von Muggelchen
Am Abend knisterte bei Harry und Ginny der Kamin, weswegen sie nachschaute, wer sich bei ihnen um diese Uhrzeit noch melden wĂĽrde.
„Hallo Ginny“, sagte Draco mit einem ungewohnt ehrlich freundlichem Lächeln auf den Lippen. Bevor sie fragen konnte, ob er Harry sprechen wollte, nannte Draco bereits sein Anliegen. „Wir möchten euch morgen zum Mittag einladen, zu halb eins. Habt ihr Zeit? Natürlich könnt ihr Nicholas auch mitbringen.“
„Moment, ich frag mal Harry.“ Der hatte dem Gespräch seiner Verlobten längst gelauscht und nickte zustimmend, als sie sich zu ihm umwandte, so dass Ginny für morgen zusagen konnte. „Du weißt aber, dass morgen Silvester ist?“, erinnerte sie Draco.
„Natürlich weiß ich das. Ihr müsst auch nicht allzu lange bleiben, wenn ihr noch etwas anderes vorhabt. Ach, bevor ich es vergesse, würdet ihr bitte Hermine und Severus Bescheid geben? Die beiden sollen morgen bitte auch kommen.“ Ginny blinzelte erstaunt, nickte jedoch zustimmen und verabschiedete sich im Anschluss.
„Was war denn das?“, fragte Harry grinsend.
„Eine Einladung“, gab sie ihm neckend zur Antwort, obwohl er das durchaus hatte hören können, nur warum Draco die ausgesprochen hatte, das war ihm nicht klar. „Das mit Snape übernimmst du, Harry!“
„Ja, mach ich. Morgen halb eins?“ Sie nickte. „Ich sag am besten gleich Bescheid.“
In den Kerkern standen Hermine und Severus im Labor an einem Tisch ĂĽber einem aufgeklappten Buch gebeugt, welches sie zeitgleich lasen.
„Wie wäre es, wenn ich das Buch zuerst lese und Sie danach?“, schlug er mit rauem Befehlston vor.
In den Text vertieft murmelte sie: „Warum? Wir haben doch die gleiche Lesegeschwindigkeit. Klappt doch hervorragend.“
„Aber ich möchte gern Platz nehmen!“
Sie blickte aufgrund seiner nörgelnden Worte auf und stimmte ihm gelassen zu: „Dann lassen Sie uns doch einfach Platz nehmen.“
„Ich habe noch nie in meinem Leben ein Buch mit einer anderen Person zur gleichen Zeit gelesen“, warf er ihr als ärgerlich klingende Tatsache vor, weil er dies jetzt tun musste und es offensichtlich nicht wollte.
Sie stutzte. „Dann haben Sie in der Schule nie ein Buch mit einem Mitschüler geteilt?“ Da seinerseits eine Antwort ausblieb, war es für sie Antwort genug. „Dachte ich’s mir“, fügte sie grinsend hinzu. „Wir können in Ihrem Wohnzimmer weiterlesen, wenn Sie nicht hier am Arbeitstisch sitzen möchten.“
„Meinetwegen“, erwiderte er knapp und resignierend, bevor er das Buch zuschlug.
Vor dem Gemälde von Salazar trafen beide auf Harry, den Severus hineinbat.
„Was kann ich für Sie tun?“, fragte Severus höflich.
„Nichts, ich wollte nur Bescheid geben, dass Draco uns morgen sehen möchte. Er hat uns zu halb eins eingeladen.“ Harry tätschelte den weißen Hund und bemerkte daher nicht den skeptischen Blick, den Severus ihm zuwarf.
„Warum?“, hörte Harry ihn kurz darauf fragen.
„Ähm, ich weiß nicht, das hat er nicht gesagt. Er hat Ginny und mich gebeten morgen zu kommen und ich sollte Ihnen und Hermine auch…“
„Es muss doch einen Grund geben“, unterbrach Severus.
Hermine vermutete laut: „Vielleicht wollen die beiden uns nur zum Essen einladen?“
„Das soll ein Grund sein?“, fragte Severus spöttisch. „Eine Einladung zur gemeinsamen Nahrungsaufnahme?“
Sie rollte genervt mit den Augen. „Man kann sich während eines Mittagsessens auch gut unterhalten!“
„Es klang so“, warf Harry erklärend ein, „als würde es nicht allzu lange dauern. Sie kommen doch, Severus?“
„Ich habe andere Dinge zu erledigen.“
Sie schnaufte, bevor sie ihm vor Augen hielt: „Zwei Stunden Ihrer Zeit können Sie wohl entbehren. Ich kann es jedenfalls und ich werde morgen hingehen.“
„Wir arbeiten zusammen an einem Projekt und…“
Sie unterbrach mit einer beschwichtigenden Geste ihrer Hände. „Severus, Sie haben erst letzte Woche gesagt, dass ich wie die anderen Schüler Ferien habe.“
Seine grantige Art verflog mit einem Male, denn sie hatte Recht. Sie hatten zwar zusammen gearbeitet, doch das war in ihrer Freizeit gewesen.
„Sie sollten sich auch mal eine Auszeit nehmen. Lassen Sie sich bewirten und unterhalten“, schlug sie ihm vor. Er verzog angewidert das Gesicht, so dass sie ihn ein wenig aus der Reserve zu locken versuchte, denn sie fügte leise hinzu: „Ich bin mir sicher, es würde sich für Sie sogar die Gelegenheit ergeben, mit Dracos Einverständnis mal einen Blick auf die malfoysche Sammlung schwarzer Objekte zu werfen.“ Eine seiner Augenbraue wanderte nach oben, ein Mundwinkel folgte zögerlich. Nachdem das geklärt war verabschiedete sich Harry wieder, so dass Severus und Hermine sich aufs Neue dem Buch widmen konnten.
Die halbbiografische Abhandlung des Parselmundes, der vor über 600 Jahren gelebt haben soll, war höchst interessant. Severus und Hermine saßen nebeneinander auf seiner Couch – das Buch lag halb auf ihrem, halb auf seinem Oberschenkel – als er nach dem fünften Kapitel leise fragte: „Denken Sie das Gleiche wie ich?“
Sie hatte dieselbe Textstelle erreicht und antwortete: „Ich denke schon. Unser Mr. Callidita hier war ein kluger Mann und ist durch Zufall auf etwas sehr Interessantes gestoßen.“
„Und dieser Zufall ist sehr wahrscheinlich der einzige Grund, warum dieses Buch Jahrhunderte später in dem ’Verzeichnis für verbotene Schriften’ beim Ministerium aufgeführt wird.“
„Das ist wirklich schade“, sagte Hermine. „Callidita hat sehr hilfreiche Heilmethoden mit Schlangengift entwickelt und das Basiliskengift hat offenbar noch wesentlich besser gewirkt. Rheuma, Asthma, Nervenerkrankungen“, las sie vor, „und wie es aussieht, hat er ein starkes Betäubungsmittel hergestellt.“
„Welches“, vervollständigte Severus, „bei zu hoher Dosierung einen nicht kontrollierbaren, komaähnlichen Tiefschlaf herbeiführt; viel tiefer als der Topor, bei dem der Patient zumindest noch Abwehrreaktionen zeigt. Es ist kein Wunder, dass man diese eine Entdeckung von Mr. Callidita verteufelt, denn der Patient wirkt wie tot und ist den Menschen um sich herum hilflos ausgeliefert.“
„Bellatrix muss ’Schlafes Bruder’ mit Hilfe der Beschreibungen dieses Buches verändert haben. Wir müssen anhand der Untersuchungsergebnisse von Pansys Blut berechnen, wie viel Gift dem Trank beigemischt worden sein könnte. Ich frage mich nur, wie wir ein Gegenmittel herstellen sollen.“
„Wenn wir die richtige Mischung des Trankes ausmachen konnten, dann wird ein Gegengift – zumindest in der Theorie – leichter zu finden sein.“
Sie lasen gemeinsam bis spät in die Nacht hinein und hatten am Ende das gesamte Buch geschafft, denn sehr dick war die Biografie nicht gewesen. Möglicherweise, so dachte Hermine, war das Buch nicht sehr umfangreich, weil Callidita nicht sehr alt geworden war. Er wäre mit nur 34 Jahren verschwunden und später für tot erklärt worden. Die Vermutung hatte sich gefestigt, dass Callidita seinem eigenen Basilisk zum Opfer gefallen sein musste.
Am nächsten Morgen hatte sich Hermine dezent, aber elegant gekleidet, denn sie hatte nicht einmal eine Ahnung, welchen Anlass Dracos Einladung haben würde. Überpünktlich trat sie aus dem Kamin der Bibliothek in Malfoy Manor, wo sie Severus in die Arme stolperte, der wenige Sekunden vor ihr hergefloht war. Er half ihr, das Gleichgewicht wiederzufinden.
„Die Zeitplanung ist bei euch beiden identisch, wie ich sehe“, murmelte Draco schmunzelnd, denn beide waren fast genau fünf Minuten vor halb eins eingetroffen. „Herzlich willkommen.“
„Darf ich nach dem Grund fragen? Warum sind wir eingeladen worden?“, fragte Severus fordernd.
Einmal die Schultern hebend und senkend erwiderte Draco als Frage formuliert: „Zum Mittagessen?“ Er lächelte einseitig, was ihn für einen Augenblick wie sein Vater aussehen ließ, doch die Augen des jungen Malfoy spiegelten nichts von Boshaftigkeit oder Arroganz wider.
Pünktlich traten auch Harry und Ginny aus dem Kamin. Das dösende Baby im Arm haltend erklärte Harry: „Die Apparationen hatte er bisher ja immer gut überstanden, aber ich hätte nicht gedacht, dass er bei seiner ersten Reise durchs Flohnetzwerk einfach einschläft.“
Ginny schaute sich Nicholas an. „Er hat eben die Flasche bekommen. Natürlich ist er danach müde.“
Draco folgend nahmen alle die Treppe ins Erdgeschoss und als sie an der Küche vorbeikamen, schlug ihnen ein kräftig würziger Duft entgegen, der einem das Wasser im Munde zusammenlaufen lief. Von ihrem Gastgeber wurden sie in den grünen Salon geführt. Die Tafel war bereits angerichtet und Narzissa erledigte noch den letzten Schliff, indem sie eine Stoffserviette durch einen silbernen Ring zog und auf einen der sechs Teller legte.
Aufmerksam betrachtete Hermine den großen Raum, in welchem vor kurzem die Hochzeit von Susan und Draco stattgefunden hatte. Der Wintergarten war wieder durch Fensterscheiben vom Raum abgetrennt, was sicherlich Wobbel zu verdanken war. Nun wirkte der grüne Salon nicht mehr ganz so unübersichtlich groß. Hier und da stellten prächtige, hoch gewachsene Pflanzen in riesigen Tontöpfen einen wahren Blickfang dar; die Atmosphäre war sehr gemütlich. Zwei Dinge fielen Hermine jedoch auf und zwar die nur sechs Gedecke, wo sie doch sieben sein würden und…
„Wo ist Susan?“, wollte sie wissen.
Ein seliges Lächeln legte sich auf Dracos Gesicht, bevor er sagte: „Sie wird nicht mit uns speisen, aber wir können sie nach dem Essen kurz aufsuchen.“ Severus machte ein Gesicht, als würde ihm ein Kürbistörtchen quer im Hals liegen, so dass Draco versicherte: „Nur wer möchte, versteht sich.“
Das gemeinsame Essen – Narzissa hatte gekocht und die Gäste bewirtet – verlief sehr angenehm und locker. Selbst Severus fand Gefallen an einigen Gesprächsthemen und er konnte sich sogar mit Ginny, die er natürlich weiterhin Miss Weasley nannte, bestens über Zaubertränke unterhalten, denn sie sprachen überwiegend über ihren großen Bruder Charlie und seiner Arbeit mit den Drachen.
Nach dem Dessert, einem Mousse au Chocolat, von dem Hermine aufgrund ihres Lobes ein zweites Schälchen von Narzissa erhalten hatte, folgten Hermine, Ginny und Harry ihrem Gastgeber in den ersten Stock, während Severus unten bei Narzissa blieb, um über die schwarzmagische Sammlung ihres Gatten zu diskutieren.
„Einen Moment bitte“, sagte Draco, bevor er hinter einer Tür verschwand. Es dauerte nicht sehr lange, da kam er mit einem Bündel im Arm zurück, während er über das ganze Gesicht strahlte.
„Susan schläft. Sie ist noch sehr mitgenommen von gestern“, sagte Draco leise, während er die Gesichter seiner drei Gäste auf sich wirken ließ, denn jeder hatte die Augen weit aufgerissen. Das überraschte Lächeln, als sie auf das in Decken eingewickelte Baby einen Blick zu erhaschen versuchten, machte ihn schon ganz stolz. Vorsichtig legte er das Gesicht des schlafenden Babys frei, so dass Harry, Ginny und Hermine zeitgleich wonnig seufzten.
„Mein Patenkind“, schwärmte Harry leise. Seine Augen strahlten eine Wärme aus, die Draco glatt die Sprache verschlug.
„Ein Junge oder ein Mädchen?“, wollte Ginny wissen.
Erst jetzt hatte Draco seine Stimme wiedergefunden. „Ein Junge, 3.310 Gramm, 48 Zentimeter“, antwortete der stolze Vater.
„Gott, hatte Susan es gut, Nicholas war ein Kilo schwerer gewesen!“ Besagtes Baby nahm sie Harry aus dem Arm, damit der sein Patenkind begrüßen konnte.
Neugierig fragte Hermine: „Ist denn der Blutzauber schon gesprochen worden?“
„Aber selbstverständlich! Allerdings…“ Draco hielt inne, weil er Harry den kleinen Jungen reichte, der ihn behutsam an sich nahm. „Allerdings zählt ihr laut Blutschutz alle zu meiner Familie. Harry als Patenonkel, Ginny als seine Verlobte, Severus als mein Patenonkel und du“, er blickte Hermine in die Augen, „als meine Trauzeugin. Alles völlig legal.“
„Das mit dem Paten und seiner Familie verstehe ich ja noch“, sagte Harry, „aber dass man als Trauzeuge auch gleich vom Blutzauber als Familienmitglied gezählt wird…?“
„Warum sollte das nicht so sein?“, fragte Draco entgeistert, denn es war ihm ein Rätsel, warum Harry so eine Frage stellte. „Hannah und Hermine sind mit ihrer Unterschrift auf der Heiratsurkunde mitunter unsere engsten Vertrauten wie auch du.“
„Ich bin da nicht so richtig informiert“, gab Harry kleinlaut zu. „Ich weiß nur, dass ich mich um das Kind kümmern werde, sollte euch – Merlin bewahre – irgendwas zustoßen.“
Nickend bestätigte Draco: „Wenn wir das Zeitliche segnen sollten, Harry, dann schlüpfst du in meine Rolle und zwar ohne Einschränkungen. Das heißt, du wirst auch das Erbe für ihn verwalten, bis er volljährig ist.“ Mit zusammengekniffenen Augen fragte Draco skeptisch nach: „Du hast wirklich keine Ahnung, auf was du dich mit der Patenschaft eingelassen hast?“
„Doch, doch“, wollte Harry ihm weismachen. Hermine warf ihm einen beruhigenden Blick zu, der ihm versicherte, dass sie es ihm später haarklein erklären würde.
Das kleine Baby in seiner Armbeuge betrachtend fragte Harry: „Wie heißt er?“
Harry rechnete fest mit einem außergewöhnlichen Namen, denn die Namen von Vater und Großvater waren nicht gerade alltäglich und ein Malfoy würde mit dem Namen seines Kindes sicherlich diese Tradition wahren wollen. Umso mehr erstaunte es ihn, als Draco antwortete: „Charles.“
„Charles?“, wiederholte Harry staunend.
„Das ist sein Rufname. Der vollständige Vorname lautet Charles Erasmus“, informierte Draco.
Ginnys Augen begannen zu leuchten. „Erasmus hieß mein Großvater! Ich hatte auch erst überlegt, ob ich Nicholas so benennen soll.“
Still lächelte Hermine in sich hinein, denn sie kannte die Bedeutung des zweiten Vornamens.
„Wollen wir wieder runtergehen?“, fragte Draco. „Ich würde gern, dass Severus ihn auch mal sieht.“ Harry wollte Charles bereits an den Vater zurückgeben, da erlaubte ihm Draco: „Nein, trag ihn ruhig. Ich werde noch oft genug dazu kommen.“
Im grünen Salon unterhielten sich Narzissa und Severus gerade ungestört über einige der schwarzmagischen Objekte, auf die Severus schon vor zwei Jahrzehnten ein Auge geworfen hatte.
„Gibt es noch den ’Zankapfel’? Hat Lucius ihn noch in seinem Besitz?“, fragte Severus sehr interessiert.
„Ja, den gibt es noch, aber ich finde ihn besonders abscheulich“, erwiderte sie mit gerümpfter Nase.
„Wenn es dir so viel Kummer bereitet, ihn in deinem Besitz zu wissen, dann…“
„Nein, den kann ich dir nicht aushändigen, Severus. Der richtet nur Chaos an!“
„Aber nicht für den Besitzer. Ich bin ja nur an dem Zauber interessiert, der auf dem Objekt liegt“, versicherte er ihr mit ruhiger Stimme.
„Ich weiß nicht, da fragst du besser Draco. Alles hier gehört laut Ministerium ihm, weil ich es damals in meinem beeinträchtigtem Zustand für richtig gehalten hatte, meinen Sohn über alles verfügen zu lassen.“
„Was ist mit dem ’Pfeil und Bogen des…’?“
Die Tür öffnete sich, weswegen Severus seine Frage für sich behielt. Seine Augenbrauen wanderten unmerklich in die Höhe, als er die vier jungen Leute sah, die nun zwei Bündel mit sich herumtrugen. Severus blickte Narzissa an, die ihm ein warmherziges Lächeln schenkte.
„Du bist nun Großmutter?“, fragte Severus leise. Es schien, als würde er sich für sie freuen, denn es hatten sich kleine Fältchen um seine Augen gelegt, die anstelle seines Mundes zu lachen schienen. Narzissa nickte, während sie ihren seligen Gesichtsausdruck nicht verlor.
„Severus?“, hörte er seinen Patensohn gutgelaunt sagen. „Darf ich dir das neuste Mitglied der Familie Malfoy vorstellen?“
Severus erhob sich und schaute zwischen den beiden Bündeln hin und her, verweilte dann mit seinen Augen auf dem kleineren in Harrys Armen und näherte sich seinem Kollegen. Die Decke behutsam umschlagend legte Draco das Gesicht des kleinen Jungen frei, der noch immer schlummerte.
„Ein Junge oder…?“
Draco bestätigte: „Ja, ein Junge. Charles Erasmus.“
„Erasmus? Vor zwei, drei Generationen war das ein sehr verbreiteter und beliebter Name“, warf Severus als Tatsache in den Raum hinein, während er das Kind betrachtete und seine Miene derweil keine Gefühle preisgab; nicht einmal mehr seine Augen. Nach einem kurzen Moment machte Severus die weniger charmante Feststellung: „Er ist runzelig.“
Hermine rollte mit den Augen. „Das ist völlig normal, das geht in ein paar Tagen weg.“
Da Severus so dicht bei ihm stand, fragte Harry, während er das Bündel an die Brust seines Kollegen drückte: „Wollen Sie ihn mal nehmen?“
„Nein…“, antwortete sein Kollege erschrocken, doch es war zu spät, denn Harry hatte ihn längst überrumpelt; Severus’ Arme hielten den Jungen bereits.
Er konnte es nicht verhindern, an den Moment zu denken, in welchem Lucius ihm damals stolz den eigenen Spross in den Arm gelegt hatte. Severus betrachtete das Kind, dessen Augen hinter den geschlossenen Lidern zaghaft hin und her rollten. Die Haut mochte runzelig sein, aber er war sich sicher, dass sie samtig weich sein würde, sollte er es wagen, das Gesicht des Babys zu berühren, wovon er sich selbst abhielt. Severus konnte sich kaum vorstellen, dass man mit diesem Kind in einigen Jahren bereits kommunizieren können würde; dass dieses Kind in elf Jahren sehr wahrscheinlich einen Brief aus Hogwarts erhalten würde. In dem Augenblick, als diese Gedanken seinen Geist fluteten, da erinnerte er sich daran, damals das Gleiche gedacht zu haben, als er Draco das erste Mal gehalten hatte. Severus schaute unbemerkt auf und erhaschte einen Blick auf den jungen Mann, dessen leichte, zerbrechlich wirkende Gestalt er vor über zwanzig Jahren in seinen Armen gehalten hatte – und der so frech gewesen war, ihm mit den kleinen Händen an die Nase zu langen. Wieder zu Dracos Kind schauend dachte Severus, wie unglaublich es schien, dass ein schlafender Säugling so viel Ruhe und Frieden ausstrahlen konnte.
Erträglicher wäre es momentan für Severus, wenn nur Draco und er im Raum wären, doch vor allen anderen das Kind zu halten war ihm unangenehm. Den unbehaglichen Augenblick überspielend sagte Severus, nachdem er den hellroten Flaum auf dem Kopf des Babys erblickt hatte: „Es wird wohl erstmalig mit den Traditionen gebrochen, denn soweit ich unterrichtet bin, waren alle Mitglieder der Familie Malfoy – väterlicherseits – durchweg blond.“
„Kommt drauf an, was die Eltern so an Genen mitbringen“, warf Hermine heiter ein. „Aber bei dem Kleinen sieht man ja schon, dass Susans Veranlagung für rote Haare kräftig mitgemischt hat.“
Sie lächelte, als sie Charles betrachtete, woraufhin Severus mit einem hoffnungsvollen Unterton in der Stimme fragte: „Hatten Sie ihn schon einmal gehalten?“ Sie schüttelte den Kopf, so dass er ihr das Bündel entgegenhielt und erleichtert ausamtete, nachdem sie das Baby an sich genommen hatte.
Sich seinen Patensohn am Oberarm greifend führte er ihn unauffällige wenige Meter von den anderen weg, bevor er vorwurfsvoll sagte: „Du hättest mich auch einfach über den Nachwuchs unterrichten können.“
Schnaufend konterte Draco: „Damit du uns gar nicht mehr besuchst?“ Mit nachsichtiger Stimme fügte Draco sofort hinzu, um seine Anschuldigung schnell wieder zu entkräften: „So schlimm war es nicht, ihn einmal zu halten oder?“ Severus schien kurz überlegen zu müssen, schüttelte jedoch kurz den Kopf. „Denk dran, Severus, dass ich dich gern zum Patenonkel gemacht hätte.“
„Mit Harry bist du in dieser Angelegenheit wesentlich besser bedient“, lautete Severus’ ernst gemeinte Stellungnahme. „Ich bin für so etwas zu alt.“
Jetzt platzte Draco der Kragen, doch er behielt seine Stimme unter Kontrolle. „Meine Güte, du wirst erst 44! Von wegen zu alt… Aber du hast Recht damit, wenn du meinst, dass Harry bestens für diese Aufgabe bestimmt ist.“ Draco blickte zu Harry hinüber, der das Baby in Hermines Armen federleicht am Kopf streichelte und derweil etwas zu Ginny sagte. „Ich bin in gewisser Weise froh, dass er zugesagt hat, auch wenn ich es mit einem weinenden Auge betrachte, dass du dich so einer Aufgabe nicht mehr gewappnet gefühlt hast.“
„Du willst es nicht verstehen oder?“, fragte Severus missgelaunt, aber auch abgekämpft klingend.
„Ich würde es gern verstehen“, erwiderte Draco ehrlich, doch wie er es geahnt hatte, äußerte sich Severus nicht dazu.
„Übermittel doch bitte deiner Gattin meine Glückwünsche. Und ich möchte mich für das vorzügliche Mittagessen bedanken. Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest?“
Severus verließ unbeachtet von den anderen den grünen Salon und Draco wusste, dass sein Patenonkel den Kamin im ersten Stock nehmen würde, um sich klammheimlich davonzustehlen. Von der Tür, die Severus eben von außen geschlossen hatte, blickte Draco hinüber zu seinen verbliebenen Gästen. Hermine und Harry standen noch immer zusammen und bestaunten den Jungen, während seine Mutter sich in Ginnys Nähe aufhielt und deren Sohn betrachtete, sich derweil mit der Rothaarigen gelassen unterhielt. Plötzlich begann eines der Kinder zu schreien und es war nicht Nicholas.
„Oh“, machte Ginny mitfühlend, als sie sich Hermine näherte. Dem Geschrei von Charles Worte verleihen wollend versuchte sie sinngemäß zu interpretieren: „So viele Menschen auf einmal. Lasst mich doch alle in Ruhe, ich möchte zu meiner Mama.“
Lächelnd nahm Draco seinen Sohn von Hermine entgegen und bestätigte: „Ich bin davon überzeugt, dass er genau das denkt. Ich bin gleich wieder da.“
Auf seinem Weg in die Bibliothek im vierten Stock, denn Severus wollte nachschauen, ob er etwas über Mr. Callidita herausfinden könnte, hielt er beim Anblick von Remus inne, der verträumt aus dem Fenster im Flur auf die verschneite Landschaft schaute. Severus erkannte an der Körperhaltung seines alten Mitschülers, dass etwas schwer auf ihm zu lasten schien, was ihm völlig egal sein könnte, doch er entschloss sich dazu, mit seinen Bösartigkeiten zurückzuhalten. Er nahm seinen Weg erneut auf und machte keinen Hehl aus seiner Präsenz. Remus wandte seinen Kopf, als er näher kommende Schritte hörte und Severus bemerkte, wie sich ein gekünsteltes Lächeln auf das Gesicht des Werwolfs zauberte, womit er gute Laune vortäuschen wollte.
„Hallo Severus.“
„Lupin.“ Ein Kopfnicken folgte. „Haben Sie in Ihrem Zimmer keine eigenen Fenster?“ Severus war davon überzeugt, dass diese Spitze nicht als Bösartigkeit gesehen werden würde.
„Habe ich, aber der Ausblick ist langweilig geworden“, scherzte Remus zurück. „Hermine ist nicht in ihrem Zimmer, falls du sie suchen solltest.“
Es war eindeutig gewesen, dass Remus sie hatte aufsuchen wollen, weswegen Severus erklärte: „Sie ist noch bei Mr. Malfoy, um sein Kind zu bestaunen.“
„Sein Kind?“ Remus machte sich nicht erst die Mühe, seine Überraschung zu vertuschen, denn die stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Ein wenig früh oder?“
„Ich glaube, zweieinhalb Wochen zu früh, aber es ist alles bestens.“
Severus wollte bereits seinen Weg fortführen, da fragte Remus: „Wohin gehst du?“ Gerade wollte Severus ihm an den Kopf werfen, dass ihn das nicht anzugehen hätte, da sagte Remus ihm zuvorkommend: „Ich weiß, dass mich das nicht zu interessieren hat.“ Den Gang hinunterblickend schien ihm ein Gedanke zu kommen, weswegen er fragte: „Gehst du in die Bibliothek?“
„Ganz recht, wenn Sie mich also entschuldigen…“
„Ich komme mit! Ich war ewig nicht mehr dort.“ Als Schüler hatte Remus viele schöne Stunden dort verbracht, etliche davon mit Linda und die meisten – auch wenn beide immer weit voneinander entfernt gesessen hatten – mit Severus.
Da Severus ihm nicht folgte, blieb Remus stehen, um sich umzudrehen. Braune Augen blickten ihn skeptisch an, so dass Remus höflichkeitshalber fragte: „Ich störe doch nicht?“
„Wenn Sie zwanzig Meter Abstand halten“, er hob und senkte die Schultern, „dann nicht.“
Zusammen zur Bibliothek gehend hielt Remus ein wenig Smalltalk. „Nach was suchst du?“
Er hatte nicht mit einer Antwort gerechnet, weswegen er umso erstaunter war, als Severus nach einigem Zögern preisgab: „Nach Büchern von oder über einen Mann namens Corvinus Callidita.“
„Oh“, machte Remus begeistert. „Der war hier mal Schüler!“ Abrupt blieb Severus stehen, während Remus noch zwei Schritte ging, bevor er die dunkelgekleidete Präsenz neben sich vermisste und sich umdrehte. „Was, das wusstest du nicht?“
„Nein“, gab Severus zu. „Ich kann wohl kaum über jede Person informiert sein, die seit der Gründung Hogwarts vor über 1000 Jahren bis heute hier als Schüler in Erscheinung getreten ist.“
„Das wäre auch zuviel verlangt“, pflichtete Remus bei. „Ich weiß das auch nur von Poppy.“ Severus setzte sich wieder in Bewegung und forderte derweil Remus mit einem einzigen Blick auf weiterzureden. „Als ich damals dein Kollege hier war“, er spielte auf Harrys drittes Schuljahr an, „da waren die Erinnerungen an die versteinerten Schüler bei allen noch ganz frisch. Ich hatte mich erst mit Pomona darüber unterhalten. Diese Vorfälle hatten mich interessiert, es kommt ja nicht alle Tage vor. Später hat Poppy mir noch einiges erzählen können. Sie hatte von dem Basilisk in der Kammer des Schreckens gesprochen.“ Remus lächelte. „Deswegen war ich auch so wild drauf, das Tierchen mal mit eigenen Augen zu sehen.“ Severus schnaufte, hörte jedoch weiterhin zu. „Sie erwähnte, dass einer ihrer Vorgänger angeblich selbst mal einen Basilisk gezüchtet haben sollte, aber sie wusste nicht, ob das nur eine Legende wäre oder der Wahrheit entsprach.“
Severus stutzte. „Einer ihrer Vorgänger?“
„Ja, Callidita war für einige Zeit der Heiler in Hogwarts, aber nicht sehr lange.“
„Dann wird es Schulunterlagen von ihm geben“, vermutete Severus murmelnd.
„Es gibt auch ein Gemälde von ihm“, warf Remus ein, weswegen Severus ihn erstaunt anblickte. „Hängt in Poppys Büro. Er spricht aber nicht, hat er nie.“
„Ist es kein bewegliches…“
„Doch, ist es, aber er spricht nicht. Frag mich nicht, warum.“
Die Bibliothek hatten sie erreicht. Severus öffnete die Flügeltür und ließ Remus als Ersten hinein.
Völlig unerwartet fragte der Werwolf: „Wie heißt Dracos Kind?“
„Charles Erasmus.“
„Erasmus“, wiederholte Remus schätzend. „Ich glaube, Arthur hatte einmal erwähnt, dass sein Vater…“
Severus vollendete den Satz: „…ebenfalls so hieß, ja ich weiß.“
„’Erasmus’ bedeutet ’der Liebenswerte’, wusstest du das?“, fragte Remus, während er bereits die Bücher eines Regals überflog.
„Nein, aber dank Ihnen bin ich jetzt im Bilde“, erwiderte Severus gleichgültig, bevor er schnurstracks in die Verbotene Abteilung marschierte. Remus folgte ihm unaufgefordert.
„Der Name ’Remus’ bedeutet…“
Unterbrechend wies Severus ihn zurecht, denn er sagte: „Es bedeutet ’Ruder’, das weiß ich. Ich bin nicht völlig unerfahren, was die lateinische Sprache betrifft, aber Vornamen und ihre Bedeutungen interessieren mich nicht im Geringsten!“
„Ha, du machst deinem Namen alle Ehre“, stichelte Remus belustigt, woraufhin er sich einen bösen Blick einfing, doch den schmetterte er mit einem breiten Lächeln ab.
Während beide durch die dunklen Gänge der Verbotenen Abteilung schlenderten und die Buchtitel überflogen, da fragte Severus nebensächlich: „Warum sind Sie eigentlich noch in Hogwarts? Soweit ich darüber unterrichtet bin, ist Hogsmeade wieder zugänglich.“
„Ich, ähm…“ Remus war offensichtlich verlegen, antwortete jedoch ehrlich: „Ich bin nicht mehr bei Rosmerta beschäftigt.“ Severus schaute ihn mit gefühlskalter Miene an. „Ich werde nachher mit Albus reden und darum bitten, noch einige Tage hier bleiben zu dürfen, bis ich eine neue Bleibe…“ Die Stimme versagte und Remus hielt den Mund, widmete sich gleich wieder den Büchern, doch man konnte ihm ansehen, dass er nur halb bei der Sache war.
„Ich bin mir sicher“, begann Severus arrogant klingend, „dass sich für Sie ein Platz in der Küche finden würde.“
Im ersten Moment fühlte sich Remus gekränkt, doch im nächsten Augenblick erinnerte er sich daran, wie Severus eine ähnliche Bemerkung gemacht hatte, mit der er versteckt seine Kochkünste gelobt hatte. „Sie sollten in Hogwarts anfangen, Lupin. Ich bin sicher, die Hauselfen könnten noch viel von Ihnen lernen“, hatte Severus damals in den Drei Besen gesagt, nachdem er ihn und Hermine mit seiner Forelle hatte begeistern können.
„Ich denke, es würde vielen Eltern missfallen, einen Werwolf dauerhaft in Hogwarts zu wissen“, sagte Remus kleinlaut, ohne Severus anzublicken. „Das war schon einmal so gewesen.“
Ein seltsames Gefühl machte sich in Severus breit und er wagte es nicht, es als Schuld zu deuten, denn er war es gewesen, der damals „versehentlich“ vor seinen Slytherins hatte verlauten lassen, dass Professor Lupin an Lykanthropie leiden würde.
„Die Zeiten ändern sich. Sehen Sie mich an“, Remus blickte tatsächlich zu Severus hinüber, „ich bin ein Todesser und arbeite hier, ohne dass bisher auch nur ein einziger Brief von aufgebrachten Eltern eingetroffen ist.“
„Du hast einen Merlin erster Klasse erhalten!“ Für Remus war das Grund genug, die Vergangenheit als Todesser vergessen zu können, doch für Severus reichte das offenbar nicht aus.
„Und dieser Orden soll all das, was ich jemals getan habe, einfach ausradiert haben? Ich bin noch immer der gleiche Mann wie vor Kriegsende!“
„Es gibt Leute“, begann Remus mit weicher Stimme, „die das Gegenteil behaupten.“
„Die da wären?“, wollte Severus wissen.
Die Lippen schürzend hob Remus die Schultern und er senkte sie erst wieder, als er aufzählte: „Harry und Hermine, Draco… Albus hat damals immer schon mehr von dir gehalten als alle anderen.“ Einen Moment später fügte Remus mutig hinzu: „Ich denke übrigens auch, dass du dich verändert hast.“ Um seine Behauptung zu untermauern gab er als Beispiel: „Wir können miteinander reden, ohne uns gleich gegenseitig an die Kehle…“
„Mit Ihrem Gefasel machen Sie es mir sehr schwer, diesem durchaus noch vorhandenen Drang nicht nachzugeben, Lupin!“
Abrupt das Thema wechselnd erinnerte Severus mit schroffem Ton daran: „Am 7. Januar ist Vollmond. Ich erwarte Sie kommenden Montag für den ersten Trank.“
„Als ob ich das vergessen würde“, murmelte Remus amüsiert.
Während Severus und Remus zusammen in der Verbotenen Abteilung nach Büchern Ausschau hielten, die von Corvinus Callidita verfasst worden waren oder von ihm handelten, betraten Harry, Ginny und Hermine ihr Wohnzimmer in Hogwarts.
„Willst du noch etwas bleiben, Hermine?“, fragte Harry.
„Nein danke, ich möchte ein wenig lesen“, erwiderte sie, denn sie hatte gestern, während sie mit Severus die Biografie bis in die Nacht hinein verschlungen hatte, keine Zeit gehabt, jenes Buch aufzuschlagen, welches sie heimlich vom Grimmauldplatz mitgenommen hatte.
In ihrem eigenen Wohnzimmer angelangt fütterte sie zunächst Fellini, bevor sie in ihrem Schlafzimmerschrank nach dem Buch suchte, welches noch immer verkleinert in der Tasche der Hose verweilte, die sie gestern getragen hatte. Das Buch war in Null Komma nichts in seine ursprüngliche Größe zurückverwandelt und erst jetzt konnte sie erstmals den Titel lesen.
„Leib und Seele“, murmelte sie leise und sie hatte das überwältigende Gefühl, die Antwort auf all ihre Fragen in den Händen zu halten. Bevor sie es jedoch aufschlug, blätterte sie in dem Buch, das Severus ihr gegeben hatte, nachdem sie das erste Mal mit schwarzmagischen Büchern in Berührung gekommen war. Sie suchte in diesem Buch nach dem Titel „Leib und Seele“, um zu sehen, wie sie sich vor möglichen, negativen Beeinflussungen schützen könnte, doch der Titel war nicht aufgeführt. Sie fragte sich, ob ein normaler Schutzzauber ausreichen würde, aber sie zögerte. Albus’ Erklärung über eines seiner eigenen Bücher, bei dem man bestimmte Seitenzahlen nicht aufschlagen durfte, weil es einen sonst mit Haut und Haaren verschlingen würde, hielt sie davon ab, das Risiko unüberlegt einzugehen. Sie würde nicht Severus um Hilfe bitten, aber den Direktor.
„Hermine, was kann ich für Sie tun?“, fragte Albus heiter, nachdem er ihr seine Bürotür geöffnet hatte. Sein üppiger, farbenfroher Umhang war mit beweglichen Motiven dekoriert: zerplatzende Feuerwerkskörper. Heute war Silvester, dachte Hermine überrascht, denn wie schon Weihnachten wollte sich auch Neujahr ungesehen an ihr vorbeischleichen.
„Ich habe ein schwarzmagisches Buch, das ich gern lesen würde, aber ich weiß nicht, wie ich mich davor schützen muss, wenn ich überhaupt Vorkehrungen treffen muss. Ich dachte, Sie könnten mir vielleicht einen Hinweis geben, Albus.“
„Ah, setzen Sie sich doch bitte. Einen Tee?“
Hermine verneinte wortlos und legte besagtes Buch auf den Tisch, während sie Albus’ Miene ganz genau beobachtete. Er schien es zu kennen, denn für einen Moment blickte er reumütig auf den Titel, bevor er leise seufzte.
„Ich habe es einmal jemandem empfohlen“, sagte er beschämt. „Es hatte dieser Person das Leben gerettet, aber ich wünschte, es hätte einen anderen Weg gegeben.“
Hermine brauchte gar nicht zu fragen, von welcher Person Albus sprach. „Dann können Sie mir sagen, wie ich es öffnen kann?“
„Das Buch selbst kann geöffnet werden, ohne dass man etwas Schlimmes befürchten muss, denn es sind die Dinge, die darin behandelt werden, die auf den gesunden Geist einwirken können. Lesen Sie es mit innerem Abstand, Hermine, denn es werden Geheimnisse angeschnitten, die verborgen bleiben sollten, Mysterien, die nicht erklärt werden können, egal was der Text einem als Tatsache vorgaukelt.“
„Warum ist es so ein schlechtes Buch?“, wollte sie wissen.
„Ein Buch allein kann nicht schlecht sein. Es nur zu lesen verdirbt einen nicht, aber sollte man auch nur mit dem Gedanken spielen, eine der beschriebenen Handlungen in die Tat umsetzen zu wollen, dann könnte man sich sehr schnell als verloren bezeichnen.“
Forsch fragte sie: „Aber nicht für immer verloren oder?“
„Ich hätte vor einiger Zeit noch rigoros bejaht, Hermine.“ Er schenkte sich selbst einen Tee ein und sagte, während er die Zuckerwürfel in die Tasse fallen ließ: „Doch wenn etwas einem völlig unbekannt ist, dann wird man sich schnell darüber bewusst, dass man die Antwort gar nicht kennen kann und da man sie nicht kennt, kommt die Hoffnung ins Spiel; davon sollte man immer reichlich in seinem Herzen haben.“ Er warf ihr ein freundliches Lächeln hinüber, welches sie ansteckte.
„Danke, Albus.“
Sie erhob sich bereits, doch er hielt sie mit einer Geste seiner Hand vom Gehen ab.
„Sagen Sie, Hermine, wie sind Sie in den Raum gelangt, der dieses Buch so viele Jahrhunderte vor neugierigen Blicken geschützt hatte?“
Sie blinzelte ein paar Mal, bevor sie sagte: „Ich habe es im Grimmauldplatz gefunden. Harry hatte mir erlaubt, ein paar Bücher aus der schwarzen Sammlung der Blacks auszuleihen.“
„Ah“, machte Albus erleichtert. „Und ich dachte schon, Sie hätten einen Weg gefunden, den versteckten Raum in der Bibliothek zu betreten.“
Sie schnaufte. „Ich wusste bisher nicht einmal, dass es dort außer der Verbotenen Abteilung noch einen weiteren Raum gibt.“
„Das muss auch niemand wissen. Es hätte mich sehr überrascht, wenn Sie diesen Raum nicht nur gefunden hätten, sondern auch in der Lage gewesen wären, den Eingang zu öffnen.“
Sie lachte auf. „Ich schaffe es ja nicht einmal, die Tür auf dem Dachboden zu öffnen, Albus“, konterte Hermine amüsiert und daher ein wenig unüberlegt, bevor sie sich erneut auf die Couch setzte und sich doch eine Tasse Tee einschenken ließ.
„Ja ja, der Dachboden“, sagte Albus murmelnd, als würde er in Erinnerungen schwelgen. Während er ihr einen Teller mit kleinen Kuchen reichte, warf er ein: „Auch der gute Harry war einst vom Dachboden sehr angetan.“
Hermines kleine, graue Zellen klatschten in die Hände, als ihr ohne Umschweife nur eine einzige Begebenheit einfiel, in welcher Harry vom Dachboden so fasziniert gewesen war.
Mit großen Augen fragte sie, obwohl sie sich der Antwort sicher war: „Nerhegeb?“
„Ja, mein alter Spiegel verweilt sicher auf dem Dachboden. Ich möchte nicht riskieren, dass eines der Kinder ihn findet und womöglich seine im Krieg verlorenen Eltern zu sehen bekommt. Solche Wunden müssen heilen und nicht mit unerfüllbaren Sehnsüchten aufgerissen werden.“
„Es steht tatsächlich Nerhegeb auf dem Dachboden?“ Sie war völlig verblüfft und weigerte sich momentan, bestimmte Ereignisse aus der Vergangenheit mit dieser Information verknüpfen zu wollen.
„Möchten Sie einen Blick hineinwerfen, Hermine?“
Die Versuchung war groß, sehr groß. Unsicher biss sich Hermine auf die Unterlippe und ihr Blick schweifte von ihrer Teetasse zum kleinen Kuchentablett hinüber, bis sie aufblickte und Albus’ freundlichen, aber fragenden Gesichtsausdruck wahrnahm.
„Ich…“ Sie haderte mit sich selbst. Gern würde sie ihre Wünsche als magisch manifestiertes Bild sehen, doch die Angst war zu groß, etwas zu Gesicht zu bekommen, von dem sie wusste, dass es sich nicht erfüllen würde. „Nein, ich möchte nicht hineinsehen. Über meine Wünsche und Ziele bin ich mir im Klaren.“ Viel leiser murmelte sie: „Denke ich jedenfalls.“
„Sie überraschen mich und in gewisser Weise machen Sie mich stolz, Hermine!“ Weil sie sprachlos schien, erklärte Albus: „Sie sind die Erste, die dieses Angebot abgeschlagen hat. Niemand, nicht einmal ich selbst, konnte widerstehen, zumindest ein einziges Mal hineinzublicken.“
„Was haben Sie gesehen?“, wollte sie wissen.
Albus schüttelte den Kopf, lächelte jedoch freundlich. „Das, Hermine, werde ich Ihnen nicht anvertrauen, aber seien Sie unbesorgt, denn nach all den Jahren ist dieser Wunsch tatsächlich Wirklichkeit geworden, auch wenn ich eine lange Zeit geglaubt hatte, diese Erfüllung wäre für mich unerreichbar.“
„Und Sie verspüren nicht den Drang, noch einmal hineinzusehen?“
„Nein, denn es gibt nur noch einen Wunsch, den ich habe und der wird sich hoffentlich sehr bald ebenfalls verwirklichen“, gab er zuversichtlich wider, doch ihr war nicht entgangen, dass er sie derweil eindringlich angesehen hatte.
Das Buch wieder verkleinernd und in ihre Hosentasche steckend machte sie sich auf den Rückweg in ihr Quartier, als sie im vierten Stock angelangt auf erhobene Stimmen aufmerksam wurde. Sie näherte sich der Tür der Bibliothek, aus der die Stimmen zu kommen schienen. Sie hörte Severus nur leise und bösartig zischen, doch die laute Stimme erkannte sie ebenfalls. Es war Sirius gewesen. Mutig öffnete sie die Tür und stutzte, als sie auch Remus bemerkte, der weniger mit Worten, sondern mit beruhigenden Gesten versuchte, seinen aufgebrachten Freund zu beschwichtigen. Sie lauschte dem, was Sirius zu sagen hatte.
„Du hast gestohlen, gib es zu!“, warf er Severus vor.
„Ich habe nicht mehr als das eine Buch, welches ich in meinen Händen hielt, aus dem Grimmauldplatz mitgenommen!“, verteidigte sich Severus und in genau diesem Moment überkam sie ein Schuldgefühl.
„Ähm“, machte sie, um die Aufmerksamkeit der drei Herren zu erlangen. Sie ging einige Schritte auf die Männer zu und beichtete verlegen: „Das zweite Buch habe ich mitgenommen, Sirius.“
„Siehst du“, sagte Remus erleichtert, während er einmal in die Hände klatschte, „es hat sich aufgeklärt.“
„DU, Hermine?“ Sirius schien völlig verwundert zu sein. „Warum nimmst du so ein Buch mit?“
„Um welches, wenn ich fragen darf, handelt es sich denn?“, wollte Severus wissen. Seine Gesichtsfarbe wurde noch bleicher als man sie gewohnt war, während er sie mit skeptischem Blick musterte.
Ausweichend erklärte sie: „Ich war mit dem Buch eben bei Albus.“
Sirius schüttelte ernüchtert den Kopf. „Warum will du so etwas lesen?“
„Es interessiert mich halt“, sollte als Antwort genügen, dachte sie.
„Du enttäuschst mich.“ Er hatte sehr ernst und vorwurfsvoll geklungen, doch Remus wollte Sirius umstimmen.
„Lass Hermine in Ruhe. Du hast doch gehört, dass sie damit bei Albus war. So schlimm kann es doch nicht sein.“ Einmal zu Severus hinüberblickend empfahl er Sirius: „Wie wäre es mit einer Entschuldigung?“
„Tut mir Leid, Hermine“, murmelte Sirius.
„Doch nicht bei Hermine!“
Sirius schaute seinen besten Freund an, blickte dann kurz zu Severus hinüber, bevor er an Remus gewandt abwiegeln wollte: „Komm schon: Wenn Severus und Hermine als Einzige einen Raum betreten und danach ein schwarzmagisches Buch fehlt, wen würdest du als Ersten verdächtigen?“
An Remus’ Gesichtsausdruck konnte man durchaus erkennen, dass er Sirius’ Gedankengänge nachvollziehen konnte, doch er nahm die Angelegenheit sehr gelassen, was das verschmitzte Lächeln untermalte. „Aber er war es nun mal nicht.“
Schnaufend blickte Sirius zu Boden. Ein paar Mal tief durchatmend hob er den Kopf und richtete das Wort an Severus. Übertrieben höflich mit meinem Hauch von Spott gab er seine Entschuldigung zum Besten, indem er sagte: „Es tut mir Leid, dass ich mit der für mich einzig logischen Erklärung falsch gelegen und dich zu Unrecht beschuldigt habe.“
„Es ist immer wieder sehr erheiternd miterleben zu dürfen“, begann Severus trocken, „wie selten ein Gryffindor seinen Verstand gebraucht.“
„Hey“, warf Remus lächelnd ein, „wir sind momentan in der Überzahl.“
„Eine Überzahl, die mir nicht gefährlich werden könnte. Wenn ich nun darum bitten darf, allein gelassen zu werden?“
Er wartete keine Antwort ab sondern entfernte sich von den dreien und widmete sich wieder den Regalen und ihren BĂĽchern.
„Warum bist du eigentlich hier?“, fragte Remus. „Doch bestimmt nicht nur, um Severus wegen Diebstahls zu bezichtigen.“
Sirius verneinte. „Ich wollte erst dich und dann Harry und Ginny besuchen.“ Er warf Hermine einen Blick zu der ihr verriet, dass er ihrem Ratschlag, seine Freunde öfters aufzusuchen, nachkommen wollte. „Vielleicht könnten wir Silvester heute zusammen…“
Von dem nicht vollständig artikulierten Vorschlag sichtlich begeistert sagte Remus: „Ja, sicher! Ich werde Tonks Bescheid geben, dann können wir hier feiern. Albus hat sicherlich nichts dagegen.“ Er wandte sich an Hermine: „Wirst du auch zu Harry kommen oder hast du schon etwas anderes vor?“ Über seine Schulter schauend erhaschte er einen Blick auf Severus, der gerade ein Buch aus dem Regal zog.
„Ich habe bisher nichts vor. Ich wollte noch ein wenig lesen“, gestand Hermine. Im gleichen Moment wurde ihr bewusst, wie erbärmlich es sich anhören musste, dass sie für den Silvesterabend noch nicht einmal Pläne gemacht hatte.
„Bis wann willst du lesen? Bis zehn Minuten vor Mitternacht?“, stichelte Remus. „Du solltest mal entspannen!“
„Ich… Ich werde heute Abend in die große Halle kommen und danach mit zu Harry.“
Vorher wollte Hermine aber noch einen Blick in das Buch „Leib und Seele“ werfen, bei dessen Anblick weder Severus noch Albus unberührt geblieben waren.
In ihren Räumen legte sie sich Pergament, Tintenfass und Feder zurecht, falls sie sich etwas notieren wollte, bevor sie den schweren Deckel des sehr gebraucht aussehenden Buches öffnete. Als Erstes bemerkte sie eine Widmung in wunderschön geschwungener Schrift. Es war ein Geschenk für Phineas Nigellus Black von seiner Frau gewesen. Das Datum „1877“ konnte man noch gut erkennen.
Hermine vertrödelte keine Zeit damit, erst die Inhaltsangabe zu lesen; sie begann sofort mit dem ersten Kapitel. Das Lesen fiel ihr jedoch schwer, denn immer wieder erinnerte sie sich an das Gespräch mit Albus. Besonders die Information, dass der Spiegel Nerhegeb auf dem Dachboden zu finden wäre, bescherte ihr ein unbeschreibliches Gefühl; eine Mischung aus Unruhe und Herzklopfen. Sie wusste, dass Severus abends regelmäßig den Dachboden aufsuchte, aber jetzt ahnte sie auch, was ihn dazu bewegte. Die Buchstaben vor ihren Augen verschwammen, als sie sich ins Gedächtnis zurückrief, dass Severus sie genau dort gesehen haben will – auf dem Dachboden –, auch wenn er das später dementiert hatte. Ohne es zu bemerken begannen ihre Hände aufgeregt zu zittern. Sie konnte natürlich spekulieren und das Naheliegende einfach als Tatsache betrachten, doch sie war sich nicht sicher, ob sie für das Ergebnis dieser Kombination bereit war. Zumindest rückte es ihn in ein ganz anderes Licht, doch auch wenn sie im ersten Moment glaubte, nun mehr von ihm zu wissen, so machte es ihn gleichermaßen noch viel geheimnisumwitterter als zuvor.
Sie seufzte und verbann alle Gedanken, um sich auf den Text zu konzentrieren. Es stellte sich bald heraus, dass es sich um ein „medizinisches“ Buch handelte, in welchem irreführende Diagnosemaßnahmen und dubiose Behandlungsmethoden beschrieben wurden. So wie man damals in der Muggelwelt anfangs noch sehr grobschlächtig und voreilig die Lobotomie angewandt hatte, mit der man in der Hoffnung auf Heilung leichtsinnig Teile des Gehirns zerstörte, so hatten die Heiler der magischen Welt früher unter anderem bei Gemütserkrankungen überstürzt zu Methoden gegriffen, die zur Folge hatten, dass zwar nicht Teile des Körpers unwiderruflich beschädigt wurden, dafür aber Teile der Seele.
Ein eiskalter Schauer lief Hermine den RĂĽcken hinunter.
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