte Ginny wissen.
Harry sammelte Nicholas vom Boden auf und gesellte sich zu seiner Verlobten auf die Couch. „Die haben ich Poppy gegeben. Sie meinte zwar, sie wird in den nächsten zwanzig Jahren wohl keine Verwendung dafür finden, aber es wäre gut zu wissen, ein so potentes Heilmittel im Haus zu haben.“

Der Junge auf seinem Schoß begann zu quengeln, weil er wieder auf den Boden wollte. Als er sich aus Harrys Armen winden wollte, stieß er mit seinem kleinen Knie versehentlich in eine sehr empfindliche Körperstelle. Harry zog Luft durch die Zähne.

„Das brauche ich noch, mein Kleiner.“ Harry beugte sich nach vorn, um sich vor weiteren Tritten dieser Art zu schützen. Nicholas weinte, machte sich dabei lang, um auf den Boden zu gelangen, doch Harry hielt ihn mit beiden Händen an der Taille, was Ginny belustigt beobachtete.
„Lass ihn ruhig noch etwas runter. Vielleicht haben wir dann die Chance, wenigstens mal eine Nacht durchzuschlafen, wenn er sich jetzt mal völlig verausgaben kann.“
„Von mir aus“, stimmte Harry zu.

Er setzte den Jungen vorsichtig auf dem Boden ab. Auf der Stelle robbte Nicholas auf Händen und Knien hinüber zu Hedwigs Sitzstange, an der er ehrfürchtig mit seinen großen blauen Augen hinaufblickte. Hedwig blickte an ihrem spitzen Schnabel zu ihm hinunter und gab ein freundliches Schuhu von sich. Die zärtliche Kommunikation zwischen Menschenkind und magischem Tier beobachteten Ginny und Harry sehr interessiert. Nicholas streckte sehnsüchtig seine Arme nach Hedwig aus, die daraufhin nach unten geflogen kam und sich dem Kind hüpfend näherte. Sie achtete darauf, dass er sie nicht zu packen bekam, ließ sich aber streicheln, auch wenn das aufgrund der noch nicht so ausgebildeten Feinmotorik des Kindes manchmal etwas grob ausfiel.

Harry verspürte ein Bedürfnis. „Ich bin mal eben woanders.“

Kaum war er aus dem Wohnzimmer gegangen, klopfte es. Ginny bat den Gast herein. Mit ihrem Zaubertränkelehrer hatte sie bestimmt nicht auf einen Sonntagabend gerechnet.

„Professor“, grüßte sie nickend.
„Guten Abend, Miss Weasley. Ich wollte Harry sprechen.“ Unsicher blickte er sich im Wohnzimmer um. „Ist er da?“
„Ja, ich hole ihn. Nehmen Sie doch Platz.“

Mit Severus im Raum befand sie Nicholas für sicher, so dass sie im Schlafzimmer verschwand, um von dort aus Harry durch die Tür zum Badezimmer Bescheid zu geben. Der war allerdings schon fertig für ein Schaumbad ausgezogen und müsste sich erst wieder anziehen.

Weil Harry nicht sofort zu ihm kam, blickte sich Severus im Wohnzimmer um. Der Phönix fiel ihm auf. Er lag in der Feuerschale und wirkte wie tot. Sein Kopf weilte unter einem Flügel und er schien fest zu schlafen. Die Atmung war kaum zu sehen. Giggelnde Geräusche kamen aus der entgegengesetzten Richtung. Severus machte zwei Schritte, um hinter die Couch sehen zu können. Das Kind vergnügte sich mit der Schneeeule, die den kleinen Händen gestattete, das Gefieder zu tätscheln. Severus seufzte, machte mit dem Geräusch den Jungen auf sich aufmerksam, der seine leuchtenden Augen von Hedwig auf den schwarz gekleideten Mann richtete. Ein unergründlicher Gedanke musste sich in dem Kopf des Jungen geformt haben, denn er krabbelte langsam auf Severus zu. Darüber erschrocken ging Severus einen Schritt zurück, dann noch einen, als der Junge wie ein bedrohliches Übel unaufhaltsam näher kam. Severus stieß mit dem Rücken gegen die Tür. Mit Entsetzen betrachtete er den langen Faden aus Speichel, der aus dem breit grinsenden Kindermund herunterhing. Als sich das Kind zu seinen Füßen niedergelassen hatte, griff es nach den Schuhen, doch Severus war schneller und zog den Fuß weg. Nicholas schaute, wie vorhin schon bei Hedwig, diesmal an dem großen Mann empor, riss dann die beiden kleinen Arme in die Luft, weil er getragen werden wollte.

„Das hättest du wohl gern“, murmelte Severus. Auch das erschöpfte Seufzen des Jungen erweichte Severus nicht. Er blieb regungslos an der Tür stehen und hoffte, dass Harry bald kommen würde. Ungeduldig schaute er zur Schlafzimmertür hinüber, aber die regte sich nicht. Plötzlich spürte Severus ein leichtes Ziehen an seinem Umhang. Ein Blick nach unten bestätigte die Befürchtung, dass der Junge den Stoff der Kleidung zu fassen bekommen hatte und nicht daran dachte loszulassen. Severus zerrte an seinem Umhang, aber der Junge hatte seine Hände darin vergraben. Das Kind zog immer mehr, bis es am Ende auf den eigenen zwei Beinen stand. Mit einer Hand hielt Nicholas sich am Umhang fest, die andere suchte Halt an den Falten der Hose. Severus presste sich immer dichter mit dem Rücken an die Tür. Er spielte bereits mit dem Gedanken, laut nach Harry zu rufen, damit er endlich Erlösung von dem aufdringlichen Kind finden würde, da öffnete sich die Tür. Ginny trat heraus und blickte wie versteinert zu Severus und Nicholas hinüber. Nach einer Schrecksekunde brach eine Art willkommene Panik bei ihr aus.

„HARRY, HARRY!“, rief sie zittrig. „Komm schnell her!“

Severus konnte die Aufregung nicht nachvollziehen, war aber auf der Hut, als sie unerwartet ihren Stab zog. Von überreagierenden Müttern hatte er schon viel gehört. Doch sie griff ihn nicht an, dazu gab es seines Erachtens auch gar keinen Grund. Er war hier das Opfer. Das Kind stand noch immer bei ihm, trat ihm auch noch auf den Fuß, worin Severus sogar eine Absicht vermuteten wollten.

„Accio Kamera!“ Mit einem Male kam eine Kamera aus dem Schlafzimmer direkt in Ginnys Hände geflogen. Sie drückte in Windeseile ein paar Knöpfe an dem Gerät, bevor sie es auf Severus richtete. Erst jetzt ahnte er, was ihm blühte.
Mit ausgestrecktem Zeigefinger drohte er: „Wagen Sie es ja nicht, Miss Weasley!“

Schon blendete ihn der Blitz der Kamera. Er blinzelte einige Male, um den auf der Netzhaut gebrannten Fleck verschwinden zu lassen. Kaum blickte er auf, wurde er ein zweites Mal geblendet.

„Es reicht, Miss Weasley!“ Seine Einwände wurden vollkommen ignoriert, denn ein dritter Blitz beeinträchtigte sein Sehvermögen. Noch schlimmer wurde es, als Harry endlich aus dem Schlafzimmer kam, nur in Jogginghose und T-Shirt bekleidet.
„Oh mein Gott, oh mein Gott, oh mein Gott!“ Zu mehr begeisterten Worten war Harry nicht fähig, als er Nicholas bei Severus sah.
„Harry!“ Severus forderte mit seiner Tonlage dazu auf, umgehend mit dem Unfug aufzuhören.
„Er steht!“ Noch immer konnte Harry es nicht fassen, dass er dabei sein durfte, als Nicholas das erste Mal aufrecht stand und das ohne fremde Hilfe. Er hatte sich an Severus‘ Umhang hochgezogen und stand, wenn auch ein wenig hin- und herschlingernd, aus eigener Kraft.

Wegen des Aufruhrs, den seine Eltern im Zimmer veranstalteten, verlor Nicholas erst die Konzentration, dann das Gleichgewicht und er landete auf seinem durch die Windel gut gepolsterten Po. Es war Ginny, die den Kleinen vom Boden auflas und ihn mit hoher Stimme wegen seiner Leistung lobte. Harry schloss sich ihr an. Immerhin stellte das ein Ereignis dar, das es nur einmal im Leben gab.

„Ich werde besser nächste Woche wiederkommen.“ Severus hatte bereits die Hand an der Klinke, da hielt Harry ihn auf.
„Severus warte.“ Severus drehte sich um. Erleichtert verfolgte er, wie Ginny mit dem Kind ins Schlafzimmer ging. Die vorangegangene Situation versuchte Harry zu erklären. „Du musst schon entschuldigen, was eben passiert ist. Das war ein niemals wiederkehrender Moment, der wohl alle Eltern von den Socken haut.“ Bevor er noch ins Schwärmen geraten würde, fragte Harry: „Was gibt es denn?“
Severus schüttelte resignierend den Kopf. „Ich war ein Narr, hier herzukommen.“
„Warum denn? Wie kann ich helfen?“ Weil Severus mit einer Antwort zurückhielt, bot Harry ihm einen Platz an, den Severus nur zögernd annahm. „Also raus mit der Sprache.“

An seiner Unterlippe kauend blickte Severus erst auf seine Hände, dann auf den Boden. Es war die Gestalt des Animagus gewesen, die ihn dazu getrieben hatte, Harry aufzusuchen oder vielmehr das Gefühl, dass der Sekretär ihn so selbstlos erleben ließ. Das Gefühl, das auch schon Harry mit dem kleinen Unfall ausgelöst hatte.

„Severus?“ Harry machte einen verwirrten Eindruck, was auch verständlich war. Er hatte keine Ahnung, weshalb sein Kollege ihn aufgesucht hatte.
„Der Abend des Quidditch-Spiels“, half Severus ihm auf die Sprünge. „Was hast du gemacht, bevor sich die Magie aus dir gelöst hat?“
„Ich habe keine Ahnung“, versicherte Harry aufrichtig. Bei der Antwort rollte Severus mit den Augen, bevor er von der Couch aufstand. „Moment!“ Harry eilte seinem Gast hinterher. „Ich war glücklich.“
Severus schnaufte. „Bist du nicht immer glücklich?“ Das vorangegangene Szenario mit Nicholas, der zum ersten Mal alleine gestanden hatte, war ein gutes Beispiel dafür, wie leicht Harry zufriedenzustellen war.
„Es war mehr, es war wie eine vollkommene innere Zufriedenheit, die ich an dem Abend gespürt habe.“ Harry legte den Kopf schräg, kniff die Augen zusammen. „Warum fragst du das überhaupt?“
„Weil ich es wiederhaben will!“, erklärte Severus mit einer Bestimmtheit in der Stimme, die Harry eine Gänsehaut über den Rücken jagte.
„Wenn ich wüsste, wie das möglich ist, dann wärst du der Erste, dem ich davon erzählen würde.“
„Ich habe auf der Siegesfeier mitgehört, wie du Miss Lovegood versucht hast zu erklären, wie du Voldemort besiegt hast.“

Harry erinnerte sich daran. Vor Luna hatte er die Handbewegung nachgeahmt, die er mit seinem Stab gemacht hatte, als sich plötzlich die goldene Magiekugel aus seiner Hand löste. Vielleicht war es nur diese Handbewegung gewesen, dachte Harry.

„Ich kann es noch einmal versuchen“, bot er dem Tränkemeister an.
„Ich warte!“

Er entfernte sich einen Schritt von Severus, bevor er tief durchatmete und seine Hand hob. Harry ließ sein Handgelenk geschwind kreisen und machte eine abschüttelnde Bewegung in Richtung Severus. Es tat sich nichts.

„Es tut mir wirklich leid“, bedauerte Harry zutiefst.
„Einen Versuch war’s wert.“ Die Enttäuschung war nicht zu überhören. Severus hob und senkte die Schultern, die er am Ende noch ein niedriger hängen ließ als zuvor. Weder als Empfehlung noch als Bitte forderte Severus: „Wie wäre es, wenn du dich damit ein wenig beschäftigst!“
„War das ein Befehl?“, fragte Harry nach, denn es klang so.
„Ich verstehe nicht, wie du so interesselos sein kannst. Da hast du eine Gabe in dir und du versuchst nicht im Geringsten, ihr auf die Schliche zu kommen.“
„Wie soll ich das denn anstellen?“, fragte Harry grantig zurück. Der Vorwurf gefiel ihm gar nicht. Es wirkte so, als würde Severus ihn für unfähig halten.
„Ein wenig Meditation vielleicht, um zu ergründen, was genau es war, dass diesen Magiestoß ausgelöst hat! Es muss doch verdammt noch mal reproduzierbar sein!“
„Hey, nicht so laut bitte!“, wies Harry ihn zurecht.

Severus schien um Worte verlegen. Er hatte sich von seinem Besuch mehr erhofft, das konnte Harry sehen, und er war enttäuscht worden.

„An dem Tag des Spiels konnte ich die Gabe allein durch meinen Wunsch kontrollieren.“
„Das war aber die Gabe, Menschen und Dingen nicht mehr sehen zu wollen. Hat das mit der Magieentladung zu tun?“, fragte Severus nach.
Harry antwortete kleinlaut. „Ich weiß es nicht.“
„Und genau das meine ich! Hast du es nach diesem Tag überhaupt noch einmal versucht, diese Gabe anzuwenden?“
„Nein.“
„Dann kann man schwerlich behaupten, du würdest sie kontrollieren können. Was ist mit der magischen Kugel, die du so mir nichts, dir nichts aus dem Handgelenk geschleudert hast?“ Aufgrund der Frage senkte Harry beschämt seinen Blick. „Dachte ich’s mir! Du hast nichts getan, um diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Ist dir das alles völlig gleichgültig? Du bist vielleicht der mächtigste Zauberer der Welt und du ignorierst das einfach. Was für ein Zauberer bist du eigentlich?“
Auf diese Weise kritisiert zu werden konnte Harry gar nicht leiden, weswegen er gekränkt antwortete: „Einer, dem völlig egal ist, wie stark er ist!“ Er stemmte seine Hände in die Hüfte. „Und jetzt geh bitte. Ich möchte mir diesen schönen Tag nicht mit einer unnötigen Streiterei verderben lassen.“
„Wie kann man nur so ignorant sein?“
„Es ist genug, Severus! Selbst wenn ich genauso mächtig wie Albus wäre, was sollte ich dann deiner Meinung nach tun?“ Harry hob beide Hände in fragender Geste. „Die Weltherrschaft an mich reißen?“
„Das ist nicht witzig!“
„Aber es läuft doch darauf hinaus oder etwa nicht? Was nutzt einem alle Macht der Welt, wenn man die nicht dafür anwenden kann, andere zu unterjochen? Viele denken so, das weiß ich. Auch eine Menge Todesser denken so.“

Harry hatte Severus absichtlich provoziert und ließ von dem Thema auch nicht ab. Er erinnerte sich an die Zeit, als Albus geglaubt hatte, er wäre ein potenzieller neuer Dunkler Lord. Auch die Unterhaltung mit Draco, der Albus‘ abwegige Vermutung verspottete, schoss ihm durch den Kopf.

„Sollte ich es mir eines Tages anders überlegen und machtdürstend nach Anhängern für meine Sache suchen, dann wärst du der Erste, dem ich als mein Zeichen eine Kette aus Gänseblümchen um den Hals lege!“
„Was bitte?“, fragte Severus verwirrt nach.
„Beschwer dich bei Draco. Das war seine Idee.“

Die Lächerlichkeit der Worte und auch den Sinn, den Harry damit vermitteln wollte, hatte Severus zweifelsohne verstanden. Harry war jemand, der seine kräftige Magie höchstens dafür einsetzen wollte, ein ruhiges und schönes Familienleben zu führen – etwas, das ihm bis zu seinem 21. Lebensjahr verwehrt geblieben war.

„So meinte ich es nicht“, erklärte Severus verlegen. „Du könntest mit deinen Fähigkeiten zum Beispiel Zaubereiminister werden!“
Mit verzogenem Gesicht winkte Harry ab. „Ist mir zu zeitintensiv. Außerdem mag ich den jetzigen Minister und hoffe sehr, dass er bei der nächste Wahl nochmal gewinnt.“
„Trotzdem wäre von Vorteil, wenn du analysieren würdest, was alles in dir steckt.“
„Von mir aus. Sag mir, was ich machen soll und ich mach’s. Ich habe keine Ahnung, wie ich dabei vorgehen soll.“

Auch Severus wusste nicht, wie Harry seine in der Zaubererwelt so selten vorkommenden Fähigkeiten erforschen könnte. Er konnte lediglich mit den Schultern zucken, bevor er sich nochmals für sein Verhalten entschuldigte. Es war die Schuld seiner Animagusform, die ihn in der Hoffnung hergetrieben hatte, von Harry ein für allemal erlöst zu werden, aber offenbar gab es keinen bequemen Weg.

„Wir sehen uns beim Frühstück“, verabschiedete sich Severus.
„Einen Moment noch.“ Severus drehte sich zu Harry herum, damit der Gastgeber sein Anliegen vorbringen könnte, was der auch ohne Umschweife tat. „War es schwer, sich in einen Animagus zu verwandeln? Wie lange hast du gebraucht?“
„Für mich war es nicht schwer, aber meine Situation kann man auch nicht als normal bezeichnen.“
„Wie meinst du das?“
Severus kam ein paar Schritte auf Harry zu, damit er leise sprechen konnte. „Ich meine damit, dass meine kaum vorhandene Fähigkeit zu Empfindungen es mir sehr leicht gemacht hat. Von Minerva habe ich erfahren, dass das intensive Animagus-Training je nach Person einige Wochen umfasst, bis man seine Gestalt gefunden hat. Mir gelang es beim ersten Mal, weil ich weder Aufregung noch Begeisterung empfand, um nicht genau zu sagen: Es war mir völlig egal, was ich finden würde.“
„Was glaubst du wäre ich für ein Tier?“ Die Frage war ihm vorhin von Ginny nicht beantwortet worden.
„Die Auswahl an Möglichkeiten ist groß. Ich wage zu bezweifeln, dass ich dich gut genug kenne, um deine Form einschätzen zu können.“ Severus beäugte ihn einen Moment lang. „Fühlst du dich animiert?“
„Es macht mich eher neugierig“, erwiderte Harry ehrlich. Er hatte sich schon einige Male dabei erwischt, wie er seinen Patenonkel um dessen Fähigkeit beneidete.
„Ich bin mir sicher, Minerva würde ihrem ehemaligen Lieblingsschüler diesen Wunsch nicht abschlagen.“
Die Idee, die immer mehr Form annahm, gefiel Harry. Seine Augen glänzten, als er sich erkundigte. „Was für ein Gefühl ist es?“
„Es ist unbeschreiblich“, schwelgte Severus in Erinnerungen. „Black wird dir einiges erzählen können.“
„Aber er ist ein Hund. Ich möchte wissen wie es ist, wenn man aus eigener Kraft fliegen kann.“
„Ich vermute“, begann Severus nachdenklich, „dass jede einzelne Tiergestalt in erster Linie eine ganz bestimmte Sache herausarbeitet und das ist das Gefühl der ausnahmslosen Freiheit. Es ist egal, ob als Fisch im Wasser oder als Vogel in der Luft – man ist frei und man spürt das in jeder einzelnen Feder.“
„Oder Schuppe“, vervollständigte Harry.
„Oder Schuppe, ganz recht. Ich kann es nur jedem empfehlen, es selbst zu tun.“
„Ich bin schon überredet.“ Harry lächelte und zeigte somit, dass sie kleine Meinungsverschiedenheit von vorhin längst vergessen war.

Für Hermine hingegen war einiges noch lange nicht vergessen, besonders nicht der Moment, nachdem Severus ihr die Feder gegeben hatte. Er war nicht lange geblieben, hatte sich ihr nur sehr kurz in seiner Animagusform gezeigt. Nachdem er gegangen war, hatte sie sich zunächst über den Vogel informiert. Die Informationen waren spärlich, weil sie aus einem Lexikon stammten. Morgen würde sie sich ein Vogelbuch bei Flourish und Blotts kaufen; das nahm sie sich fest vor.

Als nächstes hatte sie sich der schwarzen Feder zugewandt, der sie die gleiche Behandlung zuteilwerden ließ wie den Hundehaaren. Am Ende der verschiedenen Aufschlüsselungszauber testete sie die Feder noch auf ihr Verhalten unter der Einwirkung von Hitze. Die Feder und der Kiel versengten und wieder roch es wegen des Keratins wie nach verbrannten Haaren.

Mit den Ergebnissen machte sie sich nun daran, den Wert der Feder zu errechnen. Erst danach würde die eigentliche Arbeit beginnen, aber sie schon arge hatte Schwierigkeiten, bei der Wertbestimmung. Sie bekam dreizehn verschiedene Zahlen heraus. Immer wieder rechnete sie nach. Am Ende blieb ihr nichts anderes übrig als den Wert zu nehmen, den sie am häufigsten errechnet hatte. Schon hier breitete sich ein unangenehmes Gefühl in ihrem Magen aus. Was, wenn die Zahl die Falsche wäre? Hermine nahm einen Gripsschärfungstrank ein und begann von vorn.

Stunden vergingen, bis sie endlich ein und dasselbe Ergebnis fünfundzwanzig Mal hintereinander bekam. Erst jetzt durfte sie sich sicher sein. Die Feder von Severus‘ Animagusform war mit der Zahl 414,40 bestimmt. Es war die gleiche Zahl, mit der sie vorhin schon mit der Aufgabe hätte beginnen können, wären ihr keine Zweifel gekommen. Nichts wollte sie dem Zufall überlassen. Lieber ein Mal mehr nachrechnen als mit ungenauen Ergebnissen arbeiten. Eine Heilung für Severus zu finden war die wohl bedeutendste Aufgabe ihres ganzen Lebens und sie wollte es von Anfang an richtig machen.

Nur kurz verschnaufte Hermine, machte sich derweil einen Kaffee, auch wenn sie selbst ein Teetrinker war. Kaffee putschte sie schon allein aufgrund des angenehm bitteren Geschmacks mehr auf als ein Schwarztee. Mit einem Kännchen machte sie sich wieder an die Arbeit.

Obwohl sie den Entschluss schon einmal gefasst hatte, fragte sie sich nun, welche Zahl die korrekte für die Seele wäre. Die der Wissenschaftler und Heiler oder die von Aristoteles? Ein Buch musste her. Dank ihrer Heilerausbildung hatte sie umfassende literarische Werke, auch die aus dem Zeitalter frühster Medizin, zudem einige aus der Muggelwelt. Sie las und las, fand dann einen Ausspruch von Aristoteles, der einmal gesagt hatte – Hermine las laut vor: „Ändert sich der Zustand der Seele, so ändert dies zugleich auch das Aussehen des Körpers und umgekehrt: ändert sich das Aussehen des Körpers, so ändert dies zugleich auch den Zustand der Seele.“

Unweigerlich musste Hermine an Severus‘ Augen denken, die schon seit längerer Zeit nicht mehr pechschwarz, sondern braun waren wie ihre eigenen. Hermine staunte, als sie Aristoteles‘ Seelenlehre überflog. Bei einem seiner Texte musste sie ihren Ärger herunterschlucken, denn er nannte das Weibliche unvollkommener als das Männliche.

„Waren wir also ein kleiner Chauvi?“, murmelte sie angriffslustig. Aristoteles konnte von Glück sagen, dass er bereits tot war, sonst hätte Hermine sich gern mal mit ihm unterhalten.

Kurzfristig las sie sich in andere Schriften ein, die aus dem alten Griechenland stammten. Alle nannten vier wichtige Punkte, die die Seele betrafen. Jeder Körper würde nur über eine einzelne Seele verfügen, stand dort als erster Punkt. Der zweite war, dass diese Seele durch Wanderung den Körper wechseln könnte. Die anderen beiden Punkte waren, dass die Seele nach dem Tod weiterexistieren würde und außerdem, sollte sie keinen Leib ihr eigenen nennen, mit anderen Seelen körperlos an einem Ort hausen. Als Beispiel wurde in einer urgermanischen Schrift erwähnt, dass einer dieser Orte, an denen Seelen auf neue Körper warten würden, „Ewiger See“ genannt wurde. Der Trank, den Severus eingenommen hatte, trug mit seiner zerstörenden Wirkung definitiv den falschen Namen.

Wieder bei Aristoteles angekommen stolperte sie über die Aussage „Freundschaft ist eine Seele in zwei Körpern. Gleichheit die Seele der Freundschaft.“. Sie war sich sicher, dass das eine Bedeutung hatte. Freundschaft war immer von großem Wert. Im Mungos hatte sie erfahren, dass Patienten, die weniger oder gar keinen Besuch bekamen, nicht so schnell den Weg der Genesung einschlugen wie Menschen, die von Familie und Freunden umgeben waren. Womöglich hatte Freundschaft sogar einen arithmantischen Zahlenwert, schoss es Hermine durch den Kopf.

Sie hatte an einigen Stellen das Gefühl, der griechische Philosoph würde von dem Tier im Menschen schreiben – von einem Animagus. Ihr Entschluss stand bald fest. Sie wollte sich an alle Zahlen halten, die man mit den Schriften von Aristoteles in Zusammenhang brachte. Zur Zahl der Seele addierte sie den Wert für den Schutztrank und subtrahierten den Wert für den Ewigen See, den sie vorher auch erst noch aufgrund aller angewandten Zutaten herausbekommen musste. Als Ergebnis bekam sie die Zahl 1294,2 – den Wert für Severus‘ Seelenkern. Nun musste sie sich daran machen, mit den Werten verschiedenster Zutaten mathematisch zu ermöglichen, dass der Wert von Severus‘ Seelenkern wuchs. Dabei musste sie sich an die Formeln halten, die die Arithmantik vorgab. Es war eine schwierige und zeitraubende Aufgabe. Hermine begann auf der Stelle.

Anstatt einen Kessel anzuwerfen und mit Zutaten zu brauen, braute sie mögliche Heilmittel wieder nur theoretisch mit den vielen Zahlen. Zum Glück gab es Bücher, in denen die jeweiligen Zahlen für Zutaten angegeben waren. Sie warf also nicht Pfeilkraut und Zuckerbüsche in einen Topf, sondern addierte stattdessen 186,1 und 345,78 unter Beachtung angewandter Mengenalgebra und den wichtigen Werten für den Siedepunkt. Es gab unzählige Wege. Der einzige Hinweis waren die Zutaten, die im Ewigen See verwendet wurden.

Hermine prüfte die Zutaten, die das Gegenteil der Zutaten des Ewigen Sees darstellten. Es wäre zu schön gewesen, gleich beim ersten Mal auf die Lösung zu stoßen, aber natürlich kam es anders. Wenn die Zutaten vom Wert her nicht passten, änderte sie die Zubereitungsform. Allein das Pfeilkraut hatte weit über dreihundert verschiedene Werte, je nachdem, ob die Zutat frisch war, an der Luft oder im Keller getrocknet, geschnitten oder zerstoßen, fein oder grob gemahlen wurde. Die Liste ließ sich mit auch mit den anderen Zutaten beliebig fortführen. Hermine musste herausfinden, wie welche Zutat zubereitet sein musste. Sie war mehr als froh, das Originalrezept des Ewigen Sees zu kennen, denn nur so konnte sie von vornherein Zutaten wählen, die eine wachsende Wirkung aufwiesen.

Als es unten laut klopfte, schreckte Hermine hoch. Sie eilte zur Ladentür, nur um dort einen Kunden stehen zu sehen, der mit Hilfe seiner Hand durch die Scheibe spähte. Als er sie sah, lächelte er und ging einen Schritt zurück, so dass Hermine öffnen konnte.

„Sie haben doch geöffnet oder?“, wollte der Herr mittleren Alters wissen. In seiner Hand hielt er ein Stück Pergament, auf dem ein Heiler etwas notiert hatte.
Hermine stutzte. „Wie spät haben wir es denn?“
„Es ist kurz nach neun.“

Die Nacht war wie im Flug vergangen. Den ersten Schwall an Kunden, die mit Heilmittelempfehlungen der in der Nähe angesiedelten Heiler bei ihr aufschlugen, fertigte sie innerhalb von zwei Stunden ab. Danach kamen nur vereinzelt Kunden, weswegen Hermine ihre Arithmantikberechnung mit in den Verkaufsraum genommen hatte. Unter der Theke, vor jedem verborgen, rechnete sie heimlich weiter, wenn sie ein wenig Luft hatte.

Kurz vor der Mittagspause machte sich ein unangenehmer Geruch im Verkaufsraum breit. Hermine blickte von ihren Unterlagen auf und bemerkte einen Mann, den sie nie zuvor gesehen hatte. Trotzdem hatte sie das Gefühl, ihm schon einmal begegnet zu sein.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie den Herrn, der nun erschrocken von einem Fläschchen abließ, das er eben betrachtete.
„Huch, ich habe Sie gar nicht gesehen.“ Er kam ein paar Schritte auf sie zu. Sein Umhang war schmutzig, er selbst wirkte nicht viel sauberer. Als er vor ihr stand, schlug ihr ein strenger Geruch entgegen. Buttersäure.
„Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“ Sie hielt sich zurück, nicht das Gesicht zu verziehen oder gar demonstrativ das Fenster zu öffnen. Der Mann stank nach altem Schweiß.
„Ich würde gern Vielsafttrank bestellen.“

Hermine wurde misstrauisch, entnahm dennoch einer Schublade ein Formular, das sie vor ihm auf den Tresen legte – mit einer Armlänge Abstand. Der Mann beguckte sich das Formular, ohne es zu berühren.

„Was ist das?“, wollte er wissen.
„Das Formular, das Sie ausfüllen müssen, bevor ich Ihnen Vielsafttrank verkaufen darf“, erklärte sie knapp.

Endlich nahm er das Pergament in die Hand und überflog die zig Fragen nach Name, Alter und Anschrift des Käufers sowie den Grund für die Verwandlung und den Namen der Person, in die sich verwandelt werden möchte.

„Warum zum Teufel wollen Sie das alles wissen?“ Seine raue Stimme klang grantig.
„Nicht ich will das wissen.“ Hermine hielt die Luft an und ging einen Schritt nach vorn, tippte dann auf das Zeichen des Ministeriums, das man oben im Kopf des Formulars sehen konnte. „Die wollen das wissen. Das sichert auch mich ab, damit ich nicht belangt werden kann, wenn Unfug damit getrieben wird.“

Der übelriechende Kunde schnaufte. Aus reinem Instinkt wich Hermine eine Schritt zurück, um nicht noch seinem Atem ausgesetzt zu sein, der sicherlich nicht besser roch.

„Und was ist, wenn ich mit meiner Frau einfach nur für eine Stunde die Rollen tauschen möchte?“
Sie zuckte mit den Schultern und nickte zum Pergament hinüber. „Da ist die Spalte für den Grund.“
„Das ist doch albern!“, schimpfte der Mann.
„Nein, das ist Gesetz.“

Durch zusammengekniffene Lider blickte er sie fies an. Ein ungutes Gefühl überkam sie, aber sie konnte es nicht einordnen. Irgendwoher kannte sie ihn, aber sein Gesicht war ihr vollkommen fremd. Vielleicht, vermutete sie verängstigt, war er längst durch Vielsafttrank verwandelt?

„Darf ich das mitnehmen?“ Der Kunde winkte mit dem Formular, so dass sie nickte. „Gut.“ Er verstaute es in seinem Umhang. „Dann nehme ich noch was gegen Kopfschmerzen.“ Als Hermine sich umdrehte, um aus dem Regal hinter sich das Glas mit den Dragees zu nehmen, hörte sie seine raue Stimme sagen: „Danke, Schätzchen.“

Das Blut gefror ihr in den Adern, denn endlich wusste sie, woher sie diesen Mann kannte – seine raue Stimme, diese Worte und der übler Geruch. Er war einer von den beiden gewesen, die sie auf dem Weg zu Gringotts überfallen hatten. Ihr Herz schlug plötzlich so heftig, dass sie befürchtete, er könnte es hören. All ihren Mut zusammennehmend nahm sie das Glas und drehte sie um; machte dabei gute Miene zum bösen Spiel.

„Wie viele sollen es sein?“ Sie hielt bereits eine kleine Papiertüte in der Hand, in der sie die Dragees füllen wollte.
„Zwanzig reichen. Was kostet das?“

Hermine beobachtete, wie der Dieb ein Säckchen aus seinem Umhang fischte, das ihr sehr bekannt vorkam. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, die gestohlenen Galleonen in einen eigenen Geldbeutel umzufüllen. Stattdessen trug er den ihren bei sich. Hermine ließ sich nichts anmerken.

„Dreißig Sickel und zehn Knuts.“
„Das ist aber preiswert“, murmelte er, als er von ihrem Geld den entsprechenden Betrag abzählte und auf die Theke legte. „Machen Sie dabei eigentlich einen guten Gewinn?“

Ihre Atmung wurde immer hastiger. Die Erinnerungen an den Überfall waren wieder sehr präsent. Auch wenn es taghell war und sie draußen einige Menschen die Winkelgasse entlangschlendern sah, bekam sie es langsam mit der Angst zu tun.

„Warum fragen Sie?“ Nur in Gedanken fügte sie hinzu: ‘Um mich nochmal auszurauben?‘
„Weil ich Ihnen durchaus viel mehr Geld anbieten würden, wenn wir die Sache mit dem“, er lehnte sich über die Theke und verbreitete damit seinen scheußlichen Gestank noch viel mehr, „Formular vom Ministerium vergessen könnten? Ich würde nicht geizen.“

Der Vorwurf lag ihr auf der Zunge, dass er nicht einmal mit seinem eigenen Geld bezahlen wollte. Rechtschaffen, wie Hermine war, richtete es sich gegen all ihre Prinzipien, auf diesen Handel einzugehen, doch andererseits hätte sie nur so die Möglichkeit, später mit Severus‘ Hilfe diesen Mann dingfest zu machen.

„Was würden Sie mir denn anbieten?“, fragte sie mit einer Unschuldsmiene.
„Was kostet der Trank normalerweise?“
„32 Galleonen.“
Der Mann verzog das Gesicht, bevor er fies grinste. „Machen wir 20 draus. Vergessen Sie nicht, dass der Betrag für Sie ‘steuerfrei‘ ist.“
„Vergessen Sie nicht, dass es einen Monat braucht, um ihn zu brauen“, erinnerte sie ihn. „Sagen wir 25 und es wird was draus.“

Eine schmutzige Hand mit schwarzen Fingernägeln streckte sich ihr entgegen. Nur wiederwillig schlug sie ein.

„Dann bis in einem Monat.“

Der Kunde war kaum zur Tür raus, da schloss Hermine die Apotheke und eilte nach oben ins Badezimmer, um sich angeekelt die Hände zu waschen. Sie zitterte am ganzen Leib. Nur der Gedanke an eine gerechte Strafe, die dem Mann blühen würde, ließ sie die Furcht bekämpfen.

Die Option, in einem Monat einen Vielsafttrank zu erhalten, um damit vielleicht näher an Harry Potter zu gelangen, ließ Stringer aufatmen. Die von Hopkins versprochene Belohnung kündigte für ihn und seinen Kumpel Fogg ein angenehmes Leben an. Beide würden nicht mehr in einem heruntergekommenen Gasthaus in der Nokturngasse leben müssen und Fogg könnte sich den notwendigen Wolfsbanntrank auch ehrlich erwerben, vorausgesetzt er wollte das überhaupt.

An den alternden Dirnen vorbei und die Schwarzhändler passierend traf er im Gasthaus „Der Gehängte“ ein. Die Zimmer in dieser Schenke waren so preiswert, weil der namensgebende Gehängte noch immer dort umherspukte und auch nachts laut stöhnend jedem sein Leid klagte, ob man es hören wollte oder nicht. Der Wirt war für jeden Gast dankbar, der für eines der miesen Zimmer den geringen Preis zu zahlen bereit war. Fogg und Stringer stellten momentan die einzigen Besucher dar, die für einen Monat im Voraus bezahlt hatten. Wenn Vollmond wäre, müsste zumindest Fogg wieder in die Wälder ziehen, sonst würde man ihn wegen des Lärms rauswerfen oder dem Ministerium melden. Stringer ging die brüchigen Stufen hinauf in den ersten Stock, in dem sich die Zimmer befanden.

Fogg saß an einem wackligen Tisch und las in einer gestohlenen Zeitung, blickte erst auf, als Stringer ihn grüßte.

„Hast du was zu essen mitgebracht?“
„Die Läden haben jetzt geschlossen. Ich hole nachmittags was“, versicherte Stringer. Zur Antwort knurrte Foggs Magen.
„Ich hab Hunger!“
„Später! Ich war in einer Apotheke und hab Vielsafttrank geordert. Nur für den Fall, dass unsere Pläne nicht in den nächsten vier Wochen eingehalten werden können.“
Fogg legte die Zeitung beiseite und blickt seinen Gefährten ungläubig an. „Was denn für Pläne? Wir haben keine Pläne oder ist mir da was entgangen?“
„Wir sollten uns aber langsam mal Gedanken machen, wie wir an Potter rankommen können, ohne dass seine Freunde uns gleich mit Flüchen grillen.“

Unverständlich murmelte Fogg etwas vor sich hin. Er glaubte nicht daran, den Auftrag von Hopkins ausführen zu können. Er wollte Potter nicht einmal entführen. Erstens war er ein sehr mächtiger Zauberer, bei dem man auf der Hut sein musste und zweitens las er gerade einen Artikel in der Muggelpost, in dem sich Potter für die Rechte der Werwölfe starkmachte – sich für Fogg und seinesgleichen einsetzte.

„Die Brüder waren hier“, murrte Fogg unzufrieden. „Gehen mir langsam auf die Nerven mit ihren ständigen Fragen über unser Vorankommen.“
„Hopkins will uns im Auge behalten, falls wir uns mit dem Vorschuss aus dem Staub machen sollten. Was stören dich die beiden Squibs? Die haben gegen uns keine Chance, sollten wir wirklich verschwinden.“ Stringer setzte sich auf den anderen Stuhl, der unter der Last laut stöhnte. Es entging ihm nicht, dass Fogg mit seinem eigenen Stuhl etwas abrückte, sehr wahrscheinlich wegen des üblen Körpergeruchs. „Du weißt, dass ich nichts dafür kann“, verteidigte sich Stringer, bevor er belustigt hinzufügte, „aber es hat einen Vorteil: Meine Feinde möchten mir nicht zu nahe kommen.“
„Es hat aber auch den Nachteil, dass deine Freunde sich dir auch nicht nähern möchten. Bei Merlins Bart, nimm ein Bad! Dann hat meine Nase wenigstens eine Stunde Ruhe.“
„Und danach fängt es wieder an, also wozu die Mühe?“
Fogg schnaufte gereizt. „Du könntest wenigstens so tun, als würde es dich selbst auch stören. Das kommt eben davon, wenn man eine Hexe heiratet und mit deren Schwester ein Techtelmechtel beginnt. Das würde nicht mal ich tun, so anständig wie ich bin.“
„Anständig? Und das aus dem Munde eines Diebs, Hehlers und Betrügers!“ Stringer lachte auf, rückte sich dabei die Zeitung gerade, die Fogg dort abgelegt hatte. „Außerdem bin ich sicher, dass wir mit dem Geld von Hopkins endlich einen Fluchbrecher bezahlen können, der sich um den Gestank kümmert, den meine werte Gattin mir für das ‘faule Spielchen‘, das ich mit ihr getrieben habe, angehext hat.“
Der Werwolf seufzte und blickte aus dem Fenster. „Ich bete zu Merlin und Morgana, dass es wenigstens dagegen ein Mittel gibt.“ Mit mehr als dem Wolfsbanntrank konnte Fogg nicht rechnen.

Ohne etwas zu essen, obwohl besonders Foggs Magen dringend etwas benötigte, nahmen beide wenigstens eine Tasse Tee zu sich, um sich die Zeit bis zum Nachmittag vertreiben zu können. Natürlich schmiedeten sie auch Pläne, von denen sie die meisten gleich wieder verwerfen mussten, weil Potter nicht leicht zu bekommen wäre.

„Und wenn wir uns als Journalisten ausgeben?“ Fogg tippte auf die Zeitung. „Er gibt ja offensichtlich wieder Interviews!“
„Wer von uns soll mit diesem Anliegen an ihn herantreten?“ Stringer zeigte auf sich selbst. „Der Stinker oder“, er deutet zu seinem Kumpan, „der Typ mit der dicken Narbe am Hals? Ich würde keinen von uns auch nur einen Meter an mich heranlassen, wäre ich Potter.“
„Wir könnten die Mitleidsmasche fahren und mich als armen, bedauernswürdigen Werwolf hinstellen, der sich von dem großen Harry Potter ein wenig Hoffnung verspricht.“
„Das wäre nicht einmal gelogen“, warf Stringer ein, als er den Artikel in der Muggelpost überflog, „ich meine das mit dem ‘arm und bedauernswürdig‘.“
„Jedenfalls kann man mich nicht zehn Meilen gegen den Wind riechen!“
Stringer war etwas anderes eingefallen. „Sind nicht bald Prüfungen? Die ZAGs?“
„Klar“, stimmte Stringer zu, „und zwar in Hogwarts, hinter dicken Mauern und einer Menge Schutzzaubern.“
„Ja, aber wir könnten uns als Prüfer ausgeben!“
Aufgebracht schüttelte Fogg den Kopf. „Du auf keinen Fall. Du bist viel zu auffällig. Und ich?“ Nochmals schüttelte er den Kopf. „Mich hat man dort auch nie gesehen. Ich hab keine Lust, von Dumbledore in ein Gespräch verwickelt zu werden. Ich könnte wetten, er benötigt keine fünf Minuten, um herauszufinden, wer ich bin, was ich vorhabe und wie der Name von meinem Lieblingsteddy war, den meine Mutter mir als Kind geschenkt hat.“
Stringer winkte ab. „So gut ist der nun auch nicht.“
„Nein, hast recht, er ist besser. Vergiss es! Mich kriegen keine zehn Pferde nach Hogwarts. Das wäre Selbstmord.“

Seufzend griff Stringer in seine Innentasche, um die Tüte mit den Kopfschmerzdragees zu entnehmen. Er warf sie vor Fogg auf den Tisch.

„Gegen deine Kopfschmerzen.“
Die Tüte an sich nehmend klärte Fogg ihn auf. „Die sind gar nicht für mich. Die Roth-Brüder wollten die für Hopkins haben. Er darf nur nicht wissen, dass es ein Heilmittel aus unserer Welt ist. Deren Aspirin hilft offenbar schon lange nicht mehr gegen seine Kopfschmerzen.“
„Der Typ hat sowieso einen Knall. Ich meine, was will er überhaupt?“ Stringer untermalte seine Frage mit beiden Händen. „Ein Muggel, der von unserer Welt erzählt bekam, will sich Potter schnappen, um was zu tun?“
Mit schräg gelegtem Kopf offenbarte Fogg kleinlaut: „Das wird irgendwas Politisches sein und von sowas habe ich keine Ahnung.“
„Was Politisches? Ich bitte dich, das ist doch Quatsch. Wo bitte ist Potter politisch aktiv? Er hat sogar die Wahl zum Minister ausgeschlagen.“
Wie aus der Pistole geschossen versicherte Fogg: „Ich hätte ihn gewählt!“
„Du hast damals auch Fudge gewählt, weil jemand deine Stimme gekauft hat!“, warf ihm Stringer vor.
Fogg grinste verschmitzt. „Ich war jung und brauchte das Geld.“
„Du warst schon immer ein Gauner, Fogg! Käuflich.“
„Das ist nicht wahr! Das bin ich erst, nachdem ich gebissen wurde. Vorher hatte ich rein gar nichts an meinem Leben auszusetzen.“
„Du nicht“, stimmte Stringer zu, „aber deine Schwiegereltern. Du hast mir nie erzählt, wie es dazu gekommen ist, dass man dich rausgeworfen hat.“
„Das werde ich auch niemandem erzählen.“

Mittlerweile wirkte Fogg trotzig. So wurde er immer, wenn er über etwas nicht reden wollte. Stringer beließ es dabei. Er selbst hatte wenig angenehme Erinnerungen an seine Vergangenheit, besonders an seine Frau. Für sein geruchsintentives Schicksal war er durch seine Untreue selbst verantwortlich. Fogg hingegen wurde von einem Werwolf gebissen und erlebte erst dann die gesamte Palette an Ungerechtigkeiten, die über ihn eingebrochen war, ohne dass er sich wehren konnte.

Fogg blickte starr auf das Foto von Harry Potter, das das Titelbild der Muggelpost zierte. Er war schon lange kein kleiner Junge mehr. Das letzte Bild vom Idol der Zaubererwelt hatte Fogg kurz nach dem Krieg gesehen, als Potter und einige andere einen Orden erhalten hatten.

„Wenn wir Vielsafttrank haben, in wen würden wir uns verwandeln wollen?“
„Ich habe keine Ahnung. Ehrlich gesagt habe ich den Vielsafttrank nur bestellt, falls uns bis dahin etwas einfallen sollte. Der braucht immerhin einen Monat.“
Einen Augenblick lang überlegte Fogg, bevor er aufschaute und erschrocken fragte: „Das hast du doch nicht etwa hier in der Nokturngasse bestellt? Du weißt, dass die unsauber arbeiten.“
„Ich bin doch nicht irre und trinke etwas, was diese Gauner einen Monat lang unter fragwürdigen hygienischen Umständen zusammenpampen. Nein, ich war in der Winkelgasse bei jemandem, der etwas von seinem Job versteht.“
Durch zusammengekniffene Augen blickte Fogg ihn an. „Du hast nicht etwa bei der Kleinen bestellt? Bei der neuen Apothekerin, die wir ausgeraubt haben.“
„Haben wir sie ausgeraubt?“ Stringer zuckte mit den Schultern. „Wir überfallen so viele Menschen, da wird mir das entfallen sein.“
„Werd‘ ja nicht unvorsichtig, hörst du?“, warnte Fogg seinen Kumpel.
„Überleg lieber, wie wir …“

Stringer wurde unterbrochen, als es an der Tür klopfte. Nach einem lauten Herein betraten Arnold und Alex das Zimmer. Beide verzogen angewidert das Gesicht.

„Ah, meine Freunde“, stichelte Stringer. „Was führt euch in unser bescheidenes Heim?“
„Wir wollen uns vergewissern“, begann der ältere der beiden Squibs, „dass ihr auch an dem Job arbeitet, den Mr. Hopkins euch auferlegt hat.“
„Mmmh“, macht Stringer nachdenklich, aber auch amüsiert. „Seit wann sind wir so sehr befreundet, dass wir uns sogar duzen? Oder gehört das dazu, wenn man für Hopkins einen Auftrag ausführt.“
Der jüngere Bruder fragte spöttelnd: „Wird der Auftrag denn ausgeführt? Denn wisst ihr: Jedes Mal, wenn wir einen Kontrollbesuch machen, sitzt ihr nur da und unterhaltet euch.“
Fogg schnaufte aufgebracht. „Das nennt man ‘Pläne schmieden‘, du Idiot!“
„Pläne? Würde es euch etwas ausmachen, uns in diese Pläne einzuweihen?“, fragte Arnold.

Von seinem Stuhl stand Stringer auf, um auf Arnold zuzugehen, der verständlicherweise vor dem Geruch zu fliehen versuchte und rückwärts ging, bis ein Schrank ihn aufhielt. Stringer grinste bösartig.

„Vielleicht“, hauchte er den Squib an, „weihen wir euch nicht ein, weil ihr die Pläne einfach nicht verstehen würdet? Würde mich überraschen, wenn Ausgestoßene wie ihr etwas über Vielsafttrank wisst.“ Mit einer Hand stützte sich Stringer an dem Schrank hinter Arnold ab, genau neben dessen Kopf, woraufhin die Geruchspartikel des Unterarms besonders gut zur Geltung kamen. Arnolds verzogene Miene sprach Bände. „Oder bist du Experte auf dem Gebiet der Zaubertränke?“, spöttelte Stringer. „Wie lange habt ihr beide in der Zaubererwelt leben dürfen, bevor eure Eltern erfahren haben, dass ihr ‘nur‘ Squibs seid?“ Er hatte das Wort „nur“ absichtlich sehr geringschätzig betont und erhielt daraufhin die Reaktion, die er erhofft hatte hervorzurufen. Arnold stieß ihn wütend von sich. Einen Augenblick lang torkelte Stringer, bevor er das Gleichgewicht wiedergefunden hatte.
„Mein Leben hat dich nicht zu interessieren!“, keifte Arnold.
„Vielleicht aber doch? Warum habt ihr nicht in der Muggelwelt ein eigenes Leben begonnen, anstatt euch wieder und wieder hier herumzutreiben und euch der Demütigung auszusetzen, die ihr ohne Frage mit Sicherheit erfahrt? Könnt ihr etwa von der magischen Welt nicht loslassen? Oder wollt ihr nur nicht loslassen, weil sie euch verzaubert hat?“

Fogg hielt sich völlig heraus. Er kannte den Zorn, den Stringer tag ein, tag aus in seinem Herzen mit sich führte. Es wäre ratsam, nicht selbst das Ziel der Bösartigkeiten zu werden, also ließ er seinen Freund die anderen beiden zusammenstauchen, auch wenn er Mitleid mit ihnen hatte. Arnold und Alex zählten wie er zu einer von der Zauberergesellschaft verachteten Minderheit. Der jüngere Bruder, Alex, hielt sich ebenfalls zurück, beobachtete die kleine Auseinandersetzung aber sehr aufmerksam.

Seine verletzenden Anmerkungen hielt Stringer nicht im Zaum, als er das Wort erneut an Arnold richtete.

„Oder habt ihr euch einem Muggel angeschlossen, um eines Tages Rache für eure Verbannung ausüben zu können?“ Stringer fletschte die Zähne. „Und das alles nur, weil Mami und Papi euch eines Tages nicht mehr lieb gehabt haben!“

Die Luft in diesem kleinen Zimmer brannte. Arnold war nicht mehr zu halten und stürzte sich auf Stringer, der nicht einmal die Zeit fand, seinen Zauberstab zu ziehen. Den hatte Arnold in Windeseile aus dem Umhang gezerrt und weit weggeworfen. Der Stab rollte in eine Ritze und verschwand unter den Dielen.

Als Fogg sich von der Schocksekunde erholt hatte, sprang er von seinem Stuhl auf, um seinem Freund zu Hilfe zu eilen, doch auch er bekam seinen Stab nicht zu fassen. Alex setzte sich gleichermaßen für seinen Bruder ein. Der jüngere der Squibs stürzte sich auf Fogg und warf ihn zu Boden. Weder Stringer noch Fogg fanden Zeit und Konzentration dafür, ihren Zauberstab mit einem stablosen Aufrufezauber heranzuschaffen. Stringer fand sich auf dem Rücken liegend wieder, Arnold mit geballter Faust über ihm. Der junge Mann schlug so schnell zu, dass Stringer sogar ein Geräusch wahrnehmen konnte, als die Faust die Luft zerriss. Den knackenden Laut, als die Zähne aufeinanderstießen, hörte jeder im Raum.

Auch Alex hatte Fogg noch immer unter sich begraben. Er griff nach einem schweren Aschenbecher, der vom Tisch gefallen war.

„Nein!“ Fogg fürchtete um sein Leben. Ein schwerer Aschenbecher aus Granit und der menschliche Schädel vertrugen sich nicht. „Das kannst du nicht machen! Willst du mich umbringen?“

Alex zögerte, warf den Aschenbecher dann von sich und schlug mit der Faust zu. Der stechende Schmerz der Nasenwurzel breitete sich sofort im ganzen Gesicht aus. Fogg stöhnte laut auf, versuchte sein Gesicht mit den Händen zu schützen, doch ein weiterer Schlag blieb zum Glück aus. Etwas Warmes, das seinen Hals hinunterlief, löste erst einen Schluckreflex aus. Kurz darauf würgte er. Alex ließ ihn nicht los, auch nicht, als Fogg seinen Kopf zur Seite rollte und das Blut erbrach, das sich aus einer nicht sichtbaren Wunde einen Weg durch die Nasennebenhöhlen suchte. Zumindest wurde er nur noch festgehalten, aber nicht mehr von Alex geschlagen.

Anders sah es bei Arnold und Stringer aus. Letzterer lag wie sein Freund mit dem Rücken auf dem Boden; Arnold mit drohenden Fäusten über ihm. Stringer gab seinem Angreifer einen kräftigen Tritt, womit er ihn am Steißbein traf. Den abgelenkten Mann konnte er endlich von sich stoßen. Sogleich rappelte sich Arnold wieder auf und trat wahllos auf sein Opfer ein, das gerade vom Boden aufstehen wollte. Er traf dabei das Knie von Stringer, der daraufhin erneut zusammensackte. Wieder trat Arnold zu, direkt in den Bauch. Stringer heulte auf wie ein Tier und krümmte sich, blickte durch Tränen zu seinem Peiniger hinauf.

„Du kämpfst wie ein Mädchen!“ Arnold spuckte auf Stringer, bevor er ihm nochmals einen Tritt in die gleiche Stelle gab, dabei die Unterarme traf, mit denen der am Boden Liegenden sich schützen wollte. „Ohne eure Stäbe seid ihr so hilflos. Ich hätte gut Lust“, er trat nochmals zu, „dir eine Lektion zu erteilen, die du niemals in deinem Leben vergessen wirst.“

Arnolds Blick fiel auf den Aschenbecher aus Granit, den er im Nu in der Hand hielt. Um sich in Sicherheit zu bringen, kroch Stringer mit schmerzverzerrtem Gesicht über den rauen Holzboden. Er hoffte, seinen Zauberstab zu erreichen, doch Arnold hatte sich ihm erneut genähert und seine Ankunft mit einem weiteren Tritt angekündigt.

„Wohin denn so eilig, Mr. Stringer?“
„Du verdammter Squib!“ Mit dieser Bemerkung heimste er einen weiteren Tritt ein, doch Stringer ließ nicht locker. „So zerfressen vom Hass? Soll jeder einzelne Zauberer, jede einzelne Hexe dran glauben?“ Er zuckte zusammen, als er mit einem weiteren Fußtritt rechnete, doch der blieb aus. „Auch die, die euch gegenüber keine Vorurteile haben?“
„Jeder hat Vorurteile gegen uns.“
Es irritierte Arnold, dass gerade sein Bruder ihm wiedersprach und beteuerte: „Das ist nicht wahr!“
„Halt deinen Mund!“

Mit seinen Knien hatte Arnold die Arme von Stringer am Boden fixiert, als er sich wieder auf ihn gestürzt hatte. Er saß halb auf dem Bauch, halb auf dem Brustkorb auf dem wehrlosen Zauberer. Mit beiden Händen hob er den großen Aschenbecher über den eigenen Kopf. Dabei beobachtete er das Gesicht von Stringer, doch was er sah, gefiel ihm offenbar nicht. Stringer sprach es mit einem schiefen Lächeln an.

„Was denn? Erwartest du etwa Angst? Nicht von mir, bedaure. Der Krieg hat mich viele Dinge ertragen lassen. Der eigene Tod scheint da geradezu harmlos wie ein Kätzchen, das ich schon mehr als einmal in meinem Leben streicheln musste. Du willst mir Angst machen? Werd‘ erst einmal erwachsen, Jungchen.“
Von einer blechernen Stimme hörte man plötzlich die anspornenden Worte: „Schlag zu, Bursche. Es ist so einsam hier.“

Der Gehängte, der im Wirtshaus spukte, war unbemerkt durch die verschlossene Tür gekommen und hoffte nun offenbar auf einen Gefährten in seiner einsamen Existenz als Geist. Doch nicht nur der Geist des Gehängten, sondern auch der Wirt war auf den Kampf im ersten Stock aufmerksam geworden. Mit einem lauten Krachen verschaffte sich jemand Zutritt. Der leicht untersetzte Wirt hatte die Tür aus den Angeln gehoben und richtete seinen Zauberstab nacheinander auf Fogg und Alex, dann auf Stringer und am Ende auf Arnold, der nun langsam die Arme senkte und den Aschenbecher auf den Boden warf.

„Nur ungern“, begann der Wirt aufgebracht, „hole ich die Polizeibrigade, aber wenn hier nicht langsam Ruhe herrscht …“
„Keine Sorge“, unterbrach Arnold, bevor er von Stringer abließ und aufstand. „Wir wollten sowieso gerade gehen.“

In Richtung seines Bruders machte Arnold eine Kopfbewegung, mit der er Alex dazu aufforderte, ihm zu folgen. Alex ließ Foggs Arme los und stand auf. Beide Squibs drängten sich am beleibten Wirt vorbei ins Freie. Der Wirt blickte ihnen kurz nach, bevor er seine Gäste betrachtete.

„Was wollten die Kerle?“
Stringer spielte die Begegnung hinunter. Der Inhaber des Gasthauses durfte nicht zu viel erfahren. „Wir hatten nur eine kleine Meinungsverschiedenheit.“
„Eine kleine?“ Der Wirt zog beide Augenbrauen in die Höhe, womit sein helles Gesicht einem Vollmond glich. „Sah mir eher nach einer großen aus.“ Als er Fogg betrachtete, der sich nun aufgerichtete hatte und sich die Nase hielt, aus der er unaufhörlich blutete, empfahl er: „Sie sollten das von einem Heiler ansehen lassen. Sieht nicht gut aus.“

Stringer blutete zwar nicht, aber die unzähligen Tritte in den Magen und auf die Gliedmaßen würden eine Menge blauer Flecken hinterlassen. Er konnte jetzt schon einen Schmerz ausmachen, der einem starken Muskelkater glich. Als er aufstehen wollte, krümmte er sich und hielt sich den Bauch, so dass der Wirt ihm aufhalf.

Mit ausdrucksloser Miene betrachtete der Geist des Gehängten die drei Männer und zog enttäuscht von dannen, als ihm bewusst wurde, heute mit keinem Toten mehr rechnen zu dürfen. Der Wirt folgte dem Geist, nachdem Stringer ihm versichert hatte, sich um seinen verletzten Freund zu kümmern. Das tat er jedoch nur verbal.

„Geh zu einem Heiler“, stöhnte er, weil die eigenen Schmerzen sich bei jeder Bewegung bemerkbar machten. Aus seinem Umhang zog er einen Geldsack, aus dem er fünf Galleonen entnahm. Die reichte er Fogg. „Oder hol dir in einer Apotheke was dagegen.“ Besorgt zeigte er auf das viele Blut. Fogg hatte die Augen geschlossen. Obwohl er eine Hand schützend vors Gesicht hielt, konnte man das rot verschmierte Kinn sehen. Der schwarze Umhang wirkte auf das Blut allerdings wie Löschpapier, denn man sah dort nichts, ahnte aber, dass der Stoff feucht sein musste.

Ohne ein Wort zu verlieren sammelte Fogg die Münzen ein und verließ das Wirtshaus. In der Nokturngasse beachtete man ihn trotz des Blutes nicht mehr als sonst. Hier, wo sich Diebe, Mörder und andere zwielichtige Gestalten herumtrieben, stellte man keine Fragen.

Vorbei an Flourish und Blotts passierte er den kleinen Weg, der zur wenig belebten Winkelgasse führte. Es war Fogg egal, wer ihm helfen würde. Wichtig war nur, dass ihm sehr bald jemand die Schmerzen nahm. Die Menschen, die er auf seinem Weg traf und die ihm tuschelnd hinterherstarrten, beachtete er nicht. Vom eintretenden Schwindel leicht benommen torkelte er auf ein Schaufenster zu, in welchem sich gerade die dargebotenen Artikel wie von selbst neu anzuordnen schienen.

Hermine, die gerade dabei war, im Ladenfenster auch ihre eigenständig erfundenen Stimmungsaufheller unterzubringen, bemerkte den Mann, der schleichend an der Apotheke vorüberging. Ihr geschulter Blickt sagte ihr nicht nur, dass es sich bei ihm um Mr. Doppel-X handelte, sondern auch, dass es ihm sehr schlecht ging. Obwohl es noch nicht an der Zeit war, öffnete sie ihren Laden und rannte dem Verletzten hinterher.

„Warten Sie!“, hörte Fogg eine weibliche Stimme. Er gehorchte, drehte sich jedoch nicht um, sondern schloss erneut die Augen. An seiner Schulter fühlte er eine Hand, die ein wenig Druck ausübte und ihn dazu aufforderte, sich umzudrehen. Dann folgte wieder die angenehme Stimme: „Kommen Sie mit. Ich kümmere mich darum.“

Wenn sie die Erste sein wollte, die ihm helfen würde, wollte er das Angebot gern annehmen, also ließ er sich von ihr führen. In der Apotheke wurde ihm erst bewusst, wo er sich befand und wer die Frau war. Er hatte sich bei ihr dreimal den Wolfsbanntrank ergaunert und hoffte innig, dass sie das nicht bemerkt hatte oder ihn gar wiedererkannte.

„Zeigen Sie mal.“ Hermine nahm seine Hand in ihre und zog sie von der Nase weg. Es blutete wie ein Wasserfall. Leichte Schwellungen waren bereits zu sehen. „Autsch“, kommentierte sie mitfühlend. „Auch ohne Diagnosezauber kann ich sagen, dass die Nase gebrochen ist. Warten Sie, ich hole etwas.“

Im Labor, in dem sich bereits Severus befand und zwei Tränke für Kunden parallel braute, suchte sie in einem Schrank nach einem Mittel, für das sie selten Verwendung fand. Es war ähnlich wie Skele-Wachs, nur dass es nicht nur Knochen heilen konnte, sondern auch den Knorpel in der Nase.

„Rate mal“, richtete sie das Wort an Severus, „wer gerade mit gebrochener Nase in meinem Verkaufsraum wartet?“ Weil er nicht einmal eine Vermutung hatte und sich nicht äußerte, lüftete sie das Geheimnis. „Mr. Doppel-X.“
„Nein!“, entwich es ihm überrascht. Seine Augen strahlten bei der Aussicht auf Vergeltung. „Dann werde ich mal …“ Severus wurde von ihr aufgehalten, als er nach draußen stürmen wollte, um sich den Zechpreller zur Brust zu nehmen.
„Nicht, Severus. Es geht ihm nicht gut.“

Er stutzte und sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren. Was er an ihr ausmachen konnte, stimmte ihn mit einem Schlag wieder milde, denn Hermines Gesichtsausdruck war voller Güte. Im Moment war sie eine Heilerin ohne Vorurteile oder Ablehnung.

„Wenn du mit ihm fertig bist, dann schick ihn zu mir herein“, bat Severus trocken. „Und stell den Trank nicht so weit weg, du könntest ihn, wenn ich mit dem Herrn fertig bin, noch einmal benötigen.“
„Solche Dinge lassen sich auch anders regeln, Severus.“

Mit diesen Worten verließ sie das Labor, um erneut den Werwolf aufzusuchen. Der hatte sich mittlerweile auf einen kleinen Hocker gesetzt, der meist von der ehemaligen Besitzerin Mrs. Cara benutzt wurde, weil die nicht so lange stehen konnte.

„Hier“, Hermine hielt ihm die Phiole unter die Nase, „trinken Sie das, Mr. …“
„Fogg“, gab er sich unbeabsichtigt zu erkennen. „Danke.“
Während ihr Patient trank, erklärte Hermine: „Es wird ein wenig zwacken, aber nicht schlimm. Danach sollten sie für eine Stunde die Nase nicht berühren, sie für drei weitere Stunden nicht putzen.“

Er senkte die Phiole wieder und atmete erleichtert durch den Mund aus, als er die heilende Wirkung verspürte. Es trat genau das ein, was sie beschrieben hatte. In seiner Nasenwurzel zwackte und kitzelte es. Die Nase selbst kribbelte, wurde taub, kribbelte wieder. Magie war schon etwas Seltsames.

„Wie haben Sie sich die Verletzung zugezogen?“, wollte Hermine wissen.
„Bin gegen eine Tür gelaufen?“ Man hörte heraus, dass er diese Erklärung nur als mögliche Antwort gegeben hatte, um sie zufriedenzustellen.
„Hatte die Tür in etwa diese Form?“ Hermine ballte ihre Faust, woraufhin Fogg kurz zusammenfuhr, dann aber ihr nettes Schmunzeln bemerkte.
„Möglich“, erwiderte er vorgetäuscht sachlich. „Ich glaube, sie war ein klitzekleines bisschen größer.“ Gerade wollte er seine Nase betasten, da stoppte er sich selbst, als er sich ihre Anweisung in Erinnerung rief. „Es fühlt sich schon viel besser an, vielen Dank.“
„Gern geschehen.“

Aus seiner Innentasche zückte er die fünf Galleonen, doch Hermine winkte ab.

„Bitte“, er streckte seine Hand, „nehmen Sie es.“
„Nein danke, wirklich nicht nötig. Das war doch Ehrensache.“

Ein Gewissen – das wusste Fogg nun –, hatte er durchaus und in diesem Moment sogar ein schlechtes. Mit Stringer zusammen hatte er die junge Frau mit einem gefälschten Pass, der aus Papier zur Fernkommunikation bestand, an der Nase herumgeführt und jetzt wollte sie nicht einmal die Bezahlung für die Heilung annehmen. Stattdessen nahm die Apothekerin etwas von der Theke und reichte es ihm. Es war eine Broschüre.

„Das wollte ich Ihnen schon das letzte Mal geben.“

Ein kurzer Blick auf das Werbematerial ließ ihn erschauern. Sie erinnerte sich offenbar sehr lebhaft an ihn und auch daran, was er getan hatte. Es war ein buntes Faltblatt der „Initiative für die Forderung eines Anti-Diskriminierungsgesetzes für magische und nichtmagische Halbwesen“.

„Die könnten Ihnen helfen, Mr. Fogg. Die unterstützen Sie bei der Suche nach einem Job bei Arbeitgebern, die keine Vorurteile haben. Man wird Ihnen auch zur Seite stehen, wenn Sie sich dazu entschließen sollten, sich endlich beim Ministerium als Werwolf zu registrieren. Mit einer Strafe brauchen Sie nicht zu rechnen, höchstens mit einer mündlichen Verwarnung.“

Spätestens jetzt war klar, dass sie ihn mit der ausgebliebenen Bezahlung für die drei Wolfsbanntränke in Zusammenhang brachte. Er war um Worte verlegen. Ihre freundliche Art machte es nur noch schwieriger, den harten Mann zu spielen. Einer jungen Frau, die ihm so uneigennützig entgegenkam, konnte er nichts antun. Verlegen blätterte in der Broschüre, als ihm ein ganz bestimmter Name auffiel, den er aus den Zeitungen kannte.

„Und ich kann mich dort melden?“, wollte er wissen.
„Ja, am besten bei dem hier.“ Hermine deutete auf ein Feld mit Kontaktangaben; auf den Namen, der ihm sofort ins Auge gestochen war.
Tief durchatmend richtete sich Fogg wieder auf. „Vielen Dank, Miss …“
Sie half ihm auf die Sprünge, falls er das riesige Schild über der Apotheke noch nie gelesen haben sollte, was vielen Kunden so ging. „Granger.“
„Vielen Dank, Miss Granger“, wiederholte er höflichkeitshalber nochmal vollständig.
Als sie ihn zur Tür begleitete, empfahl sie noch: „Wenn es doch wieder bluten sollte, dann kommen Sie einfach her.“

Beschämt nickte er, bevor er die Apotheke verließ. Hermine schloss die Tür und erschrak ein wenig, als sie Severus‘ Stimme hörte, der alles beobachtet haben musste.

„Es könnte einem fast das Mittagessen hochkommen, wenn man beobachtet, mit welcher Herzensgüte du dich um einen Gauner kümmerst.“
„Und genau deswegen magst du mich so“, rechtfertigte sie sich keck. Ihm fiel daraufhin nicht einmal eine weitere spitze Bemerkung ein, denn sie sollte Recht behalten. Er mochte ihre Art, das kontrollierte Verhalten in Ausnahmesituationen und dass sie kaum nachtragend war.
„Ich habe mir auch schon die Nase gebrochen und wurde nicht so betuttelt wie dieser Betrüger!“
Überrascht drehte sich Hermine zu ihm, weil sie ein wenig Neid herausgehört haben wollte. „Du hast dir die Nase gebrochen? Wann war das?“
„Zweimal, um genau zu sein.“

Ohne ihr weitere Informationen zu geben, ging er zurück ins Labor. Sie war so neugierig, dass sie ihm folgte. Im Labor lehnte sie sich an einen Tisch.

„Wann hast du dir die Nase gebrochen?“
Er mied den Augenkontakt und fuhr mit dem Brauen fort, als wäre nichts gewesen, erzählte dennoch, wie es sich zugetragen hatte. „Das eine Mal war Black so frei gewesen, mir einen Petrificus Totalus hinterherzuwerfen, als ich an ihm vorbeirannte. Bewegungsunfähig landete ich direkt vor Lilys Füßen – mit dem Gesicht prallte ich auf den steinernen Boden.“
Harry hatte ihr einmal von dieser Geschichte erzählt, weil Sirus damals gern damit geprahlt hatte. „Und das zweite Mal?“
„Das war das zweite Mal.“
„Dann eben das erste Mal“, hakte Hermine nach.
Severus presste die Lippen fest zusammen und warf eine Zutat in den Kessel, die er hurtig untermischte. „Es war in den Sommerferien der zweiten Klasse.“ Er erinnerte sich an den heißen Sommer 1972. Zwar hatte er die Zeit Zuhause bei seinem Vater verbracht, aber er war selten bei ihm gewesen, weil er die Angewohnheiten seines alten Herrn nicht gutheißen konnte. „Ich trieb mich häufig in London herum. Die Damen dieser Zeit hatten schon Jahre zuvor Gefallen an sehr ausgefallenen Kleidungsstücken gefunden. Eines hatte mich so“, er pausierte kurz, um nach einem treffenden Wort zu suchen, „zerstreut, dass ich Bekanntschaft mit einem Objekt machte, das für die Straßenbeleuchtung verantwortlich war.“

Gemächlich rührte Severus seinen Trank, blickte dann einmal gelassen zu Hermine hinüber, um ihre Reaktion zu beobachten, doch die grübelte noch über seine Worte.

„‘Ausgefallene Kleidungsstücke‘?“, wiederholte sie. Ihre Stirn begann Falten zu schlagen. „1972?“
„Korrekt.“

In Gedanken ging Hermine sämtliche modischen Erscheinungen durch und als sie glaubte, das gesuchte Kleidungsstück gefunden zu haben, kombinierte sie es mit seiner Aussage. Sie musste schmunzeln, als sie seinen Unfall in eigenen Worten wiedergab.

„Du hast einem Mädchen in einem Minirock nachgeschaut und bist gegen eine Laterne gelaufen?“

Erst nach ihrer eigenen Interpretation des Zwischenfalls wollte sich bei ihr etwas einstellen, das sie normalerweise unterdrückte: Schadenfreude. Severus warf ihr nur halbherzig einen warnenden Blick zu. Der Grund war die sichtliche Anstrengung ihrerseits, nicht in Gelächter auszubrechen, was er amüsiert beobachtete. Als sie sich diesen Moment auch bildlich vorstellte, war es um sie geschehen.

„Severus?“
„Mmmh?“ Noch immer rührte er ohne Eile das Gebräu.
„Wärst du mir sehr böse, wenn ich darüber lachen muss?“ Sie schnaufte bereits, ihre Mundwinkel zogen sich von ganz allein nach oben.
„Tu, was du nicht lassen kannst“, erlaubte Severus, denn er mochte es, wenn sie gut gelaunt war.

Hermine hielt sich nicht zurück. Sie lachte, aber nicht über ihn, sondern über die Situation selbst. Dabei strahlten ihren Augen eine anhimmelnde Liebenswürdigkeit aus, die ganz allein ihm galt. Unbewusst suchte er nach ähnlichen Momenten aus seinem Leben, deren Schilderung bei ihr die gleiche Reaktion hervorrufen könnte.

Zum Lachen war Fogg noch nicht zumute. Er machte sich keine Sorgen mehr um seine ehemals gebrochene Nase, als er zurück zum Wirtshaus ging. Pure Konzentration hatte sich bei ihm ausgebreitet, denn die Broschüre der Initiative hatte ihn dazu bewegt, einen Plan auszutüfteln.

Seinen Freund fand er auf dem Bett liegend wieder. Der Wirt hatte ihm etwas gegen die Hämatome und Schwellungen gegeben, doch die Schmerzen waren geblieben, waren aber nicht mehr so stark, dass er sie nicht ertragen könnte. Fogg richtete unverzüglich das Wort an ihn, kaum hatte er das Zimmer betreten.

„Ich weiß, wie wir Potter kriegen!“
Stringer blickte ihn ungläubig an. „Wie?“
„Einer von uns wird sich in Sirius Black verwandeln. Dann locken wir ihn irgendwo hin, machen ihn handlungsunfähig und übergeben ihn an Hopkins.“
„Aha.“ Stringer klang nicht sehr überzeugt. „Und wie in Merlins Namen möchtest du dich in Black verwandeln?“
„Weil ich mich mit ihm treffen werde! Es wird mir wohl noch gelingen, ein Haar zu stibitzen.“
„Mag ja sein, aber wie willst du an ihn herankommen? Der ist genauso schwer zu kriegen wie Potter.“
Fogg schüttelte seinen Kopf. „Nein, ist er nicht. Ich werde einen Termin ausmachen, um mit ihm über mein monatliches Problem zu sprechen.“

Endlich hielt er seinem Freund die Broschüre entgegen, die Stringer sofort überflog. Als Kontaktperson war ein Mr. Bloom genannt, der die Initiative leitete, aber gleich darunter stand Sirius Black und eine Adresse, über die man ihn per Eule erreichen könnte.

„Ich glaub’s ja nicht“, murmelte Stringer. „Das könnte sogar klappen!“


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