von Muggelchen
Nachdem die goldene Magiekugel in seinen Körper eingedrungen war, erstarrte Severus zur Salzsäule. Seine Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen, was ihm ein andersartiges Aussehen verlieh; er wirkte fast ängstlich und schien das Schlimmste zu erwarten.
Der Anblick seines Kollegen erschreckte Harry. Was geschehen war, war ihm unbegreiflich. Ohne Stab hatte er sehr ungenau eine Handbewegung nachgeahmt, mit der er damals Voldemort besiegt hatte. Es war nicht einmal ein bestimmter Zauberspruch gewesen, mit der er den selbsternannten Dunklen Lord niedergestreckt hatte und auch eben war keine Silbe über seine Lippen gekommen. Ihn beschlich ein ungutes Gefühl. Harry war so fassungslos, dass er sich eine Handfläche über den Mund legen musste. Besorgt und ebenfalls vor Schreck gelähmt, blickte er zu Severus hinüber, der sich wiederum eine Hand an die Brust hielt. Mit einem Male geriet Severus ins Wanken. Die steinerne Wand in der großen Halle vereitelte einen Sturz, als Severus‘ Rücken und auch der Hinterkopf mit dem Mauerwerk kollidierte, ihn aber aufrecht hielt.
Entweder war Luna sehr hart im Nehmen oder mysteriöse Ereignisse wie dieses waren fester Bestandteil ihrer eigenen fantastischen Welt, denn sie behielt im Gegensatz zu Harry die Ruhe und ging auf ihren ehemaligen Lehrer zu. Der hatte bereits die Augen geschlossen und atmete schwer. Als Luna eine Hand auf seinen Arm legte, erschreckte er nicht. Seine Augen öffneten sich langsam. Anstatt sie anzusehen, blickte er benebelt in die Menge.
„Professor Snape?“ Sie wiederholte seinen Namen so oft, bis sein Verstand registrierte, dass er angesprochen wurde. „Professor Snape?“ Benommen wandte er seinen Kopf, bis er ihr nicht sorgenvolles, sondern sanftes Gesicht erblickte. Die Farbe ihrer Augen und die Sanftheit, die sie verbreiteten, erinnerten ihn an Weidenkätzchen. Trotzdem sein Scharfsinn durch den Vorfall mit dem Magieball noch betrübt war, war ihm ihr verzückter Blick nicht entgangen, als sie seine Augen begutachtete. Sie begann zu lächeln und eröffnete ihm leise gesprochen: „Es sieht aus, als wäre die Sonne durch die Wolken gebrochen.“
Was das zu bedeuten hatte, war ihm bewusst. Dennoch wandte er seinen Blick nicht beschämt von ihr ab. Noch zu umnachtet war sein klarer Verstand, den er sonst dazu benutzt hätte, sie mit verachtenden Worten zurechtzuweisen, bevor er aufgebracht den Raum verlassen würde. Ihr stand ins Gesicht geschrieben, dass sie sich aus für ihn unerklärlichen Gründen darüber freute. Erst als er zu Harry hinüberschaute, dessen Augen kurz davor standen, aus ihren Höhlen zu treten, da spürte er es: diese dumpfe Gefühl, als er an die Mutter seines jungen Kollegen denken musste. Jetzt war es notwendig, den Blick abzuwenden, denn die Erinnerung schmerzte ihn.
Nach und nach wurde Severus sich darüber bewusst, wo er sich befand und was eben geschehen war. Die vielen Menschen schienen nichts von dem mysteriösen Energiestoß bemerkt zu haben, denn sie feierten ausgelassen weiter. Eines fiel Severus sofort an sich auf, doch er wusste nicht, ob er diese Veränderung positiv oder negativ auslegen sollte. Beim Anblick bestimmter Dinge in diesem Raum war er nicht mehr empfindungslos. Das viele Essen in der großen Halle erinnerte ihn an die eigene Schulzeit und an seine jugendliche Vorliebe für Palatschinken. Sein Blick fiel auf Pomonas Kräuterkundelehrling. Es war ein unangenehmes Gefühl zu wissen, dass der sich einmal vor ihm gefürchtet hatte.
Neville erkämpfte sich gerade einen Weg durch die Menge zu Harry, doch der blickte noch immer Severus an; war völlig handlungsunfähig.
„Geht es Ihnen gut?“, hörte Severus die Stimme der jungen Frau, die noch immer an seiner Seite stand. Severus nickte ihr zu, bevor er sich von der Wand abstieß, um ihr zu zeigen, dass er auf beiden Beinen stehen konnte. Derweil hatte Neville den Sucher von Hogwarts erreicht und sprach ihn an, aber es schien so, als würde Harry nichts von all dem hören, was Neville ihm zu sagen hatte. Bevor Harry noch die Möglichkeit bekam, ihn anzusprechen, ergriff Severus die Gelegenheit, um den Rückzug anzutreten. Zu viele Empfindungen auf einmal machten sich in ihm breit. Besonders der Anblick von Black appellierte an seinen sonst immer unterdrückten Fluchtreflex.
Den gleichen Weg, den er gekommen war, ging Severus zurück, traf dabei nochmals auf Viktor Krum, der in ihm eine wenig erfreuliche Assoziation zu Igor Karkaroff weckte. Er bemerkte auch Sibyll in der Nähe, weswegen sich sein Magen drehte – nicht wegen ihrer Person, sondern aufgrund der Erinnerung an die Prophezeiung, die er damals belauscht hatte. Schuldgefühle waren die wohl qualvollsten aller Gefühle. Bevor ihn all die emotionalen Einflüsse überwältigen würden, wollte er die große Halle verlassen. Sein Schritt wurde schneller, aber auch holpriger. Mit einer Hand tastete er sich beim Gehen an der Wand entlang und blickte dabei zu Boden, um nicht noch mehr Sinnesregungen ausgesetzt zu sein. Als er einmal aufblickte, um an einigen Menschen vorbeizuschleichen, fiel sein Blick auf Albus. Die Hilfe, die er von seinem alten Freund erhalten hatte, eine zweite Chance, drängte sich in den Vordergrund. Der sofort einsetzende Rückblick in vergangene Tage, nur diesmal mit allerlei ergreifenden Empfindungen verknüpft, die er sonst stets hatte nüchtern betrachten können, brachte ihn ins Wanken. Bevor er fallen konnte, hielt er sich an der nächst besten Person fest.
Erschrocken über die plötzliche Last auf seinen Schultern drehte sich Remus um und griff aus einem Reflex heraus zu, um der Person Halt zu geben. Es war Severus gewesen, der sich hörbar atmend festhielt. Sein Blick war starr auf den Boden gerichtet, sein Gesicht leichenblass. Schweiß stand ihm auf der Stirn.
„Severus, was ist los?“ Gleich nach dieser Frage stemmte sich Severus von ihm weg. Er schaute ihn noch immer nicht an, blinzelte nicht ein einziges Mal, sondern hielt den glasigen Blick auf den Boden gerichtet. „Severus?“
Es war Severus unerklärlich, warum er Sorge in Remus‘ Stimme vernehmen konnte und noch weniger konnte er begreifen, warum ihn das berührte.
Mit wackligen Beinen hatte Severus seinen Weg fortgesetzt, wurde aber skeptisch von Remus beäugt, der ihm die ganze Zeit hinterherblickte.
Nahe an der Tür stand Draco, der sich mit Susan unterhielt.
„Mutter sagte, du wärst auf der falschen Tribüne gewesen?“
Wortlos gab sie ihre Verwechslung zu. „Der Babysitter ist zu spät gekommen – ich natürlich zum Spiel auch“, erklärte Susan, „und Pfützensee war schon draußen. Ich wollte nichts verpassen und da habe ich die nächst beste Tribüne genommen. Es war die der Weasleys. Von dort konnte ich alles sehr gut sehen.“
„Die Hauptsache ist, dass du da warst und mich hast fliegen sehen.“
Draco nahm ihre Hand, ließ aber sofort von ihr ab, als er ihren verwirrten Gesichtsausdruck wahrnahm. Sie blickte an ihm vorbei, so dass er sich umdrehte. Fast im gleichen Moment fühlte er eine schwere Hand auf seiner Schulter. Severus war bei ihm und schnaufte, als hätte er den Weg von der großen Halle bis hoch in Trelawneys Klassenzimmer und wieder zurück überwinden müssen. Mindestens die Hälfte des Gewichts seines Paten lastete auf ihm. Dass es Severus nicht besonders gut ging, konnte man gar nicht übersehen.
„Alles in Ordnung?“, fragte Draco, obwohl offensichtlich war, dass dem nicht so sein konnte.
„Bring mich auf mein Zimmer.“
Die Worte klangen so verletzlich, dass Draco zu Susan hinüberschaute und ihr mit einem Blick zu verstehen gab, dass er der Aufforderung seines Paten nachkommen würde. Severus ließ von seiner Schulter noch immer nicht ab. Das Gegenteil war der Fall, denn er stützte sich mehr und mehr auf ihn, so dass er selbst keinen sicheren Gang aufwies. Langsam, so dass es so aussah, als würde Draco sich gemütlich mit Severus, der ihm freundschaftlich eine Hand auf die Schulter gelegt hatte, unterhalten, näherten sie sich der Flügeltür der großen Halle.
Mindestens achtzig Menschen befanden sich zwischen Severus und Harry. Harry stand noch immer neben Neville und bekam nicht mit, was sein Freund ihm sagte. In Gedanken wiederholte er ständig, was eben geschehen war und er fragte sich, wie es dazu hätte kommen können, warum das erst jetzt geschehen war und nicht schon vorher. Er befürchtete, er hätte womöglich Severus umgebracht, auch wenn der gerade seelenruhig von dannen gezogen war. Es stellte sich ihm die Frage, ob ein Zauber, der bei Voldemort zum Tod geführt hatte, bei Severus ähnliche Auswirkungen haben könnte. Für Severus‘ Ableben wollte er auf keinen Fall verantwortlich sein. Harry hatte genau solche Angst wie damals zu Kriegszeiten, als die Lage ungewiss war und niemand mit Sicherheit sagen konnte, ob man während eines Gefechts einen Freund verloren hatten oder nicht. Schon bei dem Gedanken daran drehte sich sein Magen um.
„Harry? Ist dir schlecht? Du siehst aus, als müsstest du dich gleich übergeben“, hörte er Neville sagen.
„Ich fühl mich auch so“, brachte er kränklich heraus. „Wo ist Severus?“
Hilfsbereit hielt Neville Ausschau, musste aber nach einer Weile feststellen: „Keine Spur von ihm. Sonst ist er immer in Hermines Nähe, aber die hockt bei Ginny und den Zwillingen.“ Harry bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen, was Neville erschreckte. Er hatte Harry damals häufig erlebt, wenn der am Ende zu sein schien und genauso wirkte er jetzt. „Harry?“
Harry zitterte wie Espenlaub. Seine Magie hatte ihm einen Streich gespielt und sich verselbstständigt. Das Opfer der unüberlegten Darbietung seiner Zauberkünste war Severus gewesen.
„Ich glaube“, flüsterte Luna von der Seite, „dass er seine Ruhe braucht.“
„Wo ist er hin?“, wollte er unbedingt wissen, damit er sich selbst davon überzeugen konnte, dass es Severus gut ging. Dafür nahm er sogar in Kauf, von ihm verhext zu werden.
„Ich habe ihn gesehen. Draco begleitet ihn. Er ist also nicht allein.“
„Ich geh zu ihm!“
Schon begann Harry damit, sich durch die Menschenmenge zu wühlen. Wenn er angesprochen wurde, was häufig geschah, entschuldigte er sich und ging einfach weiter, doch schnell kam er nicht voran.
Remus, der weiterhin ein waches Auge auf Severus geworfen hatte, bemerkte schnell, dass Draco mit dem zwar nicht schweren, dafür aber großen Mann überfordert war. Severus und sich selbst konnte er nur mit viel Mühe auf den Beinen halten. Remus entschuldigte sich bei Arthur und Molly, um Draco und Severus zu folgen, die gerade durch die Tür gegangen waren.
„Achtung, Stufen“, warnte Draco, doch Severus hatte es nicht gehört. Zu sehr war er mit seinen Gedanken und Gefühlen beschäftigt, so dass er falsch trat und beinahe gefallen wäre. Nur beinahe, weil sich in diesem Moment von hinten zwei Arme um ihn schlangen.
„Immer langsam mit den jungen Pferden.“ Remus hatte ihn gepackt und spielte bei den Menschen, die sich hier in der Eingangshalle aufhielten, die Situation so hinunter, dass sie denken mussten, Severus hätte womöglich zu viel getrunken. Kaum einer wusste, dass er nie über den Durst trank.
Mehrmals sprach Remus ihn an, doch Severus antworte nicht. Draco hingegen klärte ihn darüber auf, dass Severus in seine Räume gehen wollte, die er allein nicht zu erreichen imstande war. Remus nickte und ging direkt neben Severus, um ihn unauffällig am Arm zu packen und ihm Halt zu geben.
Während die drei den Weg in die Kerker einschlugen, wurde Harry von einer Gruppe Fans aufgehalten, die sich zuvor auf Viktor gestürzt hatten und nun von ihm Unterschriften wollten. Die Freunde und Familien seiner Freunde waren teilweise nicht anders als alle anderen Menschen, dachte er missgestimmt und schlug die Autogrammwünsche in den Wind. Im Moment gab es Wichtigeres. Er musste sich vergewissern, dass Severus nicht zu Schaden gekommen war.
Auch Hermine suchte Severus und wanderte in der großen Halle umher. Sie suchte dunkle Nischen und Ecken ab, doch keine Spur von ihm. Von dem, was geschehen war, hatte sie nichts bemerkt.
„Herminne!“, rief plötzlich jemand.
Hermine stutzte und drehte sich um. „Viktor.“ Sofort wurde sie an ein paar nette Stunden erinnert. „Wie geht es dir?“ Um zu unterstreichen, dass sie nicht wie all die anderen weiblichen Wesen auf diesem Fest flirtete, fügte sie schnell noch hinzu: „Und der Familie? Die ist ja wieder reichlich gewachsen, wie ich deinem letzten Brief entnehmen konnte.“
Offenbar konnte er nur ihren Namen noch immer nicht korrekt aussprechen, denn ansonsten war von seinem Akzent kaum etwas zu hören. „Es ist schön, eine eigene Familie zu haben. Die beiden Älteren haben ich mitgebracht, die anderen vier sind bei meiner Frau geblieben.“ Sie ahnte es bereits, auf was das Thema hinauslaufen würde, doch sie fand keine Gelegenheit, ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen, denn er fragte bereits: „Wie sieht es bei dir aus?“
Über eine eigene Familie konnte sie nichts erzählen, aber seine Frage war auch nicht nur darauf gemünzt, also konnte sie ausweichend antworten. „Ich habe dir ja geschrieben, dass ich meine Heilerausbildung beendet habe. Meinen Meister in Zaubertränken habe ich bei Severus gemacht.“ Sie wollte noch anmerken, dass sie auch eine Apotheke besaß, doch er hatte sein Augenmerk auf etwas anderes gerichtet.
„Eine Ausbildung bei Snape?“
„Ja“, bestätigte sie knapp und erwähnte das, was sie zuvor schon mitteilen wollte. „Ich besitze jetzt eine kleine Apotheke.“
„Ganz allein?“
„Hoffentlich nicht mehr allzu lange“, murmelte sie, doch er hatte es gehört und blickte sie fragend an. „Ich habe Severus angeboten, bei mir einzusteigen.“
„Ah“, machte Viktor, der erleuchtet schien. Sein Verhalten erklärte er ungefragt. „Ich habe vorhin mitgehört, dass Professor Dumbledore damit rechnet, sich demnächst um einen neuen Lehrer kümmern zu müssen.“
„Dumbledore?“, fragte sie verdutzt nach. Wusste der Direktor bereits mehr als sie selbst?
„Er sagte auch, dass Harry nicht vorhätte, sehr viel länger hier zu bleiben.“
Sie nickte. „Ja, das stimmt. Harry brauchte nach dem Krieg Ruhe und was eignete sich da besser, als ein Aufenthalt in Hogwarts? Hast du Harry oder Severus gesehen?“
„Nein.“ Viktor schaute sich um und bemerkte Ron. Er nickte einmal in entsprechende Richtung. „Ron und seine neue Freundin?“ In die gleiche Richtung blickend erspähte sie Ron und Angelina, bevor sie nickte. „Und wie lange bist du schon mit ihm zusammen?“
Über die Frage runzelte Hermine die Stirn und fragte sich, wen Viktor meinen könnte, bevor sie nachhakte: „Severus?“
„Ja.“
Sie konnte nicht mehr antworten, denn Viktor wurde mit einem Male von dem Schwarm Bewunderer umringt, die von Harry abgewiesen worden waren.
„Wir sehen uns noch oder schreiben uns“, sagte Viktor verabschiedend, denn auch Mr. Whitehorn wollte ihn für sich beanspruchen und verwickelte ihn in ein geschäftliches Gespräch. Hermine schlenderte derweil nachdenklich in der großen Halle umher und war nicht einmal darüber erschrocken, dass man sie und ‘ihn‘ als Paar sah.
Ein Stockwerk unter der großen Halle hatten Draco und Remus es geschafft, Severus in sein Wohnzimmer zu befördern. Kaum war er in seinem Territorium, richtete sich Severus auf und marschierte strengen Schrittes in sein Schlafzimmer, was besonders Remus verdutzte. Nachdem die Tür knallend geschlossen worden war, blickte er zu Draco hinüber.
„Er hat nicht zu viel getrunken?“
Draco schüttelte den Kopf. „Nein, da muss irgendwas passiert sein.“
In seinem Schlafzimmer hatte Severus sich erschöpft auf das Bett gesetzt, sein Kopf lehnte an einem Bettpfosten am Fußende und die Augen hatte er geschlossen. Es war egal, an was er denken musste: Alles war mit Emotionen behaftet, so dass er gewillt war, seinen Kopf mit Okklumentikübungen zu leeren. Dafür mangelte es ihm unglücklicherweise an Konzentration. Vor seinem inneren Auge wiederholte sich immerzu der Moment, als er von Harrys Goldkugel getroffen worden war. Im ersten Augenblick war es Schmerz gewesen, den er verspürt hatte, gleich darauf jedoch der Drang, sich von Mensch und Welt abzusondern, um der unglaublichen Anspannung des Denkens und Redens zu entkommen. Doch auch hier, allein in seinem Zimmer, machte sein Geist seinem Herzen Luft. Bilder aus fast vergessenen Tagen fluteten seinen Kopf. Mit einem Male konnte er nicht genug von den Gefühlen bekommen, die jede Erinnerung begleiteten und endlich wieder lebendig machten. Er sah seine Mutter, die mit ihm lachte, ihm das Zaubern beibrachte oder mit ihm zusammen im Garten saß, um ein Buch zu lesen. Es waren unzählige Erinnerungen, die er sich vor Augen hielt, um zu fühlen, was er damals schon gefühlt hatte, bevor er sich mit einem Trank genau diese Fähigkeit genommen hatte. Viele Erinnerungen an Lily waren nicht niederdrückend, wie er es befürchtet hatte, zumindest nicht die, als er mit ihr in Hogwarts im Gras saß und für Zaubertränke lernte oder als sie auf dem Hof zusammen spielten.
Die Erinnerungen an die Zeit nach dem Ewigen See bargen schöne, wie auch böse Überraschungen in sich. Erst jetzt, nachdem Harrys Magie nicht nur ihre Fühler nach ihm ausgestreckt, sondern ihn mit voller Wucht überrannt hatte, war er überhaupt imstande, die letzten zwanzig Jahre vollkommen neu zu erleben, neu zu fühlen. Viele der Erinnerungen brachten ihm alles andere als Wonne, doch da waren auch welche aus dem letzten Jahr, an denen er viel länger festhalten wollte; welche, die das Sehnen und Trachten seines eigenen Herzens zum Ausdruck brachten.
Plötzlich fühlte er eine Hand auf seiner Schulter. Das war der Moment, in dem ihm bewusst wurde, dass er seine Augen geschlossen hatte. Doch auch, nachdem er sie geöffnet hatte, wollte sich das Bild vor ihm nicht scharf zeichnen. Um den Schleier zu lüften, rieb er seine Augen. Sein Handrücken war feucht. Draco ignorierte diese Schwäche, wofür er ihm dankbar war.
„Severus?“
„Wie bist du reingekommen?“ Severus verfluchte, dass seine Stimme sehr genau seine Gefühlslage wiedergab, denn sie klang verwundbar und gleichzeitig berührt. Draco schnaufte, eine Eigenart, die er sich von ihm abgeschaut haben musste, dachte Severus.
„Du hast mir all deine Verschluss-Zauber beigebracht, auch die Gegenzauber.“
Stille trat ein, die in Severus Augen sogar für ein Frieden und Ausgeglichenheit sorgte, als sein Patensohn, der sich um ihn kümmern wollte, einfach nur bei ihm blieb und somit die Einsamkeit vertrieb, die ihm in den letzten Jahren nie etwas bedeutet hatte, aber jetzt kaum zu ertragen war. Nach vielen Minuten zog sich Draco ungefragt die Schuhe aus, um sich mit dem Rücken an das Kopfende zu lehnen, wobei er ein Bein angewinkelt auf das Bett legte.
Genau wie Severus dachte auch Draco viel über die letzten Jahre nach, während sie still beieinander saßen. Die Situation erinnerte ihn an etwas, das er ansprechen wollte, doch andererseits wollte er die Ruhe nicht unterbrechen, die Severus offenbar dringend nötig hatte. Trotzdem ließ es ihn nicht los.
„Es ist wie damals“, sagte Draco leise. Severus wandte seinen Kopf und erwartete eine genaue Erklärung. „Ich meine wie damals, als wir beide unterwegs waren. Wir saßen zusammen auf dem Bett, lasen oder aßen und machten uns Gedanken über den nächsten Tag.“
„Du hast mich damals gehasst.“
Von den Worten seines Patenonkels vor den Kopf gestoßen hielt er dagegen: „Hab ich nicht!“ Weil Severus‘ Augenbraue ihn einen Lügner nannte, musste Draco lachen. „Na gut, das erste halbe Jahr vielleicht, aber danach nicht mehr.“
„Du warst schwierig“, warf ihm gerade Severus zu, der selbst nicht leicht zu handhaben war.
„Ich wusste nicht, wie mir geschieht. In der einen Minute haben wir noch Hogwarts überfallen und in der anderen entpuppst du dich als Verrä… Ich meine …“
„Ich weiß, was du meinst. Muss ein Schock für dich gewesen sein.“
Draco seufzte. „Ich hatte Angst, dass unsere Flucht alles nur noch schlimmer macht.“
Wenn Voldemort von seiner Unfähigkeit auf dem Astronomieturm erfahren hätte, dann hätte er büßen müssen, das wusste Draco. Vor diesem Zorn hatte Severus ihn beschützt. Wieder waren beide in Gedanken versunken, bis dieses Mal Severus das Wort ergriff.
„In meinem Wohnzimmer auf dem Beistelltisch liegt eine Ledermappe. Bringst du sie mir?“
Draco stand bereits auf, doch nach drei Schritten hielt er inne. „Du sperrst aber nicht die Tür mit einem mir unbekannten Zauber zu, nachdem ich rausgegangen bin?“
„Bring sie mir“, wiederholte Severus gelassen.
Mit der ledernen Mappe in der Hand kam Draco zurück ins Schlafzimmer und hielt sie Severus entgegen, doch der sagte nur: „Lies es und sag mir, was deine geschäftlicher Meinung ist.“
Am Kopfende machte Draco es sich bequem, bevor er die Mappe aufschlug und mit einem Vertrag konfrontiert wurde, den er aufmerksam las. Dass ihm an einigen Stellen der Mund offen stand, bemerkte er nicht.
„Wie ist deine Meinung?“
Draco blickte auf. „Ich würde sagen, es ist ein sehr großzügiges Angebot.“
„Und das Kleingedruckte?“
Als hätte er es überlesen, suchte Draco den Vertrag nach einem Haken ab, doch er fand keinen. „Es gibt nichts Unseriöses an diesem Kontrakt. Im Gegenteil, Severus. Dir wird nicht einmal eine finanzielle Beteiligung auferlegt.“
„Sie wird es vergessen haben“, murmelte Severus, doch Draco schüttelte den Kopf.
„Vielleicht wollte sie dir die Entscheidung einfach nur leicht machen.“
Einen Augenblick überlegte Severus gedankenverloren, bevor er sein Patenkind noch etwas fragte. „Was sagst du dazu?“
„Ich würde meinen, sie hat dich gern.“
„Nein“, kam es schneller als gewollt, „ich meine, ob ich annehmen soll.“
Draco grinste. „Wenn du es nicht tust, unterschreibe ich! Wo ist deine Feder?“
„Gib her!“
Severus riss ihm die Mappe aus der Hand, um sich den Inhalt nochmal anzusehen. Selbst beim Anblick des Vertrags eröffneten sich Severus vollkommen neue Empfindungen, obwohl es gar nicht so lange her war, als sie ihm dieses Angebot gemacht hatte. Erst jetzt begriff er, wie zuvorkommend sie war. Trotz seines anfangs ablehnenden Verhaltens war sie weiterhin gewillt, ihn an ihren Träumen teilhaben zu lassen.
„Dann willst du Hogwarts verlassen.“ Draco hatte es nicht als Frage gestellt, denn für ihn schien es festzustehen.
„Mir bleibt nichts anderes übrig, wenn ich das“, er hob die Mappe kurz an, „unterzeichnen sollte.“
„‘Sollte‘? Du musst, Severus! Das trifft doch ganz und gar deine Vorlieben oder etwa nicht?“
Ein lautes Pochen war an der Tür zu hören, weswegen beide aufschreckten.
„Ist Remus noch draußen?“, wollte Severus wissen.
Draco schüttelte den Kopf, als es nochmal heftig an der Tür klopfte, bevor sie von einem nicht gängigen Zauberspruch aus den Angel gehoben wurde und mit einem lauten Krach auf dem Boden landete. Harry stand im Türrahmen und atmete heftig. Sein Gesicht war weiß wie das einer marmornen Büste, die einen griechischen Helden darstellte. Den Stab senkte er wie in Zeitlupe.
Als Harry die beiden friedlich auf dem Bett sitzen sah, fiel ihm ein Stein vom Herzen, der mit einem polternden Lärm auf den Boden aufschlug. ‘Falsch‘, dachte Harry, ‘das war die Tür gewesen.‘
„Entschuldigung“, sagte er kleinlaut, konnte dabei seinen Blick nicht von Severus abwenden. „Ich habe geglaubt, ich hätte Sie umgebracht.“
Erschrocken meldete sich Draco zu Wort. „Habt ihr euch etwa duelliert?“
Ohne auf Dracos Frage einzugehen richtete Severus das Wort an den reuegeplagten Eindringling. „Es geht mir gut“, versicherte er mit milder Stimme, was Harry erleichterte. Severus schien nicht sauer zu sein.
„Ich weiß nicht, wie das geschehen konnte.“ Völlig verunsichert schüttelte Harry den Kopf. „Das war keine Absicht, wirklich nicht!“
„Ist schon gut“, beschwichtigte Severus, doch Harry war nicht mehr zu bremsen.
„Wie geht es Ihnen? Tut Ihnen was weh? Ich hole am besten Poppy!“ Er drehte sich bereits um, da hielten Severus‘ harschen Worte ihn auf.
„HARRY!“ Er drehte sich zu Severus, der mit sanfter Stimme beteuerte: „Es geht mir ausgezeichnet. Kein Grund, die Pferde scheuzumachen.“ Harry nickte wie ein verschüchtertes Kind, dem man beibrachte, es wäre nicht so schlimm, mit dem Fußball das Kellerfenster getroffen zu haben. „Am besten gehst du wieder in die große Halle und feierst noch ein wenig.“
Irgendetwas an dem Satz brachte Harry dazu, breit zu lächeln. Nachdem er das, was Severus gesagt hatte, in Gedanken wiederholte, war ihm klar, was ihn so freute. Severus hatte ihn geduzt. Wenn die Magieentladung das zustande gebracht hatte, dann war wirklich alles in Ordnung, dachte Harry im ersten Moment. Im zweiten Moment wurde er skeptisch.
„Weiß du, was es war?“, fragte er nicht nur freiheraus, sondern auch mit persönlicher Anrede, die ihm nicht explizit gestattet worden war.
Severus schüttelte den Kopf, blickte dann auf die Mappe mit dem Vertrag. „Ich weiß nicht, was vorhin in der großen Halle geschehen ist.“
„Auf diese Weise habe ich Voldemort besiegt.“ Nach Harrys Worten blickten Draco und Severus gleichermaßen überrascht auf, so dass Harry Brief und Siegel gab. „Ich schwöre, das war genau dieselbe Magie, nur diesmal ohne Zauberstab.“
„Dann“, Severus legte seinen Kopf schräg, „darf ich mich glücklich schätzen, mehr ertragen zu können als Voldemort.“
„Das ist nicht witzig, Severus“, winselte Harry. „Ich habe geglaubt …“
„Wirke ich etwa nicht sehr lebendig?“
Hier musste Harry sich belehren lassen. Severus sah lebendig aus, wenn auch ein wenig mitgenommen.
„Ist sonst noch etwas, Harry?“
„Ich …“ Er wollte noch nicht gehen, falls Severus‘ Zustand sich doch noch verschlimmern sollte. Ein Gesprächsstoff musste her. „Ich konnte heute meine Gabe kontrollieren!“
Draco hörte der Unterhaltung interessiert zu und blickte Harry an, als Severus die Frage stellte: „Heute? Wann und wie hat sich das geäußert?“
„Kurz bevor ich den Schnatz gefangen habe, wünschte ich mir, nur noch ihn sehen zu können und plötzlich war alles andere verschwunden. Die Menschen auf den Zuschauerrängen, die anderen Spieler, die Geräusche. Ich konnte nur Schemen erkennen und ich glaube, das waren die anderen.“
„Einfach so?“ Severus hob beide Hände in verwirrter Geste. „Du wolltest es und es passierte? Warum ist das vorher nie aufgetreten?“
Harry hob und senkte die Schultern, während er über eine Antwort nachdachte. „Es gab bisher keine Situationen, wo ich so etwas wollte oder wo es mir nützlich gewesen wäre.“
„Hey Harry“, Draco hatte sich zu Wort gemeldet. „Du solltest Profispieler werden!“
„Nein, das wäre unfair“, winkte er ab, doch Draco grinste nur verhalten.
„Wenn ich deine Gabe hätte, würde ich sofort bei Eintracht Pfützensee unterschreiben!“
„Aber das ist nicht gerecht.“ Harry stockte, bevor er lächeln musste. „Wenn ich allerdings bedenke, aus welchem Haus du kommst, wundert es mich nicht, dass du das ausnutzen würdest.“
Seine Sorge darüber, dass der Vorfall mit der Magiekugel doch einen Schaden angerichtet haben könnte, sah man Harry an. Er blickte schuldbewusst zu seinem Kollegen hinüber, der ihn daraufhin mit einem Augenrollen bedachte. Harry gab auf.
„Dann geh ich mal wieder. Wir sehen uns Morgen“, verabschiedete er sich sichtlich beruhigt, denn er bekam wieder gesunde Farbe ins Gesicht. Bevor er die beiden allein ließ, reparierte er die Tür mit einem Zauberspruch.
Harry machte sich zurück auf den Weg in die große Halle und wenn er die erreicht hätte, würde er sich sicherlich über Hermine wundern, so wie Sirius es gerade tat. Sie erinnerte ihn momentan sehr an das Foto, das er bei Ginny vor dem Papierkorb gerettet hatte. Das Bild, auf dem Hermine auf den Stufen des Korbflechters saß, umring von dessen Handarbeit, und dabei so traurig aussah. Sie stand an die Wand gelehnt und hielt in einer Hand ein Glas. Sofern das Glas es zuließ, hatte sie ihre Arme verschränkt und lauschte dabei der Musik. Hermine schmollte, als sie die tanzenden Paare beobachtete.
Mit nur sechs Schritten war Sirius bei ihr.
„Was soll das lange Gesicht?“
Sie zog nur noch mehr einen Flunsch. „Ach, nichts.“
„So sieht ‘nichts‘ aus? Komm schon …“
Sie schnaufte, was ihm den Geruch von Alkohol entgegenschlug. „Es ist nichts!“
„Ah“, machte Sirius, der ihr natürlich nicht glaubte und keinen Hehl daraus machte. „Ist es wegen Krum? Ich habe gehört, ihr wart mal …“
„Zusammen? Waren wir nie richtig. Er hat mich gemocht, weil ich ihm als Einzige nicht wie eine liebestrunkene Irre nachgestiegen bin.“
Sirius musste lachen, hielt sich aber zurück, weil sie ihn böse anschaute. „Warum stehst du hier, anstatt dich mit deinen Freunden zu unterhalten?“
„Weil die“, sich blickte demonstrativ auf die Tanzfläche, „anderweitig beschäftigt sind!“
„Verstehe. Und deswegen stehst du hier mutterseelenallein und spülst deinen Kummer hinunter mit …“ Er stierte in ihr Glas, so dass sie seinen Satz vervollständigte.
„Kürbisschnaps.“
„Oha, ist der nicht ein wenig kräftig?“
„Will ich doch hoffen! Minerva hat ihn mir ans Herz gelegt.“ Sie nahm einen Schluck und verzog das Gesicht. Der Alkohol zog ihr fast die Schuhe aus.
„Wollen wir zusammen tanzen?“
Es war offensichtlich, dass er sie nur aus Mitleid gefragt hatte. „Die Frage sollte heißen“, verbesserte sie sarkastisch, „‘Wollen wir zusammen schwanken?‘. Das kann ich im Moment richtig gut. Was meinst du, warum ich an der Wand lehne?“
Plötzlich rief jemand Hermines Namen. Es war Harry, der auf sie zugerannt kam.
„Hermine, es ist etwas geschehen, was …“ Weil Sirius so aufmerksam zuhörte, stoppte Harry sich selbst. Sein Patenonkel sollte nichts von dem mithören, was Severus betraf.
„Was ist geschehen?“, fragte sie missgelaunt nach.
„Severus, er ist in seinem Zimmer.“
Von Sirius und Hermine wurde er einen Moment lang schräg angesehen, bis sie den Kopf schüttelte. „Was für ein ungewöhnliches Ereignis!“ Sie schnaufte und nahm noch einen Schluck.
„Hermine?“
„Hat sich nicht einmal verabschiedet“, murmelte sie gekränkt.
„Es ging ihm nicht gut, gar nicht gut. Ich komme gerade von ihm.“
Hier horchte sie auf. „Was hat er denn?“
„Es war …“ Er blickte zu Sirius hinüber und versuchte, sich anders auszudrücken. „Vorhin war etwas geschehen und …“ Wieder schaute er zu seinem Patenonkel, der die Augen verdrehte.
„Ich hab ja verstanden, dass ich eine Fliege machen soll.“
Sirius grinste frech und ging. Als er außer Hörweite war, konnte Harry weitererzählen.
„Hermine, das hättest du sehen müssen! Luna hat’s gesehen und natürlich Severus“, sagte Harry so schnell hintereinander gesprochen, dass Hermine kaum noch mitkam. „Es hat sich Magie von mir gelöst und die ist in Severus verschwunden.“
„Wie bitte?“ Sie war ganz aus dem Häuschen.
„Ich hab gedacht, dass ich ihn umgebracht hätte, aber es geht ihm soweit gut.“ Aufgeregt stemmte sich Hermine von der Wand ab und wollte schon los, da hielt Harry sie auf. „Draco ist bei ihm und ich denke, so wie es ausgesehen hat, wird er Severus nicht allein lassen. Ich wollte nur, dass du es weißt.“
„Ich werde trotzdem zu ihm gehen.“
Harry nickte verständnisvoll. „Ich kann es dir nicht verbieten.“ Unterschwellig hörte man heraus, dass er ihr davon abriet. „Vielleicht solltest du erst morgen Früh wieder mit ihm reden, wenn er erholt ist. Er sah ganz schön mitgenommen aus.“
Völlig perplex schüttelte sie den Kopf, aber entgegen ihrer Hoffnung, davon nüchtern zu werden, drehte sich der Raum nur noch mehr.
„Ich glaub es einfach nicht“, brabbelte sie. „Deine Magie?“ Er nickte. „Wie hast du das angestellt?“
Er erzählte ihr, wie es zustande gekommen war und dass er davon überzeugt war, es wäre die gleiche Magie gewesen, mit der er Voldemort besiegt hatte.
Ihre Augen wurden ganz weit. „Ich sehe nach, wie es ihm geht!“
Schon war sie verschwunden, wenn auch leicht wankend.
In den Gängen des Kerkers angekommen machte die kühle Luft ihren Kopf klarer. Harrys Ratschlag, erst am nächsten Tag nach ihm zu schauen, überdachte sie nochmals. Sie kam zu dem Entschluss, dass sie sich ihm nicht im angetrunkenen Zustand zeigen wollte. In seinem Büro oder Labor würde sie sicherlich einen Neutralisierungstrank für den im Blut enthaltenen Alkohol finden, so dass sie nicht sofort Severus aufsuchte, sondern sein privates Büro. Mit Leichtigkeit konnte sie eintreten. Noch immer war ihre magische Signatur für seine Räume freigegeben, was sie zum Lächeln brachte. Sie war bei ihm willkommen, so wie er bei ihr willkommen war.
Ihr Kopf drehte sich nicht mehr ganz so schlimm, als sie durch das Glas der Vitrinen den Inhalt inspizierte und nach einem Trank suchte. Der Schrank mit dem Irrwicht lagerte noch immer hier, stand aber ein wenig versetzt, weswegen sie annahm, dass Harry damit schon gearbeitet haben musste.
Einen Trank gegen Alkoholisierung fand sich nicht, aber ihr Blick wurde von einem der Steine an der Wand hypnotisch angezogen, denn hinter ihm, das wusste sie, lag eines der Geheimverstecke. Eines von den vieren, die sie bereits kannte, doch wo war das fünfte? Sie suchte nicht mehr länger nach einem Trank, sondern nach dem fünften Versteck, das sein Leben beinhalten sollte; ein erklärendes Vermächtnis an die Nachwelt. Mit gezogenem Zauberstab schoss sie vereinzelt Findezauber gegen die Wände und den Boden, doch einzig die vier bereits durchstöberten Geheimverstecke zeichneten sich hellblau von dem Grau der Kerkerwände ab. Plötzlich kam ihr eine Idee. Sie vermutete das letzte Versteck an einem Ort, der von einem Gegenstand bedeckt wurde. So schob Hermine mit einem Zauberspruch den Schrank mit dem Irrwicht von der Wand weg und suchte die Stelle dahinter mit verschiedenen Finde-, Sicht- und Spähzaubern ab, doch ihr offenbarte sich nichts.
Der große Vitrinenschrank wurde als Nächstes verschoben. Ein Spalt unten, wo die Wand auf den Boden traf, erweckte ihr Interesse, doch es fand sich nichts – es war nur ein Spalt. Die Steine funkelten nicht blau, verbargen also keinen Hohlraum. Hermine seufzte und setzte sich mit einer Pobacke auf Severus‘ Schreibtisch, als sie plötzlich wie von der Tarantel gestochen wieder aufsprang und den Schreibtisch mit einem Wutsch an einen anderen Platz stellte, weil sie unter dem Tisch das Versteck vermutete. Dabei fiel etwas von dem Tisch hinunter, so dass sich Hermine bückte, um die vielen Pergamente aufzuheben.
Bevor sie sie zurücklegen konnte, fiel ihr Blick auf seine winzige und eigenwillig unsaubere Handschrift. Sie las:
„Geehrter Professor Dumbledore,
ich kündige das mit Ihnen bestehende Arbeitsverhältnis unter Einhaltung der vertraglichen Kündigungsfrist ordentlich zum 30. Juni 2004.
Hochachtungsvoll,
Severus Snape“
Das trockene Kündigungsschreiben schnürte Hermines Kehle zu. Dass dieser Brief jedoch nicht dafür bestimmt war, an Albus weitergereicht zu werden, versicherten ihr die vielen Notizen, die Severus weiter unten auf dem Pergament gemacht hatte. Sie legte es auf den Tisch und schaute auf das nächste Schreiben, das bereits sauberer gestaltet war.
„Albus,
Deine Großzügigkeit, mir damals wie heute einen Ort zur Verfügung zu stellen, an dem ich Ruhe finden konnte, weiß ich zu schätzen. Mein Dank ist Dir gewiss. Über viele Dinge bin ich mir nun im Klaren, was – wie ich Dich zu kennen glaube – in Deinem Sinne sein wird.
Ich vermute, es wird Dich nicht einmal überraschen, wenn ich Dir mit diesem Schreiben meine Kündigung zum 30. Juni 2004 ausspreche. Vor meinem inneren Auge sehe ich bereits, wie Du Tee und Gebäck bereitstellst, um mich zu einem Gespräch einzuladen.
Mit …“
Die Abschiedsgrußformel fehlte. Wahrscheinlich, dachte Hermine, war er sich unsicher, wie er Albus gegenübertreten sollte. Severus schien nicht häufig Briefe an ihn geschrieben zu haben. Zumindest gefiel ihr dieses Schreiben schon viel besser als der vorherige. Er wollte also tatsächlich kündigen, hatte es schon zu Papier gebracht, aber noch nicht nach seinen Wünschen ausformuliert. Die restlichen Pergamente enthielten ähnliche Schreiben. Alle waren unvollständig. Sie legte sie zurück auf den Schreibtisch und ließ die Erkenntnis, dass er ihren Vertrag unterschreiben würde, noch einen Moment nachwirken, bevor sie sich der Stelle widmete, an dem der Schreibtisch gestanden hatte.
Auf dem Boden fand sie nichts. Hermine seufzte. Dass es so schwer sein würde, etwas zu finden, von dem man wusste, dass es hier sein musste, hätte sie nicht gedacht. Andererseits hätte er das Versteck auch räumen können, nachdem er ihr mehr oder weniger aus Versehen davon berichtet hatte. Möglicherweise wollte er verhindern, dass sie seine Erinnerungen fand. Hermine ging zum Schreibtisch hinüber und setzte sich auf ihn. Mit beiden Armen stütze sie sich ab, bevor sie die Augen schloss und den Kopf langsam rollte, um Nackenverspannungen entgegenzuwirken. Sie ließ den Kopf nach hinten fallen und dachte mit geschlossenen Augen darüber nach, wo das Versteck sein könnte. Nicht an den Wänden, nicht am Boden und auch nicht durch Möbel verdeckt.
Hermine öffnete die Augen und blickte für einen Moment an die Decke, bevor sie vom Schreibtisch sprang, um aufzugeben. Doch sie hielt inne und blickte nochmals nach oben.
„Natürlich! Die Decke!“
Die Zimmerdecke hatte sie bisher außer Acht gelassen. Sie stellte somit den einzigen Ort für das fünfte Versteck dar. Aufgeregt bewegte sich Hermine hinüber zu einer Ecke des Zimmers und begann von dort aus, ihre Findezauber systematisch noch oben zu schleudern. Schritt für Schritt, Meter für Meter. Als sie in der Mitte des Raumes angekommen war, stieß ihr Spähzauber auf einen unscheinbaren Stein, der jedoch einen Fluch zurückwarf. Hermine wurde am linken Arm getroffen, der daraufhin heftig zu kribbeln begann, bevor er taub wurde, als wäre er eingeschlafen.
„Prima“, murmelte sie verdrossen, während sie ihren Arm begutachtete. Der Fluch sollte nur erschrecken und warnen. Doch sie, Hermine Granger, war hartnäckig und würde keinesfalls aufgeben, wo sie nun endlich das letzte Versteck hatte ausmachen können. So ein kindischer Schutzmechanismus würde sie nicht aufhalten. Sicherlich hätte Severus gewollt, dass nicht jeder seine Hinterlassenschaft finden kann. Hätte er sein Leben verloren, wären es Auroren gewesen, die seine Räume auf den Kopf gestellt hätten. Doch das, fiel ihr gerade wieder ein, war längst passiert. Damals, erinnerte sie sich, nachdem Severus mit Draco geflohen war, hatte zunächst der Orden des Phönix die Kerkerräume durchsucht, bevor kurz darauf die Auroren kamen. Keiner von denen hatte das Versteck an der Decke gefunden, dabei hatten sie genügend Zeit gehabt. Sie musste hier in aller Heimlichkeit herumzustöbern, obwohl Severus jeden Moment zur Tür hineinkommen könnte. Wäre Severus‘ Erbe damals von den Auroren gefunden worden, würde die Zaubererwelt ihn sicherlich in einem anderen Licht sehen, je nachdem, was die Erinnerung beinhalten würde.
Hermines Neugierde war nicht zu bremsen. Der nächste Aufklärungszauber sollte aufschlüsseln, mit welchen Abwehrzaubern das Versteck geschützt worden war, was ihr einen modifizierten und daher abgeschwächten Schockzauber einbrachte, von dem sie getroffen wurde. Sie fiel rücklings auf ihr Gesäß und blieb einen Moment benommen auf dem kalten Boden sitzen. Die Abwehrzauber waren nicht so schlimm, dass man mit gesundheitlichen Schäden rechnen musste. Severus wollte es der Person, die sich um sein Geheimnis bemühte, nur nicht allzu leicht machen. Ein Schüler hätte an dieser Stelle bereits aufgegeben, doch sie wurde dadurch nur noch mehr angetrieben. Hätte sie Harry an ihrer Seite, würde sie ihn bitten, einen Protego zu sprechen, bevor sie den nächsten Begutachtungszauber losschicken würde. Da sie allein war, versuchte sie es anders. Sie sprach erst einen Protego und dann, durch den Protego hindurch, den anderen Zauberspruch gleich hinterher, der auf das Versteck an der Decke traf. Ein lilafarbener Abwehrzauber löste sich aus dem Stein und prasselte wie Regen auf Hermine nieder, die dank ihres Schutzzaubers nichts von dem unbekannten Zauber auf die Haut bekam. Ihr Spruch zum Aufschlüsseln der vorhandenen Schutzmechanismen hatte gewirkt. Ein Pergament flatterte zu Boden, das Hermine noch in der Luft fing. Sie schluckte. Es waren elf Flüche und Sprüche aufgelistet, die Severus zum Schutz seiner Erinnerung angewandt hatte. Die meisten kannte sie, nur zwei sagten ihr gar nichts. Sie brauchte Hilfe. Sie könnte Harry fragen.
Der saß oben in der großen Halle an einem Tisch und grübelte über den Tag nach. Es war schon nach Mitternacht. Die Schüler waren längst in ihren Schlafsälen und viele der Gäste waren ebenfalls gegangen. Zurück war, wie so oft, der feste Kern geblieben, aber auch Viktor, der von den Zwillingen und Ron in Beschlag genommen worden war. Harry merkte, wie sich jemand neben ihn setzte. Erst Lunas Stimme holte ihn in die Wirklichkeit zurück.
„Du machst dir Sorgen“, hatte sie ganz richtig erkannt. „Ich würde mir keine machen. Viel habe ich von euch nicht erfahren, aber Neville hat mir einiges erzählt. Eure Suche nach dem Gespenstischen Steinregen. Ich habe in Büchern nachgesehen, was der anrichten kann, Harry.“
Endlich blickte er auf. Sie anzusehen brachte immer einen inneren Frieden mit sich. „Er hat die Pflanze in irgendeinem Trank verarbeitet und ihn genommen.“
„Ja“, sie nickte, „das habe ich mir zusammengereimt. Er ist nicht mehr vollständig, aber er sehnt sich danach.“ Sie blickte auf das Glas vor sich und Harry war sich sicher, dass es in ihrer Fantasie nicht nur ein Glas war, das sie betrachtete. Sie lächelte verträumt. „Meine Mutter hat viele Experimente gemacht, auch im Bereich der Zaubertränke. Sie hatte eine Menge toller Ideen. Wären meine Noten in Zaubertränken besser, würde ich euch bestimmt nützlicher sein. Eines, Harry, weiß ich aber mit Sicherheit: Es gibt für jeden Trank ein Gegenmittel!“ Er unterbrach sie nicht, sondern hörte weiter aufmerksam zu. „Es gibt Pflanzen, deren magischen Kräfte angezweifelt werden. Meine Mutter hat mit solchen Zutaten gearbeitet und mir immer von ihren Erfolgen erzählt. Zu schade, dass all ihre Notizen bei dem Unfall zu Asche geworden sind.“
„Deine Mum ist bei einem ihrer Experimente ums Leben gekommen.“ Er erinnerte sich nur vage daran, dass sie das mal erzählt hatte.
Fast unmerklich nickte Luna. Ihr Lächeln verlor sie nur für wenige Sekunden, als sie an ihre Mutter denken musste. Als sie Harry anblickte, breitete sich erneut Freude in ihrem Gesicht aus.
„Alles in dieser Welt hat sein Pendant, Harry. Jeder Fluch hat einen Gegenzauber, jedes Gift ein Gegenmittel, auch wenn man es noch nicht kennen mag. Das ist der erdumfassende Ausgleich im Leben. Das, was den einen umbringt, kann den anderen heilen.“
„Du meinst meine Magie.“
Wieder nickte sie. „Ja, deine Magie. Der eine kann sie ertragen, der andere erstickt daran.“ Sie musste schmunzeln. „Es ist beinahe wie mit scharfem Essen.“
Bei ihrem Vergleich musste auch Harry lächeln. „Was für Pflanzen sind das, denen man keine magischen Kräfte zuspricht?“
„Ach, es gibt verschiedene. Neville lacht immer über mich, wenn ich über dieses Thema spreche, aber ich nehme es ihm nicht übel. Nicht jede Pflanze birgt Kräfte in sich. Er hat mir versprochen, demnächst welche anzupflanzen, um sie auf ihren Nutzen hin zu untersuchen. Ich weiß noch einiges von den Versuchen meiner Mutter und von dem, was sie mir gesagt hat. Sie hat nämlich herausgefunden“, Lunas Augen wurden ganz groß, „dass diese Pflanzen unter bestimmten Umständen doch Magie innehaben können.“
Plötzlich stolperte Hermine an den Tisch. Ihr linker Arm schwankte unkontrolliert an ihrem Körper hin und her.
„Harry, ich benötige deine Hilfe.“
„Ich bin müde, Hermine. Heute ist so viel geschehen. Ich bin nur zu faul, um in mein Zimmer zu gehen, deswegen sitze ich noch hier.“
„Bitte Harry, ich brauche dich!“
Luna war nicht entgangen, dass Hermine den linken Arm nicht bewegen konnte. „Was hast du getan?“ Sie deutete auf die gefühllose Gliedmaße.
„Ich bin von einem Fluch getroffen worden und brauche Hilfe.“
Harry war in Alarmbereitschaft. „Bist du etwa angegriffen worden?“
„Nein, das nicht, aber … Harry!“ Sie flehte bereits.
Lange brauchte Hermine ihn nicht bitten. Wortlos folgte er ihr und wurde skeptisch, als sie die Treppe zu den Kerkern einschlug. Als sie dann auch noch die Tür zu Severus‘ Büro öffnete, hob er die Hände.
„Das ist keine gute Idee! Warum willst du hier einbrechen und …“
„Von wegen ‘einbrechen‘. Ich bin hier willkommen. Er selbst hat mir einen Hinweis gegeben und dem bin ich nachgegangen.“ Sie schloss die Tür, nachdem Harry eingetreten war. „Alleine schaffe ich es nicht, deswegen habe ich dich geholt.“
In dem ihm vertrauten Büro blickte er sich um. Alles stand an einem anderen Platz: der Schrank mit dem Irrwicht, die Vitrine, der Schreibtisch. Es sah aus, als hätte Hermine den Raum durchkämmt.
„Was soll das?“ Er deutete auf das Chaos. „Hermine, dafür wird er dich umbringen!“
„Wird er nicht. Und jetzt sei ruhig und hilf mir.“ Mit ihrem Stab zeigte sie hinauf zur Decke. „Da ist ein Versteck, aber allein kann ich es nicht öffnen. Du musst einen Protego sprechen, damit ich die Flüche nach und nach neutralisieren kann.“
„Ein Versteck?“ Ungläubig schüttelte er den Kopf. „Das kann ich ihm nicht antun. Das ist Vertrauensbruch, Hermine.“
„Ist es nicht, Harry! Und weißt du, warum? Er hat mir gesagt, dass es hier fünf Geheimverstecke gibt. Vier kannte ich schon, aber im fünften befindet sich …“ Sie stoppte sich, denn der Inhalt war nur für sie bestimmt. „Er hat mir diesen Hinweis aus freien Stücken gegeben. Er weiß, dass ich jederzeit auf die Idee kommen könnte, hier herumzustöbern. Endlich hab ich es gefunden, aber ohne aktiven Schutzzauber kann ich nicht arbeiten!“
Einen Moment überlegte Harry, ob er gehen oder bleiben sollte. „Und ich muss nur für einen Protego sorgen? Mehr nicht?“
Durch schmale Schlitze blickte sie ihn eindringlich an, bevor sie ihm die Meinung sagte. „Eigentlich hätte ich in dieser Angelegenheit mehr Enthusiasmus erwartet! Wer hat das denn alles ins Rollen gebracht? Du hast gesagt, du bist wieder mit an Bord und tust alles, was ich dir sage.“
„Hermine, ich …“
Sie ließ ihn nicht ausreden, sondern keifte weiter. „Es bleibt doch alles an mir hängen, alles! Ich bin die Einzige, die sich überhaupt noch kümmert.“ Von ihren Worten getroffen blickte er beschämt zu Boden. „Ich beschwer mich ja nicht“, frotzelte sie sarkastisch. „Ich tu es ja gern! Nur manchmal, Harry, komme ich allein nicht weiter. Da muss ich mich von ihm auf den Arm nehmen lassen, nur weil er mich nichts weiter von sich erzählen will. Oder heute! Er verkrümelt sich und lässt sich von Draco aufheitern, anstatt zu mir zu kommen! Was soll ich davon halten? Ich habe die Nase voll, dass es mir so schwer gemacht wird.“ Sie hatte unbewusst ihre Stimme erhoben. „Und jetzt, wo ich ein einziges verdammtes Mal deine Hilfe benötige, da ziehst du den Schwanz ein, weil du Angst hat, er könnte was tun? Aus deiner Feigheit eine Zaubertrankzutat machen?“ Sie lachte höhnisch.
„Ich glaube nicht“, sagte Harry sehr ernst, „dass du mich feige nennen kannst. Es gibt einen Grund, warum die Sache in deinen Händen liegt, denn er will es so! Er hat alles so gedreht, dass nur noch du Zugang zu ihm hast. Was kann ich mehr machen, als zwischen dem Unterricht mit ihm zu reden? Er lässt nicht mehr von mir zu, Hermine.“
Hermine erinnerte sich an den Moment, als Severus zugesagt hatte, ab und an mit ihr über die Vergangenheit zu sprechen. Er bestand auf die Einhaltung der Schweigepflicht und da hätte ihr auffallen müssen, dass das, was Harry jetzt gesagt hatte, zutraf. Niemand außer ihr sollte so viel Persönliches von ihm erfahren. Nur ihr wollte er diese Dinge anvertrauen. Sie nickte Harry entschuldigend zu. Ihre Stimme war wieder sanft.
„Nur ein Protego“, sagte sie, als hätte die kleine Auseinandersetzung zwischendurch gar nicht stattgefunden. „Mehr nicht, versprochen. Du musst nicht einmal erfahren, was ich suche.“ Sie hielt ihm das Pergament vor die Nase, das ihr Aufschlüsselungszauber erstellt hatte. „Kennst du diese beiden Flüche?“
Er nickte. „Alastor hat mir beigebracht, wie man sich dagegen wehren kann. Die setzen einen für kurze Zeit außer Gefecht, was nicht schlimm ist, aber man ist in dieser Zeit dem Gegner ausgeliefert.“
Ein paar Räume weiter ahnten weder Severus noch Draco etwas von der Aktion im Büro. Draco genoss die Zeit mit seinem Patenonkel, denn der war so anders in seinem Wesen. Es schien, als würde alles Griesgrämige und Boshafte von ihm abgefallen sein. Was ihm besonders auffiel – das aber schon vorhin, als er ihn hergebracht hatte – waren die Augen, denn die waren nun die ganze Zeit über braun, was den sonst so furchteinflößenden Zaubertranklehrer mit einem Male milde erschienen ließ. Außerdem sprach Severus anders, viel gefühlsbetonter, als sie über die Zeit redeten, in der sie zusammen geflohen waren.
„Du hast mir nie erzählt“, begann Draco, „wie du mein Pate geworden bist.“
Severus musste lächeln, wahrhaftig und unverfälscht. „Das hat mich damals sehr überrascht. Es war deine Mutter, die mich gefragt hat. Ich glaube, dein Vater hat ihr völlig freie Hand gelassen. Deiner Mutter habe ich vor Augen gehalten, dass ich halbblütig bin, obwohl sie es gewusst haben musste, aber diesen Aspekt ignorierte sie einfach. Sie kam immer nur auf die reinblütige Familie meiner Mutter zu sprechen und dass ich selbst ein sehr fähiger Zauberer wäre. Ihr war wichtiger, jemanden zu finden, dem sie vertraute und der in der Lage war, dich zu beschützen.“
„Und was hat Vater gesagt, als ihr euch einig wart?“
Severus verzog das Gesicht, musste aber schmunzeln. „Der hat getobt, aber richtig. Was ihr einfallen würde, das Leben des gemeinsamen Sohnes gerade in meine Hände zu legen.“ Wegen der Erinnerung an einige Situationen, in denen er Zeuge eines Streitgesprächs der Malfoys gewesen war, musste er grinsen. „Sie hat ihm eine Wahl gelassen und die war seines Erachtens offenbar sehr furchtbar.“
„Was für eine Wahl?“, wollte Draco wissen.
„Narzissa hat gesagt, entweder würde ich dein Pate werden oder dein Vater sollte Voldemort fragen. Wie dein Vater entschieden hat, weiß du ja.“
Beide mussten bei dem Gedanken, dass Voldemort Dracos Pate hätte sein können, lachen, wenn auch zurückhaltend.
„Ich hätte eine Riesenschlange zum Spielen gehabt“, brachte Draco schnaufend hervor.
„Dein erstes Wort wäre nicht ‘Mama‘ gewesen, sondern sicherlich ein Schimpfwort oder ‘Crucio‘.“
Draco blieb das Lachen im Hals stecken. Severus blickte ihn fragend an, so dass er erklärte: „Die Schimpfworte hat man mir früh beigebracht. Großvater hat dafür gesorgt, dass ich … Du weißt schon, das böse ‘Sch‘-Wort. Man hat mir eingetrichtert, ich wäre etwas Besonderes und alle anderen wären nichts.“ Er seufzte. „Kein Wunder, dass ich in der Schule keine Freunde hatte. Sie waren meiner nicht würdig, glaubte ich zumindest.“
„Du hattest keine Freunde, ich hingegen hatte die falschen. Fragt sich, was schlimmer war.“
Völlig abrupt wechselte Draco das Thema. „Was war vorhin mit dir los, Severus? Warum warst du so mitgenommen? Was hat Harry mit dir gemacht?“
Für eine Antwort ließ sich Severus viel Zeit, denn sie war zu kompliziert, als dass er sie hätte sofort geben können. Unbewusst legte er eine Hand auf seine Brust.
„Harry hat etwas bewegt.“ Er machte eine Geste, die seine Ratlosigkeit unterstrich. „Es war wie ein Feuer.“
„Ein Feuer?“, wiederholte Draco aufgescheucht, bevor er auf dem Bett rutschend auf Severus zukam. „Zeig mir dein Mal!“ Draco hatte bereits Severus linken Arm ergriffen, um die Manschettenknöpfe zu öffnen.
„Warum? Was ist los?“
Gegen die Aufdringlichkeit seines Patensohnes wehrte er sich, aber nicht kräftig genug, denn der Ärmel war bereits hochgeschoben. Das dunkle Mal war noch da. Leicht verblasst, wie es nach dem Sieg über Voldemort war, stellte es nur noch einen Teil der Vergangenheit dar – einen intakten Teil.
„Ich verstehe“, murmelte Severus, bevor er Draco in die Augen blickte. „Du hast an die Prophezeiung gedacht.“
„Liegt das nicht nahe, wenn du von ‘Feuer‘ sprichst?“ Dann wurde er skeptisch. „Wer hat dir davon erzählt?“
„Hermine.“
„Sie hat dir die ganze Prophezeiung genannt?“ Ein Nicken war die Bestätigung, so dass Draco wissen wollte: „Was denkst du darüber?“
„Ich denke, dass Prophezeiungen, besonders wenn sie von entsprechender Dame stammen, nicht immer ernst genommen werden müssen.“
„Ich war dabei, Severus. Aus nächster Nähe habe ich ihre seltsame Stimme gehört, mit dem sie die Warnung ausgesprochen hat. Es war in meinen Augen eine Warnung an uns Todesser. Es wird noch irgendwas passieren, was das dunkle Mal betrifft und ehrlich gesagt macht mir das Angst.“
Über dasselbe Thema unterhielten sich auch gerade Hermine und Harry, während er den Protego aufrecht erhielt und sie nacheinander die Flüche, die auf dem Geheimversteck lasteten, aufhob.
„Meinst du“, fragte er verhalten, „meine Magie könnte was mit der Prophezeiung zu tun haben?“
„Inwiefern?“, fragte sie nebenher, als sie mit voller Wucht einen Gegenzauber auf den Stein an der Decke schleuderte.
„Vielleicht war mit dem Stück Magie, das Severus in sich aufgenommen hat, der Brand gemeint oder das Feuer?“
„Ich glaube, das hätte er gemerkt.“ Wieder zielte sie auf die Decke und warf einen Gegenzauber nach oben, der endlich den gewünschten Effekt hatte und einen Fluch aufhob. „Wird aber auch Zeit!“
„Er hat was gemerkt, Hermine. Das habe ich gesehen. Er war völlig benommen, nachdem ich ihn getroffen habe. Es sah aus, als hätte es ihm Schmerzen bereitet.“
„Wo sagtest du nochmal, hätte ihn deine Magie getroffen?“
„In der Brust.“
Hermine hielt mit ihrem nächsten Zauberspruch inne und senkte den Stab. Nachdenklich blickte sie Harry an, bevor sie ihre Vermutung äußerte.
„Wenn das kein Zauberspruch war, sondern nur ein Teil deiner Magie und – nehmen wir an, mein Farbtrank lügt nicht – deine Magie auf eine andere Person einwirken kann, dann wird dieser Effekt nicht lange anhalten. Du hast gesehen, was bei den Tests zwischen dir und Draco passiert ist. Eure Magie ging jeweils auf den anderen über, verschwand dann aber. Du sagst, es war kein Zauberspruch, den du angewandt hast. Dann können wir davon ausgehen, dass deine Magie einfach nur auf Severus übergesprungen ist und zwar aus bisher nicht erklärbaren Gründen.“
„Wenn das nicht lange anhalten soll, warum glaube ich dann, dass es die gleiche Magie war, die Voldemort niedergestreckt hat?“
„Es kann genauso gewesen sein, das bestreite ich gar nicht. Voldemort hat es aber im Gegensatz zu Severus nicht ertragen, Harry, und schon gar nicht hatte er die Zeit, sich davon zu erholen. Das war sozusagen eine Überdosis, die er abbekommen hat.“
„Ist wie scharfes Essen“, murmelte er und dachte dabei an Luna.
„Scharfes Essen?“, wiederholte sie ungläubig. „Wenn du den Vergleich machen willst, dann von mir aus. Ich würde deine Magie eher mit Gift vergleichen wollen, denn wenn …“
Er unterbrach echauffiert: „Du kannst meine Magie doch nicht mit Gift gleichsetzen!“
„Aber mit scharfem Essen schon?“, veralberte sie ihn.
„Ich habe schon verstanden, auf was du hinaus willst. Du musst gar keine Vergleiche mehr ziehen, Hermine.“ Er schnaufte gespielt aufgebracht und murmelte: „Gift …“
„Nehmen wir mal an, Magie kann nicht nur durch den Zauberstab agieren, sondern auch auf andere Weise, dann …“
„Moment, Hermine. Erklärt das bitte mir und nicht einem Fachkollegen, denn sonst verstehe ich nichts.“
Sie atmete einmal tief durch und formulierte in Gedanken ihre Theorie mit einfachen Worten. „Um Magie auszuführen, benötigt man in der Regel einen Zauberstab. Da stimmst du mir zu, oder?“ Harry nickte, so dass sie weiter erklärte. „Du weißt aber auch, dass Magie anders eingesetzt werden kann, zum Beispiel wortlos oder sogar ohne Zauberstab, auch wenn das um einiges schwieriger ist.“ Wieder nickte Harry. Hermine hob eine Augenbraue, bevor sie endlich Klarheit schaffte. „Deine Gabe, Harry, wird nichts anderes sein als Magie, die sich einen anderen Weg sucht, weil du dazu in der Lage bist!“ Er machte ganz große Augen, was sie nicht davon abhielt, noch weiter zu vermuten. „Alles, was wir in dem Buch von Cassandra Trelawney gelesen haben, über diese magischen Gaben, mit Tieren sprechen zu können, einen Doppelgänger zu schaffen oder Dinge einfach zu wissen, das wird ebenfalls eine Form von ganz normaler Magie sein, nur dass sie selten auftritt, weil kaum jemand diese Art beherrscht. In diesem Sinne ist es durchaus eine Gabe, aber eine magische. Nur deswegen habe ich angefangen, an dem Farbtrank zu arbeiten, weil ich der Meinung war, es wäre eine Art von Magie – deine Art von Magie – und nicht irgendetwas anderes.“
Nach weiteren Minuten hatte Hermine endlich alle Schutzzauber des Verstecks unschädlich gemacht. Den Stein konnte sie lösen, doch sie ließ ihn noch an der Decke schweben, um zuerst mit Harry zu sprechen.
„Severus hat gesagt, es wäre für mich. Ich dürfte es mir ansehen.“
Verständnisvoll nickte Harry. „Ich werde besser gehen. Es ist schon spät und ich bin müde.“
Harry verließ den Raum nur zögerlich, denn wenn er ehrlich mit sich selbst war, interessierte ihn das Geheimnis um Severus noch immer brennend, auch wenn er kaum noch Informationen bekam.
Als Harry die Tür des Büros hinter sich geschlossen hatte, ließ Hermine den Stein, der sich leicht aus der Decke lösen ließ, vorsichtig hinunterschweben. Sie bemerkte bereits das Glimmen, das von dem Stein ausging, doch erst, als er in Augenhöhe vor ihr schwebte, sah sie die birnenförmige, verkorkte Phiole mit dem langen Hals auf ihm, deren flüssiger Inhalt silbrig schimmerte. Ehrfürchtig griff sie nach dem gläsernen Gefäß und nahm es an sich.
Vierhundert Milliliter Erinnerungen warteten auf sie.
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