von Muggelchen
Der silbern glänzende Inhalt der birnenförmigen Phiole mit dem langen Hals zog Hermine in ihren Bann. Die Antworten auf ihre vielen Fragen hielt sie in den Händen. Ein Einblick in Severus‘ Vergangenheit, in das, was ihn ausmachte. Ein Kribbeln breitete sich in ihrem Magen aus. Ein Gefühl der aufgeregten Neugierde, gemischt mit Sympathien, wenn nicht sogar Zuneigung für den Mann, der ihr und vielen anderen das Leben einmal so schwer gemacht hatte. Die Taubheit in ihrem linken Arm, die durch den Schutzmechanismus des Verstecks ausgelöst worden war, war mittlerweile vergangen. Bevor Hermine das Büro verließ, sorgte sie für etwas Ordnung, auch wenn es ersichtlich bleiben würde, dass sich jemand hier zu schaffen gemacht hatte. Für Hermine war das kein Grund zur Sorge. Er sollte ruhig wissen, dass sie die Erinnerung an sich genommen hatte. Er war es gewesen, der ihr diesen Floh ins Ohr gesetzt hatte.
Die auffällig helle gläserne Phiole ließ sie unter ihrem Umhang verschwinden, bevor sie auf den durch Fackeln nur spärlich erhellten Flur schritt. Obwohl sie noch keinen Schimmer hatte, was sie erwarten würde, fühlte sie einen inneren Triumpf. Es war schon Erfolg genug, einen Teil seines Lebens mit sich zu führen. Nur wo sollte sie sich seine Vergangenheit ansehen? Severus‘ Denkarium schloss aus und auch das von Albus konnte sie nicht nutzen. Es blieb nur das von Harry, doch der würde Fragen stellen. Die Gefahr, dass Severus ihr die Phiole wieder entreißen könnte, bevor sie den Inhalt angesehen hätte, ließ sie schnurstracks zu Harrys Räumen gehen. Vielleicht, hoffte sie, waren Ginny und er noch oder wieder in der großen Halle, um mit Freunden den Abend ausklingen zu lassen. Sie ging davon aus, dass Viktors Anwesenheit Grund genug für Harry sein würde, nicht zu früh ins Bett zu gehen. Man hatte sich lange nicht gesehen.
Von den Kerkern nahm sie die Treppe hinauf ins Erdgeschoss, nur um dort auf die vielen Menschen zu treffen, die sich noch immer außerhalb der großen Halle befanden. Fast alle kannte sie mit Namen. Einer fiel ihr besonders auf, weil der sie zu beobachten schien. Es war Remus, dem nicht entgangen war, aus welcher Richtung Hermine gekommen war und in welche Richtung sie nun verschwand.
Die Räume von Harry und Ginny, fernab von neugierigen Augenpaaren, hatte sie schnell erreicht. Sie klopfte nicht, sondern öffnete die Tür, um hineinzuspähen. Niemand war hier. Das Zimmer war dunkel, als sie eintrat. Mit einem Wutsch ihres Stabes entzündete sie nur eine Lampe, damit es nicht zu hell werden würde, falls Harry und Ginny bereits im anderen Zimmer schliefen.
Da stand es, das Denkarium, dass Harry von einer Erbengemeinschaft geschenkt bekommen hatte. Mit wenigen Schritten stand sie direkt vor dem steinernen Becken, in welchem keine einzige Erinnerung schwamm. Harry schien es selten zu benutzen. Er würde es ihr bestimmt nicht verbieten, von diesem raren Gegenstand Gebrauch zu machen. Hermine atmete einmal tief durch, bevor sie in ihren Umhang griff und die Phiole an ihrem langen Hals hervorzog. Sie hatte die andere Hand schon am Korken, da fühlte sie sich plötzlich beobachtet. Erschrocken drehte sie sich um und blickte Wobbel in die Augen.
„Guten Abend, Miss Granger“, sagte der Elf vorsichtig, weil er die Anspannung zu spüren schien.
„Hallo Wobbel.“ Selbst bei diesen beiden Worten hatte ihre Stimme leicht gezittert. „Harry hätte bestimmt nichts dagegen, wenn ich …“ Sie hob die Phiole, so dass sich Wobbel den Rest denken konnte. Der Elf nickte zustimmend, auch wenn ihr sein skeptischer Blick nicht entgangen war. Er versuchte offenbar, sich den Zusammenhang zu erklären, was es mit der Erinnerung in der Phiole auf sich haben könnte.
„Dann werde ich Sie allein lassen, Miss Granger.“ Mit einem Schnipp von Daumen- und Zeigefinger war er verschwunden.
Wieder blickte Hermine nach vorn zum Becken, dann auf die Phiole. Entschlossen entfernte sie den Korken mit einem leisen Plopp. Den langen Hals bewegte sie zu ihrer Nase, um daran wie an einem guten Wein zu riechen, doch Erinnerungen besaßen keinen Geruch. Vorsichtig führte sie den gläsernen Behälter über das Becken und begann ihn langsam schräg zu halten, bis die Erinnerung mit leise schwappenden Geräuschen in das Becken glitt. Hermine fielen die verschiedenen Silbertöne des Fadens auf, so dass sie davon ausging, dass es sich um viele einzelne Erinnerungen handeln musste, die Severus in einer bestimmten Reihenfolge zusammengefügt hatte. Sehr wahrscheinlich chronologisch, dachte Hermine, denn sonst würde es keinen Sinn ergeben. Das glucksende Geräusch der Flüssigkeit, die durch den engen Hals zur Öffnung floss, übertönte Hermines aufgeregte Atmung. Rückstandslos waren die Erinnerungen nun ins Becken geflossen. Das leere Behältnis stellte Hermine auf den Boden neben sich, bevor sie ihre Hände auf den rauen Rand des Beckens legte. Ein letztes Mal atmete sie tief ein und aus. Dann senkte sie ihr Haupt, bis ihre Nase die Flüssigkeit berührte.
Hermine fand sich im ersten Stock des Eberkopfs wieder. Es war draußen so dunkel, dass es spät am Abend sein musste. Vor ihr an einer Tür, die Hand auf der Klinke ruhend, stand Severus, dessen Haare und Umhang ein feuchtes Wetter vermuten ließen. Von der Stimme, die er von drinnen vernahm, schien er verdutzt. Hermine kannte sie, denn es war die entfremdete Stimme von Trelawney, die sie schon einmal gehört hatte, als Ginny ihr die Erinnerung an die Prophezeiung gezeigt hatte. Erschrocken hielt sie sich eine Hand vor den Mund, denn sie wusste nun, was Severus da gerade belauschte.
„Hey“, hörte Hermine eine raue Stimme. Im Nu war Severus von der Tür weggetreten und fand sich Aug in Aug mit Aberforth wieder, dem Inhaber des Eberkopfes. Grantig fuhr Aberforth den jungen Mann an: „Was soll das? Meine Gäste bespitzeln? Verschwinde!“
„Ich … Ich habe nur …“
„Gelauscht hast du! Was da drinnen vor sich geht, hat dich nicht zu interessieren. Raus hier!“ Aberforth war laut geworden. Einige der Gäste von unten hatten sich an der Treppe versammelt, um nach oben zu schauen. „Verlass sofort mein Gasthaus!“
„Ich habe für das Zimmer bezahl!“, warf Severus aufgebracht zurück, während er auf das Zimmer daneben deutete. Er schien die Türen verwechselt zu haben.
„Jemanden wie dich will ich hier nicht haben.“ Hermine konnte heraushören, dass es Aberforth nicht in erster Linie darum ging, dass Severus gelauscht hatte. „Räum dein Zimmer und verschwinde!“ Der Inhaber klopfte an die Tür, hinter der sich Trelawney befinden musste.
„Aber …“ Severus wurde von Aberforth arg unterbrochen und mit einer Schimpftirade bedacht, die Hermine erröten ließ – Severus ebenfalls.
Plötzlich wurde die Tür, an der Aberforth geklopft hatte, aufgerissen. Albus stand im Türrahmen, er ließ seinen Blick über Severus schweifen. Weiter hinten im Zimmer, das konnte Hermine erkennen, stand Trelawney, die den Aufruhr mit Anspannung verfolgte.
„Er hat gelauscht!“ Der Gastwirt deutete auf Severus, der aufgeregt den Kopf schüttelte.
„Ich habe mich geirrt. Mein Zimmer ist nebenan!“, rechtfertigte er sich unter dem skeptischen Blick von Albus.
„Ist das wahr?“ Diese Frage war nicht an Severus, sondern an Aberforth gerichtet, der lediglich nickte. „Nun“, Albus strich über seinen weißen Bart, „haben Sie sich so lange geirrt, dass der Eindruck entstehen konnte, Sie hätten absichtlich mitgehört? War das Bewerbungsgespräch so interessant?“
„Ich …“ Severus fehlten die Worte. Hermine hatte ihn noch nie so unsicher erlebt. „Ich suche eine Anstellung, Professor Dumbledore. Als ich hörte, dass Sie hier wären …“
Albus hob eine Hand und unterbrach Severus. „Sie sind noch keine zwanzig Jahre, Mr. Snape. Kommen Sie in ein oder zwei Jahren nach Hogwarts.“
Severus nickte zustimmend, aber auch verabschiedend und vor allem peinlich berührt, bevor er sich in das Zimmer nebenan begab.
Der Ort der nächsten Erinnerung wechselte ohne Übergang.
Hermine befand sich in einem hellen Raum mit hoher Decke. In der Mitte stand ein runder, rotbrauner Tisch, an dem ein gutaussehender, wenngleich schon in die Jahre gekommener Mann saß. Erst auf den zweiten Blick erahnte sie, dass es sich um Tom Riddle handeln musste. Er schien auf jemanden zu warten. Die Tür öffnete sich und Severus kam herein. Er wirkte keinen Tag älter als in der Erinnerung zuvor.
„Mr. Snape“, grüßte Voldemort kühl, „setzen Sie sich.“ Severus kam der Aufforderung nach. „Sie hätten eine Information, die mich interessieren könnte, sagte Mr. Malfoy.“
Severus nickte und erzählte, ließ dabei unwichtige Einzelheiten aus, sondern gab nur den Anfang der Prophezeiung wieder, die er mitgehört hatte. Er vergaß zu erwähnen, dass sie womöglich unvollständig war.
„Ah, das ist interessant“, murmelte Voldemort. „Damit haben Sie sich Ihren Platz in meiner Runde redlich verdient. Sie haben mich nicht enttäuscht, Mr. Snape. Sie dürfen gehen.“
Severus wirkte sehr ernüchtert, als hätte er mit etwas gerechnet, das ihm verwehrt geblieben war. Hermine ging ihm nach, bis in eine Halle, in der Lucius Malfoy wartete. Der Blonde näherte sich Severus auf der Stelle.
„Und?“ Malfoy grinste bis über beide Ohren. „Was hast du bekommen? Ein Haus? Ein Verlies voller Galleonen?“
Verbittert blickte Severus ihn an. „Nichts! Und ich habe die Vermutung“, Severus‘ Stimme wurde leiser, „dass es niemals etwas geben wird.“
Severus ließ Malfoy stehen, der sich über diesen Satz wirklich Gedanken zu machen schien.
Im nächsten Moment fand sich Hermine in einer engen versifften Küche wieder, die alles andere als heimelig wirkte. Geräte aus der Muggelwelt hatten auf der Arbeitsfläche ihren festen Platz, wie ein Toaster und ein kleiner Fleischwolf. Es war weder aufgeräumt noch besonders sauber. An der Wand hing ein Abreißkalender, der als Datum den 11. April 1980 zeigte. Ein Blick durch das dreckige Fenster zeigte strahlenden Sonnenschein. Severus saß an einem Tisch über einen Brief gebeugt, ein Stapel ungeöffneter Post lag neben ihm. Auf der anderen Seite konnte Hermine eine Tageszeitung aus der Muggelwelt erkennen, die über einen Bergsteiger berichtete, der im Alleingang den Mount Everest bezwungen hatte. Sie ging um den Tisch herum zu Severus, um den Brief zu lesen, den er gerade in der Hand hielt.
„Sehr geehrter Mr. Snape,
nach Prüfung Ihrer finanziellen Lage hat die National Insurance zugestimmt, für den Pflegeheim-Aufenthalt Ihres Vaters Tobias Snape alle anfallenden Kosten zu übernehmen. Des Weiteren …“
Hermine konnte nicht alles lesen, denn Severus faltete den Brief zusammen und legte ihn beiseite. Der nächste Brief schien der zu sein, weswegen er die Erinnerung aufbewahrt hatte. Auf dem Briefumschlag konnte sie die geschwungene Handschrift einer Frau erkennen. Severus schien sehr aufgeregt, öffnete den Brief hastig und stürzte sich auf den Inhalt. Ein Blick auf den Gruß am Briefende offenbarte Hermine, warum Severus so nervös war. Er stammte von Lily.
„Hallo Severus,
vielen Dank für Deinen Brief. Das mit Deinem Vater tut mir sehr leid. Ich hoffe, er erholt sich doch noch. Hast du ihn mal von den Heilern im Mungos untersuchen lassen? Alkoholsucht dürfte in unserer Welt nicht unbekannt sein. Ich kann nur hoffen, dass er sich helfen lässt.
Nun zu etwas, dass ich bisher nicht zu schreiben gewagt habe. In den letzten Briefen wollte ich Dir schon etwas sagen, aber ich habe mich nie getraut, weil ich Dir nicht wehtun möchte. Ich werde es sowieso nicht viel länger verheimlichen können. Wir bekommen Nachwuchs.“
Es war Hermine nicht entgangen, dass Severus Hände zu zittern begannen. Wahrscheinlich las er gerade die gleiche Stelle wie sie.
„Ein Muggelarzt hat den 28. Juli als berechneten Geburtstermin genannt, das Mungos sagt, es wäre der 31. Juli. Ich lasse mich überraschen. Bei Alice hat man einen ähnlichen Termin errechnet. Beide bekommen wir einen Jungen. Ich weiß, dass ich viel von Dir verlange, Severus, aber ich wünsche mir wirklich sehr, dass Du Dich für mich freust.“
Abrupt stand Severus auf und blickte mit weit aufgerissenen Augen auf den Brief. Unruhig ging er auf und ab, las immer wieder eine bestimmte Stelle.
„Oh Merlin“, flüsterte er verzweifelt, raufte sich dabei die Haare.
Die Erinnerung endete. Es war einen Moment lang dunkel, bevor sich Hermine in einem Raum befand, den sie gut kannte. Es war Albus‘ Büro. Severus stand hier allein und wartete. Er war kalkweiß im Gesicht und Schweiß stand ihm auf der Stirn. Durch seine damals schon große Nase atmete er hörbar und aufgeregt. Sie ging dicht an ihn heran und blickte ihm in die unruhigen Augen, die nichts betrachteten, nur nervös über das Muster des Teppichs schweiften. Seine Augen waren braun.
Die Tür öffnete sich und Albus trat ein. Kein fröhliches Zwinkern war in seinen Augen auszumachen, als er den jungen Severus höflich, aber dennoch reserviert grüßte.
„Mr. Snape, ich sagte Ihnen doch bereits, dass Sie noch zu jung für eine Anstellung wären.“
„Professor … Sir …“ Die Gemälde rundherum schienen Severus einzuschüchtern, was Albus bemerkte, denn er blickte sich einmal in seinem Büro um, betrachtete dabei die Portraits der ehemaligen Direktorinnen und Direktoren.
„Wie kann ich Ihnen sonst behilflich sein, Mr. Snape?“
Es war keine Feindseligkeit, die Hermine beim Direktor vernehmen konnte, er klang aber auch nicht besonders freundlich. Eher wie jemand, der mit einer Person reden musste, die unerwünscht war. Wenn es überhaupt möglich war, wurde Severus noch viel blasser als zuvor. Hermine, die noch immer dicht an dem Bildnis seiner Erinnerung stand, bemerkte, dass er wie Espenlaub zitterte. Albus setzte sich in seinen Stuhl, bot Severus jedoch keinen Platz an.
„Mr. Snape, wenn Sie mir eine Frage beantworten würden?“ Albus wartete, bis Severus nickte, bevor er sie stellte: „Warum kommen Sie zu mir, wenn Sie mich so sehr fürchten?“
Ertappt blickte Severus zu Boden und atmete nur noch schneller. Er hatte Angst, das konnte Hermine an seiner gesamten Körpersprache sehen und wenn sie es schon erkennen konnte, dann würde es vor Albus, der über eine Menge Lebenserfahrung verfügte, nicht verborgen bleiben.
Die leicht gekrümmte Haltung, die Severus die ganze Zeit eingenommen hatte, zeugte entweder von echter Ergebenheit oder vorgetäuschtem Katzbuckeln. Hermine glaubte nicht, dass Severus sich nur einschmeicheln wollte, besonders nicht, als er mit bebender Stimme endlich mit der Sprache rausrückte.
„Sie erinnern sich an Miss Lily Evans?“
Albus nickte, verbesserte jedoch: „Mrs. Potter.“
„Ja Sir.“ Der junge Mann suchte nach richtigen Worten. „Ich befürchte, ihr Leben und das ihrer Familie sind in Gefahr.“
„Warum?“, fragte Albus wie aus der Pistole geschossen nach.
„Weil …“ Severus musste kräftig schlucken. „Jemand hat es auf sie abgesehen, auf das Kind.“
Was Severus an Selbstsicherheit fehlte, machte Albus mit seinem souveränen Auftritt wieder wett, als er mit fester Stimme fragte: „Was für ein Kind?“
„Mrs. Potter …“
Seine Stimme versagte. Hermine konnte sich denken, wie schwierig es für ihn gewesen sein musste, Lily und ihre Familie zu schützen, ohne sich dabei selbst ans Messer zu liefern. Sie fragte sich, was Harry über dieses Gespräch denken würde, sollte er jemals davon erfahren.
„Mr. Snape“, begann Albus, der sich von seinem üppig gepolsterten Stuhl erhob und sich seinem schwarz gekleideten Gast langsam näherte. Severus schien jeden Moment mit einem Fluch zu rechnen, denn er wich vor dem großgewachsenen Zauberer einen Schritt zurück. „Mr. Snape“, wiederholte Albus leise und langsam gesprochen, obwohl man auch spüren konnte, dass seine Geduld begrenzt war. „Wenn Sie schon die Strapazen auf sich genommen haben, die Gegenseite aufzusuchen“, er deutete auf sich selbst, aber vielleicht strich er auch nur über seinen Bart, „dann sollten Sie diese Gelegenheit beim Schopf packen.“ Albus legte den Kopf schräg und machte eine unmissverständliche Andeutung, indem er sagte: „Mit halben Sachen kann keiner etwas anfangen, nicht wahr?“ Weder Voldemort mit der Prophezeiung noch Albus mit den spärlichen Informationen von Severus. „Also?“
Wie fast jeder Mensch musste auch Severus nach oben schauen, um Albus ins Gesicht sehen zu können. Severus blickte in die hellblauen Augen, was ihm viel Mut abverlangte.
„Der Termin, ich meine den Geburtstermin“, Severus stockte, denn der eindringliche Blick des Direktors brachte ihn aus dem Konzept. „‘Wenn der siebte Mond stirbt‘“, zitierte er aus der Prophezeiung.
„Ah“, macht Albus wenig erstaunt. „Und Sie, Mr. Snape, sorgen sich um die Potters?“ Severus nickte, woraufhin Albus ihn streng anblickte. „Warum sollte ich Ihnen das glauben?“
„Weil …“ Severus war laut geworden, zügelte sich jedoch wieder. „Weil ich nicht möchte, dass etwas Schlimmes geschieht.“
„Das Ehepaar Potter hat Voldemort noch nicht ein einziges Mal die Stirn geboten.“ Laut Prophezeiung sollte dies dreimal geschehen. „Ich sehe weder eine Veranlassung dazu, schützend einzugreifen noch Ihnen, Mr. Snape, weiterhin Gehör zu schenken, denn das Ihre scheint mir bereits sehr ausgeprägt.“
Nun war es deutlich, dass Albus sich nicht mehr länger mit seinem Gast beschäftigen wollte. Severus blickte ernüchtert zu Boden. Von dem Gespräch hatte er offenbar mehr erwartete. Nicht nur Hermine bemerkte das, sondern auch Albus.
„Enttäuscht?“ Albus‘ Frage war mit Sarkasmus gespickt. Weil Severus sich nicht rührte, auch nichts erwiderte, nahm Albus sein Schweigen als Bejahung, so dass er bedauernd anmerkte: „Das geht mir genauso, Mr. Snape.“
Erst jetzt blickte Severus auf. In Albus‘ Augen konnte man ablesen, wie ernst er seine Worte meinte. Offenbar wusste er ganz genau, dass Severus das dunkle Mal auf dem Unterarm trug. Das war auch der Grund, warum er ihn so abweisend behandelt hatte, aber immerhin, das musste man ihm hoch anrechnen, hatte er sich überhaupt dazu überwunden, einen Todesser in seinem Büro zu empfangen.
„Noch etwas, Mr. Snape, oder darf ich Sie zur Tür begleiten?“
Severus‘ Blick huschte hin und her, als würde er sich darüber wundern, dass Albus diese Information so lapidar abgehandelt hatte, während er selbst der Furcht ausgesetzt war, Voldemort könnte Lily als Ziel auserwählen, sollte der erst einmal von der bevorstehenden Geburt erfahren. Severus folgte seinem Gastgeber zur Tür, doch als er die öffnete, ließ Severus noch eine Information fallen.
„Es könnten auch die Longbottoms gemeint sein“, murmelte er.
Lange blickte Albus ihn an, um in Severus‘ Gesicht eine Lüge ausmachen zu können, doch er fand keine. Stattdessen wurden seine Augen endlich wieder warm und mit etwas Glück könnte auch Severus das Verständnis in ihnen lesen, wie Hermine es konnte.
„Wenn Sie gewichtige Informationen haben, Mr. Snape, dann zögern Sie nicht und kommen Sie zu mir. Aber jetzt, bevor die Kinder geboren sind, werde ich nicht handeln. Das würde nur die Aufmerksamkeit auf sie ziehen und sie noch mehr in Gefahr bringen.“
Hermine konnte verstehen, dass Albus so misstrauisch war. Sie konnte auch Severus verstehen, der sich mehr von dem Gespräch erhofft hatte. Er wurde kurz dunkel, bevor Hermine wieder in der schmutzigen Küche stand und Severus dabei zusah, wie er am Herd einen Trank braute. Auf dem Tisch hinter ihm lag eine Decke, die sie sehr gut kannte. Es war das Geschenk an die Potters; die Babydecke.
Es klopfte und Severus fluchte, wollte offenbar nicht öffnen, doch es klopfte erneut. Wutentbrannt, weil er die Störung gar nicht guthieß, eilte er zur Vordertür und riss sie auf. Ein hübsch anzusehender Mann stand dort, wie Hermine feststellte. Ein Mann, dessen Gesichtszüge ihr nicht fremd waren, obwohl sie ihn nie zuvor gesehen hatte.
„Regulus, was treibt dich zu dieser späten Stunde zu mir?“
Die Augen des jungen Mannes – jünger noch als Severus – funkelten frech. In seiner Hand hielt er eine Flasche Feuerwhisky. „Ein Mitternachtsdrink, Severus.“
„Ich habe für so etwas keine Zeit.“
Severus wollte bereits die Tür schließen, da war Regulus längst an ihm vorbei ins Innere des Hauses geschlüpft. Stöhnend machte Severus seinem Gast klar, dass er eine Last darstellte, doch Regulus störte sich daran kein bisschen.
„Ah, braust wieder einen Trank?“ Er streckte gerade seine Hand nach dem Holzlöffel aus, da fuhr Severus ihn maßregelnd an.
„Rühr ja nichts an!“ Das Feuer unter dem Topf stellte er auf kleine Flamme, bevor er sich Regulus zuwandte. „Was willst du? Du bist in letzter Zeit nicht gerade in der Gunst des Dunklen Lords emporgestiegen, also warum sollte ich mich mit dir überhaupt noch befassen?“
Ungefragt öffnete Regulus ein paar Schranktüren, um zwei Gläser zu besorgen, die er mit dem Feuerwhisky füllte. Eines davon reichte er Severus, der skeptisch daran roch.
„Es ist nicht vergiftet, Severus.“
„Mich macht eher stutzig, dass du ein so kostenintensives Getränk mit mir teilst und dazu ohne einen mir ersichtlichen Anlass.“
„Von dem Anlass wirst du bald hören und ich wette, du wirst mir dann so eine Flasche schenken, vielleicht sogar ein ganzes Fass.“
„Das bezweifle ich“, murmelte Severus, bevor er einen Schluck nahm.
Hermine bemerkte, dass Regulus nervös schien. Er schaute einige Male aus dem Fenster hinaus in die Dunkelheit, doch zu sehen war nichts. Dann fiel sein Blick erneut auf den Topf und er schien angestrengt nachzudenken, bevor sich Erkenntnis in seinem Gesicht ausbreitete. Kurz darauf bemerkte er die Decke auf dem Tisch, die er kurzerhand mit den Fingern berührte.
„Ah, verstehe. Du willst die Decke mit dem Schutz durchtränken. Raffiniert! Narzissa wird sich freuen.“ Weil Severus sich nicht äußerte, zweifelte Regulus seine eigene Vermutung an. „Es ist gar nicht für Narzissas Kind gedacht. Das ist vielleicht noch besser.“ Regulus stürzte den letzten Schluck hinunter und atmete laut aus. „Wenn alles so läuft, wie ich es hoffe, dann brauchen wir solche Schutzvorkehrungen bald nicht mehr.“
„Was meinst du?“
Den Kopf schüttelnd winkte Regulus ab. „War nicht so wichtig. Jetzt ist es eh zu spät, dich einzuweihen. Du warst in letzter Zeit sehr beschäftigt. Ich weiß sogar, wo du neulich gewesen bist.“
Es war eine Mischung aus Angst und Wut, die man aus Severus‘ Mimik herauslesen konnte, als er auf Regulus zugestürmt kam und den jungen Mann am Schlafittchen nahm, um ihn an die Wand zu pressen. Regulus zeigte sich unbeeindruckt.
Gereizt schnaufte Severus: „Willst du mir drohen?“ Würde Regulus herumerzählen, er wäre in Hogwarts gewesen, hätte er nichts mehr zu lachen; das wusste Hermine.
„Nein, nein.“ Der junge Mann, knapp achtzehn Jahre alt, klopfte Severus vertraut auf den Oberarm. „Ich wäre der Letzte, von dem du etwas zu befürchten hättest. Du wirst bald sehen, was ich meine. Ich bin nicht hier, um dir das Leben schwerzumachen, sondern um einen mit dir zu trinken.“
„Das haben wir getan.“ Severus ließ seinen Gast wieder los, der sich gleich darauf das kurzärmelige Hemd zurechtzupfte.
„Dann will ich mich verabschieden.“ Er deutete auf die Decke. „Und viel Erfolg damit.“
Hermine erhaschte nur kurz einen Blick auf den Kalender, der in der Küche hing. Es war der 27. Mai gewesen, ein Mittwoch. Dann verschwamm die Erinnerung. Die schmutzige Küche wandelte sich in ein piekfeines Zimmer, das ganz und gar in Grün gehalten war. Es war das Zimmer, in welchem Susan und Draco geheiratet hatten. Im grünen Salon saß Lucius Malfoy, der gedankenverloren mit dem Zeigefinger über seine Lippen strich. Sein Gesicht war sehr ernst und gramerfüllt. Die Tür öffnete sich und Dobby kündigte höflich Severus an, erhielt daraufhin von seinem Herrn eine Beleidigung an den Kopf geworfen. Der Gast trat ein und Lucius, der nicht einmal sein überlegenes Grinsen aufgesetzt hatte, begrüßte ihn.
„Severus“, ein Handschlag folgte, „meine Frau erwartet dich. Ich gebe zu, dass mich ihr Verlangen, dich zu sehen, sehr überrascht, wo doch Morgen bereits der Mutter-Kind-Schutz eintritt.“
„Es konnte offensichtlich nicht mehr warten, was es auch sein mag.“
Lucius nickte. „Dann weißt du nicht, was sie möchte?“
„Nein, ich weiß genauso wenig wie du.“
„Es wird mit ihrem Cousin zusammenhängen“, vermutete der Blonde flüsternd.
Nachdenklich starrte Lucius in die Luft, bevor er sich zusammenriss und den Elf rief, damit der Severus zu Narzissa führen sollte. Lucius blieb im grünen Salon zurück, Hermine folgte Severus.
„Dobby bringt Mrs. Malfoy Ihren Gast.“
Den Elf ignorierte Narzissa. Direkt neben einem leeren Kinderbett saß sie auf einem weichen Stuhl in dem neu eingerichteten und noch nicht genutzten Zimmer, dass die Malfoys für ihr Baby ausstaffiert hatten. Narzissa wollte aufstehen, doch ihr Bauch erschwerte es ihr.
„Behalt bitte Platz, Narzissa.“
Narzissa winkte Severus zu sich heran, zauberte einen Stuhl an ihre Seite und klopfte mit einer Handfläche auf das Polster. „Setz dich doch bitte.“
Hermine ging um die beiden herum und hockte sich vor sie. Erst jetzt bemerkte sie, dass Narzissas Gesicht verweint war, die Augen rot und dick, was ihrer Schönheit jedoch keinen Abbruch tat. Eine Weile saßen die beiden einfach nur nebeneinander, bis Narzissa endlich sprach. Ihre Stimme, entgegen ihres aufgewühlten Zustands, war fest und bestimmend.
„Lucius erzählt mir nichts, aber ich weiß, dass Riddle mit seinem Tod zu tun haben muss. Regulus …“ Narzissa tupfte sich mit einem Taschentuch die Nase. „Regulus hatte irgendetwas vor. Etwas, das ‘ihm‘ nicht gefallen hat.“
„Was lässt dich das glauben?“
„Weil er mich besucht hat, Severus. Vor zwei Tagen. Er wirkte so anders, sprach davon, dass wir uns bald keine Sorgen mehr machen müssten.“
„Sorgen worüber?“, fragte Severus nach.
„Er hat nichts Genaues gesagt, aber ich wusste, er spricht von Riddle.“ Sie atmete einmal tief durch. „Regulus ist nicht auffindbar. Er ist wie vom Erdboden verschluckt.“
„Vielleicht taucht er wieder auf?“
Kraftlos schüttelte sie den Kopf. „Wird er nicht. Ich weiß, dass er tot ist. Ich spüre das.“
An Severus‘ Gesichtsausdruck erkannte Hermine, dass er ihre Meinung teilte.
„Warum sollte ich heute herkommen?“
Narzissa drehte sich zu ihm um und legte langsam eine Hand auf seinen Unterarm. „Du weißt, dass Regulus mein Lieblingscousin war.“ Severus nickte. „Ich habe ihn gebeten, der Pate meines Kindes zu werden und er hat schweren Herzens abgelehnt. Da wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Ich ahnte, dass er mit seinem Tod rechnete, sollte das, was auch immer er geplant hat, nicht den gewünschten Erfolg haben. Er legte mir nahe, dich zu fragen und deswegen bist du heute hier, Severus.“
Ungläubig schüttelte Severus den Kopf und erinnerte sie an eine Sache, indem er sagte: „Du vergisst, Narzissa, dass ich eurer nicht würdig bin.“
Ihre Hand an seinem Unterarm drückte zu. „Ich habe viel von deiner Mutter gehalten, Severus. Und ich halte noch sehr viel mehr von der Empfehlung meines verblichenen Cousins. Ich bitte dich, mir meinen Wunsch zu erfüllen. Werde der Pate meines Sohnes. Es soll dir keine finanzielle Last entstehen, dafür werde ich sorgen.“
„Ich brauche keine Almosen“, wetterte Severus zurück, der mit sich im Zwiespalt stand.
„Es sind keine, Severus, es ist ein Anteil am Besitz der Familie Malfoy, zu der du gehören wirst, wenn du die Patenschaft übernimmst. Ich werde nicht zulassen, dass Riddle mir meine Familie raubt und …“
„Narzissa“, zischte Severus warnend, „du vergisst wohl, dass ich genauso ein Todesser bin wie dein Mann und wie Regulus einer war. Sprich in meiner Gegenwart nicht so über den Dunklen Lord, wenn du uns nicht alle ins Verderben stürzen willst.“
Narzissa hielt sich am Gitter des Kinderbettes fest, um sich von ihrem Stuhl zu erheben. Sie ging einige Schritte und drehte sich abrupt um. Ihre hohe bleiche Stirn glänzte durch winzige Schweißperlen. Das Gespräch belastete sie, doch sie gab nicht auf und sagte ihm ihre Meinung, während sie mit einer Hand ihren ausgeprägten Bauch hielt.
„Ist es bei dir auch schon soweit, dass du von deiner Angst geführt wirst, anstatt von deiner Überzeugung? Das ging schnell“, sie schnaufte herablassend, „dabei trägst du es noch gar nicht so lange, dieses Brandmal, mit dem er euch wie Vieh sein Eigen nennt.“ Severus sprang von seinem Stuhl auf, doch sie verbat ihm mit einer hochgehaltenen Hand den Mund. „Er kann tun und lassen, was er möchte, doch meine Familie werde ich ihm nicht überlassen.“
„Warum fragst du dann gerade mich, wo ich ihm doch folge?“
Sie musterte Severus von oben bis unten. „Weil Regulus gesehen haben muss, dass es dir wie ihm geht oder hegst du etwa keine Zweifel? Von Lucius habe ich gehört, dass Riddle dir gegenüber bisher keines seiner mannigfaltigen Versprechen eingelöst hat, mit denen er so viele zu sich gelockt hat. Und aus Überzeugung?“ Sie schüttelte den Kopf. „Meine Schwester folgt ihm aus Überzeugung, aber nicht du. Selbst mein Mann musste erfahren, dass das Wort Riddles nicht viel Wert ist, wenn es sich um Honorierung dreht. Du wirst auch sehen, dass sehr bald niemand mehr dem anderen trauen wird, denn Riddle will, dass jeder nur ihm loyal gegenüber ist, nicht aber seine Anhänger untereinander.“
Diese Worte hatten Severus sprachlos gemacht. Nachdenklich ging er einige Schritte im Kinderzimmer umher. Hier drinnen befand sich nichts, dass an die Schrecken erinnerte, die Voldemort in der Gesellschaft verbreitete. Dieses Zimmer mit seinen warmen Farbtönen, dem vielen Kinderspielzeug und der Tapete mit schlafenden Häschen strahlte genau den Frieden aus, den Narzissa sich für ihre Familie wünschte. Und sie wollte auch, dass er ein Teil davon werden würde. Severus streckte seinen Rücken und holte tief Luft.
„Was du in diesem Zimmer gesagt hast, darfst du niemandem erzählen, Narzissa. Mit solchen Äußerungen stehst du sonst ganz schnell auf einer Liste mit Namen von Personen, deren Stunden gezählt sind.“ Er drehte sich zu ihr und wartete auf eine Zustimmung, die sie ihm mit einem Nicken gab. „Selbst deinem Mann gegenüber …“
„Lucius wird nie etwas von dem erfahren, was ich gesagt habe, das verspreche ich. Er wird mir meinen Wunsch nicht abschlagen können, dich zum Paten zu machen, auch wenn er es nicht sofort gutheißen wird. Dann darf ich mit dir rechnen?“
„Ja“, bestätigte er resignierend.
Im nächsten Moment befand sich Hermine wieder im grünen Salon. Musik spielte und viele Gäste unterhielten sich. Sie benötigte einen Moment, um Severus ausfindig zu machen, dem gerade von Narzissa ein Kind in den Arm gedrückt wurde. Draco.
Von dem Anblick ganz verzückt eilte Hermine zu ihm hinüber und erschrak fürchterlich, als sich ihr plötzlich eine schwarzhaarige Frau in den Weg stellte, deren wahnsinnigen Blick sie schon einmal aus nächster Nähe hatte sehen müssen. Bellatrix Lestrange hatte sich ihrer blonden Schwester zugewandt und ihr etwas ins Ohr geflüstert, woraufhin Narzissa sie streng anblickte, bevor sie sich wieder Severus widmete, dem anzusehen war, dass er zuvor noch nie ein Baby gehalten hatte. Hermine blickte sich im Zimmer um und erkannte einige Gesichter, auch die von anderen Todessern. Sie bemerkte, dass Lucius auf Severus zusteuerte, um ihn einige Schritte von den anderen Gästen wegzuführen. Den beiden Männern folgend lauschte Hermine aufmerksam, als Lucius seinen Kopf zu dem Kind beugte, doch in Wahrheit das Wort an Severus richtete.
„Der Dunkle Lord hat einen Auftrag für dich. Er will, dass du einen Trank braust, der verhindert, dass Inferi zu schnell verwesen. Ich frage mich allerdings, warum er zu solchen Mitteln greifen möchte. Sind wir etwa nicht stark genug, um gegen unsere Gegner anzukommen?“ Lucius streichelte Dracos Kopf und wartete auf eine Reaktion von Severus.
„Vielleicht“, flüsterte Severus zurück, „sind Inferi einfach nur leichter zu manipulieren als wir?“
Erschrocken blickte Lucius auf, schaute sich einmal um, um die anderen Gäste zu betrachten, von denen niemand ein Sterbenswörtchen mitgehört hatte, bevor er Severus zurechtwies: „Das habe ich nicht gehört und ich möchte so etwas auch nie wieder hören!“
Einen Moment lang schwieg Severus, bevor er das vorhergehende Thema wieder aufgriff. „Wann soll ich mit dem Trank beginnen? Doch nicht etwa sofort?“
„Oh nein, das würde Narzissa nicht gefallen, wenn du als heutiger Ehrengast jetzt schon gehen würdest.“
Die Erinnerung verblasste und ein finsterer Raum, ähnlich wie das Labor in den Kerkern von Hogwarts, materialisierte sich vor Hermine. Severus saß an einem Tisch, vor ihm blubberte eine grünsilberne Flüssigkeit in einem Kessel. Weder von den Zutaten her, die auf dem Tisch lagen, noch von dem Aussehen des Trankes konnte Hermine bestimmen, um was es sich handeln könnte. Da Severus zudem sehr gelangweilt aussah und sich nicht einmal um den Trank scherte, vermutete sie, dass es ein Gebräu aus wild zusammengeworfenen Zutaten war, das keinerlei Wirkung haben konnte, außer vielleicht den Magen zu verderben.
Die Szenerie gefiel ihr auf eine besondere Art und Weise, denn sie war ihr durch die Ausbildung bei ihm vertraut, auch wenn Severus hier zwanzig Jahre jünger war. Sie hatte nicht viel Zeit, um ihn anzusehen, denn es klopfte und Lucius kam herein. Severus grüßte ihn kurz angebunden und erwähnte, dass Voldemort zugestimmt hätte, Lucius dürfte ihm zur Hand gehen.
„Es war leicht, ihn zu überzeugen. Du warst in Zaubertränken der Beste deines Jahrgangs“, sagte Severus gleichgültig und erschöpft klingend. Durch einen der Gänge hinauf konnte Hermine dumpfe unmenschliche Laute vernehmen, die aus den Tiefen des Gemäuers zu kommen schienen. Inferi.
Angeekelt rümpfte Lucius die Nase, als er das Gebräu begutachtete. „Das ist absoluter Wahnsinn! Das ist abartig!“
Die zwischen beiden Männern herrschende Anspannung konnte Hermine fast schon fühlen, obwohl sie sich nur eine Erinnerung ansah. Severus schien Lucius nicht zu trauen, beinahe als würde er befürchten, mit einer zustimmenden Äußerung zu Lucius‘ negativen Anmerkung sein Todesurteil zu unterschreiben.
Ein fluchendes Gemurmel war von Lucius aus zu wahrzunehmen.
„Warum sollte ich dich eigentlich zu mir holen? Was gibt es denn heute, weshalb du es vorziehst, diesen Gestank einzuatmen?“, hörte sie Severus mit ruhiger Stimme fragen, während er nebenbei, geradezu achtlos, eine Zutat in den Kessel warf.
Sein blonder Gast schien nervös. „Ach, Narzissa hat das von mir verlangt, denn sonst … Sie hat gedroht, mich zu verlassen, wenn ich heute Abend mitgehen würde.“ Hermine hörte zu, wie Lucius versicherte, seine Äußerung hätte nichts damit zu tun, dass er Voldemort nicht treu ergeben wäre. Trotzdem riet er seinem dunkel gekleideten Freund mit leiser Stimme: „Weißt du Severus, wenn ich du wäre, dann würde ich schleunigst verschwinden!“
An den kleinen Eigenheiten von Severus‘ Mimik konnte sie erkennen, dass er Lucius nicht traute. Mürrisch und mit einer schmierigen Stimme, die Hermine schon lange nicht mehr gehört hatte, fragte Severus: „Möchtest du, dass ich ihm davon berichte, wie verräterisch du dich äußerst? Oder willst du etwa mich in eine Falle locken, um ihm das Gleiche über mich zu berichten?“
Was Narzissa vorhin gesagt hatte, dachte Hermine, war nun bereits eingetroffen. Die Anhänger Voldemorts trauten sich nicht mehr über den Weg. Jeder verdächtigte den anderen; Vertrauen war ein Fremdwort geworden. Lucius hingegen schien Severus trauen zu wollen, vielleicht weil er Pate seines Kindes war.
„Ich meine es ernst, Severus! Du hast keine Frau und keine Kinder. Du brauchst nur um das eigene Leben zu fürchten. Wäre ich in deiner Situation, dann würde ich dem Lord den Rücken kehren und …“
„Sei still, Lucius!“, unterbrach Severus gefährlich leise zischend. Er blickte sich um, als würde er davon ausgehen, beobachtet zu werden.
„Severus! Das alles hier ist doch der reine Wahnsinn, aber du kannst gehen und musst dich um niemanden sorgen. Bei Merlin, tu es doch einfach!“ Lucius erzählte, wie eindrucksvoll und ruhmreich Voldemorts Absichten früher noch gewesen wären, deswegen erstaunte es Hermine zu hören, wie Malfoy noch anfügte: „Er ist ein wahnsinniger Irrer, der …“
„GENUG!“
Severus wollte von all dem nichts hören. Vielleicht, dachte Hermine, würde ihm sonst eine Äußerung über die Lippen kommen, für die er später büßen müsste. Lucius ließ jedoch nicht locker.
„Verdammt! Du hast doch miterlebt, wie schwierig es für uns war, endlich mit einem Kind gesegnet zu werden. Ich werde Dracos und Narzissas Leben nicht aufs Spiel setzen. Nur deshalb muss ich bei ihm bleiben, aber du …“
Lucius hielt inne, obwohl er noch viel mehr sagen wollte, das konnte Hermine fühlen. Beide hatten sich vor dem Kessel positioniert und betrachteten die Bläschen, die der grünsilberne Trank warf. Wenn Lucius Klassenbester in Zaubertränken gewesen war, dachte Hermine, musste ihm ebenfalls aufgefallen sein, dass der Trank, den Severus braute, absolut nichts wert war, doch er schwieg, selbst wenn er es bemerkt haben sollte.
Es war Severus, der das Wort ergriff.
„Du hast mir immer noch nicht erzählt, was für heute Abend geplant ist.“
Der Blonde antwortete nur stockend und erklärte, dass Voldemort, nachdem Severus ihm von der Prophezeiung erzählt hatte, zu einem Entschluss gekommen wäre. Gespannt horchte Severus auf, als Lucius verriet: „Er denkt, dass er den Jungen gefunden hat.“
Von Severus hörte man ein verachtendes Schnaufen. Ungläubig schüttelte er den Kopf, schmunzelte dabei. Hermine kannte dieses Auftreten von Severus. Er tat das gern, wenn er mitteilen wollte, dass er jemanden für dumm hielt. In diesem Fall offenbar Voldemort.
Hermine konnte mit ansehen, wie die Ungläubigkeit in Severus‘ Miene allmählich der Gewissheit schwand, als er sich der todernsten Situation bewusst wurde. Kreidebleich war er, als sich ihm offenbarte, dass Lily und ihre Familie in Gefahr war.
„Das ist nicht dein Ernst? Und wen hat er auserwählt, dieser abergläubische …“
Es war auffällig, dass Lucius es vermied, Severus in die Augen zu sehen, aber er antwortete dennoch: „Er glaubt, dass es dieses Potter-Baby ist.“ Obwohl es Hermine nicht überraschen dürfte, hielt sie sich aufgeregt eine Hand vor den Mund.
„WAS?“
Selten hatte Severus die Beherrschung verloren. Sein ganzer Körper wurde von einem Zittern übermannt. Er suchte nach einer Lösung, dachte angestrengt nach, was er nun tun könnte. Mit einem Mal erhob er sich von seinem Stuhl, um hinauszustürzen, doch Lucius hielt ihn fest.
„Bleib hier, du Narr!“, schimpfte der Blonde. „Wenn er dich sieht, sind wir alle in Gefahr! Du, ich, Narzissa, Draco! Du bleibst schön hier, mein Freund!“
Hermine fuhr erschrocken zusammen, als sie mit ansehen musste, wie Severus Lucius mit geballter Faust einen Schlag ins Gesicht gab.
Wenig Zeit schien vergangen zu sein, als Hermine in Albus‘ Büro Zeuge dessen wurde, wie Severus das erste Mal eine interne Information von Voldemort an den Direktor weitergab. Severus stand die Sorge ins Gesicht geschrieben, als er Albus erzählte, wen Voldemort auserkoren hätte.
„Die Potters, heute Abend noch?“, wiederholte Albus nachdenklich, bevor er sich von Severus abwandte und sich einem der Gemälde näherte. Hermine blieb bei Severus stehen und hörte – genau wie er – nicht, was Albus dem Portrait ins Ohr flüsterte, bevor der Mann darin verschwand. Eine Weile später, kam der gemalte Zauberer zurück und richtete dem Direktor etwas aus. Albus näherte sich daraufhin wieder Severus.
„Die Information kam ein wenig zu spät, Mr. Snape. Voldemort war bereits dort, vor einer halben Stunde. Er hat angegriffen.“ Von dieser Information erschlagen geriet Severus ins Wanken, konnte nur Halt an einer Stuhllehne finden, an die er sich klammerte. Erst dann entwarnte Albus, als hätte er Severus‘ Reaktion abgewartet. „Die Potters konnten ihn jedoch in die Flucht schlagen. Sie sind momentan in Sicherheit.“
Erleichtert schloss Severus die Augen. Dabei bemerkte Hermine, wie Albus sein Gegenüber betrachtete.
„Was würde wohl Voldemort sagen“, begann Albus mit milder Stimme, so dass Severus die Augen wieder öffnete, „wenn er erfahren sollte, dass Sie deswegen bei mir waren?“
Severus spielte absichtlich die Unschuld vom Lande. „Von wem sollte er es denn erfahren?“
Albus hob erstaunt eine Augenbraue. „Das ist eine berechtigte Gegenfrage, Mr. Snape, da ich nun mal der Einzige bin, der Sie mit diesem Wissen in eine unangenehme Lage bringen könnte.“ Hermine war klar, dass Albus ihm das nur vor Augen halten wollte, jedoch nicht mit dem Gedanken spielte, Severus tatsächlich Probleme zu bereiten. „Und Ihre Frage suggeriert mir, Sie würden mir trauen. Das wiederum“, er hob einen Zeigefinger, „versetzt mich in Erstaunen.“
Gelassen ging Albus zu seinem Schreibtisch zurück und setzte sich in seinen gepolsterten Stuhl.
„Sonst noch etwas, Mr. Snape?“ Severus war perplex. Er wirkte handlungsunfähig und unsicher, als er den Kopf schüttelte. „Dann finden Sie sicher selbst hinaus.“
Irritiert von Albus‘ reserviertem Verhalten ging Severus langsam zur Tür. Hermine konnte sehen, wie sehr er nachdachte, weil sich ein Dreieck über seiner Nasenwurzel bildete. Sie selbst konnte nicht einmal erahnen, was ihm durch den Kopf gehen könnte. Plötzlich drehte er sich um.
„Professor Dumbledore?“
„Ja, Mr. Snape?“, kam wie aus der Pistole geschossen, als hätte Albus damit gerechnet, dass Severus noch etwas zu sagen hatte. Trotzdem widmet sich Albus weiterhin dem Pergament vor sich.
„Ich …“ Severus atmete einmal tief durch, bevor er all seinen Mut zusammennahm. „Der Dunkle Lord beabsichtigt, in Zukunft Inferi gegen seine Feinde einzusetzen.“
„Gegen seine Feinde, ja?“ Albus summte nachdenklich, blickte dann auf. „Unter Umständen vielleicht sogar gegen Sie, Mr. Snape?“
Hermine konnte aus nächster Nähe sehen, dass Severus nur kurz die Augen zusammenkniff und im gleichen Moment zu verstehen schien, so dass er ungewiss wiedergab: „Womöglich?“
„Wenn Sie diese Frage eindeutig bejahen können, dann werden wir uns mit Sicherheit noch einmal über den Weg laufen.“ Mit einer Feder begann der Direktor, auf seinem Pergament zu schreiben, verabschiedete sich währenddessen mit den Worten: „Auf Wiedersehen, Mr. Snape.“
Severus verließ das Büro nicht, ging stattdessen ein paar Schritte auf Albus zu. „Und wenn ich bejahen würde?“
„Dann“, Albus legte seine Feder beiseite und widmete all seine Aufmerksamkeit dem Gast, „müsste ich mir Gewissheit verschaffen, dass Sie es auch so meinen. Die Frage ist nur: Sind Sie dazu bereit?“
Severus schien nicht bereit. Seine braunen Augen huschten eingeschüchtert über das runzlige Gesicht des Professors.
„Was würde mich erwarten?“, fragte er unsicher.
„Eines kann ich Ihnen hundertprozentig versprechen, nämlich dass ich keine Versprechungen mache!“ Das erste Mal in Severus‘ Gegenwart funkelten Albus‘ Augen, wie Hermine es gewohnt war. „Ich verspreche keine Luftschlösser, auch keinen Ruhm und von Heldentum habe ich nie etwas gehalten.“
Einen Moment lang war Severus sichtlich enttäuscht. „Was hätte ich dann davon?“
Der Direktor legte seinen Kopf schräg und fixierte Severus mit seinen lebendigen Augen, bevor er leise mit seiner warmen, väterlichen Stimme erwiderte: „Ein reineres Gewissen.“
Beschämt blickte Severus zu Boden. Für Hermine war ersichtlich, dass er schon etwas auf dem Kerbholz haben musste.
„Sie müssen keine Entscheidung treffen, Mr. Snape, nicht jetzt und nicht hier. Wenn ich Ihnen aber nahe legen dürfte, sich vor Mr. Riddle in Acht zu nehmen? Er ist nämlich äußerst begabt in Legilimentik.“
Angsterfüllt riss Severus die Augen. „Wie bitte?“
„Legilimentik, Mr. Snape. Da Mr. Riddle Sie noch nicht auf Ihre Ausflüge in mein Büro hin ‘angesprochen‘ hat, nehme ich an, dass er Sie nicht sehr häufig persönlich empfängt.“
„Er kann meine Gedanken lesen?“ Blankes Entsetzen zeichnete sich in Severus‘ Gesicht ab.
„Er könnte, ja das ist richtig. Bereuen Sie jetzt Ihre Unterredungen mit mir?“
Ein paar Mal blinzelte Severus nervös, schüttelte am Ende jedoch den Kopf. Kurz darauf verließ er das Büro.
Im nächsten Moment befand sich Hermine erneut im Schulleiterbüro. In dem Augenblick, als Severus klopfen wollte, hatte Albus bereits die Tür geöffnet.
„Treten Sie ein, Mr. Snape.“
Ohne den Direktor zu grüßen sprudelte es aus einem sehr angespannten Severus heraus: „Morgen Nacht gegen zwei Uhr will der Dunkle Lord die Potters angreifen.“
„Ah“, machte Albus gelassen und deutete auf eine Couch. „Nehmen Sie doch bitte Platz.“
„Haben Sie nicht gehört?“
„Natürlich habe ich! Kein Grund für Sie, die Stimme zu erheben.“
Nochmals deutete er auf die Couch und Severus kam der Aufforderung nach. Aufgeregt spielten seine Finger miteinander, was er selbst gar nicht für voll zu nehmen schien. Er beobachtete – genau wie Hermine – wie Albus mit einem der vielen Gemälde sprach.
Diese eine Erinnerung war sehr kurz gewesen, doch die nächste folgte gleich im Anschluss. Es musste Herbst sein, denn Hermine bemerkte die typische Halloween-Dekoration, mit der Albus gern schon etwas früher seine Räume verschönerte. Wieder trat Severus ein, doch diesmal öffnete sich die Tür wie von Geisterhand.
„Mr. Snape“, sagte Albus sehr ernst, „Sie haben sicherlich erfahren, dass einige Ihrer ‘Freunde‘ festgenommen wurden.“
„Das sind keine Freunde“, widersprach Severus empört.
Albus ging auf die Anmerkung gar nicht ein. „Mr. Karkaroff hat Namen genannt, Mr. Snape. Namen von Todessern, um seine eigene Haut zu retten. Bedauerlicherweise“, Albus erhob sich und näherte sich seinem Gast, „war Ihr Name darunter.“
Was das zu bedeuten hatte, war Hermine klar. Jeden Moment würden die Auroren kommen und ihn mitnehmen, damit er in Askaban, das zu dieser Zeit noch von Dementoren bewacht wurde, auf eine Verhandlung warten konnte. Dementsprechend geschockt war Severus über diese Information.
Der Direktor war bei Severus angelangt.
„Ich bin im Nachhinein froh darüber, dass ich schon vor einiger Zeit wichtige Personen im Ministerium darüber informiert habe, mit Ihnen als mein Verbindungsmann in Kontakt zu stehen.“
„Sie haben was?“
„Sie sollten auch froh darüber sein, Mr. Snape, denn nur so konnte ich Sie vor dem Gefängnis bewahren, indem ich beteuerte, dass Sie in meinen Diensten stehen.“ Albus legte eine Hand auf Severus Schulter. „Tun Sie das?“ Die Augen blickten ernst über die silberne Halbmondbrille. „Stehen Sie in meinen Diensten?“ Severus‘ Stimme war so leise, dass sich Hermine zu ihm beugen musste, so wie Albus es tat.
„Sie sagten einmal, wenn ich bejahen würde, müssten Sie sich Gewissheit verschaffen, dass ich es auch so meine. Wie …? Was würden Sie tun?“ Severus zögerte einen Moment, bevor er – halb als Vorschlag, halb als Frage – die Vermutung äußerte: „Veritaserum?“
„Nein, etwas Anderes. Doch zuvor müssen Sie sich darüber im Klaren sein, was Sie möchten.“
„Ich …“ Severus schluckte kräftig. „Ich möchte bejahen.“
„Dann nehmen Sie bitte Platz, Mr. Snape.“
Gespannt hockte sich Hermine vor Severus und Albus. Dass sie sich währenddessen mitten im Kaffeetischchen der Erinnerung befand, nahm sie nicht einmal wahr. So dicht konnte sie am besten verfolgen, was Albus tun würde, um Severus‘ Loyalität zu überprüfen.
„Sie sind angespannt, Mr. Snape. Fürchten Sie sich nicht. Wenn ich Ihnen vertrauen soll, müssen Sie erst mir vertrauen.“
Severus atmete mehrere Mal ein und aus, bevor er sich Albus zuwandte und nickte, obwohl es unklar war, was nun geschehen würde. Als Albus seinen Stab zog, krallten sich Severus‘ Hände in den flauschigen Stoff der Couch, doch er blieb sitzen und blickte den Direktor an. Es war keine Furcht vor dem alten Zauberer, sondern die Angst vor dem Unbekannten; vor der Ungewissheit, was nun folgen würde.
„Legilimens“, flüsterte Albus.
Im ersten Moment schien Severus nicht zu spüren, was mit ihm geschah, doch dann, das konnte sie an seinem Gesichtsausdruck erkennen, musste er die Präsenz des Direktors in seinem Kopf fühlen und er war schockiert. In diesem Augenblick erinnerte sich Hermine sehr genau daran, wie sie sich gefühlt hatte, als Severus vor über einem Jahr unerlaubt in ihre Gedanken eingedrungen war. Die Situation hier war jedoch von Hause aus viel angespannter und bedeutsamer. Hermine bemerkte, dass Severus begann, sich gegen die mentale Intrusion zu sträuben. Auch dem Direktor war das nicht entgangen, doch er ließ nicht von seinem Vorhaben ab.
„Wehren Sie sich nicht, Mr. Snape, sonst bereitet es Schmerzen“, erklärte Albus mit sanftmütiger Stimme.
Das Wimmern, das Severus entwich, berührte nur Hermine, nicht aber Albus, der zielsicher überprüfen wollte, ob sein Gegenüber vertrauenswürdig genug war, um ihn unter seinen persönlichen Schutz zu stellen. Zwiespältig betrachtete Hermine das Szenario. Sie hatte Mitleid mit dem jungen Severus, sah aber wie Albus die Notwendigkeit, die intimsten Gedanken kennen zu lernen, denn im Moment stellte dieser ehemalige Schüler für den Direktor nur einen Todesser dar, über dessen Aufrichtigkeit er überhaupt nichts wusste.
„Nicht …“, flehte Severus mit glasigem Blick. „Nicht das, bitte nicht.“ Er atmete heftig und stockend.
Es konnte alles Mögliche sein, was Albus sich gerade ansah. Nichts, absolut nichts sollte vor dem Direktor verborgen bleiben, egal wie unangenehm es für Severus sein musste. Das errötete Gesicht und die langsam aufsteigenden Tränen verrieten, dass das, was Albus gerade betrachtete, Severus mehr als nur peinlich sein musste.
Der Direktor blieb völlig gelassen.
„Wir spielen hier mit offenen Karten, Mr. Snape“, beruhigte er ihn, „und im Gegenzug werde ich Ihnen später beibringen, wie Sie sich mit Okklumentik verteidigen können.“ Von den Worten wurde Severus nicht entspannter, doch er ließ es über sich ergehen.
Noch schnell erhaschte Hermine den Blick auf eine Uhr, bevor diese Erinnerung der Zeit wegen gekürzt worden war. Ganze sechs Stunden später saßen die beiden noch immer auf der Couch, in deren weiche Kissen Severus bereits erschöpft eingesunken war, doch er hielt weiterhin tapfer den Blickkontakt mit Albus aufrecht.
Der schwarz gekleidete Mann auf der Couch, vor dem Hermine in der Schule Respekt hatte – keine Angst –, war hier alles andere als furchteinflößend. Seine in sich zusammengesunkene Körperhaltung zeugte von Verwundbarkeit. Severus war für Albus ein offenes Buch, in dessen Seiten der Direktor nach und nach blätterte, damit sich ihm das Leben seines Gastes offenbaren würde. Schutzlos war er den wissbegierigen Blicken des mächtigen Zauberers ausgesetzt, doch Hermine erkannte auch, dass Severus es von sich aus zuließ. Es gab nichts Privates mehr, keine einzige Intimität, die er verbergen konnte. Severus‘ Bereitschaft, alles von sich freiwillig bloßzulegen, stellte selbst für Hermine, auch wenn sie über Albus‘ Methode gespaltener Meinung war, den unumstößlichen Beweis für dessen Gesinnung dar.
Albus, nicht einmal halb so entkräftet wie Severus, beendete die Legilimentik. Beide saßen schweigend nebeneinander. Nach dem anstrengenden Erlebnis war Severus völlig außer Atem. Die Müdigkeit ließ seine Lider immer schwerer werden.
„Eine Tasse Kaffee, Severus?“, fragte Albus, was Hermine erstaunte, denn er nannte ihn einfach beim Vornamen. Im nächsten Moment war ihr jedoch klar, dass so eine Intimität, wie die beiden Männer sie gerade erlebt hatten, sämtliche persönliche Hürden hinter sich gelassen haben mussten. Geschwächt nickte Severus und ließ sich von Albus bedienen. Nachdem der Direktor ihm eine Tasse gereicht hatte, empfahl er: „Finde dich jeden Abend bei mir ein, Severus. Ich werde dich lehren, deinen Geist zu verschließen.“
Zu erzählen hatten sie sich wenig, jetzt wo Albus so viel über Severus wusste. Sicherlich nicht alles, dachte Hermine, aber die wichtigsten Momente, die Schlüsselerlebnisse, die maßgebenden Entscheidungen. Albus allerdings wollte eine Sache noch klären.
„Der Neue von Voldemorts Anhängern …“ Severus horchte auf. „Kannst du herausfinden, wer das ist?“
Severus zögerte einen Moment, schien sich in Gedanken auszumalen, wie er es anstellen konnte, bevor er nickte. „Ich denke schon.“
„Gut, gut! Ich muss das wissen.“
In der nächsten, sehr kurzen Erinnerung hatte Severus den Direktor vor dem nächsten Angriff auf die Potters warnen können. Den Namen des neuen Todessers hatte Severus allerdings noch nicht herausbekommen können.
„Kein Name, Severus?“ Der junge Mann schüttelte den Kopf. „Nun, da sich der erste Teil der Prophezeiung erfüllt hat und sie ihm dreimal die Stirn boten, werde ich die kleine Familie wohl unter einen besonderen Schutzzauber stellen müssen.“
Zwischen der nächsten Erinnerung verging viel Zeit, die Hermine in der Dunkelheit verbrachte. Vielleicht deutete das an, dass einige Monate dazwischen lagen. Das Licht, das die neue Erinnerung mit sich brachte, blendete sie fast.
Mit sicherem Schritt betrat Severus das Büro des Schulleiters. Er trug das erste Mal die Kleidung, die Hermine von ihm kannte.
„Ah, Severus“, grüßte Albus. „Gut zu wissen, dass alles geklappt hat. Ist er skeptisch geworden?“
„Keinesfalls“, verneinte Severus, „im Gegenteil. Dank deiner Empfehlung, das Bewerbungsgespräch zu erwähnen, das ich zwischen Trelawney und dir mitgehört habe und im Anschluss beiläufig zu bedauern, dass man von weder von dir noch vom Orden Informationen erhalten könnte, kam ihm – wie geplant – die Idee, mich hier als Lehrer einzusetzen.“
„Das ist wunderbar, ganz wunderbar“, freute sich Albus, der sich Severus mit einem Schälchen saurer Drops näherte. „Der Vertrag ist fertig. Wir haben nun beinahe schon Mitte August.“ August 1981, dachte Hermine. „Die Schule beginnt im September. Wir haben Zeit genug, dich in deine Aufgaben einzuarbeiten.“
„Was ist mein Gebiet? Verteidigung gegen die Dunklen Künste?“ Severus klang äußerst enthusiastisch.
Albus schüttelte jedoch den Kopf. „Das möchte ich zu deiner Sicherheit nicht riskieren, Severus. Voldemort könnte sonst noch den Gedanken hegen, dich dazu zu missbrauchen, den Kindern böse Dinge einzuimpfen. Nein, mein Freund, dich habe ich für Zaubertränke eingeteilt.“
Severus schien nur ein wenig enttäuscht zu sein, doch die Erklärung des Direktors war ihm offenbar Grund genug, kein Widerwort zu geben. „Dann also Zaubertränke, kann mir nur recht sein.“
„Hast du noch immer nicht herausfinden können, wer dieser mysteriöse Todesser ist?“ Severus musste verneinen. „Ich frage mich, warum Voldemort aus dessen Identität so ein Geheimnis macht. Ist es womöglich jemand aus dem Ministerium? Oder jemand, der mir nahe steht?“ Albus seufzte. „Ich fürchte, ich male mir wieder die schlimmsten Dinge aus.“
Das Bild verschwamm vor Hermines Augen und es wurde schwarz – so lange, dass Hermine glaubte, Severus‘ Erinnerung wäre beendet, doch das war sie noch lange nicht. Hermine war längst mittendrin, denn als sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnt hatten, sah sie Severus in seinem Bett in den Kerkern liegen. Er schlief tief und fest. Erst das laute Zischen des Kamins im Wohnzimmer weckte ihn. Severus war aufgestanden, um dem Gast – wer auch immer ihn um diese Uhrzeit anzuflohen traute – einige Beleidigungen entgegenzuwerfen. Er kniete sich neben den Kamin. Hermine konnte im Feuer ein ihr bekanntes Gesicht ausmachen.
„Lucius“, zischte er durch zusammengebissene Zähne. Der Blonde hielt sofort eine Hand empor, um sich Gehör zu verschaffen.
„Ich bin es dir schuldig“, er hob arrogant den Kopf, „vielleicht aber auch nicht. Lass mich dir nur sagen, dass heute die Nacht gekommen ist, in der der Dunkle Lord die Potters zum vierten Mal aufsuchen wird, diesmal allein. Ich habe es nur durch Zufall erfahren.“ Für einen Moment hörte Severus auf zu atmen, was Lucius als Anlass nahm zu erklären: „Ein gewisser Mr. Pettigrew, wir kennen ihn aus der Schule, war der neue Todesser, dessen Identität uns fast ein Jahr unbekannt war. Er war Geheimniswahrer für die Potters, Severus.“ Lucius beugte sich ein wenig aus dem Feuer heraus. Hermine konnte hören, was er Severus ins Ohr flüsterte. „Was das zu bedeuten hat, weißt du, aber du weißt es nicht von mir, verstanden?“
Severus geriet in Panik. Nachdem er sein Gespräch beendet hatte, versuchte er vergeblich, Albus zu kontaktieren, aber weder der noch Minerva waren zu erreichen. Hermine vermutete, dass die sich gerade mit den anderen Ordensmitgliedern trafen.
Er griff sich seinen Umhang und seinen Zauberstab, bevor er vor die Tore Hogwarts sprintete. Hermine folgte ihm. Obwohl es sich nur um eine seine Erinnerung handelte, kam sie außer Atem und ihr Herz schlug wie wild. Womöglich bildete sie sich das nur ein oder aber die bevorstehende Szenerie versetzte sie in Hochspannung. Sie wollte nicht sehen, was kommen würde, aber sie musste es sehen. Severus apparierte. In wenigen Sekunden fand sie sich mitten in der Nacht in einem Dorf wieder.
In der Dunkelheit huschte Severus über ein paar Straßen, bis er an ein leeres Grundstück kam. Das eiserne Tor stand offen. Dahinter verbarg sich nichts, bis es plötzlich einen lauten Knall gab, der den Boden erschütterte. Mit einem Male zeichnete sich ein Haus auf dem Grundstück ab. Fensterscheiben waren zerbarst und Dachziegel rieselten zu Boden. Aus einem der Fenster stieg Rauch auf.
Mit gezogenem Zauberstab rannte Severus zur Haustür, die nur angelehnt war – Hermine immer hinterher. Plötzlich blieb Severus vor ihr stehen und sie lief versehentlich durch ihn hindurch. Der Grund für Severus‘ abrupten Halt war der regungslose Körper von James Potter. Dessen Brille lag über den leblosen Augen, die nie wieder durch das Glas hindurchsehen würden. Sein Zauberstab qualmte noch vom letzten Zauberspruch, mit dem er Voldemort aufhalten wollte.
Vor lauter Schreck hielt sich Hermine beide Hände vor den Mund. Sie hatte Bilder von ihm gesehen. Bilder, die Harry von Freunden bekommen hatte. Doch hier, in der so gut erhaltenen Erinnerung, wurde ihr erst bewusst, wie ähnlich Harry seinem Vater war. Als sie sich für den Bruchteil einer Sekunde vorstellte, dass nicht James, sondern Harry hier liegen würde, fühlte sie einen stechenden Schmerz in ihrer Brust.
Hinter sich hörte sie Severus heftig atmen. Sie drehte sich zu ihm um und beobachtete ihn dabei, wie er die Gegend mit den Augen absuchte, den Zauberstab zum Angriff erhoben. Er konnte nicht wissen, dass Voldemort durch seinen eigenen Todesfluch, der von Harry abgeprallt war, seinen Körper getötet hatte. Severus rechnete mit ihm, mit seinem Feind. In Windeseile hatte er die unteren Zimmer überprüft, bevor er die Treppe nach oben stürzte. Eine Tür nach der anderen öffnete er. Um den Lärm, den er verursachte, machte er sich keine Gedanken mehr. Wäre Voldemort hier, würde Severus längst tot neben James Potter am Boden liegen.
Ein Kind wimmerte und Severus hielt inne, lauschte und steuerte flugs die Tür an, hinter der das Geräusch zu hören war. Er öffnete die elfenbeinfarbene Tür, doch über die Schwelle trat er nicht. Hermine konnte nichts sehen.
„Nein“, hauchte er ungläubig.
Das Weinen des Kindes wurde lauter, so dass Hermine zaghaft durch Severus hindurchging, um das Zimmer betreten zu können. Lose eingewickelt in die ihr bekannte Babydecke saß der kleine Harry am Boden, direkt neben seiner Mutter, deren glasige Augen funkelndes Leben vorgaukelten, weil sich noch Tränen in ihnen befanden, die durch eine flackernde Lampe wie ein kleiner Sternenhimmel glitzerten. Harry weinte noch lauter, schrie aus vollem Hals, so dass sich Hermine neben ihn hockte und eigene Tränen nicht zurückhalten wollte.
„Nicht weinen, kleiner Harry“, flüsterte sie tröstend, obwohl sie wusste, dass er sie nicht hören konnte. Sie konnte jedoch nicht einfach teilnahmslos zusehen, als wäre es ein trauriger Film. Ihre Worte an Harry sollten auch ihr eigenes Herz beruhigen, doch es gelang ihr nicht. „Shht“, machte sie, bevor sich ihre Kehle zusammenschnürte. Den Schmerz ihres Freundes teilte sie wie selbstverständlich und sie wollte es ertragen, für ihn und mit ihm, auch wenn es ihr so schwer fiel. Die großen grünen Augen mit ihren feuchten Wimpern blickten plötzlich auf.
Lautlos hatte sich Severus neben sie gehockt. Auch ihm stand der Schmerz ins Gesicht geschrieben. Seine Augen verweilten auf Lilys und waren genauso leblos wie die ihren, weil mit ihr ein Teil von ihm gestorben war.
„Nein“, wiederholte er leise und immerfort. Seine Finger streckten sich nach ihrem blassen Gesicht, aber er konnte sich nicht dazu überwinden, ihre fahle Haut zu berühren. „Warum?“ Diese gehauchte Frage blieb vom Universum, von Gott, von diesem Schlafzimmer und von dem kleinen Jungen unbeantwortet; selbst Hermine kannte die Antwort nicht, aber aus Kriegszeiten kannte sie den Schmerz, den sie mit sich brachte.
Zitternde Hände vergruben sich in schwarzen Haaren, die Severus nun raufte, um seinem Leid Erleichterung zu verschaffen. Er zog so fest an ihnen, dass Hermine es nicht mehr mit ansehen konnte, doch genau das war es, was er von ihr verlangte. Sie sollte sich das alles ansehen, sollte fühlen und verstehen, was in ihm vorging. Severus wollte, dass sie auch diesen schweren Abschnitt seines Lebens kennen lernte.
In der Trauer war die Zeit war nicht fassbar. Sekunden oder Minuten waren vergangen, als Severus endlich wieder Regung zeigte. Er wandte seinen Kopf und blickte auf das Kind am Boden. Mit einem Schritt war er bei Harry und kniete sich nieder, um ihn zu nehmen. Hermine vernahm ein Murmeln und hörte Worte wie „Sicherheit“, die im kindlichen Gehör keinen Halt fanden. Mit dem wimmernden Harry im Arm wollte Severus aufstehen, doch Lilys steife Hand hatte die Decke gepackt. Severus erstarrte. In seinen Zügen konnte Hermine eine Seltsamkeit ausmachen, die ihr einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Die tote Hand, die sich an die Decke des Kindes klammerte, schien zu rufen „Geh nicht!“ und Severus, von Schmerz und Trauer schon längst auf einem schmalen Pfad angelangt, auf welchem ein einziger Fehltritt den Verlust des gesundes Geistes bedeuten würde, war von der Gelassenheit des Todes so fasziniert, dass er Lily aus leidenschaftlicher Ergebenheit folgen wollte.
Die Babydecke, das wusste Hermine nun, hatte ihn an seinen Wunsch erinnert, seinem eigenen Leben ein Ende zu bereiten.
Von draußen, laut und deutlich, war ein tief brummendes, knatterndes Geräusch zu hören. Licht schien für einen Moment durchs Fenster, so dass Severus wieder zu sich kam und den Jungen absetzte. Vorsichtig schlich er zum Fenster und spähte hinaus. Hermine tat es ihm gleich und erblickte unten, vor dem Tor, ein Motorrad. Eine Gestalt in einem Umhang war bereits auf dem Weg zum Haus. Nun auf das eigene Wohl bedacht suchte Severus nach einem Versteck, fand aber keines. Sollte er apparieren, würde er in seinem aufgewühlten Zustand in tausend Stücke zersplintern. Unten hörte man bereits Schritte, dann eine männliche Stimme, die ergriffen den Namen des Toten rief, der dort zu finden war. Aufgeschreckt blickte sich Severus im Schlafzimmer um und – die Schritte kamen bereits die Stufen hinauf – entdeckte den Tarnumhang auf dem Bett, den er sich griff und noch rechtzeitig überwarf. Die Tür wurde so stark aufgeworfen, dass sie gegen Wand schlug und zurückprallte.
„Lily, oh Merlin nein, Lily.“
Der junge Sirius eilte zu der Toten hinüber und kniete sich nieder. Was Severus nicht gewagt hatte, stellte für ihn keine Hürde dar. Er fühlte ihren Puls und begann nach kurzer Zeit zu schluchzen. Seine Hände fuhren über ihre blassen Wangen und die fast getrockneten Tränen, bevor er ihre Augen schloss und sich nicht schämte, dabei offen zu weinen.
Harrys Patenonkel so aufgelöst zu erleben, trieb auch Hermine wieder die Tränen in die Augen. Mit verschwommener Sicht suchte sie im Zimmer nach Severus, doch da er den Tarnumhang trug, war es unmöglich ihn auszumachen. An der Wand entlang floh sie vor dem Übermaß an Trauer, die sie zu erdrücken drohte, bis sie mit einem Male bei Severus unter dem Umhang stand. Er beobachtete das sich ihm bietende Szenario. Dabei ignorierte er die eigenen Tränen, die er nur zu weinen bereit war, da sie niemand sehen konnte.
Zusammen mit Severus beobachtete sie durch den Schleier des Tarnumhangs hindurch, wie Sirius den kleinen Harry auf den Arm nahm. Die frische Wunde am Kopf des Kindes tupfte er mit einem Taschentuch ab, bevor er die eigene Qual hinunterschluckte, um Harry Trost zu spenden. Er verließ das Haus in Godric’s Hollow. Kaum hatte man das Geräusch des abfliegenden Motorrads vernommen, sank Severus mit dem Rücken an der Wand kraftlos zu Boden. Sein Blick war starr auf Lily gerichtet, bis das Ende der Erinnerung die Dunkelheit brachte.
Hermine fand für sich eine kurze Verschnaufpause, bevor die nächste Erinnerung begann. Ihr Herz schlug so stark, dass sie es in ihrer Kehle und den Schläfen fühlte. Sie fragte sich, ob es möglich war zu weinen, während man die Nase in ein Denkarium getaucht hatte und sie wollte bejahen. So viel hatte sie bereits gesehen. Dinge, die erklärten, wer Severus war und was sein Leben ausmachte. Bisher konnte sie alles verkraften, aber nur mit Mühe und indem sie sich stetig einredete, dass dies alles schon geschehen wäre und die Ereignisse unabänderliche Tatsachen darstellten.
In den Kerkern in Hogwarts sah sie, wie sich die Tür von Severus Räumen wie von Geisterhand öffnete. Er trug noch immer den Tarnumhang, den er erst wieder ablegte, als die Tür von innen geschlossen war. Der Umhang fiel achtlos zu Boden. In der Mitte des Raumes stand Severus so regungslos, als wäre er von einem Petrificus Totalus getroffen worden. Das Einzige, was sich bewegte, war ein Schweißtropfen, der von der Schläfe hinunter bis zum Hals wanderte, um vom Kragen aufgesogen zu werden. Nicht einmal seine Augen bewegten sich, weil er sich, wie Hermine vermutete, in einem Schockzustand befand. Seine Haut war fahl, seine Atmung flach. Nach einer Weile schloss er die Augen, presste sie in der Hoffnung fest zusammen, auf diese Weise den Schmerz zu vertreiben oder gar die Zeit umzukehren, um alles ungeschehen zu machen.
Sein sonst so klarblickender Verstand, vom Gram nun vollkommen unterhöhlt, trieb ihn zu einem Schränkchen, das er mit einem Zauberspruch öffnete. Der ganze Unterarm verschwand, als er ihn in die Schublade tauchte, um etwas zu suchen. Hermine sah, wie er ein winziges braunes Fläschchen in der Hand hielt, das er mit gewaltiger Sehnsucht in den Augen betrachtete. Ihre Aufforderung, es nicht zu trinken, blieb ungehört, denn er entkorkte das Fläschchen und stürzte den Inhalt hinunter. Severus begann zu torkeln. Die Erinnerung verschwamm, doch sie konnte noch sehen, wie sich die Tür öffnete und Albus hineingestürmt kam.
Severus lag in einem Bett, das Hermine noch nie gesehen hatte. Sie versuchte, seine Hand zu berühren, wie sie es schon oft bei Harry oder Ron getan hatte, wenn die im Krankenflügel liegen mussten, doch ihre Finger gingen durch seine hindurch. Er erwachte dennoch und blinzelte verstört, weil ihm der Ort genauso unbekannt war wie ihr.
Durch die leise geöffnete Tür trat Albus herein. Hermine ahnte, dass dieses Zimmer dem Direktor gehören musste. Er setzte sich zu Severus ans Bett, doch kein Wort kam über seine Lippen, als er den jungen Mann musterte. Seine Augen sprachen jedoch Bände. Sie schienen zu sagen „Nicht noch einmal, Severus!“. Severus verstand diese nicht laut gesprochenen Worte, denn er nickte kaum merklich. Erleichtert atmete Albus aus.
Die beruhigende Wirkung von Gesellschaft verspürte selbst Hermine, obwohl sie ein ungesehener Gast in dieser Erinnerung war. Sie konnte Albus ansehen, dass ihm viele Fragen auf der Zunge brannten, doch wegen Severus‘ bedenklichem Gemütszustand stellte er keine einzige.
Als die Erinnerung vorüberging, fand sie Severus in den Kerkern an einem Tisch sitzend. Sein Gesicht war in den Händen vergraben. Vor ihm lag ein Buch, das Hermine nicht kannte. Ihr Blick flitzte über die Schrift der aufgeschlagenen Seite. Die Zutaten waren ihr nicht fremd. Es war die Anleitung zur Herstellung des Ewigen Sees.
Als die Tür sich ohne Vorankündigung öffnete, schlug Severus das Buch erschrocken zu. Albus, der sich bereits dem Tisch näherte, sah noch, wie Severus einige Pergamente auf das Buch legte, damit der Titel nicht zu lesen wäre.
„Wie geht es dir?“, fragte der Direktor fürsorglich, doch Severus antwortete nicht. „Für zwei Wochen haben wir die Schule geschlossen. Die Kinder sollen mit ihren Eltern den Frieden feiern können.“ Severus sah den Direktor nicht an, der mit ernster Stimme die Frage stellte: „Wie konnte Voldemort sterben, nur weil er ein Kind töten wollte?“
Deprimiert schüttelte Severus den Kopf. Das Gespräch mit Albus nagte an seinen Nerven. Mit so einer Gemütsverstimmung hatte Hermine ihn bereits einmal kennen gelernt, doch so schlimm wie hier war es nie gewesen. Severus‘ Gesicht war völlig ausdruckslos, seine Bewegungen wie eingeschlafen. Er hatte sich aufgegeben.
„Was, wenn er nicht tot ist?“ Aufgrund von Albus‘ Worten blickte Severus auf, so dass der Direktor genauer wurde: „Es gibt Möglichkeiten, viele Möglichkeiten, um dem Tod zu entgehen.“ Severus sagte kein Mucks, fragte stattdessen mit seiner Mimik, so dass Albus antwortete: „Ich spreche von Möglichkeiten, die man in so einem schwarzen Buch finden könnte, wie du es gerade unter dem Berg an Pergamenten vor mir verborgen zu halten hoffst.“ Ertappt blickte Severus zu dem Buch hinüber, verlor dabei noch immer kein Wort, weswegen Albus seufzte. „Severus.“ Er sprach mit seiner väterlichen Stimme. „Wie kann ich dir helfen, damit du nicht im Gram ertrinkst?“ Unmerklich schüttelte der junge Mann den Kopf, womit er all seine Hoffnungslosigkeit zum Ausdruck brachte. In Severus‘ Augen gab es keine Hilfe. „Und wenn ich dir versichere, dass ich weiß, wie sich ein zersprungenes Herz anfühlt?“
Endlich blickte Severus auf und sagte seine ersten Worte mit einer erschreckenden Verachtung, die er seinem eigenen Leben entgegenbrachte: „Wenn es doch nur so wäre! Wenn es entzwei wäre, dann würde ich es nicht mehr ertragen müssen! Aber so …?“ Seine Hände machte eine verzweifelte Geste. „So weitermachen, wie bisher? Das kann ich nicht, wo doch alles starb, was mir das Wichtigste war.“
Die Leere in seinen braunen Augen schien unheilbar. Hermine wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber sie erinnerte sich daran, dass Severus ungefähr sieben Wochen nach Lilys Tod den Trank genommen haben musste und in dieser Zeit seine Räume kaum verlassen haben soll.
Sich zu Severus beugend flüsterte Albus weise: „So etwas verheilt nicht von heute auf Morgen. Manchmal begleitet uns dieser Schmerz das ganze Leben lang.“
„Das ganze Leben?“ Von diesem Gedanken war Severus entsetzt und wahrscheinlich, glaubte Hermine, hatte er in diesem Moment den Entschluss gefasst, dem Schmerz ein für allemal ein Ende zu bereiten.
„Wenn Voldemort Vorkehrungen getroffen haben sollte, Severus, dann werde ich dich brauchen.“
„Was kümmert’s mich noch?“, fragte er aufgebend.
„Ihr Tod wäre belanglos, wenn du dich nun aus diesem Leben davonstehlen würdest.“ Severus schien nicht zuzuhören, weswegen Albus ihn hart an der Schulter packte. „Was mit Voldemort geschehen ist, weiß niemand! Er ist verschwunden. Doch ich kenne sein Verlangen zu den Dunklen Künsten, seine krankhafte Furcht vor dem Tod. Wenn es nicht sein Ende war …“
„Ich würde ihm nicht mehr gegenübertreten können“, unterbrach Severus. „Nicht mit dieser Schuld, mit diesem Hass auf ihn.“
„Um das Rätsel um Voldemorts Verschwinden lösen zu können, werde ich viel Zeit benötigen, aber wenn – stell dir vor – wenn er wiederkehren würde, was wäre dein größter Wunsch?“
Severus fletschte die Zähne. „Ihn ins Jenseits zu befördern!“
„Und genau das wird niemand von uns können, nicht wenn es nach der Prophezeiung geht, Severus. Voldemort hat den Jungen als Ebenbürtigen gezeichnet, aber Voldemort ist nicht durch dessen Hand gestorben. Das möchte ich einem nicht kalkulierbarem, magischen Zufall zuschreiben, nämlich der Macht, die der Dunkle Lord nicht kennt.“
Severus‘ Hände zitterten und er fragte flüsternd: „Du glaubst wirklich, er kehrt zurück?“
Mit seiner Hand drückte Albus einmal Severus‘ Schulter, bevor er von ihr abließ. Dann nickte er. „Die Hälfte der Prophezeiung hat sich erfüllt. Ich wäre ein Narr, würde ich glauben, die andere Hälfte würde sich in Luft auflösen.“
„Aber …“ Sein Gesicht vergrub Severus wie zu Anfang der Erinnerung in seinen Händen. „Ich halte es nicht aus, Albus. Ich will es nicht aushalten, nicht mein ganzes Leben lang.“
„Versprich mir, Severus, nichts Unüberlegtes zu tun.“ In freundschaftlicher Geste legte er eine Hand auf Severus‘ Rücken. „Du bist beurlaubt. Nimm dir Zeit für dich.“
Nebelschwaden umgaben Hermine und einen Moment später stand sie in Severus‘ unaufgeräumten Labor. Die Dampfschwaden aus dem Kessel, in dem Severus eine helle Flüssigkeit rührte, schlugen ihr ins und auch durchs Gesicht hindurch. Aufgeschlagen neben ihm auf dem Tisch lag das Buch mit der Anleitung für den Ewigen See. Er war entschlossen, seine Empfindungen abzutöten. Jeder seiner Handgriffe war präzise, jede Zutat korrekt vorbereitet.
Das gesamte Rezept für den Ewigen See hatte sie in Windeseile gelesen, auch die Anmerkungen des Heilers, der dieses Buch verfasst hatte.
Mit einer Kelle füllte Severus einen Kelch mit dem Ewigen See, an dem er nur kurz roch, bevor er sich an den Kopf fasste und die Augen schloss. Severus hatte einmal erwähnt, erinnerte sich Hermine, dass allein die Dämpfe des Trankes zerstörerische Auswirkungen haben könnten, weswegen er dagegen war, dass sie ihn braute.
Bevor Severus den Trank einnehmen konnte, wurde vollkommen unerwartet die verschlossene Tür durch einen Zauber aufgeworfen. Hermine hatte Albus noch nie so wutentbrannt erlebt.
„Ich sagte doch“, Albus kam näher, „du sollst nichts Unüberlegtes tun!“
„Was ich hier gebraut habe, ist wohl bedacht“, erklärte Severus gleichgültig.
„Aber keineswegs vernünftig! Bist du dem ausgesetzt“, er blickte auf den Kelch, „wenn auch nur kurz, dann hast du für immer alles verloren! Es gibt keine Heilung dagegen. Ich rate dir dringend davon ab, Severus.“
„Es ist die einzige Möglichkeit, meinen klaren Verstand wiederzuerlangen.“
„Unfug!“ Albus war laut geworden. „Du fürchtest dich davor, mit diesen Qualen leben zu müssen. Dabei bist du nicht der Einzige, der etwas Ähnliches erfahren musste und du weißt das.“
Severus wirkte verloren. Verloren wie ein Kind, das sich durch ein dunkles Haus tastete, weil ihm mit Lilys Tod das Licht genommen wurde.
Die Stimme des Direktors war milde geworden. „Das ist keine Lösung, Severus. Die Seele zu töten ist genauso verderblich, wie dem Körper das Leben zu nehmen.“
„Bedeutet mein Versprechen an dich, alles in meiner Macht stehende zu unternehmen, damit eine mögliche Rückkehr des Dunklen Lords verhindert wird, denn überhaupt nichts?“, wollte Severus wissen. „Ich habe mich dazu durchgerungen und mich bereit erklärt, die anderen im Auge zu behalten und da willst du mir diese eine Entscheidung, die das überhaupt ermöglichen kann, auch noch nehmen? Ohne das“, er hielt den Kelch in die Höhe, „bin ich keine Hilfe für dich. Ich wäre nur noch Treibgut von einem einst prächtigen Schiff, das an den Klippen zerschellte.“
„Du bist noch so jung, Severus. Du kannst es mit der Zeit überwinden.“
Severus schüttelte den Kopf. „Ich weiß, dass das nicht möglich sein wird. Dazu habe ich sie viel zu viele Jahre verehrt. Du sagst, ich wäre jung und trotzdem waren es bereits über dreizehn Jahre, Albus, in denen sich alles um sie drehte. Zwei Drittel meines Lebens sind längst tot. Zu wissen, dass es durch meine Schuld soweit kommen konn…“ Severus schluckte kräftig, doch er konnte seinen Kummer nicht verbergen, genauso wenig den Schluchzer, der ihm versehentlich entwich. „Und so wie jetzt wird es immer sein“, erklärte er gequält. „Gedanken an sie werden mich auch in Zukunft aus dem Gleichgewicht bringen. Sag mir, wie ich da noch von Nutzen sein kann, wenn die kleinste Erwähnung mich zu einem gebrochen Mann macht?“
„Du wirst noch weniger von Nutzen sein, wenn du dich deiner Seele beraubst, denn damit beraubst du dich auch der Gefühle, die dir überhaupt die Motivation geben, die Todesser auszuhorchen und Voldemorts Rückkehr zu verhindern. Du wärst nur noch eine leere Hülle, der alles vollkommen gleichgültig wäre.“ Albus war enttäuscht von Severus und machte keinen Hehl daraus. „Bevor du das da trinkst“, er deutete auf den Kelch in Severus‘ Hand, „verlasse bitte die Schule. Ich möchte den Kindern den Anblick eines wandelnden Leichnams ersparen.“
Paralysiert starrte Severus den Direktor an, bevor er dem Vorschlag nachkommen wollte und bereits an Albus vorüberging, doch der hielt ihn auf.
„Ich werde dich nicht davon abhalten können, nicht wahr?“ Hermine hörte heraus, dass Albus sich dessen sicher war. Seit der langen Legilimentik-Sitzung kannte er Severus mehr als nur gut. „Du würdest in einem Krankenhaus landen, Severus, denn mit diesem Trank wärst du zu nichts mehr fähig! Ist es das, was du sein möchtest? Jemand, der komplett hilflos ist? Du hast eine Menge Fehler in deinem Leben gemacht, das weiß ich, aber dieser würde deinen Fehltritten nur noch die Krone aufsetzen. Wenn es nach Einnahme des Trankes nichts mehr geben würde, das noch dein Interesse weckt, würdest du ihren Tod mit Füßen treten! Sie starb, um ihren Sohn zu retten. Du stirbst, um der Trauer zu entfliehen.“
Einen Moment lang sammelte sich Severus. Beide Männer sahen sich die ganze Zeit über nicht an.
„Was soll ich tun?“ Flehend erbat er eine Antwort vom Direktor.
Albus drehte sich zu Severus um und strich über seinen langen Bart, während er seinen jungen Freund musterte.
„Zwei Tränke, Severus. Einer, der die Seele zerreißt, doch zuvor ein anderer, der den Kern bewahrt.“
Unerwartet zog Albus ein Buch aus seinem Umhang. Ein Buch, das Hermine bestens kannte und lange studiert hatte. Es trug den Titel „Geistreiches“.
„Kapitel zehn“, sagte Albus, bevor er das Buch ohne einen weiteren Kommentar auf den Tisch legte und an Severus vorbei nach draußen ging.
Neugierig näherte sich Severus dem Buch, stellte seinen Kelch mit dem Ewigen See auf dem Tisch ab, um Kapitel zehn aufzuschlagen. Dieses Kapitel kannte Hermine in- und auswendig. Es hieß „Schützende Hände“ und behandelte die Herstellung verschiedener Schutztränke für einzelne Bereiche des Geistes und des Herzens.
Severus hatte sich an den Tisch gesetzt und er las und las, während die Erinnerung verblasste.
Im nächsten Abschnitt seiner Erinnerungen sah sie ihn an einen Tisch im Labor stehen. Vor ihm befanden sich zwei Kelche. Innerlich flehte Hermine, er sollte es nicht tun, aber bereits Geschehenes ließ sich nicht aufhalten.
Als Severus den ersten Kelch in die Hand nahm, blickte er mehrmals zur Tür hinüber, weil er mit Albus zu rechnen schien, der immer auf unerklärliche Weise wusste, was in seiner Schule vor sich ging. Albus kam nicht, um ihn aufzuhalten und so leerte er den Kelch mit dem Schutztrank, der den Kern seiner Seele bewahren sollte. Für einen Moment – und das brachte Hermine das erste Mal zum Lächeln – erstrahlte Severus in gleißender Farbenpracht, bevor das Licht wieder sanfter wurde. An seinem Brustbein hatte sich ein heller Lichtschein gebildet, der nach und nach erlosch. Bis auf diesen visuellen Effekt war keine Auswirkung zu sehen.
Mit erschreckender Gelassenheit griff Severus nach dem anderen Kelch, der den Ewigen See beinhaltete. Sein Gesichtsausdruck zeugte noch immer von seiner schweren Gemütserkrankung. Von ihrer Arbeit im Mungos war Hermine sich darüber bewusst, dass man solchen Menschen nur helfen konnte, wenn sie bereit waren, Hilfe anzunehmen. Gegen die Gleichgültigkeit, die diese Menschen innehatten, kam man schwerlich an. Hermine war sich sicher, dass Albus mehrmals mit Severus gesprochen haben musste, auch wenn nicht alle Unterredungen in dieser Sammlung von Erinnerungen gezeigt wurden.
Von der fixen Idee, den Ewigen See einzunehmen, war Severus nicht abzubringen. Er war entschlossen, kein Leid mehr spüren zu wollen, nahm dafür auch in Kauf, nicht einmal mehr Freude empfinden zu können.
Severus trank den Ewigen See in einem Zug leer und knallte den Kelch auf den Tisch. Dann wartete er, wartete auf die eintretende Wirkung, aber die blieb aus. Nach kurzer Zeit begann er damit, seinen Labortisch aufzuräumen, doch da, völlig überraschend, krallten sich beide Hände in den Stoff der Kleidung, die seine Brust bedeckte und er beugte sich nach vorn und schnaufte. Sein Gesicht war schmerzerfüllt und sehr bald, weil er es nicht mehr ertragen konnte, schrie er. Hermine fuhr bei diesem Schmerzensschrei zusammen. Es blieb nicht bei dem einen.
Ein unirdisch klingendes Geräusch, ähnlich eines Peitschenhiebs, erfüllte das ganze Laboratorium und Severus warf gleich darauf den Kopf nach hinten. Er presste die Zähne zusammen, doch der unterdrückte Schrei schlich sich in Form eines gurgelnden Lauts die Kehle hinauf. Ein weiterer Peitschenhieb und Severus schrie abermals auf. Seinen gesamten Oberkörper legte er auf dem Labortisch ab. Er umfasste sich mit seinen Armen, als wollte er seine Brust schützen, atmete dabei stoßartig. Erneut hallte ein Peitschenknall durch die Kerker, nur viel lauter und unheilvoller, und es klang so, als hätte dieser Hieb etwas zerrissen.
„OH GOTT“, schrie er aus voller Kehle. „Hilf mir“, flüsterte er gleich darauf winselnd. Nicht einmal Gott leistete ihm Beistand, wo Severus doch in diesem Moment das Kostbarste aller himmlischen Geschenke respektlos zerstörte.
Severus sank zu Boden und krümmte sich. Er rollte sich zusammen, versuchte eine Schonhaltung einzunehmen, mit der dieser Schmerz erträglich war, doch es fand sich keine.
Von diesem Anblick bis ins Tiefste ihres eigenen Herzens ergriffen kniete sich Hermine auf den Boden neben Severus, der noch immer von einer unermesslichen Qual heimgesucht wurde und sich wie in einem Todeskampf wandte. Beim nächsten zischenden Knall, der direkt aus Severus‘ Brustkorb zu kommen schien, bäumte er sich auf, als würde er mit einem Cruciatus gefoltert werden. Hermine hörte seine Zähne knirschen, so sehr presste er die Kiefer zusammen. Die Finger seine Hände krümmten sich ebenso wie sein ganzer Körper, der zusätzlich von einem unkontrollierbarem Zittern befallen wurde. Durch den nicht enden wollenden Schmerz rannen ihm durch fest geschlossene Augen Tränen an den Schläfen hinunter.
Mit einem lauten Krach wie von einem einschlagenden Blitz riss der Trank nun den ersten Teil der Seele sichtbar heraus. Hermine erschrak fürchterlich, weil Severus wie am Spieß schrie, als etwas strahlend Weißes sich aus seiner Brust löste. Ein großer Teil der Seele, vielleicht nur sichtbar wegen des zuvor eingenommenen Schutztrankes, flackerte unruhig einige Zentimeter über Severus hin und her; schien Halt zu suchen, der ihm jedoch vergönnt war. Severus öffnete gerade noch rechtzeitig die Augen, um mit ansehen zu müssen, wie sich das Heiligste seines Selbst in Luft auszulösen drohte. Kraftlos griff er nach dem nebelhaften Schemen. Seine Augen spiegelten das Entsetzen darüber wider, was er angerichtet hatte. Er schien die Ausmaße seines Fehlers erst in diesem Moment begriffen zu haben – in einem Moment, in dem es bereits zu spät war.
„Aufhören“, murmelte er gegeißelt. Der sterbende Teil seiner Seele schlang sich hilfesuchend um seine Hand, die er zurück an seine Brust führte, doch anstatt wieder von ihm aufgenommen zu werden, zersetzte sich der Seelenteil in der Luft und verging rückstandslos.
Einen Augenblick war Ruhe. Hermine hörte nur ihr eigenes Schluchzen. Mit einem Ausdruck der Fassungslosigkeit lag Severus auf dem steinernen Boden seines Labors und starrte mit nun sehr viel dunkleren Augen zur Decke hinauf. Schmerzen hatte er momentan offenbar keine. Hermine spürte, wie ihre Unterlippe zitterte und heiße Tränen aus ihren Augen quollen. Severus‘ Leid hatte ihr sehr zugesetzt. Hätte sie vor zwanzig Jahren schon gelebt und ihn gekannt, hätte sie alles in ihrer Macht stehende getan, um diese Gemütsverstümmelung zu verhindern, doch wenn Albus ihn schon nicht hatte abhalten können, dann wäre es unwahrscheinlich, dass sie es geschafft hätte.
Gerade hatte ihr Herz wieder einen erträglichen Rhythmus gefunden, tönte erneut ein reißendes Geräusch durch den Raum und Severus‘ Qual begann von Neuem. Immer wieder versuchte er, die losgelösten Seelenteile zu greifen und dazu zu bringen, nicht fortzugehen, doch jedes einzelne erstarb; manche von ihnen in seinen Händen. Hermine weinte offen. Die stockende Atmung schüttelte ihren Körper. Sie hatte sich nicht vorstellen können, auch nicht nach Alastors Bericht über einen Gefangenen, der von einem Dementor den Kuss erhalten hatte, wie herzzerreißend und grausam es selbst für den Betrachter sein würde, der Verschandelung einer Seele beizuwohnen. Seine Seele, das wusste Hermine nun, war verloren. Die Teile zurückzuholen war unmöglich und als sie sich darüber klar wurde, weinte sie nur noch mehr.
Der letzte weiß schimmernde Teil seiner Seele züngelte über Severus‘ Brust umher und versuchte sich, ähnlich wie die Magie, mit kleinen Armen irgendwo festzuhalten, doch der Ewige See wusste dies zu verhindern. Das strahlende Weiß verblasste, wie auch nach Lilys Tod Severus‘ Hoffnung verblasst war. Obwohl nun alles vorüber war, blieb Severus am Boden liegen. Schwer atmend blickte er erneut zur gewölbten Decke; diesmal mit pechschwarzen Augen.
Innerlich flehte Hermine, dass die Erinnerungen endlich ein Ende finden würden, denn mehr könnte sie nicht ertragen. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie das bereits Gesehene verkraftete. Sie spürte ihre heißen Tränen und sie wusste, dass sie auch in Wirklichkeit weinen musste.
Von dem Gespräch mit Albus und Severus bekam sie nur noch wenig mit. Zu sehr war sie von der Qual eingenommen, die Severus in ihren Augen gerade eben – in Realität vor über zwanzig Jahren – ertragen hatte. Albus‘ Anmerkung, dass Lucius Malfoy freigelassen worden wäre und Severus‘ nun disziplinierte und besonnene Art, dem Observationsvorschlag des Direktors zuzustimmen, erfasste sie nur bruchstückhaft.
Als es erneut dunkel wurde und keine weitere Erinnerung zu kommen schien, ließ Hermine in Gedanken von dem Gesehenen los, doch in Wirklichkeit löste sich ihr Griff vom Becken des Denkariums und sie fiel heulend und schluchzend rücklings zu Boden. Vor lauter Tränen konnte sie nichts sehen, konnte nicht einmal aufstehen, weil ihr diese schrecklichen Erinnerungen die Kraft geraubt hatten. Was sich ihr offenbart hatte, wollte sie aber unbedingt durchstehen, wollte es überwinden, denn nur so wäre sie in der Lage, ihm helfen zu können.
Unerwartet, aber dennoch ersehnt, fühlte sie Hände auf ihren Schultern, die sie in eine sitzende Position brachten. Ihr war egal, wer ihr in dieser Stunde beistand und so vergrub sie ihr Gesicht in dem schwarzen Umhang, den sie in ihrem eingeschränkten Blickfeld sehen konnte. Worte des Trostes rieselten auf sie hernieder, doch nur der Tonfall sorgte für die Erleichterung des Herzens, denn die Worte selbst verstand sie nicht. Sie spürte ein Taschentuch an ihrer Nase, mit dem derjenige sie säuberte. Gleich darauf wischte die gleiche Hand mit dem Taschentuch über eine Stelle am Umhang, auf der sie ein unangenehmes Sekret hinterlassen hatte. Hermine blickte auf und sah in die besorgten Augen von Harry, der noch immer einen Arm um ihre Schultern gelegt hatte und sie an sich presste. Plötzlich fühlte sie Lippen an ihrer Schläfe. Ginny hatte ihr eine Kuss gegeben und sich neben sie gehockt. Im Arm hielt sich Nicholas, bei dessen Anblick Hermine wieder heftig zu weinen begann, weil er sie an den kleinen Harry erinnerte.
Dass ihre beiden Freunde sich Zeichen gaben, damit Ginny ins Schlafzimmer gehen sollte, bekam Hermine nicht mit. Hermine ließ sich halten, ließ sich trösten und sammelte aus dieser Zuneigung neue Kraft. Die stockende Atmung hatte ihr Schwindel bereitet.
„Lass mich einen Moment liegen“, hauchte sie erschöpft. „Mir ist schwindelig, mir ist schlecht.“
Ihr Kopf landete auf einem weichen Kissen, das Harry von der Couch genommen haben musste. Sie lag auf dem Boden, die Augen auf die silbern funkelnden Muster gerichtet, die von den sich langsam bewegenden Erinnerungen im Denkarium an die Decke projiziert wurden und eine seltsam beschwichtigende Wirkung auf sie hatten. Harry blieb bei ihr. Er hielt ihre Hand und sagte kein Wort. Langsam wurde ihre Atmung ausgewogener. Harrys Daumen streichelte ihren Handrücken in einem gleichbleibenden Tempo.
Das Geräusch der Tür, die von einem zornigen Severus aufgeworfen wurde, hörte Hermine nicht. Auch nicht die beschwichtigenden Worte von Draco, der Severus gefolgt war, nachdem der bemerkt hatte, dass jemand in sein Büro eingedrungen war. Selbst Harrys ermahnenden Worte nahm sie in ihrem tranceähnlichen Zustand, der von der Sehnsucht nach Ausgeglichenheit herbeigeführt worden war, nur als leises Surren wahr.
Severus und Draco waren auf der Stelle still, als sie Hermine am Boden liegen sahen und die Situation als ernst einstuften. Voller Sorge ging Severus einen Schritt auf sie zu, stieß dabei mit dem Fuß an die leere langhalsige Phiole, die neben dem Denkarium abgestellt war. Nur er schien in diesem Augenblick zu wissen, was tatsächlich geschehen war und es war seine Schuld, dass sie sich in diesem Zustand befand.
Als er ihre unbeweglichen Augen erblickte, die im silbernen Licht des Denkariums glitzerten, waren die Erinnerungen an Lilys leblosen Körper so überwältigend stark, dass er sich mit vor Furcht ganz steifen Gliedern neben Hermine kniete. Was er damals bei Lily nicht gewagt hatte, fiel ihm bei Hermine leicht, und er berührte mit den Fingerspitzen zaghaft ihre vom Schreck ganz bleiche Wange. Ihre Augen waren nicht tot, sondern lebendiger denn je und blinzelten ein paar Mal und suchten umher, bis sie Severus erblickten.
Von all den Gefühlen, denen Severus an diesem Abend durch Harrys Magie ausgesetzt war, löste der Blick in Hermines Augen etwas in ihm aus, das er seit langer Zeit nicht mehr gespürt hatte.
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