von Muggelchen
Den Moment, in welchem ausnahmslos jeder die Augen nach oben gerichtet hatte, nutzte Severus, um sich unbemerkt von der Terrasse zu entfernen. Er hatte gerade den Rundbogen durchquert und den überdachten Gang betreten, da hörte er Albus’ Stimme hinter sich, der ihm gefolgt sein musste.
„Severus.“
Abrupt blieb Severus stehen, doch er drehte sich nicht um. Da es sich um Albus handelte, war es ihm nicht möglich, ihn einfach zu ignorieren. Die Zeit, in der er die langsam näher kommenden Schritte seines Mentors vernahm, nutzte Severus, um sich innerlich für ein Gespräch zu stärken, doch die Zeit war viel zu kurz. Albus konnte immer Argumente hervorbringen, die Severus kaum noch zu entkräften imstande war.
„Es freut mich“, Albus stellte sich direkt vor ihn, „dass du heute so lange geblieben bist.“ Einen Moment lang fragte sich Severus, ob sein alter Freund ihn auf den Arm nehmen wollte, doch der versicherte: „Du warst noch nie bis kurz vor eins mit deinen Kollegen draußen und hast das Feuerwerk bestaunt.“
„Ich habe gar nichts bestaunt“, feuerte Severus zurück, dem es missfiel, man könnte von ihm glauben, er hätte Spaß an bunten Raketen; in seinen Augen war es lächerlicher Kinderkram.
„Vielleicht lag es weniger an den Kollegen als an deinen Freunden, weswegen du länger geblieben bist?“
Severus war es gewohnt, dass Albus manchen seiner Äußerungen keinerlei Beachtung schenkte, wenn diese nicht in seine geplante Gesprächsführung passen würden.
„Du kannst dich sicherlich noch an unser erstes Gespräch nach dem Sieg über Voldemort erinnern?“, wollte Albus wissen.
„Natürlich.“ Es war eines seiner wichtigsten gewesen.
„Dann wird mir die Frage erlaubt sein“, Albus rückte seine Halbmondbrille gerade, „ob du bereits genügend Zeit und Muße gefunden hast, deinen künftigen Lebensweg zu ergründen?“
FĂĽr einen Moment aus der Bahn geworfen konnte Severus nichts anderes tun, als Albus mit offen stehendem Mund anzublicken, bevor er glaubte, die Bedeutung der Worte erfasst zu haben.
„Willst du mich hinauswerfen?“ Albus schüttelte sanft den Kopf und wollte etwas erwidern, da kam ihm Severus zuvor. Aufgebracht machte er von einer Redewendung Gebrauch: „’Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.’ Ist es das?“
„Nein Severus, ich habe dir gesagt, wenn es dir gefällt, dann kannst du solange bleiben wie du möchtest.“
„Was soll dann diese Frage?“ Severus war sichtlich erbost.
„Nun, ich habe den Eindruck – und das nicht erst seit kurzem –, dass dir die Arbeit hier nicht sonderlich zusagt.“
„Was habe ich getan, um diesen Eindruck zu erwecken? Als ich damals meine Bedenken geäußert hatte, für die Arbeit mit Kindern möglicherweise nicht sehr gut geeignet zu sein, da hast du dagegengehalten und behauptet, die Schüler müssten lernen mit jedem Schlag Mensch umzugehen. Ist das jetzt anders?“
Provozierend zog Severus beide Augenbrauen in die Höhe, doch Albus blickte ihn weiterhin freundlich an. Mit einem Mal kam ihm eine Idee. Seinen linken Oberarm hebend und mit den Fingern der rechten Hand zweimal auf die Stelle klopfend, unter der sich das dunkle Mal verbarg, fragte er gereizt: „Oder ist es deswegen?“
„Du weißt genauso gut wie ich, dass das kein Grund ist, Severus“, beschwichtigte der Direktor seinen Freund.
„Weswegen dann?“
„Wie ich während unseres Gesprächs damals schon gesagt habe, bist du noch jung genug, um Zukunftspläne zu schmieden. Ich habe nur gehofft, du hättest dir ein paar Gedanken gemacht, nichts für ungut.“ Der Direktor langte an Severus’ Schulter und drückte einmal in freundschaftlicher und gleichzeitig auch ermutigender Geste zu, bevor er sich verabschiedete und zurück zur Terrasse ging.
Das fehlte ihm jetzt noch, dachte Severus, als er nicht den Weg in die Kerker, sondern den Weg in den siebten Stock einschlug. Schon damals, gleich nach dem Gespräch mit Albus, hatte Severus angestrengt darüber nachgedacht, was er mit seinem Leben anfangen sollte; mit seiner Freiheit. Er selbst hatte keine eigenen Vorstellungen, keinen Antrieb, und er könnte sich höchstens an den Lebenszielen anderer Menschen orientieren. Als er in diesem Zusammenhang an Harry dachte, da beruhigte Severus sich wieder, denn der war hier ebenfalls Lehrer. Andererseits war Harry noch jung und könnte sich in einigen Jahren umorientieren. Sofern Severus davon unterrichtet war, hatte Albus damals alles vieren – Black, Draco, Harry und ihm – das gleiche Angebot unterbreitet und das war gewesen, so lange sie wollten in Hogwarts unterkommen zu dürfen, bis sie ihr Leben geordnet hätten. Black war der Erste gewesen, der nun außerhalb der Schulmauern lebte und das ärgerte Severus ein wenig. Draco hatte als Nächster diesen Schritt gewagt, doch er würde für den Rest des Schuljahres in Hogwarts bleiben.
Den siebten Stock endlich erreicht nahm Severus die Wendeltreppe nach oben, um von der Plattform aus die Gegend zu überblicken. Oben angelangt hörte er unerwartet Stimmen, so dass er sich ruhig verhielt.
„Das war ein schöner Tag gewesen“, erklang die verträumte Stimme der Schülerin Meredith Beerbaum.
Es erstaunte Severus nicht, denn es war ja kein anderer Schüler über die Ferien hier, dass er Gordian Fosters Stimme hörte, die lediglich schüchtern sagte: „Das finde ich auch.“
Nachdem Severus die Plattform des Astronomieturms betreten hatte dauerte es gar nicht lange, bis er die beiden ausgemacht hatte, denn die standen genau dort, wo er sich aufhalten wollte. Sich den beiden, die ihn noch nicht bemerkt hatten, langsam nähernd traute er seinen Augen kaum, als der junge Mann die Hand der Schülerin in die seine nahm, an seinen Mund führte und…
„Mr. Foster!“, tönte Severus’ Stimme, so dass beide Schüler erschrocken zusammenfuhren. Gordian warf die Hand, die er küssen wollte, von sich, als hätte man ihn beim Diebstahl erwischt.
„Profe..“ Gordian räusperte sich und begann erneut. „Professor Snape, ich wünsche Ihnen ein glückliches neues…“
„Was haben Sie hier oben verloren?“, unterbrach Severus.
Meredith erwiderte mutig: „Wir sehen uns das Feuerwerk an.“
„Tun Sie das?“, fragte er spöttisch zurück. „Es schien eher so, als würden Sie jeden Moment ein ganz eigenes Feuerwerk zünden wollen.“
Den Kopf senkend erwiderte Meredith nichts mehr, so dass er nun den Schüler seines Hauses anblickte, der kleinlaut zugab: „Es war meine Idee gewesen herzukommen, Professor. Wenn Sie jemanden bestrafen möchten, dann wäre ich derjenige, der es verdient hätte.“
„Oh, wie überaus ritterlich von Ihnen“, sagte Severus mit schmieriger Stimme, als er sich über den Schüler lustig machte. „Verschwinden Sie von hier, alle beide!“
Gordian und Meredith ließen es sich nicht zweimal sagen, doch als die beiden schon einige Schritte gegangen waren, da sagte Severus mit lauter Stimme: „Ach, Mr. Foster?“ Jetzt würde der Punkteabzug und die Auferlegung der Strafarbeit folgen, dachte Gordian, doch umso mehr überraschte es ihn, als sein Hauslehrer ihn vorwurfsvoll fragte: „Warum sind Sie noch nie auf die Idee gekommen, Miss Beerbaum in Ihren Gemeinschaftsraum einzuladen?“
Mehrmals blinzelnd verarbeitete Gordian diese Aussage, bevor er die Gegenfrage stellte: „Ist das denn möglich?“ Sein Hauslehrer blickte ihn mit starrer Miene an und erwiderte nichts, was für den Schüler Antwort genug war.
Nachdem die beiden gegangen waren stellte Severus sich an seinen Platz, an dem er schon zusammen mit Hermine gestanden hatte, als sie den Adlerauge-Trank ausprobiert hatten. Gedankenverloren blickte er zum Mond hinauf, der in wenigen Tagen rund sein würde. Einige Raketen aus Hogsmeade schossen in sein Blickfeld und zerplatzten am schwarzen Himmel. Severus hatte wieder einmal das Gefühl, fehl am Platze zu sein, denn allen anderen schien Silvester sehr viel zu bedeuten, während es für ihn lediglich ein weiteres Jahr einläutete, mit dem er nichts anzufangen wusste. Beizeiten würde er Harry fragen, wie der sich sein weiteres Leben vorstellte; ob er weiterhin Lehrer in Hogwarts bleiben wollte. Auch von Hermine wollte er demnächst in Erfahrung bringen, was sie zu tun gedachte, hätte sie erst einmal ihren Meister in der Tasche. Nach ein paar Minuten wurde es ihm zu kalt, so dass er den Heimweg antrat, während auf der Terrasse weiterhin das Feuerwerk gezündet wurde.
„Hermine“, rief Harry, als er auf sie zugelaufen kam. „Du willst doch nicht schon gehen?“
„Doch, mir wird langsam kalt, trotz Ginnys Umhang.“
Das hatte Ginny gehört, als sie bei den beiden angekommen war, so dass sie sagte: „Gut, dann kannst du ihn mir wiedergeben, mir wird nämlich auch kalt. McGonagall sagte eben, wir hätten jetzt Minus acht Grad.“ Ginny bedankte sich bei Hermine für den angewärmten Umhang, bevor sie sich wieder zu Sirius begab, denn die Kiste mit den Feuerwerkskörpern war bei weitem noch nicht leer.
Harry blickte ihr einen Moment lang hinterher, bevor er erneut Hermine ansah und fragte: „Wann soll ich morgen bei dir sein?“
„Nicht vorm Aufstehen, Harry“, antwortete sie auflachend. „Nach dem Mittagessen reicht völlig.“
„Wir sehen uns dann sicherlich in der großen Halle?“ Nachdem Hermine bestätigend genickt hatte, ging auch Harry zurück zu Sirius und Ginny.
Sich bei den Anwesenden verabschiedend wunderte sich Hermine nur kurz darüber, dass Albus nicht hier war, doch auf ihrem Weg traf sie ihn. Er stand im überdachten Gang und schien in Gedanken versunken zu sein, während er den dunklen Schulhof betrachtete.
„Albus?“ Er blickte auf und als er sie sah, da wurden seine Augen mit Warmherzigkeit geflutet. „Geht es Ihnen gut?“, fragte sie gleich im Anschluss, denn er schien ein wenig traurig zu sein.
„Alles bestens, danke der Nachfrage, meine Liebe.“ Sie zögerte einen Moment, wollte dann jedoch ihren Weg fortsetzen, da fragte Albus unverhofft: „Sagen Sie, Hermine...“ Sie blieb nicht nur stehen, sondern kam auf ihn zu, bevor er fragte: „Es würde mich interessieren zu erfahren, wie Sie Ihre Zukunft sehen.“
„Ähm“, machte sie im ersten Moment verdutzt, bevor sie die Gegenfrage stellte, „allgemein gesehen oder detailliert? Wenn ich nämlich ehrlich bin, dann habe ich noch keine festen Pläne, nur einige Ansätze.“ Er zog die Augenbrauen in die Höhe und wartete mit einem geduldigen Lächeln auf den Lippen, denn diese Ansätze wollte er hören. „Ich dachte mir, dass ich nach der Ausbildung bei Severus vielleicht im Mungos anfange und zwar am liebsten in der Abteilung für ’Vergiftungen durch Zaubertränke und magische Pflanzen’. Das würde mir liegen.“ Sie wäre prädestiniert dafür, denn sie hätte nicht nur eine Heilerausbildung mit Bestnoten, sondern später auch ihren Meister in Zaubertränken; voraussichtlich ebenfalls mit Bestnoten.
„Im Mungos…“, murmelte Albus und sofort kamen Zweifel in Hermine auf, ob ihre Entscheidung die richtige wäre, doch es war ihr Leben und sie müsste wissen, was ihr am meisten Spaß machen würde, auch wenn sie Träumereien aus Kriegszeiten nicht beachtete, an denen ihr Herz genauso hing und deswegen vergrub sie ihre Zweifel auch schnell wieder. „Sie sind sehr talentiert“, lobte Albus unerwartet, weswegen Hermine beschämt lächeln musste. „Es wäre ein Jammer, wenn man Ihre Fähigkeiten im Mungos ausbremsen würde.“
Die Zweifel waren so schnell wieder da, wie sie eben verschwunden waren.
„Wir sehen uns morgen sicherlich beim Frühstück, Hermine“, sagte Albus, bevor er ihr einmal zuzwinkerte und auf die Terrasse zusteuerte.
Mit der Frage beschäftigt, was sie nach ihrer Ausbildung bei Severus mit ihrem Leben anfangen wollte, ging sie in den vierten Stock und die gleiche Frage beschäftigte sie auch noch, als sie nach einer kleinen Abendlektüre ins Bett ging.
Auch Severus machte sich ganz ähnliche Gedanken, während er einzuschlafen hoffte. Schon nach seinem ersten Gespräch mit Albus hatte er über seine mögliche Zukunft nachgedacht, während er im Verbotenen Wald spazieren gegangen war. Es waren fünf Punkte gewesen, die seines Erachtens die meisten Menschen mit einem erfüllten Leben in Verbindung brachten und daher ersehnten: einen Lebenspartner finden, eine Familie gründen, eine Bombenkarriere hinlegen, viel Geld machen, glücklich sterben. Die ersten beiden Punkte wollte er für sich streichen, doch er fragte sich ernsthaft, ob der letzte Punkt noch erreichbar sein würde, wenn man sich einsam fühlte. Er erinnerte sich zudem daran, dass er damals kurz nach diesen Überlegungen seinen Hund gefunden hatte und in just diesem Moment sprang Harry auf sein Bett und legte sich neben seine kalten Füße. Endlich konnte er einschlafen.
Mit geschlossenen Augen erwachte Severus langsam und er spürte, was vielleicht an einen Traum liegen könnte, an den er sich jedoch nicht erinnerte, dass jemand bei ihm war und das war nicht sein Hund. Er fühlte etwas Warmes an seiner Wange, fast wie eine Liebkosung und sein Herz begann wie wild zu pochen, als er der festen Überzeugung war, es würde sich um Hermine handeln, die sich nicht nur unaufgefordert in seinem Schlafzimmer aufhielt, sondern auch noch die Dreistigkeit besaß ihn zu berühren. Geschwind öffnete er seine Augen und richtete sich auf, doch er war allein; er hörte nicht einmal eine Atmung, so dass er auch die Tarnung durch einen Unsichtbarkeitsmantel ausschließen konnte. Erleichtert legte er sich wieder hin und trotzdem er nun wach war, spürte er erneut die Wärme an seiner Wange. Der Grund war schnell gefunden, denn durch das winzige Oberlicht schien die Sonne in sein Schlafzimmer hinein und ein kleiner Strahl war auf sein Gesicht gefallen.
Wenn jetzt schon die Sonne aufgegangen war, dachte er, dann musste er lange geschlafen haben. Ein Blick auf seine Uhr bestätigte seine Vermutung, doch fürs Frühstück in der großen Halle war es noch nicht zu spät. Ein hohes Fiepen riss ihn aus seinen Gedanken. Harry hatte mit weit aufgerissenem Maul gegähnt, bevor er vom Bett sprang und sich streckte.
Am noch nicht sehr gut besuchten Frühstückstisch in der großen Halle streckte sich Harry, bevor er mit weit aufgerissenem Mund gähnte, was Hermine belustigt beobachtete.
„Wow Harry, ich konnte eben einen Blick auf sämtliche deiner inneren Organe werfen!“
„Tut mir Leid, Mine.“ Er legte eine Hand auf seinen Mund.
„Das ist jetzt ein bisschen zu spät“, schäkerte sie.
„Ich werde versuchen“, versicherte Harry mit einem Schmunzeln auf den Lippen, „noch während des Frühstücks meine Augen-Hand-Koordination wiederzuerlangen.“
„War es gestern denn so spät geworden?“, wollte sie wissen, während sie sich einen Tee einschenkte. Momentan waren sie die Einzigen am Tisch.
„Ginny war viel länger auf, ich habe sie deswegen noch schlafen lassen. Sirius und Ginny sind noch viel feuerwerksbegeisterter als ich“, erklärte er erstaunt. „Hätte ich gewusst, dass Albus so viel von den Zwillingen gekauft hat und er das auch noch alles zur Verfügung stellte, dann hätte ich gar nichts selbst besorgt.“
Hermine lächelte, denn sie konnte sich gut vorstellen, wie Ginny und Sirius solange wach geblieben waren, bis die letzte Rakete abgeschossen war.
„Severus war gestern recht früh gegangen“, sagte Harry nebenbei.
„Dafür, dass er eigentlich gar nicht kommen wollte, war es doch völlig in Ordnung“, verteidigte sie ihn in Abwesenheit. „Ach ja, ich hab ihm gesagt, dass wir beide und heute treffen und… na ja, was wir zusammen lesen wollen.“
Mit großen Augen blickte er seine beste Freundin an, bevor er wissen wollte: „Muss ich mir Gedanken um meine Gesundheit machen oder wie hat er das aufgefasst?“
„Gesagt hat er gar nichts, aber ich vermute, dass es ihm unangenehm ist.“
In diesem Moment hörten Hermine und Harry die Tür zur großen Halle, so dass beide zum Eingang schauten, um zu sehen, wer eintreten würde. Severus hatte kaum einen Schritt hineingetan, da blieb er wie angewurzelt stehen, nachdem er die beiden einzigen Anwesenden bemerkt hatte. Nach anfänglichem Zögern marschierte er auf den Tisch zu und setzte sich – weil alle Stühle frei waren – nicht direkt neben einen der beiden. Er grüßte nur knapp, bevor er zur Kaffeekanne griff. Harry blieb stumm, doch irgendwas wollte er sagen, damit es nicht so aussehen würde, als hätten sie gerade über ihn geredet.
Hermine hingegen machte ihm einen Strich durch die Rechnung, denn an Severus gewandt offenbarte sie mit ruhiger Stimme, als würde sie über das Wetter sprechen: „Ich habe Harry eben erzählt, dass Sie wissen, was wir heute zusammen lesen wollen.“
Sie hatte ihn kalt erwischt, denn als er die Kaffeekanne wuchtig auf dem Tisch abstellte, da achtete er nicht auf den Teelöffel, der nun wie durch ein Katapult abgefeuert in hohem Bogen auf Harry zugeflogen kam, der sich auf der Stelle erschrocken duckte. Das metallische Geräusch des auf den Boden aufgeschlagenen Teelöffels hallte noch einen Moment nach, bevor Harry es wagte sich aufzurichten und einen schüchternen Blick zu Severus zu riskieren, jedoch sofort wieder auf sein Frühstücksbrötchen starrte, um dem Todesblick zu entgehen.
Die Tür zur großen Halle öffnete sich erneut und Remus trat ein. Mit seinem milden Lächeln näherte er sich dem Tisch und nahm über Eck in Severus’ Nähe Platz, der daraufhin das Gesicht verzog. Hermine richtete sofort das Wort an Remus.
„Hast du heute etwas vor?“, fragte sie.
Harry bemerkte, dass Severus kurzfristig beim Umrühren seines Kaffees, für den er sich den Löffel von Remus’ Gedeck gemopst hatte, innehielt, dann jedoch gespannt zu lauschen schien, als Remus erwiderte: „Ja sicher, was hast du denn vor?“ Auch Harry war gespannt und er biss von seinem Brötchen ab, während er Hermines Antwort abwartete.
„Harry und ich starten heute einen kleinen Lesezirkel.“
Harry holte aufgeregt Luft, doch anstatt ihr sagen zu können, dass sie aufhören sollte, hier am Tisch darüber zu reden, hatte ein kleiner Krümel den Entschluss gefasst, nicht den Weg der Speiseröhre zu nehmen, sondern mal ganz spontan den anderen. Wild hustend bemerkte er aus den Augenwinkeln, dass Hermine ihren Stab gezogen hatte und etwas murmelte, bevor er das Kratzen in seinem Hals mit einem Male verschwunden war. Sofort spülte er mit Kürbissaft nach.
Durch diesen Vorfall etwas skeptisch geworden fragte Remus: „Was denn für einen Lesezirkel?“
„Harry und ich wollten…“ Sie stoppte und blickte Harry an, der ihr unterm Tisch eben einen Stoß ans Schienbein gegeben haben musste, was den anderen beiden nicht entgangen sein durfte.
Mit öliger Stimme sagte Severus so ruhig, dass man durchaus einen gereizten Unterton ausmachen konnte: „Ja Hermine, erzählen Sie doch bitte von diesem ’Lesezirkel’, das interessiert mich natürlich sehr!“
Severus beugte sich nach vorn, um dem Korb ein Brötchen zu entnehmen, da stoppte er sich selbst, setzte sich wieder aufrecht hin und führte eine Hand an seine Brust. Mit bedächtig provozierender Bewegung zog er seinen hellen Zauberstab aus Weißbirke aus der Innentasche, bevor er ihn auf den Tisch neben seinen Teller legte. Er drohte indirekt, ließ es aber so aussehen, als würde der Stab ihn momentan bei seinen Bewegungen einschränken. Die ganze Zeit über hatte er Hermine durch zusammengekniffene Lider anstarrt. Noch einen Moment lang warf er ihr diesen eindringlichen Blick zu, der ausreichen würde, um einen Erstklässler in ein Häufchen Elend zu verwandeln, bevor er zum zweiten Male ausholte und sich diesmal eines der Brötchen nahm. Es war Severus nicht entgangen, dass Remus ihn entgeistert anblickte, kurzzeitig den Stab auf dem Tisch betrachtete und Severus daraufhin erneut anschaute. Aus Severus’ Handeln wurde Remus nicht schlau, so dass er sich seinem eigenen Frühstück widmen wollte.
„Ist das Kaffee?“, fragte Remus, als er auf die Kanne deutete, die vor Severus stand. Ein Nicken bestätigte die Vermutung. „Oh wunderbar, reichst du sie mir bitte?“
Irritiert fragte Severus: „Sie trinken Kaffee?“
„Am Neujahrsmorgen schon, ich muss ja irgendwie wach werden“, erwiderte Remus mit einem heiteren Lächeln auf den Lippen. Die Kanne entgegennehmend und sich einschenkend fragte er Hermine: „Also, was war das mit dem Lesezirkel?“
„Wir wollten…“ Hermine hielt inne und warf Harry einen bösen Blick zu, wandte sich dann aber erneut Remus zu. „Das Buch, dass ich am Grimmauldplatz…“ Nochmals stoppte sie und sie schien Harry mit einem einzigen Blick verfluchen zu wollen. Nichtsdestotrotz versuchte sie es erneut. „Wir möchten… HARRY!“ Alle drei waren bei Hermines unerwarteter Lautstärke zusammengefahren. Um von diesem Vorfall abzulenken – Harrys ständigen Tritte unter dem Tisch hatten sie mürbe gemacht – fragte sie ihn hörbar aggressiv: „Reichst du mir bitte die Butter?“ Eingeschüchtert schob Harry ihr das Schälchen mit der irischen Butter hinüber und unterließ es ab jetzt, sie darauf aufmerksam machen zu wollen, dass er ihre angriffslustige Taktik nicht guthieß.
„Wo war ich?“, fragte sich Hermine selbst. „Ja, das Buch ’Leib und Seele’ wollen wir heute lesen. Wenn du Zeit und Lust hast, Remus?“
„Ähm“, machte Remus verlegen und mit einem Male verstand er auch, warum Harry sie daran hindern wollte, ihren Satz zu Ende zu bringen. „Ich…“ Sein Blick schweife zu Severus hinüber, der ihn eindringlich beäugte und auf eine Antwort wartete. „Ich muss mal sehen“, erwiderte er ungenau.
„Du hast doch aber gesagt, du hättest Zeit?“, fragte sie frech nach.
Unsicher lachte Remus auf, bevor er ehrlich zugab: „Ich habe Zeit, ich muss nur sehen, ob ich auch Lust dazu habe. Die Themen, die dort behandelt werden, sind…“ Nochmals blickte er auf, weil er den Blick von seinem Gegenüber bereits auf seiner Haut spüren konnte. „Die Themen sind sehr, ähm, eigen.“
„Ja, ich weiß“, sagte sie offenherzig klingend, während sie beim Buffet zulangte, als wäre dies eine vollkommen normale Situation. „Ich habe ja schon reingelesen. Das ist sehr harte Kost, aber ich denk, ich werde es schaffen. Ich würde mich ja gern mit jemandem darüber unterhalten, aber ich finde einfach niemanden, der ein offenes Ohr hat. Jeder in diesem Schloss scheint seine Zunge verschluckt zu haben, wenn es um dieses Thema geht und ehrlich gesagt“, sie blickte kurz in die Runde, „ist das sehr belastend. Ich möchte doch nur…“
Remus fiel ihr ins Wort und fragte amüsiert, weil es ihm Unbehagen bereitete, gerade dieses Thema so offen vor Severus zu bereden: „Sag mal, Hermine, hast du heute morgen Plappersaft getrunken?“
„Nein“, hörte man Severus plötzlich sehr ernst einwerfen. „Sie ist ein Naturtalent!“
Sie schaute ihn ein wütend an und warf ihm im Anschluss ein Lächeln zu, das soviel sagte wie ’Damit haben Sie mich nicht getroffen!’; er hingegen grinste halbseitig, denn er wusste ganz genau, er hatte damit einen ihrer wunden Punkte erwischt.
Die Stimme von Albus war plötzlich zu hören, der nicht durch die Flügeltür, sondern durch den Lehrereingang gekommen sein musste und er sagte beschwingt: „Was für eine fröhliche kleine Runde!“ Erst in diesem Moment wägte Hermine ab, ob sie aufhören sollte, weil auch Valentinus zum Frühstück gekommen war.
Innerlich aufgewühlt und daher angriffslustig fragte Severus, obwohl Valentinus nichts mit der vorherigen Unterhaltung zu tun hatte: „Was denn? Sie finden mal wieder Zeit zum Frühstück?“
„Ja“, erwiderte der Kollege, dem der bissige Tonfall entgangen sein musste, mit einem strahlenden Lächeln. „Mein Buch ist fertig! Ich habe es die ganzen Wochen überarbeitet und denke, dass ich es jetzt einem Verlag schicken kann. Trotzdem wäre es schön gewesen“, er blickte Hermine an, „wenn jemand ein Auge drauf geworfen hätte, der sich ebenfalls mit Knieseln auskennt.“
„Wissen Sie was, Valentinus? Ich werd’s tun!“, sagte Hermine zum Erstaunen aller Anwesenden; Harry fiel sogar die Wurst vom Brot. „Denn wenn jemand Hilfe benötigt, dann sollte man die Hilfe auch gewähren, sofern man dazu in der Lage ist, nicht wahr?“ Valentinus schien nicht ganz folgen zu können, doch er nickte zaghaft und stimmte ihr zu.
„Das wäre ganz wunderbar, Hermine“, sagte der Schönling und Severus verzog das Gesicht, als sein Kollege sie vertraut beim Vornamen nannte. „Ich werde mich mit einem köstlichen Essen außerhalb revanchieren.“
„Sie könnten mir möglicherweise im Gegenzug auf andere Weise einen Gefallen tun. Kennen Sie sich eventuell mit altmodischen Heilmethoden für Geisteskrankheiten aus?“
Hermine hatte den Bogen überspannt, weswegen Severus höchstpersönlich einschritt und die Behauptung aufstellte: „Sicherlich nicht, denn das sind sehr spezifische Gebiete, über die man extrem selten in Büchern stößt.“ Valentinus schaute Severus an und wollte soeben klarstellen, dass es durchaus im Bereich des Möglichen liegen könnte, ihr in dieser Sache behilflich sein zu können, da fügte Severus hinzu, während er seine Augen nicht von denen seines Kollegen nahm: „Diese Bücher bewegen sich im Bereich der dunklen Magie!“
„Oh“, machte Valentinus erschrocken, bevor er das Wort an Hermine richtete. „Dann werde ich Ihnen sicherlich nicht sehr hilfreich sein können, aber wie es aussieht, könnte Severus Ihnen bestimmt helfen.“
Frech lächelnd blickte sie Severus an und fragte scheinheilig: „Würden Sie mir auf diesem Gebiet ein wenig unter die Arme greifen? Ich benötige Hilfe, Severus.“
Der letzte Teil ihres Satzes klang sehr flehend, doch bevor er dazu kam zu antworten, ergriff Albus das Wort und sagte in strengem Tonfall: „Wenn die beiden Schüler eintreffen, dann wird es andere Gesprächsthemen am Tisch geben, habe ich mich verständlich ausgedrückt?“
Alle schauten ehrfürchtig zu Albus hinüber, der über seine Halbmondbrille hinweg jedem Einzelnen einen Blick schenkte. Bei Hermine angelangt musste sie kräftig schlucken, denn es schien so, als hätte diese Aufforderung ausschließlich ihr gegolten, weswegen sie ihm von den anderen ungesehen einmal beschämt zunickte.
Nach dem FrĂĽhstĂĽck, welches im weiteren Verlauf sehr ruhig gewesen war, verlieĂź als Erster Severus den Tisch, doch der war nicht einmal aus der TĂĽr raus, das stand Hermine von ihrem Stuhl auf.
„Hermine“, warnte Harry leise, „es ist genug!“
Sie blickte ihn fragend an, bevor sie um den Tisch herum ging und den Zauberstab in die Hand nahm, den Severus vergessen hatte. „Ich will ihm nur seinen Stab bringen.“
Gerade eben hatte Severus die Flügeltür der großen Halle hinter sich gelassen, da hörte er Schritte. Derjenige – oder eher diejenige, wie Severus vermutete – musste rennen, um mit ihm mithalten zu können. Innerlich seufzte er müde, doch nach außen hin hielt er seine steinerne Fassade aufrecht. Als die Schritte lauter wurden, da blieb er abrupt stehen und wandte sich um. Beinahe wäre Hermine in ihn hineingelaufen.
„Was laufen Sie mir nach? Sie haben doch für heute bereits einen Tagesplan ausgearbeitet, nicht wahr? Und dann auch noch so öffentlich!“ Seine Wut hatte er nicht unterdrücken wollen.
„Sie können auch kommen, Severus. So ab ein Uhr…“ Er schnaufte verächtlich und wandte sich ab, um ihr zu entfliehen. „Warten Sie!“, nörgelte sie. „Vermissen Sie denn gar nichts?“
Er vermisste die Zeit, als sie noch brav gekuscht hatte. „Ich vermisse meine Ruhe!“
„Ihr Zauberstab, Severus“, sagte sie freundlich klingend.
Mit einer Hand fasste er sich an die Brust und erst da bemerkte er seine Fahrlässigkeit. Sich umwendend sah er, wie sie ihm den Stab – mit dem Griff ihm zugewandt – entgegenhielt. Seine Hand schnappte wie das Maul eines Krokodils zu und entriss ihr den Zauberstab, doch bevor er etwas sagen konnte, hörte man Pomona von weitem, die ihn dazu aufforderte stehenzubleiben. Neugierig, wie Hermine war, blieb auch sie an Ort und Stelle.
Die pummelige Professorin für Kräuterkunde kam angsteinflössend schnell auf Severus zugestürmt. Ihre Wangen trugen einen rötlichen Schimmer und man konnte nicht mit Bestimmtheit festmachen, ob dies auf die herrschende Kälte oder ihre merkliche Wut zurückzuführen war.
„Severus“, sagte die rundliche Lehrerin in tadelndem Tonfall. „Ist es wahr“, sie zischte genauso wie er es sonst tat, „dass Sie Mr. Foster dazu aufgefordert haben, Miss Beerbaum in den Schlafsaal der Slytherins zu führen?“
Seine emotionslose Maske haltend, auch wenn es ihm dieses Mal wirklich schwerfiel, erwiderte er trocken: „Nein.“
Er entfernte sich bereits von den beiden Damen, da wetterte Pomona ihm hinterher: „Lügen Sie mich auch nicht an?“
Sich umdrehend und die Hände hinter dem Rücken verschränkend schlug er vor: „Begleiten Sie mich in die Kerker, Pomona. Ich werde einen Tropfen Veritaserum nehmen und Sie dürfen mir dieselbe Frage noch einmal stellen, aber ich versichere Ihnen, dass meine Antwort auch mit Veritaserum genauso ausfallen wird.“
Pomona wirkte aufgrund des von ihrem Kollegen gegebenen Angebots irritiert. „Ich…ähm… Nein, wenn Sie es sagen, dann wird es wohl so sein.“
Er nickte ihr höflich zu und verabschiedete sich. „Wenn Sie mich nun entschuldigen würden?“
Später, nach dem Mittagessen, von dem sich Severus ferngehalten hatte, fand sich Harry bei Hermine ein.
„Was macht denn Ginny heute?“, fragte Hermine natürlich, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte, weil Harry am Neujahrstag nicht mit ihr zusammen war.
„Schon seit Wochen hat sie für heute eine Verabredung mit Pomona, Gordian und Meredith.“ Weil er während des Frühstücks, nachdem Hermine bereits gegangen war, nicht alles erfahren hatte, fügte er hinzu: „Da ist wohl irgendwas vorgefallen, meinte Ginny.“
Harry nahm neben ihr Platz, während Hermine bereits schilderte, was sie wusste: „Gordian hat gestern Abend offensichtlich Meredith mit in den Slytherin-Schlafraum genommen und Pomona hatte – warum auch immer – geglaubt, dass Severus ihn dazu angestiftet hätte.“ Harry machte große Augen, denn das Szenario schien völlig unglaubwürdig. „Ich hoffe nur, es ist nichts… ähm… ’passiert’.“
„Nein, es gab nur einen Tadel von Pomona, nicht mal eine Strafarbeit.“
Sich das Buch „Leib und Seele“ greifend legte sie es zunächst auf ihren Schoß.
„Möchtest du was trinken, bevor wir anfangen?“, wollte sie wissen.
„Noch nicht, später vielleicht.“ Er blickte auf seine Uhr. „Es ist ein Uhr durch. Ich nehme mal an, dass Remus nicht kommen wird.“
„Severus wohl auch nicht.“
„Du hast ihn gefragt?“ Er schien heute aus dem Staunen gar nicht mehr herauszukommen, dabei hatten sie das Buch noch nicht einmal aufgeschlagen.
„Natürlich habe ich ihm gesagt, dass er auch kommen kann. Ich möchte MIT ihm arbeiten und nicht gegen…“ Sie beendete den Satz nicht, sondern seufzte stattdessen.
„Ich weiß nur nicht“, begann Harry verschüchtert, „ob ich noch dabei sein möchte, sollte er doch noch kommen.“
„Du hast gesagt, dass du wieder mit an Bord bist, Harry!“, hielt sie ihm vor Augen.
„Fangen wir einfach an. Du hast schon was gelesen?“
„Ja“, bestätigte sie. „Die ersten drei Kapitel, aber da geht es um körperliche Erkrankungen. Ich habe Kapitel acht und neun gelesen, die befassen sich schon mit der Seele.“
„Wie viele Kapitel hat das Buch?“
„Neunzehn und am Ende einen kleinen Anhang mit Erklärungen“, erwiderte sie, während sie das Buch aufschlug und die Inhaltsangabe überflog. „Lesen wir alles oder nur den Teil über die Seele?“
„Fangen wir mit der Seele an und wenn wir Zeit haben, können wir den Anfang auch noch lesen, falls es da einen Zusammenhang geben sollte.“
Es stellte sich sehr schnell hinaus, dass mit der im Buch behandelten „Seele“ nicht nur sämtliche Gefühlsregungen gemeint waren, sondern tatsächlich die Seele als nicht philosophisch gemeinter Bestandteil eines Körpers. Die Seele war nach Auffassung der damaligen Heiler als separates Element eines Menschen zu betrachten und Hermine konnte dem nur zustimmen, besonders wenn sie sich alles, was sie jemals über Dementoren und deren Küssen in Erfahrung hatte bringen können, ins Gedächtnis zurückrief.
Nach dem ersten Kapitel, das die Seele behandelte, wollte Harry doch etwas zu trinken haben, denn obwohl Hermine gelesen hatte, war sein Mund ganz trocken geworden, wofĂĽr er das Thema verantwortlich machte.
Er gab offen zu, dass er dem Stoff nicht immer folgen konnte, doch Hermine war nicht böse, wenn er zwischendurch sporadisch Fragen gestellt hatte, wie auch diese: „Heißt das, man hat früher bestimmte Krankheiten ausschließlich der Seele zugeschrieben und andere nur dem Körper?“
„Ja, macht man ja heute nicht anders. In der Muggelwelt gibt es jede Menge psychosomatische Erkrankungen, deren Ursachen nicht körperlich sind und auch in diesem Sinne ist man häufig ratlos, wie so eine Krankheit zu behandeln ist.“
„Aber die Muggel schnippeln einem nicht einfach an der Seele herum!“
„Wie sollten sie auch? Das ist offensichtlich nur mit Magie machbar und es ist gut, dass die Muggel keinerlei Möglichkeit haben, eine Seele auf diese Weise, wie sie hier beschrieben steht, zu ’behandeln’. Es reicht, dass es damals wie auch heute noch Medikamente gibt, die manchmal fragwürdige Resultate erzielen, aber sie wirken auf das Gehirn ein, nicht auf die Seele. Man ist bei solchen Medikamenten zum Glück sehr vorsichtig; heute entscheiden die Ärzte sehr überlegt, besonders was die Behandlung von Kindern betrifft.“
„Dann wissen Muggelärzte von der Seele?“
„Das ist ein schwieriges Thema, Harry. Man weiß ja in der Muggelwelt allgemein nicht sehr viel über die Seele; nicht mal alles über den Körper, sonst wäre man längst in der Lage, alle Krankheiten zu heilen oder wenigstens zu verstehen. Zumindest gibt es bei den Muggel harmlose, aber hilfreiche Therapieformen für Erkrankungen der Seele, zum Beispiel einfache Gespräche“, erklärte sie.
„Vielleicht sollte man bei Severus eine Muggeltherapie anwenden?“
Die Idee fand Hermine zwar nicht schlecht, aber auch für nicht durchführbar, denn sie hielt dagegen: „Was glaubst du, was ich bei Severus seit Monaten versuche? Ich versuche, ihn zum Reden zu bewegen. Wenn du möchtest“, sie grinste, „kannst du gern probieren, eine Gesprächstherapie mit ihm zu beginnen. Auf das Resultat freue ich mich jetzt schon.“
„Okay, ich hab’s verstanden“, sagte Harry ein wenig betrübt klingend. Vielleicht wären offene Gespräche die einfachste Methode, um Severus zu helfen, doch der würde nicht dazu zu überreden sein.
„Aber ich bin der Überzeugung, dass es bei Severus sowieso nicht helfen würde. Seine Seele ist ja nicht erkrankt, sie ist einfach“, ihre Stimme wurde leiser, „nicht mehr vollständig.“
„’Einfach’ ist gut“, sagte er seufzend. „Lesen wir weiter.“
Nach Kapitel elf musste Harry um eine längere Pause bitten, damit sein Verstand dem Inhalt des Buches noch folgen konnte. Gerade wollte Harry dazu ansetzen, ein wenig den Inhalt des Gelesenen mit eigenen Worten wiederzugeben, um zu sehen, ob er alles richtig verstanden hatte, da klopfte es. Beide blickten sich mit weit aufgerissenen Augen an, bevor Hermine sich zusammenriss und laut „Herein“ sagte. Es war nicht Severus gewesen, sondern Remus, der beim Anblick der beiden erleichtert ausatmete.
„Remus! Es ist schön, dass du doch gekommen bist“, sagte Hermine erfreut.
Mit einem halbseitigen Lächeln, denn ganz wohl fühlte er sich bei der Sache nicht, erwiderte er: „Ich habe dir gesagt, dass ich dir helfen werde, Hermine. Es ist nur…“
„Ich weiß, es geht mittlerweile an die Substanz“, warf sie ernst ein, woraufhin Remus zustimmend nickte.
Er hatte es sich neben Harry gemütlich gemacht, bevor er erklärte: „Es wäre leichter zu ertragen zu wissen, dass Severus einfach so ist wie er ist. Aber der Grund dafür…“ Remus atmete einmal tief durch. „Hermine“, er blickte sie an, „du hattest mir bereits ein paar Dinge erzählt, aber eines möchte ich wirklich wissen: Sind das nur Vermutungen, die du aufgestellt hast?“
„Ich befürchte nicht, Remus. Nicht nachdem, was Severus mir gesagt hatte."
Man konnte Remus ansehen, dass er nachdachte und beide wollten seine Gedankengänge nicht unterbrechen. Harry schenkte sich selbst noch etwas Kürbissaft ein, um Remus ein wenig Zeit zu geben und der hatte sich auch bald wieder gesammelt.
„Bisher weiß ich, wenn ich das mal kurz zusammenfassen darf, dass Severus’ Augenfarbe sich manchmal verändert, meist in eurer Nähe, einmal sogar in meiner Anwesenheit.“ Harry und Hermine nickten, so dass Remus weiter ausführte: „Und er hat Harry damals mit einem mysteriösen Hinweis auf etwas aufmerksam gemacht, das vor etwa zwanzig Jahren geschehen sein soll.“ Harry nickte erneut. „Gut“, sagte Remus, bevor er kurz in sich ging. „Albus weiß nach Hermines Aussage genau, was damals geschehen sein soll, aber er hält den Mund.“
„Korrekt“, warf sie bestätigend und verärgert ein.
„Und du hast mir erzählt, dass Severus zu allem Übel wahrscheinlich auch noch depressiv ist.“
Hermine nickte Remus zu und versicherte: „Das kriege ich schon in den Griff, keine Sorge.“
„Was ich dank Harrys Denkarium mit eigenen Augen sehen konnte, war seine gestörte Magie. Wenn ich ehrlich bin“, Remus blickte sie an, „dann konnte ich schon nichts mit diesen Informationen anfangen, als du mir davon erzählt hast und jetzt sieht es nicht anders aus. Du hast neulich gesagt, dass Severus sehr deutlich geworden wäre; dass er gesagt hätte, er hätte mit dem Unbekannten gespielt und du glaubst fest, dass es dieses Buch war, mit dem er sich befasst hatte?“
„Ja, eindeutig! Er muss innerhalb von sieben Wochen irgendetwas ausgebrütet haben, worum wir uns jetzt kümmern müssen“, sagte sie selbstsicher.
„Aber du sagtest“, warf Harry ein, „dass es keine Heilung gibt, wenn man diesen Trank“, er zeigte auf das Buch in ihrem Schoß, „eingenommen haben sollte.“
„Wenn dein Arm gebrochen wäre“, begann Hermine und er musste sofort an sein zweites Schuljahr denken, „und Skele-Wachs nicht helfen würde, dann versucht man es eben mit Gips!“ Weil er sie irritiert anschaute, erklärte sie: „Es gibt immer andere Möglichkeiten als nur eine einzige, auch wenn es länger dauern sollte.“
„Und was hast du vor?“, wollte Harry neugierig wissen.
„Das Problem ist“, machte sie klar, „dass ich zu wenig weiß. Man weiß allgemein viel zu wenig über die Seele an sich, aber ich habe auch keine Ahnung, ob Severus den Trank verändert hat oder was genau geschehen ist, als er ihn genommen hat.“
Remus hatte genau zugehört und fragte: „Du bist die hundertprozentig sicher, dass er diesen Trank hier gebraut und genommen hat?“
Sie zögerte, denn Beweise hatte sie nicht.
„Es muss so sein, denn es passt alles zusammen! Er sagte, er wäre mit Dingen in Berührung gekommen, die unwiderruflich Verderben bringen; Dinge, die auf seine Seele eingewirkt haben. Er selbst glaubt nicht an eine Heilung, aber er setzt auf mich, das weiß ich! Es kann nur das hier gemeint sein.“ Sie hob das Buch einmal an. „Ich bin mir sicher; nicht hundertprozentig, aber sicher genug, um damit weiterzumachen.“
„Was schwierig werden wird“, warf Remus ein.
„Wie meinst du das?“, wollte Harry wissen, als er zu seinem Kürbissaft griff.
„Wie ich das meine? Das ist ein unerforschtes Gebiet! Severus selbst scheint nicht gewusst zu haben, was er da überhaupt getan hat. Man kann nur spekulieren und Theorien aufstellen, denn Experimente in dieser Hinsicht sind wohl kaum möglich.“
Hermine stimmte ihm zu. „Das ist es auch, was ich tun werde! Ich werde alles theoretisch durchgehen und nach einer Lösung suchen. Bei dem Gegengift für ’Schlafes Bruder’ haben wir es ja nicht anders gemacht.“ Sie seufzte entmutigt. „Ich muss wissen, was er genau getan hat, wie er den Trank gebraut hat, wie viel er eingenommen hat. Ich habe gut Lust, ihm Veritaserum einzuflößen.“
„Ähm, Hermine“, sagte Harry kleinlaut, „du willst ihm doch helfen UND die Sache überleben oder?“
„Natürlich! Glaubst du allen Ernstes, ich würde ihm Wahrheitsserum untermischen?“
„Du hast auch versucht, ihm deinen Farbtrank ohne sein Wissen…“
„Warum muss eigentlich jeder auf diesem kleinen Fehler rumhacken?“, nörgelte sie gereizt. „Da habe ich Mist gebaut, das gebe ich zu, aber ich habe kurz darauf immerhin seinen Irrwicht in Erfahrung gebracht, den er mir sonst nie freiwillig gezeigt hätte, also war es doch für etwas gut.“
In diesem Moment erinnerte sich Harry daran, dass er Hermine dabei beobachtet hatte, wie sie einen bestimmten Gegenstand aus seiner Kiste mitgenommen hatte. Mit diesem Gegenstand hatte sie Severus ganz offensichtlich noch nicht konfrontiert, denn das hätte sie ihm erzählt – oder er hätte es gemerkt.
Sich an etwas Schokolade vergreifend, die in einem Schälchen auf dem Tisch lag, fragte Remus: „Warum meinst du, dass er auf deine Hilfe hofft? Es ist doch bereits in der Vergangenheit offensichtlich gewesen, dass er nicht sehr begeistert von deinen Nachforschungen ist.“
Zunächst nickte Hermine, bevor sie erklärte: „Er hat mir sogar gesagt, dass ich endlich aufhören soll, aber an Weihnachten, wo er geglaubt hatte, ich wüsste nun über alles Bescheid, da hat er voller Hoffnung gefragt, ob es eine Heilung geben würde.“
Es hatte Hermine im Herzen wehgetan, dass sie Severus am ersten Weihnachtsfeiertag nicht bereits die Lösung für sein Problem hatte präsentieren können, wo doch ersichtlich war, dass er so sehr hoffte; dass er von ihr erwartete, die Hindernisse zu überwinden, an denen er selbst gescheitert war.
Sich die Worte nochmals durch den Kopf gehen lassen sagte Remus im Anschluss: „Gut, wenn das so ist… Wir können gemeinsam lesen und uns Gedanken darüber machen, was mit Severus geschehen sein könnte und welche Wege man einschlagen müsste, um ihm wieder etwas Lebensqualität zurückzugeben. Trotzdem wirst du“, er schaute Hermine an, „in Erfahrung bringen müssen, was er getan hat, denn sonst wäre alles umsonst.“
„Ich werde ihn fragen“, gab sie knapp wider.
Harry stutzte, bevor er sagte: „Er wird aber nicht antworten.“
„Das ist mir egal. Er soll ruhig wissen, mit was ich mich beschäftige – mit was wir uns beschäftigen. Vielleicht rutscht ihm ja versehentlich irgendwas raus?“
Hermine lächelte verschmitzt, doch sie musste sich sehr anstrengen, das Lächeln zu halten. Die Chance, dass er versehentlich etwas ausplaudern könnte, war äußerst gering. Sie müsste ganz andere Saiten aufziehen.
„Ach, das meintest du damit, dass du ihn provozieren musst, damit du etwas herausbekommst“, sagte Harry. „Da pass bitte auf, Hermine. Ich möchte nicht, dass er den Spieß mal umdreht und du unter Beschuss gerätst.“
„Ich bin mir darüber im Klaren“, sagte Hermine, „dass ich nicht nur austeilen darf, sondern auch einstecken können muss.“
Sich einmal auf die Schenkel klopfend schlug Remus vor: „Dann lesen wir doch ein wenig. Wer gibt mir einen kurzen Überblick über das, was ich bisher verpasst habe?“
„Das kann Harry machen“, sagte Hermine.
„Warum ich?“
„Damit ich sehen kann, inwiefern du alles begriffen hast“, erklärte sie neckend, während sie ihm einmal zuzwinkerte.
Harry verzog das Gesicht. „Ich komme mir vor wie in der Schule.“
Darauf eingehend sagte Remus scherzend: „Und ich bin dein Lehrer und fordere eine Nacherzählung.“
Murmelnd gestand Harry: „Das habe ich früher immer am meisten gehasst.“
Einen Moment lang war Harry in sich gegangen, bevor er wiedergab: „Am Anfang wurde nur der Unterschied zwischen Leib und Seele beschrieben. Die Seele wird in dem Buch wirklich als eigenständiger Bestandteil eines Menschen bezeichnet, der auch separat ’behandelt’ werden kann. Bevor du gekommen bist, habe ich Hermine um eine Pause gebeten, weil mir einige Dinge nicht ganz klar waren.“ Er blickte Hermine an und sagte: „Was auch der Grund ist, warum du es besser wiederholen solltest, dann kann ich meine Fragen stellen, sofern sie mir wieder einfallen.“
„Na gut, es wurde kurz das Thema ’Psychostasie’ aus dem alten Ägypten angeschnitten; das Wiegen des Herzens eines Toten, dessen Gewicht auch gleichzeitig das der Seele darstellen soll. Mal davon abgesehen, dass modernere Experimente von Muggeln auf dem wissenschaftlichen Gebiet der Psychostasie wirklich verblüffende Resultate erzielt hatten, war den Heilern von damals allein die Idee einleuchtend, dass die Seele eigenständig existieren muss und sie nicht zwingend mit dem Körper verbunden ist, was unter anderem…“
„Hermine, holst du zwischendurch auch mal Luft?“, fragte Harry erstaunt, womit er sie völlig aus dem Konzept gebracht hatte.
Ein nicht ernst gemeinter, böser Blick sollte ihn strafen, bevor sie fortfuhr: „…was unter anderem dadurch untermauert werden kann, dass Menschen, deren Seele von einem Dementor ausgesaugt worden war, weiterhin in ihrer menschlichen Hülle leben können, jedoch nichts mehr empfinden.“
Remus nickte. „Deswegen – und auch weil Severus es dir gesagt hat – glaubst du, dass er noch einen Teil seiner Seele besitzt.“
„Richtig, denn er ist ja nicht gänzlich ohne Gefühle, sonst hätten ihn bestimmte Umstände nicht so sehr belastet, also hat er noch einen lebendigen Teil in sich und mit dem müssen wir arbeiten.“
„Schon korrekt, Hermine“, begann Harry nachdenklich, „aber wie stellst du dir das vor?“
„Wir werden erst einmal zusammen das Buch lesen, vielleicht bekommt einer von uns dabei irgendeine Idee. Dann werde ich dem Trank auf den Grund gehen – natürlich zunächst auf theoretischer Basis. Vielleicht braue ich ihn auch mal…“, sie hielt beschwichtigend eine Hand in die Höhe, weil Remus bereits unterbrechen wollte. „Ich werde ihn sogar sehr wahrscheinlich brauen, aber natürlich nicht anwenden! Ich muss jedoch wissen, wie die verwendeten Zutaten aufeinander reagieren. Es gibt Dinge, die kann man in der Theorie nicht sehr genau festmachen. Außerdem halte ich es für wichtig, alles – wirklich alles – über die Zutaten in Erfahrung zu bringen.“
Remus anblickend rief sie sich ins Gedächtnis, dass er ihr vorgeschlagen hatte, Recherche für sie zu betreiben.
Es fiel ihr nicht schwer ihm vorzuschlagen: „Du, Remus, könntest zum Beispiel nachforschen, für welche anderen Tränke diese verwendeten Pflanzen noch benutzt werden, damit ich deren Wirkung und vor allem Wechselwirkung besser bestimmen kann. Ich will nicht nur jede der Zutaten in ihre einzelnen Bestandteile zerpflücken, ich will alles über sie erfahren, angefangen von ihrem Wachstumsprozess bis hin zu der Information, wie viele Vegetationsperioden sie überleben! Ich will wissen, welche Öle in den Pflanzen enthalten sind und ich muss alles über die vorhandenen Pflanzenstoffe wissen; Alkaloide und so weiter.“
„Kein Problem“, stimmte Remus lediglich zu.
Harry schien ĂĽberaus froh zu sein, dass Remus diese sehr umfangreich klingende Aufgabe auferlegt bekommen hatte, doch als er Hermine anblickte, die nun ihn eindringlich ansah, da machte er sich auf etwas gefasst.
„Du Harry“, er hörte aufmerksam zu, „wirst alles über jene Zutaten in Erfahrung bringen, die nicht von Pflanzen stammen – alles Tierische und die ganzen Mineralien. Der Trank ist ja nicht gerade einfach herzustellen.“ Leise murmelnd, weil sie daran dachte, in welcher Zeit Severus den Trank gebraut haben musste, fügte sie hinzu: „Für nur sieben Wochen nicht schlecht.“
„Herrje“, sagte Harry seufzend, „und ich dachte damals schon, der Vielsafttrank wäre kompliziert herzustellen.“
„Blödsinn, der Vielsafttrank ist im Vergleich zu diesem Seelentrank nun wirklich Kinderkram“, winkte Hermine ab.
„Wie heißt der Trank überhaupt?“, fragte Harry und auch Remus wartete gespannt auf die Antwort.
„Er heißt ’lacus aeterna’, aber frag mich nicht, warum man ihn ’Der Ewige See’ genannt hat.“
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