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Fanfiction

Harry Potter und die Schatten der Vergangenheit - Das Beste aus zwei Welten

von Muggelchen

Viel Überredungskunst hatte es nicht gebraucht. Bevor Hermine das Angebot von Takeda annehmen wollte, um mit Severus per Portschlüssel nach Japan zu gelangen, gab sie Harry Bescheid, wo sie sich aufhalten würde. Er schien im ersten Moment irritiert, wünscht jedoch eine gute Reise. Die Uhrzeit auf dem Schreiben versicherte, dass sie erwartet wurden, so dass sie Takeda nicht einmal im Vorfeld anflohten.

„Nach dir.“

Severus deutete auf das Stückchen bestickter Seide, das Takeda als Portschlüssel beigelegt hatte, bevor sie es gleichzeitig berührten. Einen Augenblick später befand sich Hermine in einem gemütlich belichteten Raum wieder. Die warmen Farben der Möbel aus Bambus strahlten eine heimelige Atmosphäre aus. Hinter ihr hatte Severus die Beschaffenheit des Raumes mit seinen wachen Augen analysiert, ohne von der typisch japanischen Architektur angetan zu sein, so wie Hermine es war. Ihr Blick ruhte gerade auf einem Bild, das einen Nipponibis darstellte, einen japanischen Vogel mit weißem Gefieder, rotem Gesicht und schwarzem Schnabel, dessen Rasse in der freien Wildbahn als ausgestorben galt. Lebende Exemplare gab es nur noch in Zuchtstationen.

„Ah“, hörte man die Stimme Takedas. Lautlos war er durch eine Schiebetür gekommen. „Habe ich mich doch nicht verhört.“ Er näherte sich seinen Gästen und verbeugte sich grüßend. „Willkommen, Miss Granger, Mr. Snape. Darf ich Ihnen vielleicht erst einen Tee anbieten?“
„Eigentlich“, warf Severus verneinend ein, „wollten wir uns gleich die Ergebnisse ansehen, wo Sie Ihr Schreiben doch absichtlich spannend gehalten haben.“ Takeda lächelte breit, woraufhin seine Augen so schmal wurden, als würde er sie geschlossen halten.
„Ich dachte“, begann der kleine Japaner, „meine bisherigen Beobachtungen würden Sie möglicherweise interessieren. Mit Bestimmtheit kann ich nicht sagen, ob der Zustand der Pflanzen so bleiben wird, wie er momentan ist, daher wollte ich, dass Sie es mit eigenen Augen sehen.“
„Zeigen Sie einfach nur den Weg“, stimmte Severus zu, „wir folgen.“

Takeda nickte und ging voran. Während seines langsamen Schrittes, denn er war nicht mehr der Jüngste, begann er zu erzählen.

„Sie wissen, dass ich den Trank für meine Pflanzen haben wollte. Baumrinde schenke ich nur einen Teil meiner Aufmerksamkeit. Mein Gebiet erstreckt sich auf weit mehr. Wasserpflanzen, Pilze, Gräser, Blumen, um nur einiges zu nennen. Eventuell könnten Sie im Nachhinein den dringenden Tonfall meines Briefes unangemessen finden, weil das, was ich Ihnen zeigen werde, Ihrer Meinung nach viel zu unspektakulär ist. Selbst wenn ich Ihnen noch keine Resultate vorlegen kann, dann doch zumindest einen kleinen Augenschmaus, in dessen Genuss Sie auf anderen Weg mit Sicherheit nicht so schnell kommen werden.“

An einer großen Tür aus Milchglas waren sie zum Halt gekommen. Takeda warf besonders Hermine noch ein ermunterndes Lächeln zu, bevor er die Schiebetür öffnete.

Glimmend und glänzend offenbarte sich vor ihnen ein Meer aus Pflanzen in dem riesigen Gewächshaus, auf das sie von dem Treppenaufsatz aus zwölf Metern Höhe hinunterblickten. Überwältigt von dem Anblick legte Hermine ihre Hände auf das metallene Gerüst der Treppe. Sie wollte die Augen gar nicht mehr schließen. Es war jedoch nicht der große Raum und die vielen Pflanzen, die Hermine zum Staunen brachte – es war der Effekt, den ihr Farbtrank bei ihnen auslöste. Die Vielfalt der Blumen war schon unermesslich beeindruckend, doch die fröhlichen Magiefarben, die nun jede einzelne Blüte, jeder Stängel und jedes Blatt ausstrahlte, bereicherten den tropisch warmen Raum mit einer geradezu paradiesischen Atmosphäre. Der Strauch der japanischen Zierquitte glühte rot und orange, während die Kornelkirsche daneben gelb und grün schimmerte. Das Interessanteste war jedoch, dass die Magie der Pflanzen sich komplett miteinander vermischt hatte. Ihre magische Ausstrahlung teilten die Gewächse mit den herumliegenden Pflanzen. Dafür nahmen sie im Gegenzug etwas von der fremden Magie an. Es lag ein bunter Nebel um die Blumen und Sträucher herum, bei dem man nicht mehr sehen konnte, zu welchem Gewächs welche Farben gehörten. Die Magie hatte sich vereint.

Einen Moment lang nahm Hermine die Schönheit dieses in Regenbogenfarben glühenden Gartens in sich auf. Ihr Farbtrank war es gewesen, der diese umwerfende Pracht vollbracht hatte.

„Aber es kommt noch schöner“, versprach Takeda, der ihren verzückten Gesichtsausdruck bemerkt hatte. Mit einem ebenso glücksseligen Gesichtsausdruck ging er an Hermine vorbei. „Folgen Sie mir bitte.“

Die drei gingen die Stufen hinunter. Unter wuchernden Pflanzen, Bäumen und Blumen hindurch durch einen Torbogen aus Magiefarbe folgten Hermine und Severus ihrem Gastgeber. Hermine bemerkte, dass es selbst Severus die Sprache verschlagen haben musste. Sie wusste nur nicht, ob er auch wegen der unbeschreiblichen Schönheit hingerissen war oder eher wegen der wissenschaftlichen Möglichkeiten, die sich ihnen gerade auftaten. Auf jeden Fall betrachtete er beim Vorbeigehen die vielen verschiedenen Pflanzen und deren Farbenpracht. Um ihn auf sich aufmerksam zu machen, berührte sie ihn erst zaghaft an der Hand, bevor sie zugriff. Einen Moment strauchelte er, doch er behielt seinen Schritt bei, blickte sie aber fragend an. Sofort wurde er an gestern Abend erinnert, denn auch da waren sie von Farben umgeben – und sie hatte seine Hand berührt.

„Es ist wunderschön, nicht wahr?“, schwärmte sie begeistert.
„Wenn du mit ‘wunderschön‘ meinst, dass sich besonders für Kräuterkundler völlig neue Zukunftsaussichten auftun und wir mit ihnen einen weiteren Kreis an interessierten Käufern für den Farbtrank gewinnen könnten, dann ja: Es ist wunderschön!“
Sie lachte, weil sie so eine Antwort erwartet hatte und drückte dabei seine Hand. „Ich meinte doch, wie es aussieht.“
Spielerisch hob er eine Augenbraue. „Findest du eine Alraune wunderschön?“
„Nein“, erwiderte sie ehrlich.

Alraunenwurzeln waren hässlich, besonders wenn die kleinen Gesichter sich zu widerlichen Fratzen verzerrten, weil sie wie am Spieß schrien. Plötzlich sah Severus sie so komisch an, verzog dabei das Gesicht, als wäre er eine dieser Wurzeln.

„Aber sie sind sehr nützlich“, fügte sie schnell hinzu, „und haben ihre guten Seiten.“
„Sie können tödlich sein“, gab er zu bedenken.
„Das kann ich auch sein, wenn die Situation es erfordert.“

Sie warf ihm ein überlegendes Lächeln zu, das ihn tatsächlich zum Schmunzeln brachte. Dass sie beide sich noch an den Händen hielten, bemerkte keiner der beiden, aber vor Takeda blieb es nicht verborgen. Der ältere Mann stand bereits hinten an einer Tür, die er mit beiden Händen präsentierte, bevor er sie öffnete.

„Hier befinden sich Pflanzen“, erklärte Takeda, „denen ich eine besondere Behandlung zuteilwerden ließ.“

Hinter der Tür befanden sich zwei Reihen mit Büschen, die besonders kräftig strahlten, so dass man sie fast nicht mehr unter der Farbdecke erkennen konnte.

Neugierig fragte Severus nach: „Was für eine besondere Behandlung war das, dass diese hier deutlich stärkere Magie zeigen als die Pflanzen draußen?“
„Diese hier“, Takeda ging um den Tisch herum und präsentierte eine der klein wachsende Zierquittenarten, „wurden behutsam von mir umsorgt. Ich habe mit ihnen gesprochen, ihnen Musik vorgespielt“, Severus verzog bereits das Gesicht, „aber das erstaunlichste Ergebnis war, dass die Magie von Menschen sie viel intensiver beeinflusst, als die ihrer Artgenossen. Ihre Wirkung als Zaubertrankzutat habe ich bereits getestet – sie wurde vervielfacht.“
Severus‘ Blick fiel auf eine bestimmte Pflanze an der entgegengesetzten Ecke des Raumes, bevor er fragte: „Wozu Schlehdorn? Die haben keine magischen Eigenschaften.“
„Nein, haben sie auch nicht. Die Anpflanzung dort in der Ecke hat nichts mit meiner Forschung zu tun.“

Takeda ging zum besagten Strauch hinüber und fuhr mit seiner Hand über die hüfthohen Äste mit seinen schwarzen Beeren. Es zeigte sich kein bisschen Magiefarbe.

„Seit ich denken kann, stelle ich meine Tinte selbst her. Dazu benutze ich die Rinde des Schlehdorns, klopfe sie ab und gieße sie mit kochendem Wasser auf, worin sie einen Tag einweicht. Die Rinde siebe ich heraus, kochte das Wasser auf und übergieße die Teile neu. Das ganze wiederhole ich solange, bis alle Farbteilchen aus der Rinde entwichen sind. Den Sud mixe ich mit Wein und koche ihn nochmals. Noch ein paar Feinheiten an der Flüssigkeit und ich habe einen neuen Vorrat an Tinte.“ Takeda grinste breit. „Und wenn mir nichts einfällt, das ich schreiben kann, dann nehme ich eben einen Schluck davon.“ Er zwinkerte Hermine zu, die amüsiert über den Scherz lächelte.

Hermine bestaunte die wunderschöne, in der Mitte des Raumes stehende Miniatur-Pagode aus Granit, aus dessen höchstem Fenster Wasser quoll, das spiralartig an dem Turm herabfloss. Überall befanden sich Quellsteine oder aus Bambus gefertigte Wasserspiele – von überallher plätscherte es. Wo in Hogwarts Fackeln für Licht sorgten, waren es hier Sockellaternen aus hellem oder dunklem Granit. Mit all den Farben und der stimmungsgeladenen Atmosphäre hatte das Gewächshaus etwas Märchenhaftes an sich.

Die Pflanzen hier drinnen – außer dem Schlehdorn –, die Takeda mit besonderer Zuwendung gezogen hatte, glühten vor magischem Leben; viel mehr als ihre Artgenossen im großen Gewächshaus.

„Sehen Sie“, sagte Takeda und diese beiden Wörtchen reichten tatsächlich aus, um die ungeteilte Aufmerksamkeit von Severus und Hermine zu erlangen. Mit einer Hand strich Takeda mit etwas Abstand über eine viel kleinere Art der Zierquitte, deren Blütenblätter knallrot waren. Die rote Färbung war aber nicht nur den Blüten zuzuschreiben, sondern auch der Magiefarbe. Hermine betrachtete Takedas Hand, die nicht die Pflanze selbst berührte, aber deren ausstrahlende Magie. Mitten in der Luft hinterließ seine Hand einen Streifen, als hätte er Farbe verwischt und genau dieser erst leblose Streifen begann sich mit einem Male träge zu rekeln. Wieder führte Takeda die Hand in die Nähe des Magiestreifens, der sich wie ein farbiger Kondensstreifen sehr langsam wieder aufzulösen begann. Er berührte ihn mit einem einzigen Finger. Die ausgestreckte Magie der Pflanze tastete umher, befühlte vorsichtig Takedas Hand, dann den Arm. Zuletzt schmiegte sie sich wie ein Kätzchen an den alten Mann.

Severus und Hermine waren baff.

Als Erste konnte Hermine fragen: „Was hat das zu bedeuten?“
„Das bedeutet wohl“, er blickte auf und lächelte, „dass die Quitte mich mag.“ Er umspielte mit dem Finger die kleinen Farbärmchen. „Ich sagte bereits, dass diese Pflanzen meine besondere Aufmerksamkeit erhalten haben. Einmal habe ich den Trank selbst eingenommen und bin im Gewächshaus ein wenig spazieren gegangen. Von keinem Halm und keiner Blüte wurde ich ignoriert. Alle streckte ihre Fühler nach mir aus.“
„Das ist unglaublich!“ Hermine war noch ganz hingerissen, doch Severus, durch den Ewigen See gegen euphorische Ausbrüche dieser Art gefeit, wollte es genauer wissen.
„Was erhoffen Sie sich davon, Professor Takeda? Dass diese Pflanzen magische Kräfte haben, das ist allgemein bekannt. Sie zeigen nur mit Hilfe des Trankes deren Farbe, aber das allein ist keine Meisterleistung.“
„Nein, das nicht“, stimmte Takeda zu. „Ich sagte anfangs ja, dass es Ihnen lapidar vorkommen könnte. Erst einmal ist erstaunlich, dass die Magie der Pflanzen, die nebeneinander wachsen, fest miteinander verschmilzt. Die Pflanzen, die ich später an einen anderen Standort gebracht habe, hinterließen eine klaffende Lücke im Magiekreis, die nicht sehr schnell heilte. Bei den restlichen Pflanzen konnte ich eine Abnahme der Wirkstoffe festmachen. Die verloren einfach an Kraft, weil ich ihnen einen Freund aus ihrer Mitte gerissen habe. Mit dieser Forschung befinde ich mich allerdings noch Entwicklungsstadium. Ich möchte Ihnen sehr gern zwei ganz andere Experimente zeigen. Folgen Sie mir.“

Takeda ging bereits nach vorn bis zur nächsten Tür und öffnete sie. Hier quakten Frösche und bei genauerem Hinsehen bemerkte Hermine den angelegten Teich, dessen Wasseroberfläche so glatt war, dass sie wie ein frisch gebohnerter Fußboden aussah.

„Hier habe ich meine Wasserpflanzen: Pfeilkraut, Tausendblatt und die Wasserfeder“, erklärte Takeda, während er jedes Mal auf entsprechende Pflanze deutete.
Severus schüttelte den Kopf. „Die haben allesamt keine magischen Kräfte.“
„Das dachte ich auch, Professor Snape. Kommen Sie doch etwas näher.“

Sie ließen sich direkt bis zum Teich führen. Die Wasserfeder zeigte ihre weißen Blüten, aber Magiefarben wies keine der Pflanzen auf. Erst als Takeda mit seinen Handrücken die Wasserfeder berührte, war ein leichtes gelbliches Glimmen zu sehen.

Mit hoch gehaltener Hand verbat sich Takeda alle Fragen, erklärte stattdessen von sich aus: „Keinesfalls alle nicht magischen Gewächse reagieren auf diese Art. Ich habe Tests mit anderen Pflanzen gemacht, denen man keine Kräfte zuschreibt, doch einige zeigen durchaus Magie, allerdings erst nach meiner intensiven Betreuung.“
„Das würde für die Kräuterkundler einen neuen Forschungskreis erschließen, was neue oder seltene Wirkstoffe betrifft.“ Hermine war völlig hingerissen. Neue magischen Eigenschaften, neue Wirkstoffe; es gab viel zu erforschen.
„Allerdings“, Takeda hob einen Zeigefinger, „müssen die Pflanzen ebenso besonders behandelt werden. Nur die Samen in die Erde zu stecken und zu bewässern bringt gar nichts – ich hab es versucht. Werden die Pflanzen sich selbst überlassen, entwickeln sie keine magischen Fähigkeiten. Berührt man sie aber täglich“, Takeda strich mit seinem Finger über den grünes bandförmiges Blatt des Pfeilkrauts, das daraufhin zu leuchten begann, „dann werden sie erweckt. Irgendwann ist die Magie der Pflanze so stark, dass sie keiner Betreuung mehr bedarf.“

Er deutete hinüber zur Wasserfeder, die von ganz allein magisch glühte, ohne dass man sie berühren musste. Eine nicht magische Pflanze, die Magiefarben zeigte.

„Das gleiche Phänomen kann man übrigens auch beobachten, wenn eine magische Pflanze neben einer wächst, die keine eigene Magie aufweist. Sie teilen sich die Magie. Ich habe leider noch nicht herausgefunden, ob die fremde Magie die der nicht magischen Pflanzen nur erweckt oder gar erst erschafft.“ Takeda ließ von der Pflanze ab und stand langsam auf.

Im Teich selbst bemerkte Hermine einige Fische.

„Das sind Kugelfische oder auch Pufferfische genannt“, erklärte er. Hermine fand sich sofort in ihre zweite Klasse versetzt, in der sie zum ersten Mal Pufferfischaugen als Zutat für einen Schwelltrank benutzt hatte. „Ich verwende die Fische allerdings nicht als Zutat“, bekannte der Japaner.
„Wofür dann?“, fragte Hermine neugierig, bevor ihr etwas einfiel. „Zierfische?“
„Nein, meine Haushälterin bereitet mir einmal im Jahr einen Fisch zu.“

Gerichte aus diesen Fischen konnten den Tod bedeuten, wenn sie nicht richtig zubereitet wurden. Das wusste selbst Hermine, die damals mit ihren Eltern in Yamaguchi ein Restaurant besucht hatte, dass für Kugelfischspezialitäten bekannt war. Takeda schien überhaupt nicht besorgt, dass er sich vergiften könnte.

„Sie macht es nun schon über vierzig Jahre“, schwärmte der über neunzig Jahre alte Mann, dem Hermine ansehen konnte – auf der Veranstaltung hatte sie es nur vermutet –, dass seine Haushälterin für ihn viel mehr bedeutete, als er zuzugeben bereit war. Takeda zwirbelte verträumt an seinem Bart, bevor er sich selbst wieder in die Wirklichkeit zurückholte. „Wenn Sie mir folgen würden? Gern möchte ich Ihnen die größte Augenweide bieten, die der Trank bisher in Pflanzen zum Vorschein gebracht hat.“

Takeda führte sie aus dem Gewächshaus hinaus und zurück ins sein eigenes Haus. Er nahm eine Treppe in den ersten Stock und Hermine und Severus folgten ihm. Oben trafen sie auf die Haushälterin, die gerade dabei war, ihrer künstlerischen Ader in Form von Ikebana nachzugehen, denn sie formte ein wunderschönes Blumengesteck. Es kristallisierte sich heraus, dass die lax als Haushälterin betitelte Dame eine Geisha höheren Alters war, mindestens an die sechzig Jahre. Als sie die Gäste bemerkte, stand sie auf und begrüßte Hermine und Severus mit einer sanften Verbeugung. Takeda führte die Gäste gleich darauf weiter. Aufgeregt zeigte er in eine bestimmte Richtung.

Weiter hinten führten nochmals Stufen hinauf, bis Takeda sie zu einem Balkon führte. Er brauchte nicht einmal zu sagen, was er ihnen zeigen wollte, denn es zeigte sich ihnen von selbst.

Die Aussicht war besonders bei eingebrochener Dunkelheit prachtvoll, denn Takedas Haus war von einem Bergwald umgeben. Der alte Zauberer hatte ganz offensichtlich einige der umliegenden Bäume mit dem Farbtrank behandelt, denn in etwa fünfzig von ihnen strahlen farbenfroh und erleuchteten den Abend. Hermine war hin und weg, doch Severus war von diesem Anblick überhaupt nicht gerührt.

„Was, außer dass man die Farben sehen kann, hat dieser ausladend flächendeckende Test hervorgebracht?“, wollte Severus wissen. Er verstand einfach nicht, warum allein der Anblick sich lohnen würde, wo er doch keine Neuigkeiten lieferte.
„Einen Moment“, bat Takeda, bevor er zur Tür zurückging und in den Flur rief, „meine Gute, scheuch doch bitte mal die Vögel am Gartenteich auf.“ Takeda gesellte sich wieder zu ihnen und legte erwartungsvoll die Hände auf die Balustrade. „Ich besitze im Garten eine große Vogeltränke, die gern und häufig besucht wird.“
„Lassen Sie mich raten“, nahm Severus ihm vorweg. „Das in der Tränke enthaltene Wasser besteht auch zu einem gewissen Teil aus dem Farbtrank.“
„Ganz recht, Professor Snape. Warten Sie ab, bis die Vögel über die Bäume fliegen.“

Schon ohne Vögel schwebte Hermine im siebten Himmel. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, dass ihre Erfindung so eine Schönheit hervorrufen konnte, dachte sie, als sie die fest miteinander verschmolzene Magie der nebeneinander gewachsenen Bäume betrachtete. Würde man auch nur einen fällen, bliebe sicherlich eine klaffende Lücke zurück, wie Takeda es bei den Sträuchern bemerkt hatte. Die Natur war eins. Die Bäume wuchsen in der Regel ihr Leben lang an nur einer Stelle, verbanden sich deshalb fest mit der Magie ihrer Umgebung, mit den anderen Bäumen, mit den Gräsern auf dem Boden oder selbst mit den Pilzen an ihrem Stamm, vielleicht sogar mit den Tieren.

In diesem Moment hörte man einen Knall, woraufhin nur Hermine zusammenfuhr. Severus hingegen schaute zwar skeptisch drein, hatte sich jedoch nicht erschrocken.

„Jetzt kommt das, weswegen ich Sie eigentlich eingeladen hatte“, kündigte Takeda mit funkelnden Augen an, mit denen er sehr an Albus erinnerte. Schon kam der erste Vogel um die Ecke geschossen und steuerte den Wald an – ihm folgten noch unzählige andere, ein ganzer Schwarm. Alle Vögel leuchteten genauso hell wie die Bäume, aber das Fantastische war, dass die Magie der Bäume sich lang machte. Als die aufgeschreckten Vögel dicht über die Wipfel flogen, da streiften sie die magischen Auswüchse, die sich ihnen wie Blitze in Zeitlupe von unten entgegenstreckten. Es sah aus, als würden die Vögel auf der Magie der Bäume treiben; wie ein Stück Holz auf dem Wasser. Es zeigte aber auch, dass die Magie nicht vom Menschen abhängig war, sondern auch ohne dessen Nähe auf die Umgebung reagierte.

„Es gibt Vögel, die haben ihre Lieblingsbäume.“ Verzückt blickte Takeda über die stabile Balustrade aus Bambus hinunter zu dem Regenbogen bei Nacht.

‘Nacht?‘, dachte Hermine.
Laut fragte sie: „Wie spät ist es?“ Ein Blick auf die eigene Uhr verriet, dass es gerade mal 17 Uhr war.
„Es ist knapp ein Uhr nachts“, antwortete Takeda gelassen, denn die späte Uhrzeit schien ihn nicht zu stören.
„Ach herrje.“ Hermine hielt sich eine Hand vor den Mund. „Ich habe die acht Stunden Zeitverschiebung ganz vergessen.“ An Takeda gewandt entschuldigte sie sich: „Verzeihen Sie, dass wir Sie so spät aufgesucht haben.“
„Ihre Sorge ist vollkommen unbegründet, Miss Granger. Selten komme ich vor 3 Uhr nachts ins Bett.“ Er lächelte verschmitzt. „Das ist einer der positiven Aspekte des hohen Alters. Man benötigt viel weniger Schlaf. Die Zeit nutze ich für meine Forschung und für …“ Takeda hielt inne, blickte jedoch einmal zur Tür, hinter der sich seine „Haushälterin“ aufhielt.

Nach mehr als einer halben Stunde konnte Hermine trotz Severus‘ Umhang und einem Wärmezauber den frischen Wind nicht mehr ertragen. Er hatte ihr die Haare völlig zerzaust. Takeda bat ihnen drinnen ein warmes Getränk an, das ihnen von der Dame des Hauses serviert wurde. Zumindest sah Hermine die Frau als Dame des Hauses, obwohl Takeda alles daran zu setzen schien, ihre eigentliche Rolle strikt von der offiziellen zu trennen.

„Ich kann es kaum erwarten, bis Sie die ersten Berichte fertig haben.“ Hermine strahlte über das ganze Gesicht. „Das war jetzt schon umwerfend. Danke, Professor Takeda, dass Sie uns den Portschlüssel geschickt haben.“

Man unterhielt sich über die vielen Forschungsmöglichkeiten an Pflanzen, Tieren und auch an Menschen, denn das Schönste war, dass Hermines Farbtrank keinerlei Wirkstoffe beinhaltete, die mit Vorsicht zu genießen waren. Ihn einzunehmen war so gefährliche wie zum Frühstück eine Schale Müsli mit frischen Früchten zu verzehren. Auch wenn Hermine anfangs bei der damals noch stillenden Ginny Bedenken gehabt hatte, ihr den Trank zu geben, war vom Ministerium schon bei der Patentanmeldung, die netterweise Severus übernommen hatte, festgestellt worden, dass der Farbtrank gesundheitlich vollkommen unbedenklich war.

Takeda erzählte gerade eine Geschichte zu Ende, deren Inhalt Severus‘ aufgrund Hermines wärmender Hand an der seinen nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet hatte.

„… haben sich alle, die ich angeschrieben habe, bereit erklärt, sich mit Ihnen in Verbindung zu setzen.“

Severus blinzelte. Wen hatte Takeda angeschrieben und wozu sollen die sich bereit erklärt haben? Um zusammen Blumen zu flechten oder gar Gemeinschafts-Seppuku zu begehen? Severus‘ geistige Abwesenheit war dem Gastgeber nicht entgangen. Takeda half ihm gern auf die Sprünge, indem er den Inhalt mit anderer Satzstellung wiederholte, um nicht auf die geschwächte Konzentration seines Gastes zu sprechen zu kommen.

„Sie können also in Zukunft mit einigen persönlichen Eulen meiner Bekannten rechnen, die alle den Farbtrank für die Forschung bestellen möchten.“
„Ah“, machte Severus erleichtert, weil er den Faden wiedergefunden hatte. Er wollte gerade die Situation retten, indem er eine kluge Bemerkung machte, da drückte Hermine seine Hand – wegen des bevorstehenden Umsatzes für die Apotheke oder möglicherweise, weil sie die Nähe zu ihm genoss –, weswegen ihm seine Worte im Hals steckenblieben.
Takeda grinste. „Das verschlägt einem die Worte, nicht wahr?“

Die gewollte Zweideutigkeit war nicht zu überhören, aber auch nicht zu übersehen, dachte Severus, denn Takedas Blick war einen Moment zu lange auf seine Hand gerichtet; auf die, die Hermine hielt. Severus versuchte sich ins Gedächtnis zurückrufen, ob sie in der Zeit zwischen Balkon und Bambussofa auch einmal losgelassen hatte, doch er musste verneinen. Hermine hingegen bejahte, jedoch es war Takedas Aussage, der sie ihre Zustimmung gab. Von dem Besuch hier war sie sehr angetan, besonders aber von den vielen Interessenten. Sie lächelte bis über beide Ohren, als sie sich verabschiedete.

„Vielen Dank, Professor Takeda. Besonders möchte ich Ihnen danken, dass Sie andere Forscher auf den Trank aufmerksam gemacht haben.“
„Es ließ sich vor meinen Bekannten schlecht verbergen, dass mein Gewächshaus einen Klecks Farbe erhalten hat. Ich danke Ihnen für Ihren Besuch. Wenn Sie mir nach unten folgen würden?“ Takeda stand auf und ging langsam zur Treppe hinüber, winkte beide zu sich. „Ich werde Ihnen einen Portschlüssel geben, der Sie wohlbehütet wieder nach nachhause bringt.“

Unten stand die Dame des Hauses. Mit beiden Händen präsentierte sie Hermine ein Geschenk. Es war ein Blumengesteck mit moosüberzogenen Kiefernästen, Quittenblüten und Farnen, das sie verzückt entgegennahm.

„Das ist der Portschlüssel, der aktiviert wird, sobald Professor Snape ihn berührt. Natürlich können Sie das Geschenk behalten. Es ist danach wieder ein ganz normaler Gegenstand“, erklärte Takeda.

Man verabschiedete sich mit netten Worten, bevor Severus nach dem wie eine Miniatur-Chaiselongue aussehenden Töpfchen griff, aus dem ein hübsch gestaltetes Blumenkunstwerk ragte.

Im Nu befanden sie sich in der Küche der Apotheke wieder. Einzig das Blumengesteck in Hermines Hand zeugte von ihrem gemeinsamen Trip nach Japan.

„Das war einfach umwerfend!“ Von dem Besuch bei Takeda war Hermine hellauf begeistert und das würde auch noch eine Weile so bleiben.
„Seine Ergebnisse zeigten zumindest eine Richtung, der man sich auf wissenschaftlichem Gebiet annehmen sollte. Wenn man die Wirkstoffe einer Pflanze tatsächlich durch Magie beeinflussen kann, erstreckt sich die Forschung ins Unermessliche.“
„Ich bin mir sicher, dass wir eine Pflanze finden werden, mit der man die Auswirkungen des Ewigen Sees rückgängig machen kann.“

Ihre Zuversicht hatte ihn an etwas ganz anderes erinnert. Er schien regelrecht aufgescheucht, blickte sich um und fand endlich Worte, wenn auch knappe.

„Ich muss gehen!“
„Was? Severus, warum so plötz…“
„Die Erinnerungen sind noch bei Harry! Ich werde sie holen.“

Er stürmte hinauf ins Wohnzimmer, um den Kamin zu nutzen. Sie war ihm gefolgt.

„Er hat bestimmt nicht reingesehen, Severus.“
„Davon möchte ich mich gern selbst überzeugen.“

Dem geworfenen Flohpulver folgte grüner Rauch und weg war er. Hermine seufzte.

Severus war in seinen Kerkern angekommen und stürzte zur Tür hinaus auf den Flur, rempelte dabei einen Schüler seines Hauses an, der mit seinen Klassenkameraden gerade auf dem Weg zum Abendessen war. Besonders im Erdgeschoss waren eine Menge Schüler anwesend, die Severus ignorierte, denn ihn interessierten nur sein als Erinnerung zurückgelassenes Leben, das momentan ungeschützt in Harrys Denkarium schwamm. Der Gedanke daran, dass jeder von Harrys Freunden dort hineinsehen könnte, brachte ihn dazu, die Beine in die Hände zu nehmen.

Ohne anzuklopfen öffnete er die Tür zu Harrys Räumen, doch er fand niemanden vor, der neugierig seine Nase ins Denkarium gesteckt hatte. Stattdessen – und deswegen hielt Severus inne und blickte das Tier verwundert an – weinte der Phönix. Dessen Tränen wurden von einem Glasschälchen aufgefangen, das man an der Stange befestigt hatte. Der Vogel sah grauenvoll aus. Das verblasste Gefieder war gerupft, der Körper wies kahle Stellen auf. Es war an der Zeit, dachte Severus, dass der Phönix sich erneuerte. Ein Blick ins Denkarium verriet ihm, dass die Erinnerungen noch immer darin schwammen, also nicht gestohlen wurden. Trotzdem wollte er wissen, ob Harry sie sich angesehen hatte. So dachte er sich nichts dabei, in seiner Wut über die eigene Achtlosigkeit ins Schlafzimmer zu eilen.

Vollständig angezogen lag Harry mit dem Rücken zu ihm auf dem Bett, umarmt von …

„Was fällt Ihnen ein?“, keifte Ginny so leise wie möglich, denn anscheinend schlief Harry. „Sie können nicht einfach in private Räume gesaust kommen.“ Severus fand keine Gelegenheit, das Wort an Harry zu richten, denn Ginny war bereits aufgestanden und schoss auf ihren Zaubertränkelehrer zu. „Raus!“ Sie hatte den Mut, ihn am Oberarm zu packen und hinauszudrängen.
Im Wohnzimmer kam er endlich dazu, etwas zu sagen. „Miss Weasley, ich bin lediglich gekommen, um zu holen, was mir gehört.“
„Bitte“, sie deutete auf das Denkarium, „da finden Sie alles. Das ist kein Freifahrtschein, um unsere Privatsphäre zu verletzten. Nehmen Sie‘s und gehen Sie.“
„Aber …“

Ginny war bereits zurück ins Schlafzimmer gegangen. Die langhalsige Phiole stand noch immer auf dem Boden neben dem Becken, so dass er gleich damit begann, seine Erinnerungen herauszufischen.

Im Schlafzimmer legte sich Ginny, obwohl es nicht einmal 18 Uhr war, zurück zu Harry ins Bett. Sofort fanden seine Arme um ihre Taille. Harry war hellwach, war er eben schon, als Severus hereingestürzt kam. Sie rutschte näher an ihn heran und wischte eine Strähne aus dem verweinten Gesicht, gab ihm danach einen Kuss auf die Stirn. Harry schluchzte leise, so dass sie seinen Kopf an ihre Brust drückte und ihm mit der Hand zärtlich über die Haare fuhr. Sie war für ihn da, auch wenn sie nicht wusste, was er erlebt hatte. Geredet hatte Harry noch nicht, seit sie ihn vor zwei Stunden am Denkarium fand, mit der Nase tief in die Erinnerung eingetaucht, die zuvor schon Hermine angeschaut hatte. Im ersten Augenblick wollte sie ihn dort wegreißen, wollte ihn dafür ausschimpfen und fragen, was er sich dabei dachte, doch sie ließ ihn letztendlich gewähren. Gestern Abend hatte Harry bereits die Gelegenheit gehabt, ungestört den Grund für Hermines beeinträchtigten Zustand herauszufinden, doch erst heute hatte er sich dazu entschlossen, einen Blick hineinzuwerfen. Er hatte es nicht unüberlegt getan.

Während Ginny vorhin noch neben ihm gewartet hatte, war ihr aufgefallen, dass Harry, trotzdem er sich die Erinnerung anschaute, hörbar weinte, ganz genau wie Hermine am Vortag. Was gestern Abend nur Harry und sie bemerkt hatten, war heute wieder eingetreten. Fawkes war gestern schon von der emotionalen Entladung Hermines so gerührt gewesen, dass er weinen musste. Diesmal, als er auch bei Harrys Rührung Tränen vergoss, hatte sie dem Phönix ein Schälchen bereitgestellt. Es wäre eine Schande, solch wertvollen Tränen ins Nichts fallenzulassen.

Die Erinnerungen von Severus hatte Harry sich bis zum Ende angesehen, bevor er genauso übermannt wie Hermine von dem Becken abließ und hemmungslos weinte. Ginny hatte ihn ins Bett gebracht und ihm Trost gespendet. So hatten sie zusammengelegen, bis Severus den Frieden gestört hatte.

Draußen hörte man eine Tür ins Schloss fallen.

Durchs viele Weinen fragte Harry näselnd: „Ist er weg?“
„Ja.“

Er schmiegte sich nur noch dichter an sie an und vergrub seinen Kopf in ihrer Halsbeuge.

„Harry?“
Er war es ihr schuldig, zumindest einen Hinweis auf das zu geben, was er erfahren hatte, weswegen er flüsternd erklärte: „Ich hab meine Eltern gesehen. Und Sirius, wie er …“ Harry wurde von seiner stockenden Atmung geschüttelt, so dass sie ihm beruhigend über den Kopf strich.
„Du hättest es dir nicht ansehen sollen“, sagte sie mit einem fast unhörbaren Vorwurf in der Stimme.
„Ich dachte, sie hätten es mit Absicht bei mir gelassen, damit ich es mir ansehen kann“, rechtfertigte sich Harry zwischen seinen Schluchzern.
„Sie werden es nur vergessen haben, beide.“

Ginny zog die Bettdecke über Harry, auch wenn er noch seine Kleidung trug. Ihre warmen Lippen liebkosten sein Gesicht, die Schläfen, die Stirn, die Nase. Allmählich beruhigte er sich, auch wenn er für einen Moment daran denken musste, wie es wäre, auf ihre Liebe verzichten zu müssen. Was wäre, wenn er sie weiterhin liebte, sie aber nichts von ihm wissen wollte? Er würde vergehen, soviel stand für Harry fest. Mit diesem Gedanken war es leicht, sich in seinen Kollegen und Freund hineinzuversetzen.

Eine Etage unter Harry und Ginny fand sich Severus wieder in seinen Räumen ein. Die Phiole mit den Erinnerungen verstaute er wie zuvor in dem Geheimversteck an der Decke seines Büros und schützte es erneut mit Flüchen. Die Erinnerungen wieder in sich aufzunehmen, dazu war er nicht bereit; noch nicht. Eines Tages, wenn er sich sicher sein durfte, es zu ertragen, würde er die silberne Flüssigkeit aus dem langhalsigen Behältnis wieder in seinen Kopf zurückfließen lassen, doch die Zeit war noch nicht gekommen.

Immer wieder schwirrten seine Gedanken um die Geschehnisse des Vorabends und des heutigen Tages. Hermine hatte alle Schlüsselmomente seines Lebens gesehen und war trotzdem – oder gerade deswegen – fest entschlossen, ihm weiterhin zur Seite zu stehen, ihm zu helfen. Sie würde nachforschen und nach Wegen suchen, seinen Seelenkern zum Wachsen zu bringen. Dabei schien es ihr egal zu sein, wie viel Zeit sie investieren müsste. Von ihrem Enthusiasmus angesteckt, selbst nach einem Weg zu suchen, widmete er sich seinen Unterlagen, die er aus einer nicht sichtbaren Geheimschublade seines Schreibtisches entnahm. Im Laufe der Zeit hatten sich viele Zetteleien, Berechnungen und Theorien angesammelt, die er aufgrund der übermannenden Gleichgültigkeit, die dem Ewigen See zuzuschreiben war, selten bis zum Ende verfolgt hatte. Sein Eifer hatte sich stets in Grenzen gehalten. Es war ihm gar nicht mehr wichtig gewesen, für sein Seelenheil zu sorgen, denn es bedeutete ihm nichts mehr. Jetzt, wo Hermine sich so hingebungsvoll seinem Problem widmete, war auch er der Überzeugung erlegen, dass es eine Lösung geben musste, auch wenn die erst noch entdeckt werden wollte. Severus wollte eine Lösung, damit er wieder so empfinden konnte wie gestern. Er wusste, dass er dazu imstande war und er wollte diese Gefühle zurückhaben.

Die alten Unterlagen – die letzten davon von dem Tag stammend, an welchem Hermine sich beinahe in seinen schwarzen Büchern verloren hatte – versprachen aufs Neue Hoffnung. Hoffnung, die Hermine in ihm schürte. Er ging sie durch, die alten Theorien und Kalkulationen, nur um festzustellen, dass Hermine mit dem, was sie gesagt hatte, Recht behalten sollte. Er hatte immer nur nach einer Möglichkeit gesucht, die Teile seiner Seele wiederzufinden und zusammenzufügen. Nie war er von diesem Gedanken abgekommen. Hermine dachte anders als er. Sie versteifte sich nicht auf eine einzige Theorie, sondern stellte völlig neue auf. Nie im Leben hätte er einen Gedanken daran verschwendet, ob seine Seele nicht einfach wieder wachsen könnte. Neue Berechnungen mussten her. Severus nahm sich Pergament und Feder, wälzte abermals Bücher und suchte nach Pflanzen und tierischen Zutaten, die dazu in der Lage waren, Wachstum herbeizuführen, auch dort, wo eigentlich keiner vorgesehen war.

So fand Hermine ihn vor, als sie ihn am gleichen Abend noch besuchte. Severus hatte seine große Nase in ein Buch gesteckt und bemerkte Hermine erst, als sie sich räusperte. Er blickte auf.

„Oh“, machte er erstaunt. Er hatte heute nicht mehr mit ihr gerechnet. „Was verschafft mir die Ehre?“
„Vermisst du nichts?“, fragte sie zurück.

Severus war sich unsicher, ob sie damit ihre Anwesenheit meinte, denn da musste er bejahen – er vermisste sie.

„Ich meine deinen Hund.“ Sie schaute nach unten und Severus musste sich über seinen Schreibtisch beugen, um Harry sehen zu können, der brav neben Hermine Platz gemacht hatte. „Du warst so schnell weg …“ Ihr Blick fiel auf die Bücher und auf seine Aufzeichnungen. „Was soll das werden?“
„Recherche“, gab er sehr präzise und bündig als Antwort.

Der Hund legte sich ruhig auf den Boden, nachdem Hermine die Leine losgelassen hatte. Sie ging um den Schreibtisch herum und blickte Severus über die Schulter. Im ersten Moment war es ihm unangenehm, denn er wurde dadurch nervös; genauso nervös wie damals im Zaubertränkeunterricht bei Slughorn, wenn Lily ihm über die Schulter geschaut hatte, um sich seine Tricks abzugucken. Es wäre außerdem möglich, dass er in Hermines Augen wieder einmal in die falsche Richtung recherchierte, doch ihr Interesse an der Textstelle, die er sich gerade zu Gemüte führte, schien groß. Unsicher schob er das Buch zu ihr hinüber, damit sie besser lesen könnte. Mit einem Wutsch seines Stabes beförderte er einen zweiten Stuhl an den Schreibtisch, damit sie sich neben ihn setzen konnte. Wenn Hermine so still war wie jetzt, dann widmete sie sich konzentriert dem Gelesenen.

„So etwas in der Richtung habe ich mir vorgestellt“, murmelte sie, während sie noch den letzten Satz des Kapitels zu Ende las. Sie blickte auf und sah ihm in die Augen. „Haben Sie …“ Sie verbesserte. „Hast du noch mehr solche Bücher? Über Pflanzen habe ich kaum welche. Ich würde am liebsten einen Pflanzenbauwissenschaftler und Herbologen hinzuziehen“, er riss seine Augen weit auf, „aber das möchtest du ja nicht. Trotzdem …“
„Nein, das wird nicht notwendig …“
Sie machte es ihm nach und unterbrach ihn. „Doch, es ist notwendig, aber ich werde alles auf einer theoretischen Basis behandeln. Niemand wird erfahren – das verspreche ich dir –, dass es um dich geht. Wir haben Takeda als Herbologen, aber die künftige Korrespondenz beschränkt sich auf Briefverkehr. Die Eulen tun mir jetzt schon leid. Ich kann mir einen regelmäßige Portschlüssel nach Japan aber einfach nicht leisten.“ Die wurden nämlich, das wusste Severus natürlich, in der Regel beim Ministerium beantragt und bezahlt. „Wir haben doch vor Ort sehr fachkundige Herbologen.“ Hermine blickte einen Moment nachdenklich auf das Buch. „Ich werde Neville meinen Trank geben. Er soll damit forschen. Der Vorteil ist, dass die Pflanzen dank seines Düngers extrem schnell wachsen.“
„Er wird Fragen stellen“, gab Severus zu bedenken.
„Nicht wenn ich ihn bitte, keine zu stellen.“
„Aber …“ Ihm fiel nichts ein, mit dem er ihr diese Idee ausreden könnte, weswegen er resignierend seufzte.
„Das wäre doch perfekt“, wollte sie es ihm schmackhaft machen. „Die Gewächshäuser von Hogwarts sind für uns schnell zu erreichen. Neville macht es bestimmt. Für ihn wäre die Arbeit mit dem Farbtrank etwas Neues, das er sicher gern macht.“ Einen Moment lang knabberte sie an ihrem Daumennagel, bis sie eine weitere Idee hatte. „Wenn ich wegen der Arbeit nicht dazu komme, kann Poppy die Pflanzen auf ihre Wirkstoffe testen. Das geht relativ fix; dafür gibt es Aufschlüsselungszauber, die man als Heiler lernt.“
„Du kannst auch mir diese Sprüche beibringen, dann mach ich das.“

Seine Angst, zu viele Menschen könnten in die Forschung involviert werden, ließ ihn vorsichtig werden. Auch wenn er Poppy mochte und schon kannte, bevor er überhaupt Hogwarts besucht hatte, wollte er sie nicht mit einbeziehen.

„Was hast du gegen Poppy?“
„Ich habe nichts gegen sie“, rechtfertigte er sich gnatzig. „Ich will nur nicht, dass jeder …“
Sie fuhr ihm über den Mund. „Was heißt denn hier ‘jeder‘?“
„Es sind schon viel zu viele Menschen, die davon wissen. Von mir, meine ich.“
„Das ist nicht wahr, Severus.“
„Ach nein?“, fragte er spottend. „Wer ist es denn, der bereits eingeweiht ist? Das musst du am besten wissen, wo du es doch warst, die damit hausieren ging.“
Hermine war ein wenig beleidigt, zählte dennoch auf: „Harry, Draco, Ron“, Severus verzog bei dem letzten Namen das Gesicht, „Albus, na ja und Remus auch.“
Severus presste die Lippen zusammen. „Sind das alle?“
Sie legte den Kopf schrägt und musterte ihn. „Neville und Pomona ahnen etwas, aber alles, was sie wissen könnten, haben sie allein herausgefunden. Zumindest was den Ewigen See betrifft. Pomona, Neville und Remus haben nämlich den Gespenstischen Steinregen besorgt und für was der benutzt werden kann, ist den beiden Kräuterkundlern bewusst.“
„Na wunderbar“, murmelte Severus missgelaunt. „Sonst noch wer?“
„Ginny konnte sich das Meiste selbst zusammenreimen.“
„Fantastisch!“ Severus war wütend. „Vielleicht sollten wir einfach einen Aushang am schwarzen Brett anbringen? Vielleicht findet sich auf diesem Wege schneller eine Lösung?“
Diesmal seufzte Hermine. „Ich habe doch versprochen, dass nur noch wir beide uns darum kümmern werden. Trotzdem werde ich in Bezug auf Pflanzen andere Menschen kontaktieren müssen. Ich werde jedenfalls nicht noch meinen Meister in Kräuterkunde machen, damit wir wirklich alles allein bewerkstelligen können!“

Gerade wollte er ihr einige Boshaftigkeiten an den Kopf werfen, da machte ihn ihre Hand auf seinem Unterarm mundtot. Er rang erst nach Worten, dann nach Luft, bevor er nachgab und nickte. Hermine behielt Recht, denn in Bezug auf Pflanzen und verborgene Wirkstoffe war auch er nicht sehr bewandert. Unter seiner Aufsicht würde wahrscheinlich sogar ein Kaktus eingehen, obwohl der nur selten gegossen werden musste.

„Ach, das habe ich noch gar nicht erzählt“, begann Hermine und erhielt damit sofort seine volle Aufmerksamkeit. „Als ich die Eingänge vom Ministerium durchgegangen bin, habe ich bemerkt, dass mich jemand um drei Wolfsbanntränke geprellt hat. Das ist mir ein Rätsel, wo ich doch jeden Ausweis unterschrieben habe. Laut Ministerium sind drei Unterschriften von mir nicht angekommen. Ich habe auch schon eine Ahnung, wer das gewesen sein könnte.“
„Und wer bitteschön?“
„Mr. Doppel-X. Er hat bei der Anmeldung nicht mit Namen unterschrieben. Nachdem er seine Tränke eingenommen hat, stand er jedesmal, als ich den Pass unterschrieben habe, am Fenster und hat sich sehr auffällig geräkelt.“
„Er hat jemandem ein Signal gegeben“, vermutete Severus ganz richtig.
Sie nickte. „Das denke ich auch. Keine Ahnung, ob er beim nächsten Mal wieder zu mir kommt.“ Sie lächelte ihn verschmitzt an. „Wenn ja, dann könntest du vielleicht draußen vor meinem Schaufenster mal die Augen aufhalten und herausfinden, für wen diese Zeichen bestimmt sind?“ Sie drückte seinen Unterarm. „Ich kann mir niemanden vorstellen, der für diesen Job besser geeignet wäre.“

Der Anflug eines Lächelns war auf seinem Gesicht zu erkennen, als er das versteckte Kompliment in Bezug auf seine Observations-Techniken herausgehört hatte.

„Was war eigentlich mit den Erinnerungen? Waren sie noch bei Harry?“
Er nickte. „Ich habe sie wieder an mich gebracht.“
„Hat er sie sich angesehen?“
Severus hob und senkte die Schultern. „Die Möglichkeit hätte er gestern und heute gehabt. Ich weiß es nicht.“ Einen Moment lang haderte er mit sich, bevor er ihr ein Detail schilderte. „Der Phönix hat Tränen verloren.“
„Fawkes hat geweint?“, fragte sie nach, woraufhin er nickte. „Warum?“
„Ich weiß es nicht.“
„Vielleicht wird er bald brennen?“, murmelte sie gedankenverloren, denn sie musste plötzlich an die Prophezeiung denken. „Meinst du, der Phönix hat mit dem zu tun, was Trelawney vorhergesagt hat?“
„Was habe ich mit diesem Vogel zu schaffen? Er müsste schon in meinen Armen Feuer fangen, damit seine Erneuerung etwas mit mir zu tun haben könnte.“
„Darf ich es nochmal sehen?“
Irritiert fragte er nach: „Was?“
„Das dunkle Mal.“

Er zögerte erst, löste jedoch den Manschettenknopf an seinem Handgelenk, bevor er den linken Unterarm freimachte. Ganz genau betrachtete sie das leicht verblasste Symbol. Es bestand aus schwarzer Magie, konnte also weiterhin sinnbildlich mit dieser dunkelsten aller Farben bezeichnet werden. Die Haut an seinem Unterarm war weiß und sie bemerkte die blauen Adern, die sich sichtbar unter ihr abzeichneten.

„Ich wünschte, es würde vollends verblassen“, gab er mit zittriger Stimme zu.
„Und genau das“, Hermine fuhr mit ihren Fingern über das Mal, „ist laut Prophezeiung nicht möglich. Man kann es nicht fort wünschen.“ Sie bemerkte die Gänsehaut an seinem Unterarm und ließ von ihm ab. „Sag mir bitte Bescheid, wenn du Veränderungen bemerkst.“
„Was für Veränderungen?“
„Falls es plötzlich brennt oder Farbe und Form anders sind.“
„Falls es brennen sollte, müssten wir uns in der Tat Gedanken machen, denn das würde bedeuten, ‘er‘ wäre zurückgekehrt.“
„Das wird nicht passieren.“
„Dann wird es auch nicht brennen können, Hermine.“
„Aber dann macht die Prophezeiung überhaupt keinen Sinn!“
„Was Sibyll allgemein von sich gibt, macht häufig keinen Sinn“, winkte er lapidar ab.
„Die Prophezeiung, die sie Albus gemacht hat …“

Hermine verstummte. Natürlich wusste er aus eigener Erfahrung, dass diese Prophezeiung wahr geworden war. Sie wollte ihn wirklich nicht daran erinnern, dass er die Hälfte davon an Voldemort weitergegeben hatte. Es war jedoch längst zu spät. Er dachte daran, wie auch sie daran denken musste.

„Was …“ Severus musste sich räuspern. „Was hältst du von dem, was du gestern gesehen hast?“ Er klang sehr unsicher, wollte dennoch ihre Meinung hören.
„Ich weiß nicht“, murmelte sie, doch so wie er sie anstarrte, verlangte er eine Antwort, die sie ihm mit zarter Stimme gab. „Ich werde mir kein Urteil erlauben, Severus. Das steht mir überhaupt nicht zu.“
Irgendeine Haltung musste sie haben, dachte er. „Aber ich habe die Prophezeiung weitergegeben!“
„Von der du nicht einmal wusstest, wen sie betreffen würde, geschweige denn, ob sie sich überhaupt erfüllen könnte.“
„Aber …“
„Severus, das ist Vergangenheit! Nichts davon lässt sich rückgängig machen. Ich möchte nicht einmal darüber nachdenken, was passiert wäre, wenn Voldemort Harry nicht als Ebenbürtigen gekennzeichnet hätte. Wahrscheinlich wäre dann niemand in der Lage gewesen, ihm das Handwerk zu legen.“

Hermine atmete kräftig ein und aus, unterdrückte dabei die Gefühle, die in ihr aufkamen, als sie in Gedanken den weinenden Harry neben seiner Mutter sitzen sah. Wenn sie der Anblick schon so mitgenommen hatte, würde Harry ihn nur schwerlich ertragen können, aber zum Glück hat er seiner Neugierde nicht nachgegeben, glaubte Hermine.

„Meinst du, ich dürfte mir Bücher aus der Bibliothek ausleihen?“
Severus verneinte. „Pince hat schon gemeutert, als du noch nicht offiziell meine Schülerin warst. Ich nehme an, sie wird dir das Ausleihen von Bücher nicht gestatten.“
„Oh, na dann werde ich mir wohl ein paar kaufen müssen.“ Sie rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. „Ich werde gehen. Nach dem Abendessen in der großen Halle wollte ich noch mit Neville sprechen.“ Von Severus kam kein Widerspruch, auch wenn sie ihm ansehen konnte, dass er davon nicht sehr begeistert war. „Kommst du morgen nach dem Unterricht vorbei?“
Hier blickte er sie interessiert an. „Natürlich.“
Seine schnelle Antwort ließ sie erleichtert lächeln. „Prima, dann sehen wir uns gegen 15 Uhr?“

Gerade stand sie auf, da bat er sie, nochmals Platz zu nehmen. Aus einer Schublade holte er die lederne Mappe, die er ihr in die Hand drückte. Neugierig öffnete sie den Deckel. Ihr Vertrag offenbarte sich ihr. Ganz unten fand sie seine Unterschrift.

„Das ist …“ Ihr fehlten einen Augenblick die Worte. „Ich freue mich so, Severus. Das habe ich mir gewünscht, seit ich die Apotheke habe.“
„Tatsächlich?“, fragte er erstaunt nach.
„Ja, wirklich! Es hat keinen Spaß gemacht, alleine zu brauen. Ich habe unsere Zusammenarbeit wirklich vermisst, Severus.“
„Du wirst noch bis Ende Juni auf meinen vollen Arbeitseinsatz verzichten müssen. Ich möchte nicht mitten im laufenden Schuljahr gehen und Albus in die Verlegenheit bringen, keinen Ersatz für mich zu haben. Mir liegt daran, dass meine Schüler ausnahmslos ihre UTZe mit Bestnoten abschließen. Jede andere Note würde auf mich zurückfallen.“
„Wann geht es mit den ersten Prüfungen los?“
„Übernächste Woche. Ich bin mir sicher, dass ich die eine oder andere Stunde meiner Freizeit damit verbringen werde, den Schülern noch einige wichtige Informationen einzubläuen. Drück mir die Daumen, dass Mr. Foster alle Prüfungen besteht. Ich hatte mich nach der Wiedereröffnung der Schule dafür eingesetzt, dass der junge Mann zwei Klassen überspringt und gleich mit der siebten beginnt. Er wäre der jüngste Schulabgänger Hogwarts‘.“
„Das hört sich vielversprechend an. Ich vertraue auf dein Urteil. Er wird es bestimmt schaffen.“ Überglücklich drückte sie die lederne Mappe mit dem unterschriebenen Vertrag an ihre Brust und stand auf. „Ich werde jetzt nach Neville suchen. Wir sehen uns morgen.“
„Bis morgen, Hermine.“ Der Hund folgte ihr bis zur Tür, was Hermine erstaunte. „Nein Harry, du bleibst hier“, brachte sie dem Tier mit sanfter Stimme bei. Severus rief den Hund zu sich und der parierte sogar.

Da sie schon hier unten in den Kerkern war, suchte Hermine den Bereich der Hufflepuffs auf, wo auch Nevilles und Pomonas Räumlichkeiten lagen. Die befanden sich ganz in der Nähe der Schulküche neben einem Gewölbekeller, gleich neben dem Gemeinschaftsraum der Hufflepuffs. Ein Erstklässler mit einem Stück Kuchen vom Abendessen in der Hand fragte Hermine höflich, ob er helfen könnte. Von ihm erfuhr sie, dass Professor Sprout und ihr Auszubildender bei den Gewächshäusern wären.

In Gewächshaus Nummer vier traf sie Neville an, aber nicht Pomona war bei ihm, sondern Luna, die sich eine Blume mit vielen rosafarbenen Kronblättern ansah, die alle einseitswendig von dem Stängel nach unten hingen. Ganz unten an den Blüten befand sich eine weiße Spitze. Luna schien von dieser Blume ganz verzaubert, so dass sie Hermine erst wahrnahm, als sie beide grüßte.

„Hermine“, grüßte Neville mit breitem Lächeln, „was führt dich her? Kann ich wieder etwas für dich anpflanzen?“
„Nein, nichts Spezielles, aber du kannst gern meinen Trank mit den Gewächsen testen, die du bereits angepflanzt hast.“

Da Neville den Sinn ihrer Worte nicht verstand, erzählte sie ihm von dem Farbtrank und dass viele Menschen, auch Kräuterkundler, gegen Bezahlung damit forschten. Ihr farbenprächtiges Erlebnis bei Takeda ließ sie nicht aus. Neville bekam ganz glänzende Augen.

„Und ich darf damit auch Experimente machen?“, fragte er aufgeragt. Als Hermine nickte, war er vollends begeistert, doch dann wurde sein Gesicht wieder ernst. „Hermine“, stammelte er verlegen, „ich habe kein Geld, um den Trank bezahlen zu können.“
„Wer hat denn gesagt, dass du dafür bezahlen musst?“ Aufmunternd zwinkerte sie ihm zu. „Du kannst testen, so viel zu möchtest. Dann und wann hätte ich bestimmt eine Auftragsforschung für dich. Du verstehst schon… Bestimmte Pflanzen, die du auf ihre Magie testen sollst.“
„Kein Problem, Hermine. Ich bin dabei.“

Luna, die alles mitgehört hatte, meldete sich erst jetzt zu Wort, ohne jedoch von der rosafarbenen Blume abzulassen.

„Vielleicht kann Neville gleich hiermit anfangen. Das ist eine der Pflanzen, mit der meine Mutter damals experimentiert hat.“ Luna zeigte auf einige andere Gewächse. „Diese dort auch.“
„Was für welche sind das?“, wollte Hermine wissen.
Nicht Luna, sondern Neville gab die Antwort. Er zeigte einmal auf die hintere Reihe: „Das sind krautige Pflanzen; alle aus der Familie der Mohngewächse. Ich wollte keine anpflanzen, die ein sekundäres Dickenwachstum aufweisen und am Ende verholzen.“ Hermines Stirn runzelte sich, weswegen Neville es vermied, weitere Fachbegriffe zu benutzen. „Die dort mit dem traubigen Blütenstand zum Beispiel“, er zeigte auf eine Gewächs mit vielen grünen Blättern, „ist ein Corydalis cava. Er hat überhaupt keine heilenden Eigenschaften. Gleich daneben, die mit den gelben Blüten, ist eine Glaucium flavum. Man hat aus ihren Wurzeln damals ein Heilmittel gegen Ruhr hergestellt.“
„Gegen Ruhr? Habe ich ja noch nie gehört, dass man diese Pflanze verwendet hat. Hat es geholfen?“
Neville zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Das war im antiken Griechenland. Niemand mehr da, den man fragen könnte.“ Er grinste. „Daneben“, eine Pflanze mit zwittrigen gelben Blüten, von denen die Hälfte schon abgefallen war, „ist eine Chelidonium majus.“
„Oh ja“, sagte Hermine zustimmend, „die kenne ich aus meiner Heilerausbildung sehr gut. Sie enthält zehn Alkaloide. Ich hatte mal während des Krieges ein kleines Mädchen betreut, das davon gegessen hat. Sie wäre fast gestorben.“
„Tatsächlich?“, wunderte sich Neville. „Poppy wollte, dass ich sie anbaue.“
„Wahrscheinlich wegen des Sparteins, das wirkt sich nämlich anregend auf Herz und Kreislauf aus. Alles ist erst ab einer bestimmten Dosis giftig.“

Neville schien beruhigt und stellte die letzten beiden Gewächse vor. Er deutete auf eine Pflanze, die eindeutig ein Farngewächs darstellte und viele wunderschöne weiße Blüten aufzeigte.

Hermine staunte. „Hey, die Pflanze habe ich heute Abend erst gesehen!“
„Bist du sicher?“, fragte Neville skeptisch nach. „Die ist nämlich in Japan heimisch. Ein Farn. Der Pteridophyllum racemosum.“
„Du wirst es nicht glauben, Neville, aber ich war vor etwas über einer Stunde noch in Japan.“

Neville schaute sie an, als würde sie ihn auf den Arm nehmen, doch sie lächelte so offen und ehrlich, dass sie ihn ansteckte. Luna hingegen lächelte breit.

„Ich glaube dir, dass du heute in Japan warst. Warum solltest du auch lügen?“
„Professor Takeda“, erklärte Hermine, „hat uns einen Portschlüssel geschickt, damit wir uns die Auswirkungen des Farbtrankes bei seinen Pflanzen ansehen können.“
„Takeda? DER Professor Kôji Takeda?“
Jetzt wurde Hermine skeptisch. „Du kennst ihn?“
„Nicht persönlich, aber seine Bücher! Er hat einen großen Namen unter den Kräuterkundlern.“
„Wirklich? Dann sollte ich dich das nächste Mal vielleicht mitnehmen und dich ihm vorstellen?“
„Das würdest du machen?“, fragte Neville aufgeregt nach, denn ganz offensichtlich hielt er viel von diesem Mann.
„Wenn ich’s doch sage!“
„Oh, was würde ich geben, um seine riesigen Gewächshäuser zu sehen“, schwärmte er.
Luna, die noch immer an der rosafarbenen Blume stand, machte den Vorschlag: „Du könntest bei ihm Interesse mit deinem Dünger wecken, Neville.“ Er wollte schon abwinken, da ergriff die Blonde das Wort: „Mach deine Erfindung nicht immer nieder. Selbst Professor Sprout sagt, dass dein Dünger einzigartig ist.“
„Ja, du hast ja recht“, murmelte Neville. Er selbst schien nicht an sich und sein Produkt zu glauben. Er nickte in Lunas Richtung hinüber und meinte damit die letzte Pflanze: „Eine Lamprocapnos spectabilis. Der wird auch keine magische oder heilende Fähigkeit zugeschrieben. ‘s ist nur eine Zierpflanze.“
„Das werden wir ja sehen“, gab Hermine zu bedenken. „Ich werde dir gleich morgen eine Eule mit ein paar Flaschen schicken, dann kannst du gleich anfangen, deine Beete damit zu gießen. Professor Takeda erwähnte, dass er wenig von dem Farbtrank benötigte, weil er in der Erde länger aktiv bleibt, die Pflanze also viel länger leuchtet, als würde ein Mensch ihn einnehmen.“
„Darf ich ihn auch mal einnehmen?“
„Natürlich, Neville. Das wäre sogar sehr interessant. Schreibst du mir deine Beobachtungen auf?“

Neville nickte. Sein Blick fiel auf die lederne Mappe in ihrer Hand, die auch Luna nun fixiert hatte. Hermine musste schmunzeln. Mit einer Hand wedelte sie mit der Ledermappe.

„Ich habe bald einen Geschäftspartner!“
„Wirklich?“ Neville freute sich für Hermine, war aber auch neugierig. „Wer?“
Nicht Hermine kam dazu, eine Antwort zu geben. Es war Luna, die ganz richtig vermutete: „Professor Snape.“
Neville blinzelte mehrmals. „Ist das wahr?“
„Ja, aber er macht das Schuljahr noch zu Ende. Ist ja nur noch bis Ende Juni, dann steigt er bei mir ein.“
„Werde ich viel mit ihm zu tun haben?“, wollte Neville ein wenig besorgt wissen.
„Du meinst wegen des Trankes? Mach dir da keine Sorgen. Das werden nur wir beide regeln, okay?“

Wortlos stimmte er zu. Er freute sich sichtlich über Hermines Angebot, den Farbtrank kostenlos testen zu dürfen.

Über ein ganz anderes kostenloses Angebot freute sich gerade Sirius, denn in der Winkelgasse verteilte ein Bäcker, der zusammen mit wenigen anderen Geschäften auf einen Sonntag geöffnet hatte, gratis Backwaren. Sirius war so frech und staubte gleich zwei von den Plunderstücken ab, mit denen er sich auf den Weg zu Sid machte. Mit ihm war er verabredet. Die Winkelgasse Nummer zwei – wie man es schon ahnen konnte – lag ganz am Ende der Straße. ‘Oder war es der Anfang?‘, dachte Sirius, bevor die Stufen des durch Fideliuszauber geschützten Hauses betrat. Er war schon einige Male hier gewesen. Sid wohnte im ersten Stock. Andere Bewohner hatte Sirius hier nie gesehen. Nachdem er den altmodischen Türklopfer benutzt hatte, wurde ihm geöffnet. Neugierig, wie er war, stellte er seinem Gastgeber gleich eine Frage.

„Wie kommt es eigentlich, dass Sie das ganze Haus mit einem Fidelius schützen konnten? Was sagen denn die anderen Bewohner dazu?“
Sid ließ seinen Gast eintreten und erklärte auf dem Weg zum Wohnzimmer: „Das ganze Haus Nummer zwei gehört mir. Ich wohne allein.“
„Oh“, machte Sirius teils aus Bedauern, teils aus Skepsis. „Keine Familie?“
„Die wohnt nicht hier, nicht einmal in diesem Land.“ Sid deutete auf das hellbraune Sofa. „Nehmen Sie doch Platz, Mr. Black. Darf es etwas zu trinken sein?“
„Machen Sie uns doch einen Kaffee! Ich habe etwas Schönes mitgebracht.“ Weil Sid gleichgültig auf die Papiertüte in Sirius‘ Hand starrte, offenbarte er: „Obstplunder.“
„Doch nicht etwa von dem Bäcker gegenüber?“
„Freilich! Warum?“
„Letzte Woche erst hat das Ministerium bei ihm Mäuse in der Vorratskammer entdeckt. Mit seinen Gratisgeschenken will er wieder Kunden anlocken.“
„Hat er die Plage beseitigt?“, wollte Sirius mit unschuldigem Gesichtsausdruck wissen.
„Offenbar ja, zumindest hat das Ministerium den Laden am Freitag wieder freigegeben.“
„Na dann …“

Sirius zog eines der süßen Hefeteigleckereien aus der Tüte und biss demonstrativ hinein. Sid hingegen schaute ihm einen Moment dabei zu, ging dann hinaus in die Küche und machte per Zauber einen Kaffee. Das klappern von Geschirr war zu hören. Mit einem Gedeck für zwei Personen kam er zurück.

„Was denn?“ Sirius blickte ihn übertrieben verwundert an. „Etwa doch Appetit auf Mäuseplunder?“ Ein Grinsen konnte sich Sirius nicht verkneifen.
„Sie machen es richtig vor, Mr. Black. Es wäre falsch, eine Person für immer abzustempeln und für die Zukunft nur noch Vorurteile zu hegen. Wenn das Ministerium die Backstube freigegeben hat, dann wird das seine Richtigkeit haben.“

Während beide aßen und ihren Kaffee tranken, machten sie bereits grobe Pläne für die heutige Arbeit.

„Ich denke“, begann Sirius, „dass es von Vorteil ist, den Kobolden und Hauselfen einen Zauberstab einzuräumen.“
„Da stimme ich Ihnen zu, aber das Problem ist, dass viele Bürger damit nicht einverstanden sein werden. Das würde sich wiederum negativ auf Minister Weasleys künftige Amtszeit auswirken.“
„Ich verstehe nicht ganz“, gab Sirius offen zu.
„Hauselfen, die einen eigenen Zauberstab haben? Eine Menge altansässiger Familien mit, ähm, wenig aufgeschlossener Geisteshaltung werden auf die Barrikaden gehen. Der Abschnitt 3 vom ‘Gesetz zum Gebrauch des Zauberstabs‘ existiert seit Jahrhunderten! Nicht-menschliche magische Wesen dürfen nicht einmal einen bei sich führen. Stellen Sie sich vor, was diese Gesetzesänderung nach sich ziehen würde. Die magische Gesellschaft wird sich bedroht fühlen …“
„Nicht alle!“, warf Sirius ein.
„Und außerdem gibt es keinen Grund für diese Wesen, einen Zauberstab zu gebrauchen. Sie kommen bestens ohne aus.“
„Weil sie bisher nie einen ausprobieren durften!“
„Mr. Black …“
„Mr. Duvall?“

Sid schloss einen Moment seine Augen. Manchmal, so wie gerade eben, ging ihm Sirius sehr auf die Nerven. Er konnte ein unangenehmer Trotzkopf sein. Sid atmete einmal tief durch.

„Wenn wir nicht wollen, dass es Aufstände gibt – und die wird es geben –, dann müssen wir die Gesellschaft feinfühlig auf diese Änderung vorbereiten, anstatt sie damit zu überrumpeln.“
Sirius runzelte die Stirn. „Und wie stellen Sie sich das vor?“
„Ich habe keine Ahnung.“

Ein Moment der Stille verging, den Sid mit seinem Kaffee überbrückte, während Sirius das letzte Stück seines Gebäcks verzehrte und dabei eine mit Gelee überzogene Kirsche versehentlich auf das Sofa plumpsen ließ. Die Tasse in Sids Hand kam auf halben Weg zum Mund zum Stehen.

„Oh, das ist mir peinlich.“ Sofort zog Sirius seinen Zauberstab, um den roten Fleck auf dem hellbraunen Polster zu entfernen.
„Lassen Sie nur, ich mache das später.“
„Ist doch gleich erledigt, einen Moment.“ Sirius dachte kurz nach und wutschte dann mit seinem Stab. Der Fleck wurde größer, anstatt zu verschwinden. „Ach, ich wusste, der war nicht richtig.“ Seinen Gastgeber anblickend fragte er: „Kennen Sie einen angemessenen Reinigungszauber für Obstflecken?“
„Ich sagte doch, ich kümmere mich später drum.“
„Aber ich kann den Fleck doch nicht …“

Sid stöhnte genervt auf, zog seinen Stab und schleuderte einen wortlosen Reinigungszauber auf die verschmutzte Stelle.

„Verraten Sie mir den Spruch?“
„Wir haben uns nicht getroffen, um Haushaltszauber zu üben.“
„Aber es schadet auch nicht, wenn …“ Sirius hielt inne. „Ach, vergessen Sie’s.“
„Dann können wir nun zu dem Punkt zurückkommen …“
„… zu dem Sie keinen Vorschlag hatten“, unterbrach Sirius frech. „Wenn Sie sagen, wir müssen die Bürger der magischen Welt darauf vorbereiten, dass Kobolde und Elfen demnächst Zauberstäbe nicht nur erwerben, sondern auch mit sich tragen und sogar benutzen dürfen, dann lassen Sie uns doch einfach mal die positiven Aspekte aufzählen.“
„Was denn für positive Aspekte?“
„Was das Wort ‘positiv‘ bedeutet, wissen Sie aber?“
„Wollen Sie mich auf den Arm …?“
Sirius lachte laut auf. „Ja, ich wollte Sie nur auf den Arm nehmen. Tut mir leid, aber manchmal werde ich das Gefühl nicht los, dass Sie als Kind einen Quidditch-Unfall hatten und nach dem Sturz direkt auf dem senkrecht stehenden Besen gelandet sind – und den noch heute mit sich herumtragen, so stocksteif, wie Sie sich manchmal geben.“
„Mr. Black!“ Sid war aufgestanden und ballte die Fäuste an der Hosennaht. Einige Male öffnete sich sein Mund, aber jedesmal schloss er ihn wieder, ohne dass er ein Wort von sich gab.
„Kommen Sie, lachen Sie einfach drüber. Es war nur ein Spaß.“
„Ich finde es gar nicht lustig“, wetterte Sid, „mich in meinem Haus beleidigen lassen zu müssen.“
„Ich habe nur einen Scherz gemacht, Mr. Duvall!“, beteuerte Sirius.
Nachdem Sid einige Male zittrig ein- und ausgeatmet hatte, sagte er durch zusammengebissene Zähne so neutral wie nur möglich: „Sie haben, was Scherze betrifft, eine sehr grobe und verletzende Auffassung. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich in Zukunft mit Ihrem Schabernack verschonen würden, denn ansonsten sehe ich unsere Zusammenarbeit gefährdet. Habe ich mich verständlich genug ausgedrückt?“

Sirius wusste, dass sein Gegenüber es ernst meinte und nickte deswegen zustimmend. Er müsste sich demnächst zusammenreißen. Nicht jeder war es gewohnt, mit seiner Art Humor umzugehen. Sid nickte ihm einmal kurz zu, um diese kleine Differenz bereinigt zu wissen, bevor er sich wieder setzte. Der Sessel, der älter sein musste als sein Besitzer, ächzte unter Sids Last auf; gleich darauf knarrte eines der Stuhlbeine unangenehm laut. Sirius blinzelte, musste dann grinsen und sprach Sid schließlich amüsiert auf das Geräusch an.

„Das war der Besenstil oder?“ Sirius‘ Augen funkelten neckend, nicht bösartig, aber belustigt. Dass er es nicht beleidigend meinte, würde selbst ein Dreijähriger verstehen. Weil Sid ihn mit versteinerter Miene anstarrte, begann Sirius aus ganzem Herzen zu lachen und dann geschah etwas, was Sirius nicht für möglich gehalten hatte: Sid lachte plötzlich mit. Die eben noch so schwer im Raum liegende Abneigung war mit einem Male wie weggewischt. Sid schüttelte den Kopf und beruhigte sich dabei wieder, behielt jedoch ein Lächeln bei.

„Sie sind unmöglich, Mr. Black.“
„Ja, Sie glauben gar nicht, wie oft ich das zu hören bekomme. Aber zurück zu unserer Arbeit, wenn Sie mir schon keine Haushaltszauber beibringen möchten.“ Er schmunzelte, bevor er tatsächlich wieder den letzten Punkt aufgriff. „Die positiven Aspekte, wenn Kobolde oder Hauselfen in Zukunft Zauberstäbe erwerben dürfen, liegen doch auf der Hand. Es kurbelt unsere Wirtschaft an! Gerade nach dem Krieg ist das eine Sache, die wir fördern sollten. Wenn wir diesen Mitlebewesen nun gestatten, Zauberstäbe zu benutzen, dann profitieren davon nicht nur die Stabmacher allein, sondern auch die Herren und Damen, die sich der Herstellung von Zauberstabholz verschrieben haben sowie diejenigen, die die Kernsubstanzen liefern. Das sind mindestens drei Handelszweige, denen damit auf die Sprünge geholfen wird.“ Sid nickte und hörte weiterhin aufmerksam zu, als Sirius fortfuhr. „Ich lasse jetzt mal außen vor, dass mehr Gewinn für diese Branchen auch mehr Arbeitsplätze für die Bürger mit sich bringen wird. Wichtig ist auch, dass der Gesellschaft damit Vorteile entstehen, denn wenn den Hauselfen durch einen Stab ihre Arbeit erleichtert wird – und davon gehe ich aus –, kann das nur im Sinne ihrer Herrschaften sein. Kobolde hingegen könnten viel effektiver arbeiten, somit wiederum die Zeit für ihren Arbeitsaufwand verkürzen. Man muss nicht extra erwähnen, dass halbe Arbeitszeit auch halbierte Ausgaben für den magischen Menschen bedeuten. Diese Aspekte“, Sirius fummelte ein Pergament aus seiner Tasche, „sollten wir der Gesellschaft verständlich nahebringen. Na, was halten Sie davon?“

Von den vielen Informationen war Sid ein wenig erschlagen, aber so in der Art hatte er sich selbst bereits Gedanken gemacht. Das Schönste war jedoch, dass alles Sinn machte und sogar funktionieren müsste, wenn nur die Möglichkeit bestehen würde, damit überhaupt an die Öffentlichkeit zu gehen.

„Wie könnte man der magischen Gesellschaft diese Vorteile schmackhaft machen?“
„So wie es immer getan wurde: durch die Presse. Hier und da ein Artikel in einer Zeitung. Es müssen ja nicht gleich alle Punkte auf einmal behandelt werden. Vereinzelt über diese Vorteile zu schreiben sollte genügen, um die meisten Menschen für diese Idee zu gewinnen.“ Sirius begann damit, auf seinem Pergament zu schreiben, aber nicht mit einer Feder, sondern mit einem Füllfederhalter.
„Was haben Sie da?“, fragte Sid neugierig.

Im ersten Moment wusste Sirius nicht, auf was sein Gegenüber zu sprechen gekommen war, blickte deswegen an sich hinunter, falls ihm mit dem Obstplunder noch ein anderes Malheur geschehen sein sollte, bis er den Füller in seiner Hand bemerkte.

„Oh, das hier?“ Er hielt den Füller hoch und Sid nickte. „Ein Geschenk meiner Frau. Ein Muggel-Schreibzeug.“
„Ist Ihre Frau ein Muggel?“
Sirius, der sich bereits seine eigenen Punkte notierte, bejahte. „Das bringt uns gleich zum nächsten Punkt, den ich heute noch besprechen wollte. Das 1992 von Minister Weasley ausgearbeitete Muggelschutz-Gesetz weist zu viele Lücken auf, wofür er nichts kann, denn man hat ihm damals viele Steine in den Weg gelegt.“ Unweigerlich musste er an Lucius denken. „Außerdem behandelt dieses Gesetz viele wichtige Punkte überhaupt nicht. Das Gesetz richtet sich überwiegend gegen den Besitz muggelfeindlicher schwarzmagischer Objekte. ‘Muggelschutz‘ sollte meines Erachtens genau das beinhalten, was es aussagt, nämlich den Schutz von Muggeln vor und durch magische Menschen.“
„Ich kann mir bereits denken, auf welche Punkte Sie hinauswollen, aber ich bin ganz Ohr.“

Sirius legte den Füllfederhalter auf das Pergament, nahm dann einen Schluck Kaffee, bevor er sich gemütlich in die Rückenlehne des Sofas sinken ließ.

„Wissen Sie, was meiner Frau passiert ist?“ Eine rhetorische Frage. Sid spitzte die Ohren. „Man hat ihr als Kind“, er hob den Zeigefinger, „eine Erinnerung gelöscht.“
„Als Kind? Das ist doch aber gegen die Vorschriften.“
„Und genau davor müssen wir Muggel schützen. Unsere Vorschriften dürfen nicht mehr dehnbar sein, so dass jeder sie auslegen kann wie er möchte. Soll ich Ihnen mal sagen, was meine Frau als Entschädigung erhalten hat?“
„Was?“
„Nichts! Nicht einmal einen feuchten Händedruck.“ Gedanklich notierte Sirius sich, dass er bei nächster Gelegenheit Arthur einen Tritt in den Allerwertesten geben wollte; natürlich auf nette Art und Weise.
„Es ist notwendig, Mr. Black, dass die Muggel so wenig wie möglich über uns wissen.“
„Warum aber ist das so? Haben wir immer noch Angst davor, dass sie uns wegen unserer Fähigkeiten nur ausnutzen würden? Wasch die Wäsche, putz das Haus …“ Sirius schüttelte den Kopf. „Nein, davor brauchen wir keine Angst zu haben. Die Muggel haben Techniken entwickelt, mit denen sie sich ihr Leben erleichtert haben. Bei einem Vergleich zwischen unserem Flohnetzwerk und deren Telekommunikation schneiden wir ganz schlecht ab. Wir benötigen immer einen Kamin, während die Muggel ein kleines Gerät aus ihrer Jackentasche ziehen und im Nu mit einem Menschen am anderen Ende der Welt sprechen.“
„Wir schneiden nicht immer schlechter ab“, warf Sid ein. „Wir können apparieren, wir haben Portschlüssel ...“
„Die Muggel fliegen zum Mond!“
Einen Augenblick war Sid still, bis er zugeben musste: „Ein Punkt für Sie, denn das können wir nicht überbieten.“
„Jede Welt hat ihre Vor- und Nachteile. Ich möchte damit nur klarstellen, dass die Muggel uns nicht ausnutzen würden. Schwarze Schafe gibt es allerdings überall, aber allgemein halte ich die Muggel für so verständnisvoll, dass man ihnen nicht einfach eine Erinnerung löschen muss, wenn sie nur zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Es kann nicht sein, dass Zauberer, die sich mit Muggeln einen Scherz erlauben, lediglich mit einer Geldstrafe davonkommen, während den Muggeln am Gedächtnis herummanipuliert wird.“
„Ich verstehe Ihren Standpunkt, Mr. Black. Das wird eine sehr umfangreiche Angelegenheit werden, den Umgang mit Muggeln entsprechend hieb- und stichfest auszuformulieren. Ich stimme Ihnen zu, dass nicht jedes Ereignis sofort eine Gedächtnisoptimierung rechtfertigt. Das wird man individuell entscheiden müssen, denn Sie müssen mir zustimmen, dass nicht jeder Muggel es ertragen wird, mit Dingen aus unserer Welt konfrontiert zu werden.“

Diesmal war es Sid, der sich Feder, Tintenfass und Pergament an den Tisch holte und seine Gedanken festhielt.

„Squibs!“, sagte Sirius völlig unerwartet.
„Wie bitte?“ Sid blickte irritiert von seinem Blatt auf.
„Unser nächster Punkt auf der Liste. Kennen Sie einen Squib persönlich?“, wollte Sirius mit hochgezogenen Augenbrauen wissen.
Sid dachte einen Moment nach, musste dann verneinen: „Mir ist noch nie einer über den Weg gelaufen.“
„Und warum ist das wohl so? Weil sie von unserer Gesellschaft verstoßen werden! Meines Erachtens völlig grundlos. Den Job zum Beispiel, den meine Frau jetzt macht, könnte auch ein Squib bewerkstelligen.“
„Was macht Ihre Frau?“
„Sie stellt Hüte her. Das Geschäft ist vor etlichen Wochen hier in die Winkelgasse gezogen. Sie sind vielleicht schon einmal dran vorbeigegangen.“
„Sie meinen ’Stock und Hut’? Ist mir schon aufgefallen. Jetzt weiß ich auch, was mit den Schild ‘Muggel-Handarbeit‘ gemeint ist. Scheint ein Verkaufsschlager zu sein. Der Laden ist immer gut besucht.“

Mit vor Stolz geschwellter Brust ließ Sirius diese Worte noch einen Moment auf sich wirken. Anfangs war er nicht sehr begeistert davon gewesen, dass seine Frau arbeiten ging, weil es finanziell einfach nicht notwendig war, aber sie hatte ihren Spaß daran und offenbar war ihr Handwerk auch begehrt.

„Genau das Geschäft meine ich. Es gibt einige Berufe in unserer Welt, wo das Zaubern nicht vorausgesetzt werden muss. Man braucht als Redakteur keinen Zauberstab – da reicht eine Feder. Das Pflegepersonal im Krankenhaus oder Angestellte in Küchen müssen auch nicht zwingend magisch veranlagt sein. Nehmen wir Kellner: Wo ist der Unterschied, wenn sie eine Bestellung persönlich bringen oder hinter sich herschweben lassen?“
„Mich brauchen Sie davon nicht überzeugen, Mr. Black. Auch ich denke, dass viele Berufe von Squibs ausgefüllt werden können. Ich befürchte nur, dass es in puncto Gehalt in kürzester Zeit Unterschiede geben könnte. So eine Klassenteilung möchte ich gar nicht erst aufkommen lassen.“
„Dann müssen wir uns da noch etwas einfallen lassen.“ Sirius notierte sich was, bevor er eine andere Sache ansprach. „Wenn wir Hauselfen und Kobolden einen Zauberstab erlauben, wie sieht es dann mit anderen halb-magischen Wesen aus? Halb-Riesen zum Beispiel.“
Sid blinzelte ein paar Male. „Halb-Riesen? Gibt es davon viele?“
„Ich kenne zwei.“
Einige Male öffnete Sid den Mund, dachte dann aber immer wieder nach, bevor er letztendlich kleinlaut nachfragte: „Wie ist das möglich?“
Sirius lachte. „Darüber haben meine Freunde und ich uns auch mehrmals den Kopf zerbrochen, aber es ist ja offensichtlich möglich. Wie, das möchte ich eigentlich auch gar nicht so genau wissen.“
„Nun, wenn Halb-Riesen kommunikativ sind und nicht wie die Riesen, ähm, unbedarft und grob, dann sehe ich kein Problem, solange sie magisch sind. Soweit ich informiert bin, haben Riesen keine magischen Fähigkeiten. Die müssten die Halb-Riesen von ihrem menschlichen Elternteil …“

Sid verlor den Faden, weil er sich etwas vorzustellen versuchte, was Sirius gar nicht erst ansprechen wollte. Stattdessen setzte Sirius noch einen drauf.

„Das Gleiche gilt dann auch für die Kinder, die aus der Verbindung zwischen Kobold und Mensch hervorgehen.“

Sirius musste an Professor Flitwick denken, von dem jeder vermutete, dass er einen Kobold in seiner Ahnenreihe haben musste. Des Weiteren war Flitwick ein aktives Mitglied bei der „Initiative für die Forderung eines Anti-Diskriminierungsgesetzes für magische und nichtmagische Halbwesen“. Selbst Hagrid, der Geheimnisse nie für sich behalten konnte, hatte einmal angedeutet, dass es Filius mit seinen Eltern ganz ähnlich ging wie ihm selbst.

„Sie machen Scherze, Mr. Black. Mensch und Kobold?“ Sid machte ein Gesicht, als hätte Sirius gerade das Märchen von einer Prinzessin erzählt, die den heldenhaften Ritter aus dem Weg räumte, damit sie den Drachen ehelichen konnte.
„Kümmern wir uns am besten nur um die magischen Resultate dieser Verbindungen. Ich denke, das Thema wird später sowieso keine Probleme mehr machen, wenn erst Hauselfen und Kobolden ein Zauberstab erlaubt wird.“
Sid machte noch immer den Eindruck, als hätte er einen Klatscher mit voller Wucht an den Kopf bekommen. Seine Nase kräuselte sich und die Stirn schlug Falten, als er leise fragte: „Ob es wohl je eine Verbindung zwischen einem Riesen und einem Kobold gegeben hat?“
Sirius lachte herzlich auf. „Das, Mr. Duvall, sprengt mein Vorstellungsvermögen!“

Die Arbeit dieses Tages war, wenn auch mit einem Hauch Merkwürdigkeit versehen, erfreulich ausgiebig ausgefallen. Sid und Sirius hatten viele Punkte ausgearbeitet und waren zu dem Entschluss gekommen, mit Hilfe der Presse kleine Artikel zu streuen, die die magische Gesellschaft dezent auf die neuen Gesetze vorbereiten sollte.

„Ich habe die Visitenkarte einer jungen Dame“, sagte Sid, während er entsprechendes Objekt per Aufrufezauber zu sich holte. „Es ist nie zu einer Zusammenarbeit gekommen, aber vielleicht könnte uns diese Journalistin behilflich sein.“ Er reichte Sirius die Karte.
„Oh“, machte Sirius, nachdem er den Namen gelesen hatte: Luna Lovegood. „Die Dame kenne ich sogar.“
„Wirklich?“
„Ja, sie ist eine ehemalige Mitschülerin meines Patensohnes.“
„Ich dachte, gerade weil die junge Frau für die Muggelpost schreibt, dass man darüber jene aufgeschlossenen Mitbürger erreicht, die allgemein solchen Änderungen enthusiastischer entgegensehen. Der Tagesprophet eignet sich vorerst nicht dafür, es sei denn, der Minister ordnet an, wie so ein Artikel auszusehen hat.“
„Das wird er nicht tun. Vom Tagesprophet hält er wenig. Falls sie sich noch daran erinnern können, haben die vor gut acht Jahren meinen Patensohn in den Schmutz gezogen, gerade weil das Blatt vom Minister kontrolliert worden war.“
„Ja“, sagte Sid mit Bedauern, „das habe ich damals verfolgen müssen. Eine wahre Schmutzkampagne gegen einen erst fünfzehnjährigen Schüler. Eine Schweinerei.“ Mit einem Finger fuhr sich Sid nachdenklich über die Lippen. „Wäre es wohl möglich, dass Ihr Patensohn sich öffentlich positiv zu den Gesetzesänderungen äußert?“
„Er gibt keine Interviews. Ich glaube, nach Kriegsende hat er sich vollends von den Medien zurückgezogen.“
„Das ist schade, Mr. Black, denn Harry Potter ist noch immer täglich im Gespräch, auch wenn es meist aufgewärmte Themen betrifft. Er hat weiterhin großen Einfluss auf die Gesellschaft und …“
„Ich werde ihn nicht fragen“, brach Sirius das Thema ab.
Sid schüttelte den Kopf. „Sie könnten ihn über unsere geplante Vorgehensweise unterrichten. Wenn er es für richtig hält, wird er vielleicht sogar selbst den Vorschlag machen, seine positive Meinung der Gesellschaft preiszugeben. Machen Sie bloß keinen Hehl daraus, was wir mit seiner öffentlichen Stimme erreichen möchten. Ich denke aber, er sollte davon erfahren, dass sein Einsatz von größter Wichtigkeit wäre. Wenn es sich bei der jungen Journalistin um eine ehemalige Mitschülerin handelt, könnten die beiden doch ganz gemütlich ein Schwätzchen halten.“
„Ich weiß nicht, Mr. Duvall. Ich möchte Harry nicht als Sprachrohr für unsere Belange missbrauchen.“
„Doch nicht missbrauchen, Mr. Black. Es bleibt ihm überlassen, ob er sich öffentlich äußern möchte oder nicht. Er sollte aber erfahren, dass er in dieser Hinsicht mehr als nur helfen kann.“
„Na ja“, haderte Sirius mit sich selbst, „ich kann mit ihm ja mal darüber reden, aber versprechen kann ich nichts.“
„Das verlangt auch niemand.“

Am darauf folgenden Montagmorgen in Hogwarts kam Harry schwer in die Gänge. Er hatte gestern viel weinen müssen. Der Anblick seiner verstorbenen Eltern hatte ihm am meisten zugesetzt, doch auch sein eigenes Ich so hilflos zu sehen hatte ihn aus der Fassung gebracht. Natürlich war er noch zu klein, um sich daran erinnern zu können, dass es erst Severus gewesen war, der ihn von all dem Tod wegholen wollte, der wie eine dunkle Wolke über Godric’s Hollow lag. Besonders die Bedeutung der Babydecke hatte sich ihm nun offenbart. Endlich war Severus so weit gewesen zu akzeptieren, dass Lily sich nicht für ihn entschieden hatte, was er mit dem durch Schutzzauber getränkten Geschenk für ihr Kind beweisen wollte und dann dieses unabwendbare Drama.

Auch jetzt, als er so überpünktlich am kaum besuchten Frühstückstisch saß und an Sirius dachte, wie der ihn in den Arm genommen und sich um die Wunde an der Stirn gekümmert hatte, sammelten sich erneut Tränen in Harrys Augen. Unbewusst zog er die Nase hoch, was Albus, der zwei Plätze neben ihm saß, nicht überhören konnte.

„Harry?“, hörte er die besorgte Stimme des Direktors. Er drehte sich um, bemerkte erst dann, dass er Albus nur verschwommen wahrnahm, weswegen er mit seiner Serviette schnell die feuchten Augen trocknete.
„Ja?“
„Warum so niedergeschlagen, mein Junge?“
„Ich …“ Harry stoppte sich und führte den Satz nur in Gedanken weiter. ‘… habe Dinge aus der Vergangenheit gesehen.‘

Albus stand auf und setzte sich auf den freien Platz direkt neben Harry. Schüler waren bisher kaum anwesend und vom Lehrpersonal und den Angestellten befanden sich nur Poppy, Filius und Septina Vektor, die Lehrerin für Arithmantik, am Tisch. Keiner schien ihm oder Albus viel Aufmerksamkeit zu schenken.

„Geht es dir nicht gut?“, fragte Albus fürsorglich. „Möchtest du heute frei haben?“
„Nein, das ist nicht notwendig. Ich glaube, ich brauche nur etwas Zerstreuung.“
„Zerstreuung weswegen?“ Es war Harry nicht möglich zu antworten, weswegen Albus ihm väterlich eine Hand auf die Schulter legte und Mut machend zudrückte.
Harry seufzte und atmete tief durch. „Warum ergreifen einen Situationen, von denen man längst weiß, so erbarmungslos, nur weil man sie mit eigenen Augen sieht?“ Er schüttelte den Kopf, als wäre ihm dieses Erlebnis unbegreiflich.
„Vielleicht ist das so“, mutmaßte Albus, „weil man dem Gesehenen mehr Bedeutung beimisst als dem Hörensagen?“ Harry starrte auf seinen leeren Teller und nickte, weil Albus ihm eine einleuchtende Erklärung gegeben hatte.
„Das wird es sein“, murmelte er.

Die Hand an seiner Schulter wanderte zum Rücken und strich zur Beruhigung dreimal im Kreis, bevor Albus von ihm abließ.

„Hast du Fragen, Harry?“

Von diesem Angebot war er überwältigt, denn normalerweise musste man Albus sämtliche Informationen aus der Nase ziehen, wenn man die kryptischen Andeutungen, die der betagte Direktor von sich gab, nicht verstand. Harry war sich nur nicht sicher, ob er über Severus‘ Erinnerungen mit Albus reden durfte, selbst wenn er Teil der Erinnerungen gewesen war. Harry entschied sich dagegen und schüttelte den Kopf.

„Möglicherweise findest du Zerstreuung bei jemandem, der deinen Kummer teilt?“

Mit Severus darüber zu reden, daran hatte Harry längst gedacht. Leicht würde es sicherlich nicht werden, seinem Kollegen – seinem Freund, verbesserte er in Gedanken – zu gestehen, dass er die Erinnerungen gesehen hatte. Aber Freunden sagte man die Wahrheit, man war ihnen gegenüber ehrlich und das wollte Harry sein.

„Ich denke, ich werde woanders frühstücken“, sagte er verabschiedend zu Albus, bevor er sich erhob und den Lehrereingang in der Nähe der Stundengläser nutzte, um den Weg in die Kerker einzuschlagen.

„Dobby?“, flüsterte er leise. Mit dem gewohnten Geräusch der Elfen-Apparation stand Dobby vor ihm.
„Harry Potter, Sir! Dobby wünscht einen guten Morgen. Was kann Dobby für Harry Potter tun?“
„Ich habe vor, bei Professor Snape zu frühstücken. Könntest du ihm das ausrichten? Und wenn er nichts dagegen hat, dann bring doch bitte Frühstück für uns beide in sein Wohnzimmer.“
„Dobby hat Professor Snape eben das Frühstück gebracht. Dobby wird ein zweites Gedeck bringen und mehr Essen.“
„Ja, das wäre nett. Erklär ihm bitte, dass ich komme, damit er nicht überrascht ist.“

Der Hauself verschwand. Auf seinem Weg in die Kerker malte sich Harry aus, wie Dobby bei Severus mit einem weiteren Frühstück erschien, wie Severus den Elf anblaffte – über den Gedanken musste Harry schmunzeln – und am Ende nachgab und nun mit einem Gast rechnete.

Die Slytherins, die er in den Kerkern traf und auf dem Weg in die große Halle waren, grüßten ihn ausgelassen fröhlich. Bei Severus angelangt klopfte er, obwohl er freien Zugang hatte, doch er wollte sich ankündigen. Severus öffnete ihm. Er sah in Harrys Augen erstaunlich gelassen aus.

„Guten Morgen, Harry.“ Severus öffnete die Tür weiter, damit sein Gast eintreten konnte. Offensichtlich hatte Severus nichts gegen ein gemeinsames Frühstück einzuwenden oder aber er war sich im Klaren darüber, dass er gegen Harrys Beharrlichkeit nicht ankommen würde. „Ich hab nicht mit dir gerechnet“, sagte Severus, womit er Harry zum Lächeln brachte, denn die persönliche Anrede war geblieben. „Du hast dich in letzter Zeit etwas rar gemacht.“
Das stimmte, dachte Harry. „Ja, wegen dem Kind und wegen Ginny. Ich wollte etwas Zeit mit ihnen verbringen.“ Der Hund kam angelaufen und wedelte kräftig mit dem Schwanz, während Harry ihm den Kopf tätschelte.
„Das ist verständlich.“

Severus deutete auf die Couch, auf der Harry Platz nehmen sollte. Dobby hatte es mit dem Frühstück etwas zu gut gemeint, aber vielleicht war unter den Hauselfen der Glauben verbreitet, dass Menschen in Gesellschaft mehr essen würden, womit sie nicht ganz Unrecht hatten.

„Kaffee oder Saft?“ Nach der Frage seines Gastgebers bediente Harry sich selbst und schenkte sich von dem Kürbissaft ein, doch auf eine Tasse schwarzen Wachmacher wollte er nicht verzichten. „Probleme mit den UTZ-Klassen?“
Harry runzelte die Stirn. „Wie bitte?“
„Mit den UTZ-Klassen. Ich dachte, da die Prüfungen nächste Woche beginnen, dass du womöglich Fragen haben könntest, wie auch schon vor Beginn des Schuljahres.“
„Nein, mit meinen Klassen ist alles bestens. Ich wollte nur … Na ja, ich war schon lange nicht mehr hier.“

Dass Severus skeptisch war, konnte Harry an dem Blick erkennen, den er mit seiner Erklärung erntete.

„Gibt es sonst einen bestimmten Grund für deinen kurzfristig angekündigten Besuch?“
„Ähm …“ Harry fragte sich, wie Severus reagieren würde, sollte er ihm die Wahrheit sofort und ohne Vorbereitung an den Kopf werfen. Stattdessen schlürfte er seinen Kaffee und fragte dann: „Wie war es in Japan?“

Die Skepsis in Severus‘ Gesicht wuchs, denn er hielt diese Frage ganz offensichtlich für einen Vorwand, eine Unterhaltung zu starten.

„Der kleine Ausflug brachte äußerst interessante Aspekte ans Tageslicht, was die Magie der Pflanzen betrifft.“
„Aha“, machte Harry, den die Antwort kaum interessierte. Er schob den Löffel auf seiner Untertasse hin und her und zerbrach sich den Kopf darüber, wie er die richtigen Worte finden könnte.
„Harry?“

Harrys Kopf schnellte hoch, der Löffel fiel gen Boden. Verlegen über dieses Missgeschick hob Harry den Löffel auf und legte ihn neben die Untertasse. Er fühlte, wie seine Wangen glühten.

„Harry, raus mit der Sprache. Was führt dich her? Ein peinliches Problem im Intimbereich, für das ich eine Salbe herstellen soll?“
Harrys Augen wurden ganz groß, bevor er Severus‘ neckisches Schmunzeln bemerkte und verlegen lachen musste. „Nein, aber gut zu wissen, dass ich in so einem Fall herkommen kann.“
„Also dann: Legen wir alle Unannehmlichkeiten beiseite und fangen von vorn an. Du bist hier, weil …“, machte Severus den Anfang und Harry ergriff die Gelegenheit, um Tacheles zu reden, wenn auch sehr leise und mit dem Blick starr auf die Tasse gerichtet.
„… weil ich mir die Erinnerungen angesehen habe.“

Kein wütendes Gekeife war zu hören, keine kruden Beleidigungen. Nicht einmal Flüche zischten in seine Richtung und weil all dies ausblieb, blickte Harry betreten auf. Severus saß ihm gegenüber, von der Information vollkommen versteinert und nun offenbar selbst peinlich berührt, denn zwei rosafarbene Flecken zeichneten sich auf den fahlen Wangen ab.

„Ich dachte, ihr hättet sie bei mir gelassen, damit ich … Und als Hermine mich über den Kamin kontaktiert hat, habe ich geglaubt, sie würde vorbeikommen wollen, um sie zu holen. Stattdessen sagt sie mir, ihr beide würdet nach Japan reisen. Ich habe das als Hinweis verstanden.“ Harry spielte mit dem Ärmel seines Umhangs. „Ich hab’s missverstanden, oder?“ Scheu blickte er zu Severus hinüber, der noch immer schockiert war und nicht zu wissen schien, wie er reagieren sollte, denn er regte sich nicht einen Millimeter. „Ich hab’s missverstanden“, wiederholte Harry murmelnd als Tatsache. „Es tut mir leid, ich hätte fragen sollen. Aber …“ Harry atmete tief durch. „Ich wollte wissen, was Hermine so aus der Bahn geworfen hat. Und mich hat interessiert, was du all die Jahre so gut geschützt in deinem Büro versteckt hast. Nicht aus Sensationsgier, das wirklich nicht, aber ich wollte endlich verstehen.“

Nach längerem Warten rührte sich Severus. Wie in Zeitlupe beugte er sich nach vorn, so dass sich seine Ellenbogen auf seinen Knien abstützten. Sein Gesicht vergrub er in beiden Handflächen. Harry blieb still und beobachtete ihn, um die Stimmung seines Gegenübers einschätzen zu können. Manchmal schaute Harry selbst betreten zu Boden und fragte sich, wie Severus sich jetzt fühlen mochte. Womöglich war es Scham, weil Harry nun diese sehr privaten Dinge über ihn wusste, vielleicht aber auch Wut, weil er wieder einmal seine Grenzen überschritten hatte, wie damals in der fünften Klasse. Worüber sich Harry am meisten Sorgen machte, war die Möglichkeit, dass Severus an seiner Vertrauenswürdigkeit zweifeln könnte.

„Es tut mir leid“, sagte jemand leise und Harry glaubte, er wäre es selbst gewesen, doch als sich der Satz wiederholte, da hörte er deutlich Severus‘ Stimme. „Es tut mir so leid.“

Warum sich Severus entschuldigte, wollte sich Harry anfangs nicht erschließen. Er hielt sich jedoch zurück und wartete. Eine Hand verließ Severus‘ Gesicht, die andere bedeckte die schuldgetränkte Miene mit den geschlossenen Augen, die Severus zu verbergen versucht hatte.

„Es tut mir leid, dass ich nichts ausrichten konnte. Ich bedaure zutiefst“, Severus schluckte kräftig, „dass ich dieses Schicksal nicht abwenden konnte.“
„Nein Severus, nicht …“ Harry hatte einen Kloß im Hals, der ihm die Sprache raubte. In Severus ein schlechtes Gewissen zu wecken war das Letzte, was er wollte.
„Es ist meine Schuld. Ich hätte herausfinden müssen, wer dieser neue Todesser war, dann hätte ich Lily warnen können, dass sie Pettigrew nicht trauen dürften. Ich hätte …“
„Es langt!“

So laut wollte Harry gar nicht werden, aber das Thema zerrte an seinen Nerven, noch viel unerträglicher waren die vielen Stiche, die er im Herzen verspürte. Er war hier bei Severus, um sich zu entschuldigen und plötzlich fand er sich in einer Situation wieder, die er momentan nicht meistern wollte. Es ging doch gar nicht um die Vergangenheit, dachte Harry, sondern darum, dass er sich einfach Severus‘ Hinterlassenschaft angesehen hatte. Die Bilder, die er am Vorabend gesehen hatte, drängten sich unaufhaltsam in sein Bewusstsein zurück. Ohnmächtig wurde sich Harry nicht zum ersten Mal darüber bewusst, dass er nichts an alledem, was geschehen war, ändern konnte. Aber würde er das wollen?

„Ich würde nichts ändern wollen“, bestätigte er seine eigene Frage. Severus blickte fragend auf und hörte zu, als Harry in Worte zu fassen versuchte, was ihn ihm vorging.

„Manchmal frage ich mich“, Harrys Stimme war leise und zittrig, „wie es gewesen wäre, wenn meine Eltern überlebt hätten.“ Ein seliges Lächeln zierte sein Gesicht, als er gedankenverloren auf den Tisch blickte. „Ich male mir vor dem Schlafengehen aus, was sie alles mit mir unternommen hätten. Ein Zoobesuch mit ihnen hätte mir bestimmt tausendmal mehr Spaß gemacht als mit meiner Tante. Ich stelle mir vor, wie es mir in Hogwarts ergangen wäre, hätte ich schon als kleines Kind gewusst, dass ich ein Zauberer bin.“ Harry zog seine Nase hoch, aber sein Lächeln blieb und die Augen glänzten verträumt. „Ich wäre nicht berühmt gewesen; ein völlig normaler Junge. Mein Dad hätte mir erlaubt, in den Fußballverein einzutreten, was mir Onkel Vernon immer verboten hat. Ach, was sage ich: Er hätte mich zu Quidditchspielen mitgenommen! Und meine Mum hätte bestimmt ganz tolle Geburtstagspartys für mich organisiert. Und an Weihnachten …“ Der Gedanke an dieses Fest zusammen mit seinen Eltern ließ ihn für nur einen winzigen Augenblick schwermütig werden. „Weihnachten wäre jedes Jahr ein Erlebnis geworden, da bin ich mir ganz sicher.“

Seine Stimme beteuerte, dass er diese Momente, auch wenn er sie nie bewusst kennen gelernt hatte, tief in seinem Innern vermisste. Harry spürte er eine Träne, die er schnell wegwischte, bevor sie gesehen werden konnte.

„Aber andererseits …“ Er zwang sich, Severus in die Augen zu sehen. „Vielleicht wäre ich dann nicht mit Ginny zusammen und hätte vollkommen andere Freunde? Freunde, mit denen ich nicht so eine innige Verbundenheit teilen würde wie mit denen, die ich jetzt habe. Meine Freunde sind seit dem ersten Schuljahr meine Familie. Ich möchte das um nichts in der Welt gegen ein unsicheres ‘was wäre, wenn‘ eintauschen, verstehst du?“ Severus‘ Unterlippe zitterte und er nickte er langsam. „Man darf ruhig von dem träumen, was einem verwehrt blieb, aber man darf dem nicht nachtrauern. Das tue ich auch nicht, weil ich Menschen um mich herum habe, die mein Leben lebenswert machen. Sie sind für mich da, Tag und Nacht. Sie würden alles stehen und liegen lassen, wenn ich sie brauche. Das ist etwas, das ich bestimmt nicht in diesem Umfang hätte erleben dürfen, wenn mein Leben anders verlaufen wäre. Man kann nicht das Beste aus zwei Welten vereinen. Von der einen Welt träume ich nur, die andere lebe ich und sie ist wundervoll, so wie sie ist.“

Von seinen Worten war Harry selbst überrascht. Sein Herz musste gesprochen haben, denn seinem Verstand traute er so eine Rede normalerweise nicht zu. Severus war ebenso sprachlos. Die Mimik seines Gegenübers verriet Harry eine ganz bestimmte Sache, nämlich das, was Severus noch immer sehr zu belasten schien. Dieses Gefühl konnte Harry mit ihm teilen. Er lächelte Severus an.

„Das mit der Schuld ist eine sehr sonderbare Sache, nicht wahr? Man kann von ihr geplagt werden, selbst wenn man frei von ihr ist. Das geht mir genauso, weißt du?“

Bilder von Cedric huschten durch seinen Kopf. Erinnerungen an den brauhaarigen Hufflepuff, der ihm den Hinweis gab, das goldene Ei vom Trimagischen Turnier mit ins Vertrauensschülerbad zu nehmen. Der Friedhof, Cedrics Tod und die Bitte, seinen Körper mit nachhause zu nehmen; ihn zu seinen Eltern zu bringen.

Als hätte Severus seine Gedanken gelesen, flüsterte er mit bebender Stimme: „Du bist nicht für seinen Tod verantwortlich.“
„Das weiß ich“, stimmte Harry zu. „Das sagt mir jeder.“ Kurz lachte er auf, doch den Kummer konnte er nicht verbergen. „Trotzdem fühle ich mich schuldig. Das ist das, was ich meinte. Es ist da und geht nur langsam weg. Ich habe es vorher schon geahnt, aber jetzt, nachdem ich deine Erinnerungen gesehen habe, weiß ich, dass es dir genauso geht. Ich …“ Harry schluckte kräftig und rückte seine Brille gerade. „Ich verstehe. Ich verstehe endlich. Weiß du, was wir beide machen müssten?“ Severus schüttelte den Kopf. „Die Vergangenheit vergangen sein lassen, damit das Herz nach all den Jahren endlich zur Ruhe kommt. Das geht nicht von heute auf Morgen, dazu braucht es Zeit.“

Severus wusste gar nicht, wie ihm geschah. Er verspürte etwas, das er kaum ertragen konnte. Vielleicht waren es Harrys Worte gewesen oder gar nur die pure Anwesenheit des jungen Mannes, die zum wiederholten Male die Stelle an seinem Brustbein so sehr pulsieren ließ, so dass er glaubte, in der Mitte auseinander gerissen zu werden. Es war nicht das erste Mal, dass Harry diesen Schmerz auslöste.

„Severus?“

Sein verzerrtes Gesicht hatte er vor Harry nicht verbergen können. Er atmete schwer, schloss die Augen.

„Oh mein Gott“, Harry stand auf und eilte zu Severus hinüber, „tut es wieder weh? Das war nicht meine Absicht.“

Harry konnte sich noch sehr lebhaft an den Moment erinnern, als Severus beim Anblick der Decke von einem Gefühlsschub dieser Art übermannt worden war. Ein weiteres Mal war es im letzten Jahr an dem Tag vor Schulbeginn geschehen, als sie – wie heute – gemütlich beim Frühstück zusammensaßen und Severus erzählte, wie er Lily kennen lernte.

„Tut es weh?“, fragte Harry nochmals und Severus nickte. „Soll ich irgendwas holen? Einen Trank oder …“
„Nein“, stöhnte Severus. „Es wird nichts helfen.“
„Was hat das ausgelöst?“ Harry war hörbar erschüttert, dass er erneut bei Severus diesen Zustand hervorgerufen hatte. „Es tut mir leid. Ich weiß nicht, was ich gemacht haben könnte.“
„Es war schon immer so.“ Severus‘ leise Stimme klang gequält. „Nur nie so stark“, fügte er hinzu.
„Was war schon immer so?“

Schon an Harrys erstem Schultag hatte Severus erleben müssen, dass es einen Elfjährigen in Hogwarts gab, der den einen wunden Punkt in ihm angreifen konnte; den Punkt, den er eigentlich abgetötet sehen wollte. Früher hatte er Harry dafür verabscheut, diesen Schmerz in ihm auslösen zu können. Heute ahnte er, dass das ein Zeichen der Heilung darstellen musste.

„Es geht schon“, murmelte Severus. Er nahm sich vor, Hermine davon zu erzählen. Vielleicht würde sie eine Erklärung finden. Es war immer Harry gewesen, der auf Severus‘ Seelenkern einwirken konnte, wenn auch vollkommen unbewusst.
„Wir haben noch gar nichts gegessen und sind schon spät dran.“
„Was?“ Severus blickte zur Uhr. Es war fünf Minuten nach Unterrichtsbeginn. „Merlin, wir müssen los.“

Flugs war Severus aufgestanden, um den Weg zur Klasse anzutreten, doch die Hand an seinem Arm hielt ihn auf. Harry schaute ihn schuldbewusst an.

„Kannst du verzeihen, dass ich es mir angesehen habe?“
Für Severus war unverständlich, dass Harry sein Vergeben erhoffte, dabei müsste es seines Erachtens andersherum sein. „Harry, ich glaube du bist gestraft genug mit dem, was du gesehen hast. Verlang nicht von mir, dass ich dir das verzeihe“, Harrys senkte betroffen seinen Blick, „denn da gibt es nichts.“ Harrys Kopf schnellte hoch. Erleichterung breitete sich in seinem Gesicht aus. Er nickte unmerklich.
„Dann sollten wir uns sputen, sonst handeln wir uns noch eine Rüge von Albus ein, weil wir zu spät zum Unterricht kommen.“ Auf dem Flur, bevor sich ihre Wege trennten, fragte Harry nochmals: „Geht es wieder?“ Severus bejahte wortlos.

Severus‘ Weg war der kürzeste. Als er seine Klasse betrat, saßen alle Schüler mucksmäuschenstill auf ihren Plätzen. Einige lasen im Schulbuch, andere schrieben etwas. Durchweg alle beschäftigten sich still. Vorn an seinem Pult angelangt legten die Schüler Buch und Feder beiseite und blickten auf, warteten geduldig auf ihre heutige Lektion. Draco schaute ihm in die Augen und lächelte. Er schien sehr erleichtert darüber, dass es seinem Patenonkel wieder gut ging.

Langsam verschränkte Severus die Arme vor der Brust, blickte dabei einigen Schüler nacheinander in die Augen, bevor er mit eiserner Miene das Wort an die Klasse richtete.

„Ab der nächsten Woche beginnen die Prüfungen für die UTZe, was Ihnen nicht entgangen sein dürfte. Wie Sie in den anderen Fächern abschneiden, ist mir gleich, aber lassen Sie sich gesagt sein, dass ich von jedem Einzelnen von Ihnen eine Bestnote in Zaubertränken erwarte! Sie täten gut daran, mich in dieser Hinsicht nicht zu enttäuschen.“ Am Ende war er so leise geworden, dass die Schüler sich unbewusst nach vorn gebeugt haben.

Unsicher fand eine Hand den Weg nach oben. Severus rief die Schülerin aus Gryffindor auf.

„Miss Pigott?“
Besagte Schülerin spielte verlegen mit ihrer Feder, während sie stockend sagte: „Mir wurden letzte Woche von einem Mitschüler gewisse Hilfsmittel angeboten und …“
„Werden Sie präziser. Was für Hilfsmittel?“
„Grips-Schärfungs-Trank, Drachenklauenpulver …“
„Ah“, machte Severus, bevor er das Wort an die gesamte Klasse richtete. „Hilfsmittel dieser Art sind während der Prüfungen nicht verboten, aber dennoch rate ich Ihnen davon ab, sie zu verwenden. Der Grund, warum Professor Dumbledore diese Gedächtnis- und Konzentrationsstärkungsmittel nicht frei an jeden Schüler verteilt, ist der, dass er Ihre Leistungen verfälscht. Sie sollten sich auch nach den Prüfungen bei allem, was Sie tun, ganz sicher sein, dass Sie es können und zwar ohne anregende Mittel zur vorübergehenden Steigerung der Gehirnaktivitäten eingenommen zu haben. Des Weiteren müssen Sie damit rechnen“, er schaute Miss Pigott an, „dass die Ihnen angebotenen Mittel nicht die versprochene Wirkung aufweisen. Wenn Sie nicht möchten, dass Sie pulverisierten Doxymist inhalieren, anstelle des recht preisintensiven Drachenklauenpulvers, dann lassen Sie besser die Finger davon!“

Miss Pigott verzog angeekelt das Gesicht. Sie und sämtliche anwesende Schüler hatten soeben beschlossen, keine Mittel dieser Art von Mitschülern zu erwerben. Allein der Gedanke, womöglich die getrockneten Ausscheidungen von Schädlingen zu schnupfen, ließ den einen oder anderen ganz grün um die Nase werden.

„Hat irgendjemand von Ihnen weitere prüfungsspezifische Fragen?“ Niemand traute sich. „Andere Fragen vielleicht?“ Diesmal hob Gordian die Hand.
„Mr. Foster?“
„Sir, einige Arbeitgeber fordern eine Referenz vom Lehrer. Darf ich in dieser Angelegenheit nach bestandener Prüfung an Sie herantragen?“
„Ja, und zwar nur nach bestandener Prüfung mit einem ‘Ohnegleichen‘. Alle anderen Anfragen werden lediglich als Befeuerung für meinen Kamin herhalten. Beschweren Sie sich später also nicht darüber, dass ich keine Empfehlungen für Sie schreibe, sollten Sie eine schlechtere UTZ-Note hervorbringen. Ich habe Ihnen klipp und klar gesagt, was ich von Ihnen erwarte.“ Severus begann damit, zwischen den Tischreihen umherzulaufen. „Mir ist klar, dass mit dem Ende des Schuljahres auch das Ende der Quidditch-Saison hereinbricht. Sie sollten nach genauer Prüfung Ihrer schulischen Fähigkeiten selbst erwägen, ob Sie es sich leisten können, die Zeit auf einem Besen zu vertrödeln, anstelle in der Bibliothek zu hocken, um zu lernen.“ An einem Ende der Tischreihen angekommen drehte er sich um. Er stand genau bei Draco, als er anfügte: „Ansonsten erwarte ich, wie auch bei den UTZ-Prüfungen, dass die letzten Spiele ebenso zu meiner Zufriedenheit verlaufen.“ Er senkte den Blick und schaute kurz seinen Patensohn an, der daraufhin selbstsicher nickte.

Einen Stock höher hatte Harry endlich seine Klasse erreicht. Als er die Tür öffnete, flog ihm ein aus Pergament gebastelter Flieger um die Nase. Die Schüler waren alles andere als leise. Es hatten sich kleine Grüppchen gebildet. Die Mädchen links von ihm, die ihn bisher nicht bemerkt hatten, tuschelten über Jungen und schwärmten von einem namenlosen Blonden. Ganz vorn, an seinem Pult, rangelten spielerisch zwei Ravenclaws. Die jungen Herren aus Hufflepuff bewarfen sich lachend mit Gegenständen, die Harry dem Sortiment von Zonko’s Scherzartikelladen zuordnen konnte. Wieder flog ihm der gleiche Pergamentflieger um die Ohren, der in diesem Klassenraum seine festgelegten Runden zu drehen schien. Harry fühlte sich wohl und grinste in sich hinein.

Auf seinem Weg nach vorn verhielt er sich so ruhig wie möglich. Still setzte er sich auf seinen Platz, um die unruhige Klasse einen Moment zu beobachten. Keiner hatte ihn bisher bemerkt. Eine Schülerin hatte ihren Kopf verliebt an die Schulter ihres Freundes geschmiegt, während sie den Erzählungen ihrer Mitschüler lauschte. Ein anderer Schüler ging auf die Gruppe von Mädchen zu – in seiner Hand hielt er eine Schachtel, die Pralinen vermuten ließ. Die Mädchen rückten näher, als er ihnen die Schachtel in Reichweite hielt, doch als er sie öffnete, knallte es laut. Die Mädchen kreischten erst und giggelten kurz darauf, weil er sie reingelegt hatte.

Sein siebtes Schuljahr war nicht annähernd so entspannt verlaufen. Der Tod von Albus hatte über Hogwarts gelegen. Kein Schüler konnte damals lachen. Keiner hatte es gewagt, den Unterricht zu stören, denn das eigene Leben hing davon ab, sich gegen die Dunklen Künste zur Wehr setzen zu können. Vereinzelt hatte es Angriffe von Todessern gegeben, die jedoch nicht den Schutzwall der Schule durchbrechen konnten. Nach und nach waren die Schüler von ihren Familien nachhause geholt worden. Als Erstes gingen die Slytherins, deren Eltern man selbst als Todesser bezeichnen konnte oder zumindest Voldemort wohl gesinnt waren. Viele Hufflepuffs folgten, die sich schweren Herzens von ihren Mitschülern verabschieden mussten. Minerva, damalige Direktorin, war einen unüblichen Weg gegangen, denn sie hatte Ordensmitglieder als zusätzliche Lehrer herangezogen. Alastor, Kingsley, Remus und selbst Dawlish hatten den Kindern Schutzmaßnahmen beigebracht, die in keinem Lehrbuch standen.

In diesem letzten Schuljahr war der Lerneifer genauso groß gewesen wie die Angst, das Leben zu verlieren. Nach vollendeten UTZ-Prüfungen hatte das Ministerium die Entscheidung gefällt, die Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei wegen der unkalkulierbaren Risiken für die Schüler zu schließen. Mit den Elfen und Geistern war Minerva in Hogwarts zurückgeblieben. Menschliche Gesellschaft hatte sie in Form von Filch und Hagrid, der sich weiterhin um die Ländereien kümmerte. Nichts hatte sie jedoch davon abgehalten, den Ordenstreffen beizuwohnen, die weiterhin im Grimmauldplatz Nr. 12 abgehalten worden waren. Sie war die Erste, die ihre Zustimmung gab, die DA-Mitglieder in den Orden aufzunehmen.

Plötzlich öffnete sich die Tür zum Klassenzimmer. Harry blickte geradeaus und sah Minerva, die ihm ein Zeichen gab, dass es in seiner Klasse zu laut wäre. Er nickte ihr zu und zog seinen Zauberstab, um wortlos einen gestaltlichen Patronus herbeizurufen. Das silberne Licht und die eindrucksvolle Gestalt des Hirschs zog sofort die Aufmerksamkeit der Schüler auf sich, die auf der Stelle verstummten. Zufrieden schloss Minerva wieder die Tür.

„Der gestaltliche Patronus wird nicht Teil der Prüfungen sein“, der Hirsch lief durch die Reihen und sorgte für Ordnung, „aber da wir unseren Lehrplan bereits durchgearbeitet haben und ich mir keine Gedanken über Ihre Leistungen mache“, die letzten Schüler setzten sich auf ihre Plätze, behielten dabei den Hirsch im Auge, „dachte ich daran, außerplanmäßig Themen zu behandeln, die für Sie interessant sein könnten.“

Er wutschte mit seinem Stab und der Hirsch verblasste. Alle Augen richteten sich auf ihn und die Schüler schienen sich zu fragen, wie ihr Professor die Klasse betreten haben könnte, ohne dass sie das bemerkt hatten. Der Flieger aus Pergament drehte nochmals einen Kreis um Harry herum. Die Schüler lachten verhalten. Ein junger Mann erhob sich und wollte den Zauber beenden.

„Nein“, sagte Harry mit stoppender Geste seiner Hand. „Solang er nicht mit schweren Geschossen bestückt ist, darf er von mir aus ruhig weiterfliegen. Versuchen Sie das aber nicht während des Unterrichts von Professor Snape.“ Die Klasse lachte nochmals zurückhaltend. „Haben Sie Fragen bezüglich der Prüfungen?“ Unzählige Hände schossen nach oben. Mit einer nickenden Bewegung nahm Harry den Schüler heran, der seiner Meinung nach als Erster die Hand gehoben hatte.
„Professor Potter, wissen Sie, welchen Themen bei den UTZ-Prüfungen behandelt werden?“
„Nein, das weiß kein Lehrer genau. In der Regel werden die meisten Fragen den Lehrstoff betreffen, den Sie in der letzten Klasse durchgenommen haben. Im Gegensatz zu den ZAGs müssen Sie aber auch damit rechnen, dass selbst Fragen zu Themen gestellt werden, die Stoff des ersten oder zweiten Schuljahres waren. Ich habe etwas vorbereitet, dass Ihnen nützlich sein könnte.“ Per Zauber verteilte er einige Pergamente unter den Schülern, während er erklärte: „Dort ist der Lehrstoff des Fachs ‘Verteidigung gegen die Dunklen Künste‘ aufgelistet und zwar ab der ersten Klasse. Sollten Sie zu einem Punkt nicht mehr genau wissen, um was es ging, sollten Sie das nochmal auffrischen. Fragen Sie mich, Ihre Mitschüler oder ziehen Sie ein Buch zurate.“ Eine weitere Hand schoss nach oben und Harry nahm das Mädchen ran.
„Ist es wahr, dass Professor Snape hier aufhört?“
„Wie bitte?“, fragte Harry verblüfft.
„Ich dachte nur …“ Die Schülerin verstummte.
„Woher haben Sie diese Information?“, wollte er wissen.
„Von anderen Schülern, Sir.“
„Aha“, machte er. Er konnte sich zwar denken, was Severus dazu treiben könnte, seinen Lehrerjob an den Nagel zu hängen, aber eine Bestätigung, dass er dies wirklich tun würde, hatte Harry noch nicht. Harry schmunzelte. „Nun, mir wurde gerade vor Augen gehalten, dass ich offensichtlich nicht mehr ganz auf dem Laufenden bin, was die Gerüchteküche betrifft. Vielen Dank, Miss Muir, dass Sie mir Gesprächsstoff für das Mittagessen am Lehrertisch gegeben haben.“

Zur Mittagszeit schlenderte Harry, der von seinen Schülern überholt wurde, gemütlich zur großen Halle. Er traf vor dem Eingang auf Albus, der mit Rolanda plauderte.

„Im neuen Schuljahr“, hörte er Albus sagen, während er sich den beiden näherte, „werden wir uns neue Besen für die Erstklässler leisten. Die alten stammen ja noch aus der Zeit vor dem Krieg.“ Albus bemerkte den jungen Kollegen. „Oh, Professor Potter.“
Wegen der Schüler hielt man sich an die höfliche Anrede. „Professor Dumbledore, Professor Hooch.“ Als Harry bei den beiden angekommen war, legte er den Kopf schräg. „Mir ist da ein Gerücht zu Ohren gekommen.“
Rolanda runzelte die Stirn. „Was für ein Gerücht?“
„Es betrifft Professor Snape.“ Harry hoffte, dass das ausreichen würde, um einiges von Albus zu erfahren, aber der schien selbst erstaunt.
Mit wachen Augen fragte Albus: „Und was besagt dieses Gerücht?“
„Dass, ähm … Es ist ja nur ein Gerücht“, winkte Harry ab, aber Rolanda hakte neugierig nach.
„Nun raus mit der Sprache!“
„Ich habe gehört, er würde hier aufhören wollen?“ Unbewusst hatte er am Ende des Satzes die Stimme erhoben und es wie eine Frage klingen lassen.
„Severus hört auf?“, flüsterte Rolanda erstaunt. „Warum denn das?“
Albus‘ Augen glitzerten fröhlich. „Die Frage wird Professor Potter uns nicht beantworten können, nicht wahr?“ Harry schüttelte daraufhin den Kopf. „Wie ich’s mir dachte. Dann werde ich mich nun in die große Halle begeben. Rolanda?“
„Ich komme gleich nach“, versicherte sie.
„Dann begleitest du mich, Harry?“, fragte Albus leise.

Als Harry einen Blick über die Schulter warf, sah er Rolanda, die mit Pomona und Septina die Köpfe zusammengesteckt hatte.

‘Oh Gott‘, dachte Harry, ‘jetzt habe ich das Gerücht auch noch weiter gestreut.‘


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