von Muggelchen
„Robert?“ In den verdunkelten Raum hineinspähend wartete Alejandro auf eine Antwort und als keine kam, trat er ein, bevor er erneut den Namen sagte.
„Was ist?“
Der dünnen Stimme folgend ging Alejandro langsamen Schrittes zu einem Ohrensessel am Kamin, in welchem Robert saß. Der Anblick seines Freundes bestürzte ihn. Durch das Kaminfeuer, das auf seinem Gesicht tänzelte, warfen die eingefallenen Wangen einen Schatten, der es wie ein Totenschädel mit Bart wirken ließ. Robert wirkte kränklich und abgekämpft.
„Robert, die Leute warten“, unterrichtete er seinen Freund.
Als der Rothaarigen seinen Kopf drehte und die Schatten anders fielen, da sah er wieder wie lebendiger ein Mensch aus. „Was denn für Leute?“, hauchte er.
Ein beklemmendes Gefühl kam in Alejandro auf. Aus dem einst willensstarken Mann, der Hexen und Zauberern das Handwerk legen wollte, war ein Häufchen Elend geworden, das zudem einiges vergessen zu haben schien.
„Du sagtest, wir müssen unsere alten Anhänger anschreiben. Einige von ihnen sind hier und wollen mit dir sprechen, wollen wissen, was du ihnen zu sagen hast.“
Ein Hauch Erkenntnis huschte über Roberts Gesicht, denn er erinnerte sich. Mit nur knapp dreißig Anhängern war er machtlos gegen die Magier, weswegen er die restlichen 170 wieder mobil machen wollte und zusätzlich auch neue Mitglieder für seine Sache gewinnen wollte.
„Wir müssen den Menschen von dieser Gefahr berichten.“ Die leise Stimme war kaum zu vernehmen, weswegen sich Alejandro neben Robert kniete und zuhörte. „Hab ich dir je erzählt“, Robert blickte ihn mit müden Augen an, „dass sie es auf mich abgesehen haben, nur weil ich der Blutlinie von Matthew Hopkins entspringe?“
„Wessen Blutlinie?“
„Er war seinerzeit ein gefürchteter Mann, hat Hexen verhört und hängen lassen. Für diese magischen Missgeburten hatte er ein Gefühl und ich habe dieses Gefühl geerbt. Ich spüre es, wenn eine Hexe neben mir steht.“ Roberts Augen wanderten zurück zum Kaminfeuer, von dem er sich hypnotisieren ließ. Gedankenverloren schilderte er: „Einmal war es in einem Buchladen, kurz vor Ladenschluss. Sie stand neben mir und dachte, sie könnte sich frei und unerkannt in unserer Welt bewegen, aber vor mir konnte sie ihre teuflischen Kräfte nicht verbergen. Ich bin ihr nachgegangen, hab sie zur Rede gestellt, warum sie mir folgen würde.“ Er lachte schwächlich. „Sie sagte doch glatt, dass ich ja wohl derjenige wäre, der ihr folgen würde und nicht andersherum. Diese kleine…“ Er stoppte sich und fuhr anders fort. „Ich habe ihr gezeigt, dass man das mit mir nicht machen kann.“ Alejandro dachte sich den fehlenden Teil, denn Robert hatte sich der Frau sicherlich entledigt. „In ihrer Tasche fand ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Zauberstab! Da habe ich gewusst, dass dieses magische Volk seine Leute auf mich angesetzt hat, sie mir diese Kopfschmerzen bereiteten, nur weil jemand, mit dem ich zufällig verwandt bin, solche schlimmen Dinge getan hat.“
Sein Gefühl sagte Alejandro, dass Robert am liebsten von alledem unangetastet sein wollte; mit Hexen und Zauberern nicht konfrontiert werden wollte, doch es waren die, die sich ihm ständig genähert hatten.
„Ich zeig dir den ersten Stab, den ich genommen habe!“
Nur mit Mühe konnte sich Robert aus dem Ohrensessel erheben. Für einen Moment musste er sich an der Rückenlehne festhalten, denn sein Kreislauf schien versagen zu wollen. Tief durchatmend nahm Robert einige Schritte bis zum Schlafzimmer. Aus seinem antiken, hölzernen Nachttisch zog er einen langen Stab, den er Alejandro vor Augen hielt.
„Das hat mir meine jahrelange Vermutung bestätigt, dass mich die Hexen verfolgen und mir diese Qualen bereiten. Keine Paranoia, wie man mir weismachen wollte… Nein, das ist alles echt!“
Der dreißig Zentimeter lange, weiße Stab war in dem dämmrigen Raum gut zu sehen. Ohne seine Augen von dem Zauberstab zu lassen, ging Alejandro auf Robert zu, der derweil schilderte: „Ab diesem Tag an habe ich die Welt mit anderen Augen gesehen und vor allem habe ich die Augen offen gehalten. Eine Offenbarung, Alejandro. Bis dato wusste ich nämlich nicht, ob ich verrückt war oder nicht, doch dieser Stab hat mir bewiesen, dass ich mich nicht irren konnte. Die Hexen waren da, um mich herum und sie warteten nur darauf, mich mit ihren Flüchen zu peinigen. Wenn ich jemandem in die Augen gesehen habe, dann wusste ich auf Anhieb, ob er gut oder schlecht war.“
Robert reichte ihm den Stab, den Alejandro mit Ehrfurcht entgegennahm, doch er wirkte so anders als die Stäbe, die sie ihren Opfern sonst abgenommen hatten. Mit einem Male traf es ihn wie der Schlag, als er das Material begutachtete. Dies war kein Zauberstab, es war ein Taktstock. Ein Dirigentenstab aus weißem, stabilem Fiberglas mit einem Griff aus Kork. Robert hatte damals keine Hexenmeisterin, dafür aber sehr wahrscheinlich eine Orchesterleiterin vom Leben zum Tode befördert. Diese Gewissheit ließ Alejandro einen kalten Schauer den Rücken hinunterlaufen. Seine Befürchtungen, Robert wäre seit einiger Zeit geistig nicht mehr auf der Höhe, hatten sich bewahrheitet. Doch nicht nur seit einigen Wochen war Robert seltsam geworden, denn der Stab, wenn es tatsächlich der erste gewesen war, den er einem seiner Opfer abnehmen konnte, musste seit Jahrzehnten in Roberts Besitz sein. Seit Jahrzehnten war Roberts Geist verdreht. Diese Gewissheit war wie ein Schock für Alejandro.
„Was hast du?“, fragte Robert skeptisch.
„Nichts“, erwiderte er wie aus der Pistole geschossen, bevor der den Taktstock an Robert zurückgab, der ihn wieder im Nachttisch verstaute.
Ihm schossen sämtliche Gespräche und Erlebnisse durch den Kopf, die Robert nicht mehr als den Welt verbessernden Menschen darstellte, sondern als einen verwirrten und kranken. Ein simpler Dirigentenstab hatte ihn in seinem Verfolgungswahn bestätigt und seine Fantastereien über Hexen und Zauberer, die nur böses im Schilde führten, auf ungesunde Weise aufblühen lassen. Doch Alejandro wusste auch, dass es unter dem magischen Volk, das wirklich existierte, Verbrecher gab. Jene, die seiner Frau eine unverzeihliche Schmach angetan hatten, so dass sie ihr Leben aus freien Stücken beendete. Solche, die die drei Söhne von Claudine und Jacob auf herablassende Weise behandelt und grundlos ermordet hatten. Alejandro bezweifelte zum ersten Mal seit Jahren, dass die magische Welt durchweg solche Scheusale hervorbrachte, denn wenn er einen Blick auf die eigene Welt warf, wurde er eines Besseren belehrt. Mörder, Vergewaltiger und Kinderschänder waren nicht ausschließlich Ausgeburten der magischen Gesellschaft.
„Wir werden diese Schule angreifen“, hauchte Robert. „Irgendwie…“
„Wir kommen nicht mal in die Nähe! Tyler hat es versucht, aber diese Schutzzauber, von denen Alex und Arnold gesprochen hatten, wirken. Man kann sich der Schule nicht nähern.“ Es missfiel Alejandro, momentan über einen möglichen Angriff zu sprechen. Lieber würde er mit Jacob, von dem er wusste, dass er Robert nicht mehr verblendet an den Lippen hing, ein Gespräch suchen.
„Dann müssen wir häufiger in Hogsmeade präsent sein. Kann sich da nicht jemand von uns ein Zimmer mieten? Wenn man denen sagt, man wäre ein Squib, dann würden die gar nicht wissen, dass wir gar keine Zauberer sind.“ Einen Augenblick schien Robert nachzudenken, bevor er fragte: „Die Höhle ist leergeräumt?“
„Man hat die meisten Kisten abtransportiert. Tyler konnte die wenigen, die weiter hinten lagerten, später herausholen.“
Robert seufzte. „Woher soll ich noch Munition nehmen? Ich habe meine Kontakte dafür längst aufgebraucht. Wir müssten sie kaufen, aber dann wird sicherlich die Regierung auf mich aufmerksam.“ Er wandte sich Alejandro zu und flüsterte: „Die haben es auch auf mich abgesehen!“ Paranoid blickte sich Robert in seinem Schlafzimmer um. Nur einmal fiel sein Blick auf das Gemälde von Matthew Hopkins. „Diese ganzen Steuerprüfungen, die Unterlassungsklagen… Die stecken mit den Hexen unter einer Decke! Vielleicht sollten wir auch in unserer Welt ein wenig“, er legte den Kopf schräg, „aufräumen?“
Nun hatte Alejandro wirklich Angst bekommen. Es war eine Sache, die Übeltäter, die seine Frau auf dem Gewissen hatten, zu finden und unschädlich zu machen. In all den Jahren war sein Rachegefühl bereits gedämpft, doch Robert hatte ihm immer wieder vor Augen gehalten, dass es anderen auch so wie ihm und Pablo ergehen könnte und deswegen hatte er seinen Hass auf Hexen willig schüren lassen. Die Überlegung, nun auch in der eigenen Welt Leute aus dem Weg zu räumen, war keinen einzigen Gedanken wert. Innerlich hatte sich Alejandro von Robert abgewandt, doch seine gute Stellung bei ihm gab er noch nicht auf, denn nur an dessen Seite konnte in Erfahrung bringen, was als nächstes geplant wäre.
Die Tagesplanung im Zaubergamot stand fĂĽr heute bereits fest.
Man hatte Lucius in einen riesigen Raum mit steinernen Wänden geführt, in dem es nach dem Erlebnis mit den lauten Journalisten befremdlich ruhig war. Im Licht der vielen Fackeln erkannte er Rosalind Baltimores bewegungslose Miene. Sie war wie ihre Kollegen mit einer pflaumenblauen Robe bekleidet, auf deren linker Brust man ein silbernes Z lesen konnte. Nach einer auffordernden Handbewegung hatte Lucius sich auf den Stuhl in der Mitte des Raumes gesetzt. Ohne Übergang wurden seine magischen Handfesseln aufgehoben und sogleich durch die des Stuhles ersetzt, so dass er sich kaum noch regen konnte. Es war ein erniedrigendes Gefühl, in so einer hilflosen Position von den Gamotmitgliedern, die im Halbkreis auf ansteigend angeordneten Bänken um ihn herumsaßen, angestarrt zu werden. In der Regel wurden Verhandlungen in den noch viel größeren Räumen im zehnten Stock gehalten, doch da die Öffentlichkeit und auch die Presse von diesem Ereignis ausgeschlossen war, hatte man einen kleineren, aber dennoch für einen Häftling einschüchternd weitläufigen Raum gewählt. Ebenfalls abweichend von anderen Verhandlungen war, dass die Mitglieder des Gamots durchweg aus Angestellten des Ministeriums bestanden und nicht wie üblich auch andere angesehene Vertreter der magischen Gesellschaft eine Stimme für oder gegen eine Verurteilung abgeben durften, wofür Lucius dankbar war, denn die anwesenden Menschen tanzten zur Hälfte nach seiner Pfeife – hoffte er zumindest.
Womit Lucius gar nicht gerechnet hatte war Griselda Marchbanks. Die betagte Frau hatte damals aus Protest ihr Amt niedergelegt, nachdem Fudge Dumbledore aus dem Gamot ausgeschlossen hatte. Bei ihr hätte er schlechte Karten, das wusste er, denn sie war eine gute Freundin von Augusta Longbottom und war wahrscheinlich aus erster Hand darüber informiert, was damals während des Kampfes im Ministerium geschehen war. Da die Frau bereits weit über zweihundert Jahre alt war, konnte er nur hoffen, dass ihr Gedächtnis nicht mehr allzu gut arbeitete oder sie während der Verhandlung ins Grab sinken würde.
Mr. Duvall nahm neben ihm an einem kleinen Tisch Platz, auf dem er etliche Unterlagen ablegte.
„Mr. Malfoy.“ Die weibliche Stimme hallte in dem hohen Raum nach. Lucius blickte nach vorn in das kalte Gesicht der Gamotvorsitzenden. „Ihre Identität wurde bereits magisch festgestellt. Zuerst werden Ihnen Fragen gestellt werden, die Sie wahrheitsgemäß beantworten. Zu jedem Punkt werden wir uns Notizen machen, um die spätere Befragung unter ’Veritaserum Plus’ vorzubereiten. Es wäre von Nachteil, sollten Sie lügen oder nicht die ganze Wahrheit sagen. Haben Sie das verstanden?“
Er fragte sich, ob sie ihn für unterbelichtet hielt, doch er antwortete höflich: „Natürlich, Mrs. Baltimore.“
Sie nickte und blätterte in ihren Papieren.
„Ihnen wird vorgeworfen“, las sie mit gefühlskalter Stimme von einem Pergament ab, „Mitglied einer gesetzeswidrigen Organisation zu sein. Was haben Sie dazu zu sagen?“
Gerade holte Lucius Luft, da sprach sein Beistand, ohne den Blick von den Akten zu erheben. „Mrs. Baltimore, wenn ich mich zu dem ersten Vorwurf beziehungsweise der sehr unglücklich gewählten Ausformulierung äußern dürfte?“
Ein Raunen ging durch die Menge und Lucius hatte arge Mühe, nicht laut loszulachen, als er die empörten Blicke der Gamotmitglieder bemerkte.
„Was denn für eine ’unglücklich gewählte Ausformulierung’?“, fragte jemand, dessen Name Lucius nicht kannte.
„Nun“, Sid blickte auf, „Mitglied kann Mr. Malfoy schon deshalb nicht mehr sein, weil es diese ’Organisation’ seit geraumer Zeit nicht mehr gibt, nicht wahr? Formulieren Sie das bitte um und verwenden Sie entsprechende Vergangenheitsform. Es soll doch alles seine Richtigkeit haben. Darüber hinaus muss erst geklärt werden, unter welchen Umständen Mr. Malfoy überhaupt dieser Organisation beigetreten ist.“
„Was soll der Unfug?“ Die Stimme kam von einem rundlichen Herrn, der leider nicht auf Lucius’ Liste stand.
„Was das soll?“, wiederholte Sid in arrogantem Tonfall. „Das soll heißen, dass wir klären müssen, wann Mr. Malfoy der Organisation beigetreten ist und ob für diesen ersten Anklagepunkt nicht gar das Minderjährigenstrafgesetz angewandt werden muss.“
„Wer sind Sie überhaupt?“ Die erbost klingende Frage wurde von demselben rundlichen Herrn gestellt.
„Ich, Mr. Logan, bin Sid Duvall – derjenige, der vom Ministerium persönlich als Beistand an Mr. Malfoys Seite gestellt wurde.“
Mrs. Baltimore schritt ein. „Dann in Bezug auf den ersten Anklagepunkt meine erste Frage an Mr. Malfoy. Wie alt waren Sie, als Sie das dunkle Mal angenommen haben?“
Mit erhabenen Gesichtsausdruck antwortete Lucius: „Ich war erst fünfzehn.“
Die Gamotmitglieder steckten ihre Köpfe zusammen und tuschelten, während Sid mit einem selbstgefälligen Grinsen in der Akte Malfoy blätterte.
„Wir werden klären, ob hierfür das Minderjährigenstrafgesetz angewandt werden wird.“ Rosalinds steinerne Miene ließ bereits erste Anzeichen von Wut erkennen.
„Oh“, machte Sid. „Aber es wird angewandt werden müssen. Was würde nur die Öffentlichkeit dazu sagen, dass man die Straftaten eines Fünfzehnjährigen handhabt wie die eines Erwachsenen? Das wäre nicht richtig.“
Lucius presste seine Lippen zusammen und amĂĽsierte sich still.
„Wir gehen zum nächsten Punkt über und werden später noch alle Unklarheiten zur Behandlung des ersten Anklagepunktes beseitigen.“ Zum Angeklagten sagte Rosalind: „Ihnen wird zudem der Vorwurf der Erpressung gemacht.“
Bevor die Gamotvorsitzende genauere Angaben zur Anschuldigung machen konnte, warf Sid die Frage ein: „Handelt es sich um einen neuen Vorwurf oder lediglich um den, der bereits vor elf Jahren von der Abteilung für magische Strafverfolgung bearbeitet wurde?“ Er nahm eine aufgeschlagene Mappe zur Hand und blätterte kurz darin herum, bevor er sagte: „Ah ja, damals sind alle Schulräte befragt worden und keiner von ihnen hat Beweise für eine vermeintliche Erpressung vorbringen können, so dass der Fall ad acta gelegt wurde. Mr. Malfoy ist für diesen Punkt niemals angeklagt worden.“
Davon wusste Lucius gar nichts, weswegen er seinen Beistand Respekt zollend von der Seite betrachtete. Wie es aussah, dachte Lucius, hatten sich damals durchaus einige der Schulräte beim Ministerium über sein Auftreten beschwert, weil sie in seiner „Überredungskunst“, mit der er dazu auffordern wollte, für Dumbledores Ablösung als Direktor zu stimmen, eine Drohung ausgemacht haben wollten.
Abermals ergriff Sid das Wort und er deutete auf seine Unterlagen, bevor er deren Inhalt mündlich wiedergab. „Die Anschuldigungen gegen Mr. Malfoy waren haltlos gewesen. Die damaligen Aussagen der Schulräte haben für eine Anklage nicht ausgereicht. Will man das nach so langer Zeit plötzlich ändern?“ Ganz klar war seine Missbilligung herauszuhören. „Das würde nämlich bedeuten“, Sids Stimme war schmierig, „dass die Mitglieder des Schulrates ihre damaligen Aussagen“, er wedelte mit einem Schwung Papiere, „erst zurückziehen müssten, um neue machen zu können.“
Lucius rief sich ins Gedächtnis, was Dumbledore sinngemäß über die Schulräte gesagt hatte, als er ihn Ende des zweiten Schuljahres seines Sohnes im Büro besucht hatte. „Seltsamerweise, Lucius, hatten mehrere von ihnen den Eindruck, Sie verfluchen womöglich ihre Familien, wenn sie ihre Zustimmung zu meiner Suspendierung verweigern.“ hatte Dumbledore ihm damals an den Kopf geworfen. Es war nur eine Vermutung gewesen, aber mit Vermutungen konnte man niemanden vors Gamot zerren.
„Ich…“ Rosalind war ganz verlegen, denn es gab offensichtlich keinen anderen Fall, in dem man Lucius Erpressung vorwerfen konnte.
„Dachte ich’s mir“, säuselte Sid fies grinsend. „Es würde doch seltsam aussehen, sollte man plötzlich diesen längst erledigten Fall erneut aufrollen. Das könnte den Eindruck erwecken, der Fall wäre damals fehlerhaft behandelt worden, was kein gutes Licht auf die Abteilung für magische Strafverfolgung werfen würde.“ Sid hob eine Augenbraue. „Wenn darüber hinaus noch die damaligen Aussagen überraschend geändert werden, könnte man womöglich auch zu der Überlegung kommen, der Fall würde manipuliert werden, um Mr. Malfoy etwas anzuhängen.“
So oder so wĂĽrde das Zaubergamot nicht gut dastehen, sollte man den Erpressungsfall in der aktuellen Verhandlung einflieĂźen lassen.
Der rundliche Herr konnte sich nicht mehr halten. „Mr. Duvall, was fällt Ihnen ein? Wenn Sie das Zaubereiministerium solcher Manipulationen beschuldigen…“
„Entschuldigen Sie bitte“, warf Sid übermäßig freundlich mit einer stoppenden Geste seiner Hand ein. „Ich beschuldige niemanden, wirklich nicht. Ich habe nur dargestellt, wie diese Dinge von der Öffentlichkeit aufgenommen werden könnten.“
„Die Öffentlichkeit“, keifte der Dicke mit dem hochroten Gesicht, „ist von der Verhandlung ausgeschlossen!“
„Oh ja, das mag sein, aber wissen Sie… Ich als Mr. Malfoys Beistand bin auch gleichzeitig sein Sprecher – auch vor der Presse, die dort draußen“, er zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger zur Tür, „auf jede noch so kleine Information wartet, die heute Abend gedruckt in den Zeitungen zu lesen sein wird. Meinem Antrag, dieses Stockwerk für die Presse zu sperren, wurde ja bedauerlicherweise nicht stattgegeben.“
Die Presse war leicht zu manipulieren, das wusste Lucius nur zu gut. Nicht nur Miss Kimmkorn hatte es damals vorgemacht, sondern die gesamte Redaktion des Tagespropheten, die sich von Minister Fudge für seine Sache hatte benutzen lassen. Auch Duvall, davon war Lucius überzeugt, hätte mit seiner erhabenen Art sicherlich Einfluss auf die Medien, allein schon deshalb, weil er der Beistand von Lucius Malfoy war. Dem Tagespropheten wäre es egal, wen man in der Luft zerfetzte – ob man sich die Finger über Lucius Malfoy wund schrieb oder über die ans Tageslicht gekommenen Unrichtigkeiten des Ministeriums herzog. Jeder Skandal verkaufte sich gleich gut.
Alle Gamotmitglieder blickten zu Rosalind, die einmal kräftig schlucken musste. „Wir werden diesen Punkt aus der Anklageschrift streichen, Mr. Duvall. Kommen wir zum nächsten. Der Besitz schwarzmagischer Gegenstände.“
Jedes Augenpaar ruhte auf Sid, doch der – zum Erstaunen aller – hielt den Mund und hörte aufmerksam zu.
„Es ist bewiesen, dass Sie, Mr. Malfoy, im August 1992 in Flourish und Blotts heimlich ein schwarzmagisches Buch an Miss Ginevra Molly Weasleys gegeben haben, die zu diesem Zeitpunkt erst elf Jahre alt war. Dieses Buch, wie man später erfahren hat, war ein altes Schulbuch von Tom Riddle – Voldemort –, verhext mit einem Zauber, der von Miss Weasley Besitz ergriffen hatte, wodurch sie in der Lage gewesen war, die sogenannte ’Kammer des Schreckens’ zu öffnen, was wiederum die Insassen einer Lehranstalt gefährdet hat.“
„Wenn ich etwas einwerfen dürfte?“, fragte Sid außerordentlich höflich mit einem provozierend milden Lächeln auf den Lippen.
Die Vorsitzende gestattete ihm das Wort und er räusperte sich zunächst.
„Mr. Malfoy wird nicht abstreiten, dass es sich bei dem Buch um ein schwarzmagisches gehandelt hatte, auch nicht, dass es einst Tom Riddle gehörte, denn der Name stand ja, wie ich den Unterlagen entnehmen durfte, gut leserlich auf dem Objekt. Allerdings war Mr. Malfoy nicht darüber informiert, welche Macht dieser Gegenstand innehaben würde, geschweige denn, dass er von kleinen Mädchen Besitz ergreifen könnte. Ihm selbst ist nie etwas geschehen, wenn er darin blätterte.“ Er blickte einmal zu Lucius hinüber, der bestätigend nickte. „Mr. Malfoy wollte sich dieses Buches entledigen und im gleichen Atemzug einen damaligen, verhassten Kollegen – den Vater des Mädchens – in eine missliche Lage bringen. Zugegeben, das war kein netter Zug. Mr. Malfoy wird aber sicherlich unter Veritaserum bestätigen, dass seine Absichten, das Buch in die Hände eines Mädchen zu legen, nicht der Motivation entsprang, Kinder in Gefahr zu bringen.“
„Darüber zu urteilen, Mr. Duvall, werden Sie uns überlassen müssen“, zeterte Rosalind, die von diesem Beistand langsam genug hatte.
Davon ließ sich Sid nicht abschrecken. „Ich denke, für den Besitz von schwarzmagischen Gegenständen – in diesem Fall nur einem – darf mein Mandant aufgrund der geltenden Gesetze mit einer hohen Geldstrafe rechnen?“
Es war nicht als Frage gedacht, sondern deutlich als Empfehlung.
Mit vor unterdrückter Wut ganz rotem Gesicht zischte die Vorsitzende böse: „Wir werden klären, warum Mr. Malfoy das Buch in die Hände eines unschuldigen Schulmädchens gegeben hat.“
Lucius betrachtete Fortunatos Storm, der damals gemauschelt hatte, um einen Vergissmich auf den Freund der eigenen Tochter zu hetzen, der die Erinnerungen des Squibs an die Verlobung mit dieser reinblütigen jungen Dame gelöscht hatte. Fortunatos blickte verängstigt drein und schien zu hoffen, dass Rosalind ihre Abneigung gegen den Angeklagten im Zaum halten würde. Er würde wahrscheinlich gleich über das Urteil abstimmen wollen – mit „nicht schuldig“.
„Der nächste Punkt: Störung der Öffentlichen Ordnung. Mr. Malfoy wird vorgeworfen, auf der Quidditch-Weltmeisterschaft 1994 Sachbeschädigung begangen zu haben wie auch gegen das Gesetz zum Schutz der Muggel verstoßen zu haben.“ Sid blickte auf und bat nonverbal darum, das Wort zu ergreifen, weswegen Rosalinds Augenlid nervös zuckte. „Mr. Duvall, möchten Sie dazu etwa was sagen?“
„Wenn Sie mich schon so nett bitten! Ich habe mich an ähnlichen Fällen der Vergangenheit orientiert. Ein Verstoß gegen das Gesetz zum Schutz der Muggel wird in der Regel mit zwei Monaten Haft als Höchstmaß und einer Geldstrafe in Höhe von maximal 1.500 Galleonen geahndet, während die Muggel in die Obhut der Vergissmich kommen.“
Bei dem Wort „Vergissmich“ blickte Lucius erneut zu Fortunatos hinüber und ihre Blicke trafen sich.
„Ich denke“, fuhr Sid fort, „dieser Punkt bedarf keiner besonderen Klärung. Mr. Malfoy bekennt sich dieser Tat schuldig und wird das Höchstmaß erwarten.“
Für Lucius war es angenehm, nicht reden zu müssen. Erfreut hörte er seinem Beistand zu, wie er dem Gamot furchtlos gegenübertrat und sich von niemandem einschüchtern ließ. Der Mann hatte offensichtlich nichts zu verlieren, denn Mr. Duvall hatte von sich selbst gesagt, man würde ihn im Ministerium hassen. Und dass er gründlich arbeitete – zu gründlich, wie Mr. Duvall einmal betont hatte –, konnte für Lucius nur von Vorteil sein.
Auf ihrem Pergament machte Rosalind einige Notizen, bevor sie aufblickte. „Gegen die beiden Unverzeihlichen haben Sie aber nichts zu sagen?“ Sie klang sehr siegessicher.
„Nein, Mrs. Baltimore. Es wird sich in dem Verhör mit Veritaserum herausstellen, dass Mr. Malfoy zu dem Zeitpunkt, als er Sturgis Podmore und Broderick Bode unter den Imperius-Fluch gestellt hatte, selbst unter einem stand.“
„Wie bitte?“, fragte Rosalind verdutzt nach.
„Sie wissen doch sicherlich, dass in der Vergangenheit viele Menschen grausame Taten begangen haben, weil sie durch einen Imperius gelenkt wurden.“
Man konnte damals nie genau wissen, wer log und wer die Wahrheit sagte.
„Die Aussagen, die Mr. Malfoy dazu zu gegebener Zeit unter Veritaserum machen wird, könnten Ihnen, verehrte Anwesende, vor Augen führen, welche Intentionen er selbst gehabt hatte.“ In seinen Unterlagen blätternd schlug er eine bestimmte Seite auf, in der er kurz las. „Mr. Podmore ist nach sechs Monaten Haft wieder aus Askaban entlassen worden. Einen bleibenden Schaden hat er von dem Fluch nicht davongetragen. Dass Mr. Broderick einer Teufelsschlinge zum Opfer gefallen war, ist nicht die Schuld meines Mandanten – höchstens die der Krankenhausführung oder Stationsleitung, die eine Teufelsschlinge nicht von einer normalen Topfpflanze unterscheiden konnte.“ Zum Ende hin klang Sid absichtlich sehr verachtend. „Alles andere, was die beiden Unverzeihlichen betrifft, die Mr. Malfoy nachweislich mit seinem Zauberstab ausgeführt hatte, wird später noch geklärt werden können. An dieser Stelle möchte ich aber auf ähnliche Fälle verweisen, in denen den Angeklagten zwar nachgewiesen worden war, gegen das Gesetz verstoßen zu haben, jedoch nicht bewiesen werden konnte, ob sie oder ob sie nicht selbst von diesem Fluch eingenommen waren.“
Es hatte so viele Fälle gegeben, die dem Ministerium Kopfschmerzen bereitet hatten. Meistens hatte man die Anklage aus Mangel an Beweisen fallenlassen müssen. Veritaserum Plus konnte einen zwar dazu bringen, alle Erinnerungen an eine Tat – auch die eigenen Gedankengänge – zu schildern, aber eine Schilderung allein war kein eindeutiger Beweis. Nicht immer war es zu spüren, ob man durch einen Imperius gelenkt wurde, zum Beispiel wenn die Magie des anderen wesentlich kräftiger war als die eigene.
„Zu dem Anklagepunkt, zwei Unverzeihliche angewandt zu haben, werden wir Mr. Malfoy noch ausführlich befragen“, versicherte Rosalind verbissen, während sie einen Blick auf die Anklageliste warf. „Einbruch und versuchter Raub in Zusammenhang mit Körperverletzung und Zerstörung von Ministeriumseigentum macht den nächsten Anklagepunkt aus.“ Es wurde der Vorfall in der Mysteriumsabteilung angesprochen.
Sid schaute einmal zu Lucius hinüber, der die Sitzung zu genießen schien, bevor er die Vorsitzende anblickte. „In diesem Fall“, Sid hörte, wie jemand stöhnte, „verlange ich sogar eine Anhörung unter dem Einfluss des Wahrheitsserums, denn mein Mandant wird bestätigen, dass nicht er den ersten Fluch abgefeuert hat. Er selbst hat seinen Stab erst gehoben, als er sich verteidigen musste.“
Das alles musste sein Beistand aus den Gesprächen während der wenigen Besuche herausgehört haben, dachte Lucius, aber es war auch sehr wahrscheinlich, dass er sich alle Unterlagen besorgt hatte, wie zum Beispiel die Verhöre der Hogwarts-Schüler und Auroren.
Als er sich die Szenerie in der Mysteriumsabteilung ins Gedächtnis zurückrief, da konnte er nicht einmal sagen, wer genau angefangen hatte. Wahrscheinlich war es eines der Kinder gewesen, woraufhin Bellatrix in die Defensive gegangen war. Er selbst hatte sich nur gegen die niedlichen Flüche der Schüler verteidigt und später, als die Auroren gekommen waren, um sein Leben gekämpft. Töten wollte er niemanden, auch wenn es ihm beim Anblick des Schlammbluts für einen Moment in den Fingern gejuckt hatte.
Den Anklagepunkt auseinander nehmend erklärte Sid: „Ich empfehle, während einer Befragung unter dem Einfluss von Wahrheitsserum zu prüfen, ob tatsächlich der Tatbestand des Einbruchs erfüllt wurde. Mr. Malfoy was zu jener Zeit hier angestellt und hatte für die Mysteriumsabteilung sogar eine Zutrittsberechtigung, wenn auch eine eingeschränkte. Was den versuchten Raub betrifft…“ Sid hob beide Augenbrauen. „Es war nicht Mr. Malfoy gewesen, der als Erster nach der Prophezeiung gegriffen hatte, nicht wahr?“
Es war Potter gewesen, dachte Lucius, denn niemand außer ihm oder dem Dunklen Lord hätte sie berühren können, ohne um den Verstand fürchten zu müssen.
„Zur Körperverletzung hatte ich mich bereits geäußert. Mr. Malfoy hatte sich lediglich verteidigt. Kommen wir zur Zerstörung von Ministeriumseigentum. Während einer Auseinandersetzung von solchem Ausmaß gehen nun einmal Dinge zu Bruch. Wie ich den Zeugenaussagen von damals entnehmen kann, war es eine Schülerin gewesen, die den größten Schaden verursachte und für die Zerstörung von unzähligen Glaskugeln und den in ihnen aufbewahrten Prophezeiungen verantwortlich gemacht werden muss.“ Mit festem Blick schaute er der Gamotvorsitzenden in die Augen. „Mr. Malfoy wird sich aber dazu bereit erklären, für den von ihm angerichteten Schaden eine finanzielle Entschädigung zu gewährleisten. Natürlich nur anteilig und unter der Voraussetzung, dass man für den Schaden einen gültigen Zeitwert nachweisen kann.“
Lucius wusste genau, auf was Duvall hinaus wollte. Einer Prophezeiung einen Wert zuzuschreiben war so gut wie unmöglich, aber für die billigen Glaskugeln würde er natürlich gern aufkommen, dachte er schmunzelnd – anteilig, versteht sich.
Die Gamotvorsitzende schien fĂĽr einen Moment wie versteinert. Ihr Blick ruhte auf dem Beistand und man konnte nur ahnen, dass sie ihm in Gedanken gerade den Hals umdrehte.
„Das werden wir alles gern bis ins kleinste Detail prüfen, Mr. Duvall. Kommen wir zum letzten Anklagepunkt: Der Ausbruch aus Askaban.“
„Darf ich…“ Nicht nur ein Gamotmitglied rollte mit den Augen, doch man gewehrte Sid das Wort. „Nun, der Ausbruch aus Askaban war kein ’Ausbruch’ im eigentlichen Sinne, daran gibt es nichts zu rütteln. Er wurde durch die damals durch das Ministerium ’angestellten’ Dementoren ermöglicht. Mr. Malfoy wurde von anderen Todessern gegen seinen Willen mitgenommen. Ich möchte nicht bezweifeln, dass er bei so einer Gelegenheit gern geflohen wäre“, er warf Lucius einen Blick zu, „aber sicherlich nicht in Begleitung von Mrs. Lestrange und acht weiteren Todessern.“
„Wollen Sie uns damit etwa weismachen“, schnaufte Rosalind wütend, „dass Mr. Malfoy ’entführt’ worden wäre? Das ist lächerlich!“
„Oh, entführt sicherlich nicht. Er erlag dem Gruppenzwang. Hätte er sich gewehrt, dann darf man davon ausgehen, dass man ihn an Ort und Stelle als Verräter betitelt und im gleichen Atemzug niedergestreckt hätte. Man darf nicht vergessen, über welche Macht Voldemort verfügte. Man durfte sich nicht ungestraft gegen ihn auflehnen, aber in dieser Hinsicht gibt es ja auch genügend Fallbeispiele, die ich Ihnen bei Bedarf gern nennen werde.“
Für einen Moment war es ruhig; man hörte nur die Federn, die kratzend auf dem Pergament der Gamotmitglieder Notizen niederschrieben.
Das Wort richtete Rosalind an die anderen Gamotmitglieder. „Sie dürfen nun Ihre Fragen stellen. Später werden wir entscheiden, welche der Fragen wir unter dem Einfluss von Wahrheitsserum stellen werden.“
Der rundliche Mann hob die Hand und durfte sprechen. „Mr. Malfoy, in Bezug auf den zweiten Anklagepunkt ’Besitz schwarzmagischer Gegenstände’ interessiert mich Ihr Grundmotiv. Warum haben Sie einem elfjährigen Mädchen das Buch überlassen?“
Sid blickte zu Lucius hinüber und nickte, zeigte ihm, dass er antworten sollte, was er auch tat. „Nun, das Buch selbst habe ich vom…“ Lucius hielt inne. Bisher hatte er von Voldemort immer als „Dunkler Lord“ gesprochen, doch hier wollte er nicht den Eindruck erwecken, er wäre immer noch ein ergebener Diener des Verblichenen. „…von Voldemort erhalten.“ Der Name kam ihm schwer über die Lippen. „Ich sollte es aufbewahren, wurde aber nicht darüber informiert, um was es sich handelte. Als man meinen Ruf schädigen wollte, indem mein Haus nach schwarzmagischen Objekten durchsucht wurde, da wollte ich mich von diesem Buch befreien. Ich verband dieses Vorhaben gleich mit dem Nützlichen und gab das Buch in der Hoffnung der kleinen Miss Weasley, dass Albus Dumbledore und Arthur Weasley dadurch Probleme bekommen würden.“
Eine Frauenstimme wollte wissen: „Heißt das, Sie haben das Buch nicht nach Hogwarts eingeschleust, um in Voldemorts Sinne zu handeln?“
„Aber nicht doch. Zu diesem Zeitpunkt bin ich davon ausgegangen, Voldemort nicht noch einmal wiederzusehen. Ich wusste nur, dass das Buch schwarzmagisch sein sollte, aber egal, mit welchen Zaubern ich es überprüft habe – bei mir tat sich gar nichts.“
Der rundliche Mann notierte sich etwas, bevor er aufblickte. „Dann haben Sie diese beiden Männer in Misskredit bringen wollen?“
„Ja“, gab Lucius offen zu und er schämte sich nicht einmal dafür.
Einige Gamotmitglieder tuschelten miteinander. Es war Fortunatos Storm, der die Hand hob und nach Zustimmung von Rosalind eine Frage stellen durfte.
„Dann haben Sie, wie Ihr Beistand vorhin schon erwähnte, nicht gewusst, was das Buch anrichten könnte?“
„Nein, Mr. Storm.“ Lucius liebte kurze und knappe Antworten.
„Dann behaupten Sie“, sagte eine Frauenstimme links, „Sie hätten nicht darauf spekuliert, durch das Buch den Basilisk zu befreien?“
„Nein, ich hätte nicht einmal in meinen kühnsten Träumen erahnt, dass so ein Monster in den Tiefen Hogwarts haust. Hätte ich das gewusst, hätte ich meinen Sohn sicherlich nach Durmstrang schicken wollen.“
Lucius blickte zu Anthony Wildfire hinüber, der damals gegen ein kleines Bestechungsgeld dafür gesorgt hatte, dass Draco nicht aus Hogwarts, sondern aus Durmstrang einen Brief erhielt. Er lächelte ihm selbstherrlich zu, denn Wildfire war einer derjenigen, die auf seiner Liste standen und erpressbar waren.
„Sie haben das Buch also einzig aus dem Grund an Miss Weasley gegeben, damit…“
Lucius vervollständigte: „…damit die beiden Herren wegen jener Sache angeklagt werden, wegen der man mich in diesem Augenblick belangt: Besitz schwarzmagischer Gegenstände.“
Es war zu spüren, dass vielen Gamotmitgliedern die Antworten nicht gefielen. Momentan würde man ihn nur befragen, damit man später auf Einzelheiten eingehen könnte, die er unter Veritaserum erklären müsste, aber es schien, dass man zumindest wegen des schwarzmagischen Objekts keine weitere Befragung mehr benötigte.
Man stellte ihm weitere Fragen, die er ehrlich beantwortete. Sein Beistand war still geblieben, schrieb aber in einer außergewöhnlichen Geschwindigkeit das mit, was ihm wichtig erschien – also ausnahmslos alles.
„Wir legen eine Pause von einer Stunde ein. Mr. Malfoy, Sie werden in einen Raum geführt, in dem Sie speisen können.“ Rosalind erhob sich, was die anderen Gamotmitglieder ihr gleichtaten. Lucius hingegen wurde von den Fesseln des Stuhls befreit, um gleich darauf mit den Handfesseln bedacht zu werden, damit man ihn ein paar Türen weiter bringen konnte.
„Mr. Malfoy, bevor wir rausgehen…“ Sid beugte sich vor uns sprach ihm ins Ohr. „Die Presse wird Fragen stellen. Soll ich denen einen kleinen Abriss schildern oder möchten Sie das nicht?“
Lucius schüttelte den Kopf. „Warten wir noch etwas. Mir ist noch nicht ganz wohl bei der Sache.“
Auch nicht ganz wohl bei der Sache war Hermine, denn sie fühlte sich durch die Gesamtsituation überfordert. Erst hatte sie nur ihre Prüfung zur Heilerin gemacht, bevor sie die Ausbildung zur Tränkemeisterin angenommen hatte, was sie sich, wenn sie ehrlich war, sehr gemütlich vorgestellt hatte, doch dann kam noch so vieles dazu. Die Nachforschung wegen seines Problems, ihr eigener Farbtrank, die bevorstehende Präsentation bei Körperschaft der Zaubertränkemeister und die Prüfung zur Zaubertränkemeisterin, die sie noch vorher ablegen musste – das wäre schon sehr bald, für ihren Geschmack zu früh. Darüber hinaus belastete sie der Vorfall mit Svelte, aber besonders der mit Nerhegeb… In ihrem Kopf drehte sich alles, genauso wie in ihrem Magen.
Severus fehlte heute Morgen am FrĂĽhstĂĽckstisch, weswegen Remus neben ihr gesessen hatte. Weil sie so ein ernstes Gesicht machte, sprach er sie an.
„Warum so bedrückt, Hermine?“
Weil sie in Gedanken versunken war, hatte sie sich erschreckt, obwohl er ruhig gesprochen hatte. „Nichts, es ist alles in Ordnung.“
Er glaubte ihr nicht, ließ die Sache aber ruhen. „Kann ich dir noch wegen des Tranks irgendwie helfen?“
„Mir fehlt immer noch dieser blöde Steinregen.“ Sie klang sehr verbittert. „In keinem der Bücher steht geschrieben, wo man ihn finden könnte. Er könnte überall wachsen. Na ja, überall, wo es dunkel ist.“
„Mmmh“, machte Remus nachdenklich. „Ich werde mal sehen, was ich darüber herausfinden kann.“
In einer Freistunde nach der ersten Unterrichtsstunde mit Hufflepuff und Ravenclaw machte Remus einen kleinen Spaziergang, der ihn unerwartet in seine Vergangenheit katapultierte. Alles, was er sah – die steinernen Wände, die Wege, die Bäume – erinnerte ihn an seine eigene Schulzeit, die er rückblickend mit einem lachenden und einem weinenden Auge betrachtete. Sein Weg durch den Schnee führte ihn zu den Gewächshäusern. In der Nummer vier sah er hinter dem beschlagenen Glas einen sich bewegenden Schatten. Jemand war dort drinnen und schien zu arbeiten, weswegen Remus zum Eingang hinüberging und die Tür öffnete.
„Hallo Neville“, grüßte er seinen ehemaligen Schüler, dem er auf den von Harry geführten Ordenstreffen häufig über den Weg gelaufen war, doch leider hatte sich viel zu selten die Gelegenheit ergeben, sich mit ihm ein wenig persönlicher zu unterhalten.
Weil Remus ihn freundlich lächelnd zu mustern schien, fragte Neville unsicher: „Was?“
„Ich habe gerade an früher denken müssen. Du hast dich sehr verändert, bist ein ganzes Stück gewachsen.“ Remus war näher an den jungen Mann herangetreten und musste sogar nach oben blicken, was ihn amüsierte. „Du bist größer als ich.“
Neville schnaufte erleichtert, bevor er zustimmte. „Ich glaube, nur noch Hagrid und Albus überragen mich.“
Erst jetzt fiel Remus auf, dass Neville ganz erdige Hände hatte, was sein Interesse weckte. „Was machst du da?“
„Ich erforsche einen besonderen Nährhumus aus basenreichem Boden, deren Auflagehorizonte durch von mir gezüchtete Pilzhyphen miteinander verfilzt sind.“
Remus öffnete mehrmals den Mund, um sich zu äußern, aber es benötigte einen Moment, bis er über sich selbst spöttelnd sagen konnte: „Tut mir Leid, ich hab kein Wort verstanden.“
„Das macht nichts.“ Neville lächelte ihm ermutigend zu. „Dafür habe ich keine Ahnung von Zaubertränken. Und ich kann bis heute keine weite Strecken zurücklegen, wenn ich appariere.“
„Jeder hat seine Stärken und seine Schwächen“, stellte Remus in den Raum, worüber Neville stutzte.
„Ich wüsste nicht, was Sie für Schwächen hätten.“
„Ich war nicht besonders gut in Verwandlung, aber mit der Zeit lernt man vieles dazu. Heute würde ich wohl ein ’O’ bekommen.“ Sein Blick schweifte zu einer Ecke im Gewächshaus. „Was ist das dort hinten?“
„Ach, das ist nur Hermines Ecke. Liebstöckel und Johanneskraut“, erwiderte Neville.
Natürlich wusste Remus von den Pastillen, die Hermine damals an einige Mitglieder des Ordens verteilt hatte – die meisten an Harry.
„Es geht ihr doch gut oder?“
„Was?“ Neville wiederholte Remus’ Frage nochmals in Gedanken und schien sich ebenfalls an früher zu erinnern. „Ach so, nein, ich denke nicht, dass sie sie für sich selbst macht.“
„Nicht?“ In Sekundenschnelle ging Remus sämtliche Freunde durch. Als er an Severus denken musste, glaubte er die Antwort gefunden zu haben. „Oh.“
Die Gespräche mit Hermine und Harry fielen ihm wieder ein. Severus ging es schlecht, aber dass er sogar Hermines starke Stimmungsaufheller einnehmen musste, hätte er nicht erwartet. Andererseits hatte Hermine ihm gegenüber erwähnt, sie würde bei Severus eine Depression vermuten.
„Wie kommst du so mit ihm aus?“, fragte Remus nach seiner Assoziation. Nebenbei nahm er gedankenverloren einige Dinge in die Hand, die auf dem Tischchen herumlagen.
„Mit Severus?“ Die kurze Nachfrage ließ erkennen, dass auch Neville davon ausging, Severus würde die Pastillen bekommen. „Es geht. Ich hab nicht viel mit ihm zu tun. Warum fragen Sie?“
„Ich kann mich noch gut an das Schuljahr erinnern, in welchem ich hier Lehrer war. Er war immerhin dein Irrwicht.“
Neville lachte. „Ja, und ein lustiger noch dazu.“
Eine kleine Schaufel wieder auf den Tisch legend schilderte Remus belustigt: „Er war damals nicht gerade erfreut darüber, hat sogar geglaubt, ich hätte dich dazu angestiftet.“
Ihm war gar nicht aufgefallen, dass er Neville geduzt hatte, doch dem machte das nichts aus.
Mit verhaltener Stimme erzählte Neville, während er dabei verträumt den Humus auf der Erde verteilte: „Ich hatte Angst vor ihm, bis er im sechsten Schuljahr geflohen war. Ein paar Monate nach Albus’ Tod saß ich mit Harry und Hermine in der Bibliothek im Grimmauldplatz. Sie haben miteinander gesprochen und ich hab alles gehört. Harry sagte, Snape hätte ihm noch bis zum Ende Ratschläge erteilt. Er hätte gesagt, er könnte jeden von Harrys Schritten vorhersehen und dass Harry endlich seinen Mund halten sollte.“ Neville blickte von seiner Arbeit auf. „Okklumentik und wortlose Zauber! Da hat Harry mit diesen Okklumentikübungen angefangen. Hermine hat ihm geholfen, soweit es ging, aber sie ist mit dem Thema nicht warm geworden.“
Aufmerksam hörte Remus dem jungen Mann zu, denn auch wenn er einige Dinge persönlich miterlebt hatte, war es doch etwas anderes, diese Erlebnisse von jemandem geschildert zu bekommen, der sie anders wahrgenommen hatte.
„Dass Harry wortlose Zauber bis zum Abwinken gelernt hat, das wissen Sie ja selbst. Okklumentik kann er auch sehr gut, auch wenn er meint, er könnte sich gegen Überraschungsangriffe kaum zur Wehr setzen. Na ja, Snape…“ Neville verbesserte, denn in den Erinnerungen hatte er den Tränkemeister stets beim Nachnamen genannt. „Severus habe ich erst wieder während der Schlacht gesehen, nur von weitem. Später saß ich mit ihm während der Ordensverleihung an einem Tisch, aber mit ihm gesprochen habe ich das erste Mal auf Ihrer Verlobungsf…“
Scheu blickte Neville auf, um zu prüfen, ob er mit diesem Thema eine alte Wunde aufgerissen haben könnte. Remus lächelte wie immer freundlich, doch die Verlobungsfeier anzusprechen hatte ihm nichtsdestotrotz einen kleinen Stich im Herzen verpasst.
„Tut mir Leid.“
„Nein, das ist schon in Ordnung, Neville.“ Er atmete einmal tief durch. „Weswegen ich eigentlich hier bin: Ich bin da auf ein Problem gestoßen, das mit Pflanzen zu tun hat und nun rate mal, wer mir eingefallen ist, der mir helfen könnte?“
Deine Hände an der Schürze abwischend erwiderte Neville: „Pomona hat um 14 Uhr Schluss und wird eine Viertelstunde später hier sein. Wenn Sie möchten, dann sage ich ihr…“
„Nein, nicht Pomona“, warf Remus vorgetäuscht empört ein, doch er musste lachen, weil Neville nicht zu verstehen schien. „Ich meine dich, Neville.“
„Aha…“ Neville schien dem Braten nicht zu trauen. „Warum ich?“
„Weil du Ahnung hast von“, er versuchte sich zu erinnern, „besonderen Pilzhorizonten und Basenhumus.“
Unerwartet brach Neville in Gelächter aus, was Remus dazu animierte, ebenfalls über sein eigenes Unwissen zu lachen.
„Ich werde es nicht verbessern“, versicherte Neville breit grinsend. „Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Also erst einmal: Wenn ich schon so frech bin und dich duze, dann steht dir das gleiche Recht zu.“
„Okay und was noch?“
„Es geht um eine Pflanze, die sich ’Gespenstischer Steinregen’ schimpft.“
Der junge Kräuterkundelehrling kniff skeptisch die Augen zusammen. „Warum gerade diese scheußliche Pflanze?“
„Warum scheußlich?“ Remus wusste von dieser Pflanze nicht sehr viel.
„Na ja, es gibt Zaubertränke, in denen sie verwendet wird, aber wegen ihrer negativen Wirkung sind es nur schwarzmagische Tränke.“
„Erzähl mir von den negativen Auswirkungen“, bat Remus, der sich mit dem Gesäß an einen Tisch lehnte und interessiert eine Augebraue hob.
„Die Wirkstoffe in den Fruchtkapseln der Pflanze können...“ Neville suchte nach Worten. „Wie soll ich das nur erklären? Sie können teilen und zwar alles Mögliche, das Fleisch wie auch den Geist, die Persönlichkeit, die Seele – und das sogar schon im unverarbeiteten Zustand. Ich habe von Händlern gehört, denen die Finger abgefallen sein sollen, als sie die Fruchtkapseln geerntet haben. Deswegen ’scheußlich’.“
Die Pflanze schien wirklich eine Ausgeburt der Hölle zu sein, dachte Remus und außerdem wollte er nicht, dass Hermine mit so einer Trankzutat herumexperimentiert. Es war schlimm genug, dass Severus das damals getan haben musste.
„Woher weißt du so viel über diesen Steinregen?“
Neville machte ein Gesicht, als hätte er versehentlich etwas preisgegeben. „Ich…“ Und nun schien er nach einem Weg zu suchen, sich aus dieser Situation wieder herauszuwinden. „Ich habe darüber in Büchern gelesen.“
„Ich auch“, stimmte Remus zu. „Ich habe die ganze Bibliothek auf den Kopf gestellt, aber sehr wenig gefunden. Das, was du zu erzählen hattest, stand in keinem der Bücher.“
„Na ja, es sind Pomonas Bücher. Da durfte ich mal welche lesen.“
Gerade heraus fragte Remus: „Das sind nicht zufällig schwarzmagische Bücher gewesen?“ Nevilles weit aufgerissenen Augen waren Antwort genug. „Habe ich mir fast gedacht.“ Remus lächelte dem Kräuterkundelehrling beschwichtigend zu, bevor er den Kopf schräg legte. „Meinst du, Pomona würde mir das Buch ausleihen?“
„Halte ich für möglich.“ Aus Nevilles Stimme war mit einem Male herauszuhören, dass er sich zu schämen schien.
„Sag mal, Neville, stand dort auch beschrieben, wo man diese Pflanze finden kann? Wo sie wächst, in welchem Land, an welchen Orten?“
Zuerst nickte Neville heftig und gab dann den Inhalt der Bücher wider: „Sie wachsen in Höhlen.“
’Überall, wo es dunkel ist’, wiederholte Remus Hermines Aussage von heute Morgen.
Einmal durchatmend fügte Neville hinzu: „Direkt auf Stein, sie brauchen keine Erde. Es muss stockdunkel sein, also findet man sie nur tief im Innern. Es gibt eine Debatte unter Kräuterkundlern, ob der Steinregen nicht auch Unterwasser wachsen kann, aber man vermutet, dass er zu viel Sauerstoff benötigt, um dort existieren zu können.“
„Und in welchem Land?“, wollte Remus noch wissen.
„Na, hier in Schottland!“
Im Hintergrund konnte man ein leises Läuten hören.
„Oh“, machte Remus. „Die kleine Pause beginnt. Danach muss ich wieder ran. Ich werde dann mal gehen, aber vielen Dank für das Gespräch.“ Er wandte sich bereits um, blieb an der Glastür des Gewächshauses, an der das Kondenswasser hinunterlief, noch einmal stehen. „Wegen der Bücher… Ich würde gern einen Blick hineinwerfen, Neville.“
Der nickte. „Ich werde Pomona Bescheid geben.“
„Danke, wir sehen uns nachher zum Mittag?“
„Ja.“
Nach der Pause gab es eine kleine Ansammlung vor der Strickleiter, die nach oben zu Professor Trelawneys Unterrichtsraum führte. Draco hielt die Leiter mit einer Hand fest, während eine Gryffindor die Höhe erklomm. Er wandte seinen Blick ab, um ihr nicht unter den Rock zu sehen, was jeder Schüler tat, denn es gehörte sich so. Er kletterte als Nächster hoch, doch vorher beförderte er mit einem Wingardium Leviosa seine Schulsachen nach oben, die von der Gryffindor entgegengenommen und neben der Luke auf den Boden gelegt wurden. So halfen sich die Schüler immer gegenseitig. Nachdem er oben angekommen war, ergriff er die in der Luft schwebenden Schulsachen, die hinter ihm gerade durch die Öffnung kamen, denn sie gehörten der nächsten Schülerin – Ginny.
Der Raum von Professor Trelawney war wie eh und je übermäßig geheizt, was im Winter allerdings sehr angenehm war. Die schwer in der Luft liegenden ätherischen Düfte ließen einen schon gleich nach Unterrichtsbeginn damit kämpfen, die bleiernen Augenlider daran zu hindern, sich zu schließen. Hinzu kam die Stimme der Professorin, die oftmals ruhig und engelhaft klang, doch es gelang ihr nie, ihrer Stimme entsprechend auch sylphidenhaft durch den Raum zu wandeln, denn immer stieß sie irgendwo an oder warf versehentlich etwas hinunter. Das waren die Momente, in denen die Schüler aus ihrem tranceähnlichen Zustand erwachten und mit einem verschmitzten Lächeln ihrer Schadenfreude Ausdruck verliehen, bevor sie erneut durch die Düfte benebelt in Sphären abdrifteten, in denen Professor Trelawney zu Hause zu sein schien.
Warum Draco „Wahrsagen“ belegt hatte? Weil es hier nicht auffiel, wenn er mal die Augen schloss und döste. Der Unterricht war entspannend, fast wie Meditation und außerdem würde es niemanden interessieren, ob er in diesem für sein weiteres Leben unwichtigen Fach ein T oder ein O erhalten würde. Momentan hatte er sich mit seiner letzten, erdachten Traumanalyse auf ein Annehmbar hochgearbeitet.
Dieses Mal konnte Draco nicht dösen, denn Ginny, die ihm gegenüber saß, hielt seine Hand, um aus ihren Linien die Zukunft zu lesen. Wahrscheinlich hatte sie dieses Fach aus demselben Grund belegt wie er.
„Sag mal“, Ginny zog die Augenbrauen zusammen, „ist das hier deine Lebenslinie?“
Mit ihrem Zeigefinger fuhr sie über eine der längeren Linien, womit sie Draco unbeabsichtigt kitzelte. „Nein, das ist die Erfolgslinie.“
„Oh“, machte sie erstaunt, bevor sie breit grinste. „Dann bist du mit deinen Geschäften länger erfolgreich als du am Leben bist!“
„Was?“ Er riss seine Hand aus der ihren, um sich die Innenfläche anzusehen.
„Die Lebenslinie ist unterbrochen“, erklärte sie.
„Das ist nur eine Narbe, die Linie geht darunter weiter.“
Ginny beugte sich ĂĽber das runde Tischlein zu ihm hinĂĽber, was ihr schwerfiel, denn sie drohte in den weichen Polstern des Chintz-Sessels zu versinken.
„Ich schreibe einfach, dass du in Zukunft einmal dem Tod von der Schippe springen wirst und danach ein neues Leben beginnst. Auf so was steht sie.“
„Das liegt aber schon in der Vergangenheit.“
„Das weiß sie doch nicht.“ Mit ihrer Feder machte Ginny sich Stichpunkte zu den Rillen und Linien auf Dracos Handinnenfläche und ihrer möglichen Bedeutungen, bevor sie ihm ihre Hand hinhielt. „Jetzt bist du dran.“
Sie hatte ihre Hand flach auf den Tisch gelegt, so dass er ohne Probleme in ihr lesen konnte, als wĂĽrde er ĂĽber einem Buch hocken.
„Es steht eine Heirat an.“ Er blickte sie an und grinste. „Ich bin gut oder?“
Sie lachte auf, wenn auch unterdrückt, damit die Lehrerin nicht auf sie aufmerksam werden würde. „Das ist doch nichts Neues, das wird Trelawney nicht umhauen.“
„Na gut, dann lass mal sehen.“
Ein paar Mal blätterte Draco in seinem Buch „Chiromantie für Fortgeschrittene“, notierte sich hier und da etwas und ließ Ginny die ganze Zeit über im Dunkeln.
„Bist du bald fertig?“
Er nickte. „Willst du’s hören?“ Eine Antworte wartete er gar nicht ab. „Nach einer schweren Zeit wirst du den Mann deiner Träume heiraten und mit ihm zwei Kinder haben, um die er sich kümmern wird, weil du die Karriereleiter hinaufkletterst.“
„Warum nach einer schweren Zeit? Es ist nicht mal mehr ein halbes Jahr bis zur Hochzeit, Draco. Was soll da passieren? Das wird sie dir nie abnehmen!“
„Aber es hört sich gut an und außerdem“, er verstellte seine Stimme und ahmte leise die der Professorin für Wahrsagen nach, „lügen die Linien nie!“
„Schreib lieber, die schwere Zeit kommt im nächsten Jahr, dann sind wir längst aus der Schule raus und sie kann die Note nicht mehr ändern.“
„Die ’schwere Zeit’ kann doch alles Mögliche sein. Dann kränkelst du eben vor der Hochzeit ein bisschen rum.“
„Damit du gute Noten bekommst?“
Draco nickte. „Natürlich!“
Beide hörten das Klimpern unzähliger Ketten und Perlenschnüre, die um Professor Trelawneys dürrem Hals hingen und ihre Ankunft ankündigten. Sie hatte die Tische der Schüler reihum aufgesucht und war nun bei Draco und Ginny angekommen.
An Ginny gerichtet fragte sie mit überschwänglichem Enthusiasmus, während sie theatralisch eine präsentierende Handbewegung ausführte: „Und, Miss Weasley? Wie steht es um Mr. Malfoy?“ Ginny griff nach ihrem Pergament, doch Professor Trelawney nahm es ihr aus der Hand. Sie führte es dicht an ihr Gesicht, rückte derweil die Brille mit den dicken Gläsern zurecht, doch noch immer schien sie nicht besonders gut sehen zu können.
„Oh nein, Miss Weasley“, sagte Professor Trelawney beinahe schon nörgelnd. „Das können Sie sicherlich besser.“ Sie schüttelte den Kopf und murmelte etwas, das sie vom Pergament ablas, bevor sie es zurück an Ginny gab. „Noch ein Versuch, meine liebe Miss Weasley. Vielleicht sollten Sie Ihren Geist vorher ein wenig öffnen. Moment, da kann ich Abhilfe schaffen.“
Professor Trelawney eilte zu ihrem kleinen Tischlein hinüber, fiel derweil fast über ihren eigenen Hocker, der daneben stand. Mit einem bläulichen Gegenstand – einem kleinen Glas – kam sie zurück. Per Incendio entflammte sie Kerze in dem Behälter und stellte sie auf den Tisch. Gegen die einlullenden Düfte, die nun verströmt wurden, konnten Draco und Ginny nichts unternehmen.
„Auf ein Neues, Miss Weasley“, sagte Professor Trelawney freundlich, bevor sie sich den Schülern am nächsten Tisch widmete.
Einen Moment später, nachdem die Düfte der Kerze zu wirken begannen, fragte Ginny flüsternd: „Was glaubst du, was da drin ist?“ Sie deutete auf das Gläschen.
„Keine Ahnung“, lallte Draco, dessen Zunge plötzlich lahm geworden war. „Ich hoffe, es ist legal.“
Ginny schüttelte den Kopf, um ihn klar zu bekommen, doch das war offensichtlich nicht das, was Professor Trelawney angestrebt hatte. Das in diesem runden Klassenzimmer scharlachrote Dämmerlicht tat sein Übriges.
„Gut, dann gib mir nochmal deine Hand.“ Auch Ginnys Zunge stand mit einem Male ihren eigenen Worten im Wege, doch Draco schien das nicht einmal zu bemerken, denn er kam ihrer Aufforderung willig nach.
Nachdem Ginny für einige Minuten auf seine Handinnenfläche gestarrt hatte, wollte sie wissen: „Waren das vorhin die gleichen Linien?“
Über ihre Frage im ersten Moment irritiert antwortete er todernst: „Nein, ich hab sie heimlich unter dem Tisch ausgetauscht.“
Sie begann zu kichern, löste ihren Blick aber nicht von den vielen Rillen, Narben und Linien, bevor sie ihr Buch aufschlug und erneut seine Zukunft aus der Hand las.
Am Ende war Ginnys Pergament das Einzige von allen, welches vollständig beschrieben war, doch Draco konnte keinen Blick mehr drauf werfen, weil die Stunde bereits um war und Professor Trelawney die Aufgaben einsammelte.
„So, meine Lieben, wir sehen uns am Freitag. Da werde ich Ihnen die Arbeiten zurückgeben, und ein paar Auserwählte werden wir sogar vortragen. Vergessen Sie nicht, sich von dem Alltagsstress zu lösen, bevor Sie meinen Klassenraum betreten.“
Viele Schüler sprangen nach der Verkündung des Unterrichtsschluss von ihren Stühlen auf und verließen Professor Trelawneys Raum schneller als sonst den von Professor Snape. Nur die Schüler, auf deren Tisch ebenfalls so eine Kerze stand wie auf dem von Ginny und Draco, erhoben sich sichtlich träger, machten dabei einen leicht schläfrigen Eindruck, wenn nicht sogar einen beduselten.
„Ich könnte mich jetzt hinlegen und durchschlafen“, murmele Ginny, die ihre Schulsachen wie in Zeitlupe in ihre Tasche stopfte. Draco ging es nicht anders. Die beiden waren die letzten Schüler im Raum, als sie endlich von ihren Plätzen aufstanden und wie schlaftrunken zur Strickleiter torkelten. Schlurfenden Ganges war Ginny die Erste, die ihre Schulsache per Levitation nach unten beförderte, bevor sie sich niederkniete, um die Strickleiter durch das runde Loch im Boden hinunterzuklettern. Als ihre Unterschenkel bereits durch die Öffnung baumelten, erschrak sie, weil sie einen kurzen Aufschrei wahrgenommen hatte, der ihr augenblicklich ihre scharfen Sinne zurückgab.
Sie wandte ihren Kopf und sah, wie ein verschreckter Draco von Professor Trelawney gegen die Wand gedrückt wurde, während die Lehrerin mit befremdlicher Stimme sagte: „Ein jettschwarzes Symbol auf schneeweißem Grund kann nicht allein durch die Geheimnisse des Willens und seiner Gewalt schwinden. Feuer verzehrt, ein Brand erneuert. Erst nach dieser Reinigung wird seine Flamme es finden, das tränende Herz, um damit seine Wunden zu heilen.“
Professor Trelawney machte ein Geräusch, als hätte sie sich verschluckt, dann begann sie zu husten. Gleich darauf blickte sie auf und schien verwirrt. Neben sich schauend bemerkte sie Draco. Mit einer Hand fasste sie sich ans Herz, mit der anderen langte sie sanft an seine Schulter. „Oh Mr. Malfoy, haben Sie etwas gesagt?“
„Ich…“ Verdattert schüttelte er den Kopf.
„Dann sehen wir uns am Freitag.“ Zu Ginny schauend fügte sie hinzu: „Einen guten Appetit wünsche ich Ihnen.“
Es war Mittagszeit, doch weder Draco noch Ginny war nach einer Mahlzeit zumute.
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