von Muggelchen
„Wie bin ich ins Bett gekommen?“, fragte Draco in den Raum hinein, nachdem er sich am nächsten Morgen gestreckt hatte.
Noch immer müde, aber dennoch gut gelaunt antwortete Susan, während sie sich den Schlaf aus den Augen rieb: „Du hast gestern Abend noch mit ein paar der übrigen Gäste Brüderschaft getrunken. Ich vermute“, sie streckte sich ihm entgegen und gab ihm einen Kuss auf die Lippen, „dass du Alkohol einfach nicht so gut verträgst.“
„Ich vertrage Alkohol“, rechtfertigte er sich.
„Das mag sein, aber nach zwölf Gläsern Feuerwhisky würde ich auch nicht mehr wissen, wie ich ins Bett gekommen bin.“
Mit Reue in der Stimme entschuldigte er sich. „Es tut mir Leid, dass der Abend so…“
„Nein Draco, keine Sorge. Es war ein schöner Abschluss.“ Sie gab ihm erneut einen Kuss und strahlte breit. „Und außerdem hast du jetzt zwölf neue Freunde.“
„…an die ich mich leider nicht erinnern kann. Warum habe ich keinen Kater?“ Er legte eine Hand vorsichtig an die Stirn, als würde er erwarten, dass jeden Moment der dumpfe Kopfschmerz beginnen müsste.
„Zaubertrank“, war ihre knappe Antwort gewesen. Sie setzte sich im Bett auf, was wegen ihres runden Bauches eine langwierige Prozedur darstellte, lehnte sich an das Kopfende und fragte: „Was hast du gestern eigentlich so lange mit Ron besprochen? Es sah sehr ernst aus.“
„Ach“, winkte er ab, „er hat mir nur erzählt, dass der Sponsor von seinem Verein jetzt doch abgesprungen ist. Ich habe einiges Internes erfahren.“
„Mmmh“, machte Susan, die diese Information nur zur Kenntnis nahm, denn Quidditch war nicht eines ihrer bevorzugten Gesprächsthemen. „Ich könnte jetzt ein Frühstück vertragen.“
„Ich mach eines“, sagte Draco, sprang vom Bett und zog sich den Morgenmantel über.
Er brauchte nicht bis in die KĂĽche zu gehen, denn nachdem er aus dem Schlafzimmer getreten war, fand er ein Tablett vor, welches seine Mutter auf dem Couchtisch im Wohnzimmer abgestellt und mit einem Zauber versehen haben musste, damit der Kaffee heiĂź und der Saft kalt bleiben wĂĽrde. Selbst den Tagespropheten hatte sie gefaltet zwischen die Teller gelegt. Mit dem Tablett in der Hand ging er zurĂĽck ins Schlafzimmer.
„Das ging aber schnell“, staunte Susan verdutzt.
„Ich kann zaubern, schon vergessen?“, scherzte er. Gleich im Anschluss teilte er ihr seine Vermutung mit. „Meine Mutter muss es zubereitet haben.“
„Das ist aber lieb.“ Sie half ihm mit dem Tablett, damit er wieder ins Bett steigen konnte. „Frühstück im Bett. Das hatte ich bisher nur, wenn ich krank war.“
„Das wirst du jetzt öfters haben, wenn du möchtest“, versprach er.
Während Draco die Getränke einschenkte, nahm sich Susan den Tagespropheten, was Draco aus den Augenwinkeln beobachtete. Als sein Blick auf die Schlagzeile fiel, drehte er seinen Kopf, um sie richtig lesen zu können und dann sog er erschrocken Luft ein. Die Schlagzeile lautete: „Traumhochzeit bei den Malfoys“. Die Überschrift verschwand und wurde ersetzt durch: „Mit gutem Beispiel voran.“
Ein Kloß bildete sich in Dracos Hals, doch den schluckte er hinunter, bevor er aufgebracht zeterte: „Was fällt denen ein? Ich lasse nicht zu, dass diese Schmierfinken unsere Hochzeit in den Schmutz ziehen!“
„Jetzt bleibt doch mal ganz ruhig, Draco“, sagte sie mit besänftigender Stimme, doch er war bereits aus dem Bett gesprungen, um nun erregt auf und ab zu laufen. „Lass mich den Artikel erst einmal lesen, ja?“, bat sie. „Vielleicht ist der ja ganz nett geworden.“ Er blieb abrupt stehen und blickte sie ungläubig an.
„Das wäre das erste Mal, dass ein Artikel vom Tagespropheten über die Malfoys ’nett’ wäre. Allein schon die Schlagzeile ’Mit gutem Beispiel voran’ regt mich auf.“
„Lass ihn mich lesen! Komm ins Bett und wir frühstücken dabei zusammen.“
Nur widerwillig kam er ihrer Aufforderung nach. Immer wieder warf er einen Blick zur Seite, wo Susan den Artikel las, doch die Schrift war so klein, dass er kein einziges Wort erkennen konnte.
Nachdem sie fertig war, lächelte sie und sagte: „Ein schöner Artikel!“ Weil er sie ungläubig anblickte, versicherte sie ihm: „Wirklich, lies doch selbst.“
Er las ihn und entgegen seiner Vermutung war der Artikel nicht verletzend, wenn auch in Bezug auf andere Reinblüter sehr kritisch. Die zweite Schlagzeile bezog sich nämlich auf jene Familien, die ihr Blut noch immer auf Biegen und Brechen rein halten wollten. Durch die Hochzeit mit Susan distanzierte die Familie Malfoy sich von diesen Leuten.
„Hast du mal gelesen, von wem der Artikel ist?“, fragte Susan vorsichtig. Ganz unten stand der Name des Journalisten – in diesem Falle der Journalistin. Draco wusste nicht, ob er es gutheißen sollte, dass Luna Lovegood seine Hochzeit auch für die Erstellung eines Artikels benutzt hatte. Andererseits hatte sie ihn und seine Familie in ein gutes Licht gerückt.
„Komm, leg den Tagespropheten weg und mach dir keinen Kopf. Morgen wird kein Hahn mehr danach krähen.“ Sie griff nach der Zeitung und warf sie achtlos hinter das Fußende, bevor sie ihn zu sich zog und einen Kuss stahl.
Während Draco und Susan eine kleine Pause während ihres Frühstücks einlegten, schob Lucius den bereits leeren Teller von sich, um sich die Kaffeetasse heranzuholen. Drei Tassen Kaffee zum Frühstück mussten schon sein, aber zur letzten Tasse fehlte etwas, das Marie sonst nie vergessen hatte. Kaum hatte er an die Schwester gedacht kam sie auch schon ins Zimmer, um das Tablett abzuholen.
„Marie, dürfte ich um die Morgenzeitung bitten?“, fragte er galant, ohne ihr unter die Nase zu reiben, dass sie heute sehr vergesslich schien.
„Ähm, ja“, sagte sie verlegen wirkend.
Sie verließ den Raum, um bis auf die eine Tasse das Geschirr wegzubringen, um kurze Zeit später mit dem Tagespropheten zurückzukommen. Sie hatte ihn gefaltet auf den Tisch gelegt, nur um sofort wieder zu verschwinden. Über das Verhalten der Schwester machte er sich keine Gedanken. Er wusste ja, dass sie sich um Miss Parkinson kümmern musste, was in seinen Augen eine grauenvolle und zudem mühselige Arbeit sein musste und womöglich der Grund für Maries flatterhaftes Verhalten war. Gelassen lehnte er sich zurück und warf einen Blick auf die heutige Schlagzeile.
Die Schrift und das Bild schienen ihn mit einem Petrificus Totalus verhext zu haben, denn für lange Zeit konnte er ausschließlich seine Augen bewegen. Der Mund stand ihm offen und die Augen waren weit aufgerissen, die immer wieder den Aufmacher überflogen sowie das Bild, auf welchem ein Bräutigam die Braut küsste; sein Sohn das Halbblut küsste. Das unangenehme Gefühl in seiner Brust ließ langsam nach, als er sich erneut vor Augen hielt, dass niemand ihm für die Taten seines Sohnes das Fell über die Ohren ziehen würde. Trotzdem raste sein Puls, während er den Artikel zu lesen versuchte, was sich als sehr schwer herausstellte, denn in Gedanken stellte er bereits Szenarien vor, die sich abspielen könnten, sollte er seinem Sohn in Zukunft einmal leibhaftig gegenüberstehen.
Einerseits empfand er Wut, weil Draco nichts von alledem, was er ihm im Laufe der Erziehung an Werten zu vermitteln versucht hatte, zu beherzigen schien, doch auf der anderen Seite war er erleichtert, dass die Familie Malfoy nicht mit einem unehelichen Kind gestraft worden war. Auf der nächsten Seite fand Lucius einige bewegte Bilder von der Hochzeitsfeier, die ganz im Stil der Malfoys sehr prächtig gewesen sein musste. Den aufkommenden Stolz darüber unterband er, als er sich den grünen Salon betrachtete, der so anders, aber noch immer heimisch wirkte. Beim Anblick einiger der Gäste empfand er großes Bedauern, dass er selbst nicht anwesend gewesen war.
Mit einem Male verflog all sein Unmut über die Hochzeit, als sein Blick auf Narzissa fiel. Seine Gattin wirkte auf einem der Bilder sehr allein und traurig und er stellte sich vor, wie das Foto zu dem Artikel wohl ausgesehen hätte, wenn er hinter Narzissa gestanden hätte, mit einem Arm um ihre schlanke Hüfte gelegt und mit seinem Mund dich an ihrem Ohr, um ihr zuzuflüstern, dass ihr Anblick eine wahre Augenweide darstellte.
Noch einen Moment lang das Bild von Mrs. Malfoy betrachtend legte Meredith, die mit den Lehrern am Frühstückstisch saß, den Tagespropheten zur Seite. Sie unterhielt sich mit Gordian angeregt darüber, wie schön es gestern gewesen war.
Eine graue Posteule brachte Harry einen Brief, der von den Hauselfen und deren Magie für „äußerst sicher“ eingestuft worden war. Severus, der direkt neben Harry saß, hatte sich heute dazu aufgerafft, gemeinsam mit seinen Kollegen und den verbliebenen Schülern das Frühstück einzunehmen. Ihm gegenüber saß Remus, der weiterhin in Hogwarts bleiben musste, weil Hogsmeade noch immer von Auroren abgeriegelt war.
Vorn auf dem Umschlag erkannte Harry neben der Adresse, die mit einer Schreibmaschine verfasst worden sein musste, sofort eine Briefmarke, was völlig untypisch für die Zaubererwelt war, da man hier nicht frankieren musste. Man bekam beim Postamt einfach keine Eule, wenn man für sie nicht auch zahlen würde. Warum eine Briefmarke, fragte sich Harry. Es konnte sich nur um ein Schreiben aus der Muggelwelt handeln, dachte er, dem plötzlich eine Gänsehaut den Rücken hinunterlief. Die einzigen Menschen, die ihm aus der Muggelwelt schreiben würden, waren seine Verwandten. Es musste ein Brief von den Dursleys sein.
Harry stöhnte genervt, während er weiterhin auf die Briefmarke starrte, so dass Severus hämisch fragte: „Was denn? Haben Sie da etwa Fanpost bekommen, die es auf unerklärliche Weise geschafft hat, sich bis zu Ihnen persönlich durchzukämpfen?“
Für einen Moment starrte Harry seinen Kollegen fassungslos an, doch gleich darauf wurden seine Augen wieder sanfter, als ihm klar wurde, dass Severus wie üblich nur eine seiner sarkastischen Bemerkungen gemacht hatte, mit denen er in der Regel sehr gut umgehen konnte. Es war ihre Art der Kommunikation. Der Mann neben ihm würde immer Severus Snape bleiben, der seine Mitmenschen mit bösartigen Randbemerkungen bedachte, aber irgendwann, wenn man das Glück hatte, den Mann hinter Professor Snape erblicken zu dürfen, dann würde man seine Boshaftigkeit durchschauen können. Severus kommunizierte über seinen Sarkasmus. Trotzdem er stichelnde Bemerkungen von sich gab, ließ er einen spüren, dass er im gleichen Moment die Gesellschaft hoch schätzte. Harry hörte aus Severus’ kleinen Beleidigungen immer öfter heraus, dass der es nicht ernst meinte. Remus und Hermine erging es ganz ähnlich wie ihm selbst, rief sich Harry ins Gedächtnis zurück. Beide hatten erkannt, dass hinter Severus’ Böswilligkeiten nur selten der Drang nach Verletzung steckte. Severus war halt so, wie er war. Wenn er jemanden an sich heranlassen wollte, wurde sein Sarkasmus mit der Zeit milder, fast sogar einladend freundlich. Hermine kam mit ihrem Zaubertränkemeister gut aus. Wenn sie gut gelaunt war, benutzte sie Severus’ eigene Art, um sich mit ihm zu unterhalten.
„Nein“, erwiderte Harry, nachdem er endlich seine Gedanken geklärt hatte, „schön wär’s, wenn es nur Fanpost wäre.“ Er strich sich über die Stirn und derweil entging Severus nicht, dass Harry seine Narbe berührte. „Es ist… Ach, ich habe langsam die Nase voll von denen“, nörgelte Harry enttäuscht klingend und er war froh, dass ihm momentan niemand außer Severus Aufmerksamkeit schenkte.
„Was haben Sie? Von wem ist der Brief, wenn nicht von einem Ihrer treuen Fans?“, fragte Severus mit verhaltener Stimme, was Harry vor Augen führte, dass Severus ihn nicht ärgern wollte. Der Sarkasmus fehlte.
Es war Harry mit der Zeit aufgefallen, dass es gewisse Abstufungen in Severus’ Äußerungen gab, denen ganz besondere Eigenarten zuzusprechen waren. So sagte Severus manchmal etwas Gemeines, aber er lächelte dabei; nie mit dem Mund, sondern mit den Augen, zumindest seitdem deren Farbe braun war. Über einen hochgezogenen Mundwinkel war sein älterer Kollege sehr selten hinausgekommen, aber die Augen stellten viele von Severus’ Gefühlen zur Schau.
Manchmal, wie eben, fehlte das Augenrollen, dachte Harry, das genervte Kopfschütteln oder das verachtende Schnauben. Die nasale Untermalung der Boshaftigkeit unterzeichnete oftmals Severus’ Vorsatz, jemanden wirklich tief verletzen zu wollen – die Bestätigung, dass er seine Bemerkung hundertprozentig ernst gemeint hatte, was richtig wehtun konnte. Jetzt eben, als Severus seine Verachtung über Harry und seine Fanpost geäußert hatte, da fehlte all das. Severus wollte nur kommunizieren und auf seine Art ein Gespräch beginnen, welche mittlerweile oftmals sehr nett enden konnten, doch so ein Moment war selten. Severus ließ sich nur mit Bedacht auf vertraute Gespräche ein. Harry und Hermine stellten in diesem Sinne die beiden „Neuen“ dar, die Severus auf diese Weise seine Privatsphäre hatte durchbrechen lassen.
„Von den Dursleys“, antwortete Harry nach einer ganzen Weile leise.
Mit einem Hauch Sorge in der Stimme, was Harry sehr wohl aus eigentlich garstigen Bemerkungen heraushören konnte, sagte Severus: „Ich habe von Albus gehört, dass die Dursleys Ihnen niemals – ob Sie es verdient hätten oder nicht, wäre eine andere Sache – viel Respekt entgegengebracht hatten.“
’Okay’, dachte Harry und seufzte, ’das war jetzt doch etwas gemein.“
Doch kaum hatte er zu Ende gedacht, hörte er Severus fragen: „Warum also der Brief?“ Das ehrliche Interesse war herauszuhören, denn Severus hatte zu Anfang durchaus bemerkt, dass ihm dieser Brief zu schaffen machte.
Einmal tief durchatmend erklärte Harry ihm: „Die schicken mir immer...“, er seufzte erneut, nur viel kraftloser. Was er bisher nur Ron und Hermine erzählt hatte, wollte er jetzt auch Severus anvertrauen. „Ich habe ihnen damals von der Schule aus zu Weihnachten einen Brief geschrieben, auch wenn ich sie nicht ausstehen konnte. Ich habe mich wirklich nett ausgedrückt und nur wenig von Hogwarts selbst berichtet, weil ich ja wusste, dass sie da in die Luft gehen würden. Ich habe einfach von mir erzählt, wie es mir hier geht, wie die Menschen heißen, die ich kennen gelernt habe…“
Um aufzuheitern unterbrach Severus wieder etwas spitz und spielte auf die Zeit in der Schule an, in der sich beide abgrundtief verabscheut haben: „Etwa auch von mir?“ Severus schmunzelte, bevor er einen Schluck Kaffee nahm.
„Ja, auch von Ihnen, Severus“, antwortete Harry lächelnd. „Waren nicht immer nette Dinge gewesen, aber ich habe Sie auch als Lehrer erwähnt, nicht aber das Fach, das sie unterrichten. Das hätte ich wiederum nicht erwähnen dürfen. Ich habe meine Weihnachtsgrüße übermittelt und geschrieben, dass ich hoffe, es würde allen gut gehen. Na, wie man das halt so schreibt, ohne jemanden auf den Fuß treten zu wollen. Das wollte ich auch gar nicht. Es war immerhin Weihnachten.“ Harrys Lächeln verblasste nur kurz, aber dann überwand er sich und erzählte: „Sie haben mir auf meinen Brief hin eine Notiz geschickt, auf der stand: ’Wir haben deine Nachricht erhalten und fügen dein Weihnachtsgeschenk bei.’ Anbei lag ein Zettel, auf den sie mit Tesafilm 50 Pence geklebt hatten.“ Jetzt war Severus wirklich schockiert; seine Maske war gefallen, denn er zog die Augenbrauen zusammen und blickte ihn echauffiert an.
Nachdem Harry wegen der Erinnerung daran einmal den Kopf schütteln musste, schilderte er: „Am meisten hat es geschmerzt, dass nicht einmal Tante Petunia wenigstens ’Frohe Weihnachten’ gewünscht hat. Das wäre sogar ein kürzerer Satz gewesen als das, was sie mir geschrieben hatten. Es hat auch wehgetan, dass ihnen ein Geschenk für mich nicht mehr als 50 Pence wert war, aber dass sie nicht einmal zwei Worte geschrieben haben… nicht einmal das!“
Die Erinnerung daran, unerwünscht und ungeliebt zu sein, kam wieder in Harry auf und sie schmerzte ihn. Diese Gedanken an früher beiseite schiebend wollte Harry wieder aufgeheitert wirken und er erklärte seinem älteren Kollegen daher belustigt: „Sie haben mir auch mal ein Papiertaschentusch geschenkt und ein anderes Mal einen Zahnstocher. Eines muss man ihnen lassen: Sie haben zumindest Dinge verschenkt, die man gebrauchen konnte.“
Harry lachte kurz auf, aber Severus hielt seine ernste Miene, als er fragte: „Warum öffnen Sie diese Post, wenn Sie mit solcherlei Dingen rechnen können?“
Mit den Schultern zuckend erwiderte Harry: „Ich weiß nicht. Die Hoffnung, dass eines Tages ein Brief kommen könnte, aus dem ich herauslesen kann, dass sie mich doch ein klein wenig vermissen würden? Sie haben Recht, Severus. Ich sollte das gar nicht mehr öffnen und diese Vergangenheit hinter mir lassen und doch… Was, wenn es etwas Wichtiges ist? Es könnte ja jemand gestorben sein und das hier ist die Einladung zur Beerdigung?“
„Ich an Ihrer statt würde den Brief auf der Stelle verbrennen oder besser noch mit einem Fluch belegen und ihn zurückschicken, so dass Ihre Verwandten niemals wieder auf die Idee kommen, sich Ihnen gegenüber eine solche Frechheit zu erlauben!“ Severus war nicht erfreut und der Rat mit dem Fluch war völlig ernst gemeint.
„Ach, was soll’s. Ich mach ihn auf. Mit was wollen die mir schon denn schon einen Stich versetzen? Ich habe nichts mehr mit ihnen zu tun und mir kann es egal sein, was sie schreiben oder schicken, richtig?“, fragte Harry und riss den Brief auf.
Severus beobachtete, wie Harry den Brief entnahm und entfaltete. Es dauerte nicht lange, da faltete Harry den Brief wieder zusammen. Weil Harry kräftig schlucken musste, fragte Severus besorgt: „Was schreiben sie?“ Es war nicht zu übersehen, dass Harry von dem Brief gekränkter war als von irgendeiner von Severus’ Sticheleien. Harry antwortete nicht, hielt ihm aber den Brief entgegen, den Severus an sich nahm und entfaltete, um sich selbst ein Bild von der wahrscheinlichen Demütigung zu machen.
Links oben stand keine Anrede, aber nach einem freien Platz, wo sie hätte stehen müssten, sah man – wie es sich gehörte –, ein Komma. Die Mitte des Blattes war komplett leer, nur noch ganz unten, wo sich in der Regel die Abschiedsformel befand, standen zwei Worte: „Bleib fern“. Ganz unten klebte eine Freikarte für eine sportliche Veranstaltung in der Muggelwelt – sie war gültig bis Juni dieses Jahres gewesen. Das war Harrys Weihnachtsgruß von seinen Verwandten; von Menschen, die sehr gut zu wissen schienen, wie Sarkasmus in seiner verletzendsten Art anzuwenden war. Sie hatten ihm sehr deutlich gemacht, dass sie ihn verabscheuten. Anstatt Harry jedoch einfach in Ruhe zu lassen und nie mehr Kontakt mit ihm zu suchen, quälten sie ihn mit unnützen Geschenken, die dazu noch aussagten, dass er ihnen völlig egal war.
„Nett oder?“, fragte Harry mit Wehmut in der Stimme. „Geht schon ewig so. Nur vorletztes Jahr, da habe ich ihr Päckchen nicht aufgemacht und gleich verbrannt. Da wollte ich wirklich nichts mit ihnen zu tun haben.“ Harry schüttelte ernüchtert den Kopf. „Ich glaube, es ist mein Cousin, der sich daraus einen Spaß macht. Meine Tante hatte früher nie eine Schreibmaschine benutzt. Vielleicht wissen sie gar nicht, dass ihr Sohn die ’alte Tradition’ mit den Weihnachtsgeschenken an mich fortführt. Er hat mich damals am meisten damit aufgezogen, mich wiederholt gefragt, ob mir ’mein Geschenk’ gefallen hätte. Ich denke er war es, schon wegen der Freikarte für den Boxkampf. Er ist nämlich Boxer.“
„Tatsächlich? Welche Gewichtsklasse?“
„Nilpferd“, entgegnete Harry trocken.
Die Unterhaltung wurde unterbrochen, als Ginny, die zuvor noch Nicholas versorgt hatte, die groĂźe Halle betreten und sich neben Harry an den Lehrertisch gesetzt hatte.
„Guten Morgen alle zusammen“, sagte sie freundlich in die Runde. Als sie sich umschaute, sah sie nur Professor Sprout, Meredith und Gordian, Madam Pomfrey, Hagrid und natürlich Harry und Professor Snape. „Wo ist Professor McGonagall?“, wollte Ginny wissen.
„Sie war heute noch nicht hier“, antwortete Professor Sprout mit fröhlichem Gesichtsausdruck. „Geht es um etwas Wichtiges?“
„Nein, ich wollte ihr nur dazu gratulieren, dass sie den Brautstrauß gefangen hat“, sagte Ginny mit einem zufriedenen Lächeln, weil sie sich noch gut daran erinnern konnte, wie ihre Lehrerin für Verwandlung gestern so perplex gewesen war, während der ganze Saal gejubelt hatte.
Während des Frühstücks hörte Harry aufmerksam zu, als sich Meredith und Gordian über spätere Berufe unterhielten. Sich in das Gespräch einmischend fragte Harry: „Was möchten Sie später mal werden, Mr. Foster?“
Wie aus der Pistole geschossen antwortete Gordian: „Auror!“
Harry lächelte, denn den gleichen Wunsch hatte er auch einmal gehabt. „Und Sie, Miss Beerbaum?“
„Ich würde gern Sicherheitstrolle ausbilden.“
Bevor Harry nachfrage konnte, warf Gordian ein: „Das ist doch viel zu gefährlich!“
„Ach und Auror ist etwa kein gefährlicher Beruf?“, konterte sie.
Die kleine Meinungsverschiedenheit erinnerte Harry an das gestrige Gespräch, dass er mit seinem Patenonkel geführt hatte, so dass er sich an Ginny wandte und wissen wollte: „Was möchtest du später eigentlich machen?“
„Ich denke, ich mache es Ron gleich. Ich habe jetzt zwar lange nicht mehr gespielt, aber Quidditch ist definitiv meine Bestimmung“, sagte sie breit lächelnd. Ein wenig skeptisch werdend fragte Ginny gleich im Anschluss: „Warum wolltest du das wissen?“
Er hob und senkte einmal die Schultern, bevor er erwiderte: „Sirius gefällt es nicht, dass Anne arbeiten geht und er meinte, ich sollte noch VOR unserer Hochzeit mit dir das Thema klären.“
„Wieso gefällt es ihm nicht, dass sie arbeiten geht? Sie zähmt keine Trolle und jagt keine Verbrecher – sie stellt harmlose Hüte her!“ Ginny klang gleichermaßen erbost und verblüfft.
„Wie es aussieht“, hörte Harry seinen anderen Tischnachbarn sagen, so dass er Severus anblickte, „fruchtet bei Ihrem Patenonkel die Erziehung, gegen die er sich immer zur Wehr setzen wollte. Soweit ich darüber informiert bin, hat nämlich keine der Damen aus dem Hause Black jemals auch nur einen Finger gekrümmt.“
Die Lippen spitzend sagte Harry nachdenklich: „Vielleicht sollte ich ihm das einfach mal unter die Nase reiben? Er hat sich bisher gegen alles gesträubt, das seine Eltern für richtig gehalten hatten.“
Wieder an Ginny gewandt fragte Harry: „Hast du eigentlich den Tagespropheten schon gelesen?“
„Nein, aber Luna hat mir gestern schon erzählt, dass sie einen Artikel über die Hochzeit schreiben möchte.“
„Warum aber für den Tagespropheten?“, wollte Harry wissen. „Sie hatte doch neulich ein Vorstellungsgespräch bei der Muggelpost.“
„Richtig, aber sie hat dort bisher keine feste Zusage bekommen. Sie ist momentan noch immer freie Journalistin. Den Artikel hat sie extra verfasst, damit die von der Muggelpost sie so schnell wie möglich unter Vertrag nehmen, damit sie nicht noch mehr solcher guten Themen bei der Konkurrenz veröffentlicht.“
Schmunzelnd sagte Harry: „Luna ist raffiniert!“
„Da kannst du Gift drauf nehmen!“
Weder Albus und Minerva noch Hermine hatten sich zum gemeinsamen Frühstück in der großen Halle eingefunden. Harry vermutete, dass Hermine entweder ausschlief oder etwas ausheckte. Remus selbst war zwar zum Frühstück erschienen, beteiligte sich jedoch an keinem Gespräch, was auch an der möglichen Auseinandersetzung liegen konnte, die er vermutlich gestern mit Severus und Linda gehabt hatte, sofern man Hermines Schilderungen deuten konnte. Und als hätte jeder am Tisch seine Gedanken vernehmen können, sagte Pomona freudestrahlend an Severus gerichtet: „Haben Sie gestern auch Linda Harket gesehen, Professor Snape?“
„Sie heißt jetzt mit Nachnamen Harrison“, erwiderte er, womit er indirekt auf die Frage geantwortet hatte.
Poppy, die die ehemalige Schülerein natürlich kannte, fragte erstaunt: „Nein, was Sie nicht sagen, Professor Sprout. Wie geht’s ihr?“
Neben sich bemerkte Harry, dass Severus die Serviette an den Tellerrand legte, obwohl er mit dem Frühstück noch nicht fertig war. Poppys und Pomonas Erinnerungen an den damaligen Unfall am See frischten auf und das Gespräch über die ehemalige Schülerin wurde detaillierter, so dass Severus noch einen Schluck Kaffee zu sich nahm, bevor er sich erhob und die Halle verließ, damit man ihn nicht in ein Gespräch verwickeln konnte, an dem er sich ganz offensichtlich nicht beteiligen wollte.
Mit dem Frühstück war Hermine seit Stunden fertig, denn sie hatte es in ihrem Zimmer eingenommen, während sie vom Balkonfenster aus auf die verschneite Landschaft geschaut hatte, die im Licht der aufgehenden Sonne malerisch verträumt aussah, als wäre sie einer Ansichtskarte entsprungen. Ihr nächster Weg hatte sie in Gewächshaus Nummer vier geführt – eine Stunde, bevor das Frühstück in der großen Halle beginnen würde. Mit Fellini an ihrer Seite hatte sie erst die Orchideen bewundert, die Neville und Pomona für Severus und Poppy gezüchtet hatten. Einige von ihnen waren schon geschnitten worden. Ihre Pflanzen fand Hermine in der von Neville genannten Ecke. Dank seines außergewöhnlichen Düngers war der Liebstöckel über zweieinhalb Meter hoch gewachsen. Nicht die aromatischen Blätter, die als Gewürz in der Muggelküche dienlich waren und auch nicht Wurzel, die in der Pflanzenheilkunde Verwendung fanden, waren das, nach was Hermine Ausschau hielt. Für ihre Pastillen benötigte sie die längliche braune Frucht, die sich Muggel eher selten zunutze machten. Die begehrte Zutat war Dank der guten Pflege größer als üblich, weswegen Hermine nicht alle der fast ein Zentimeter großen Früchte aus ihrem Schutzmantel pulte.
Das Echte Johanniskraut, die Sorte, die Hermine für ihre Pastillen benötigte, war nur zwanzig Zentimeter hoch; damit war es trotzdem höher als wild wachsendes. Sie riss eines der grünen Blätter ab und hielt sie gegen das Licht. Viele helle Punkte waren zu sehen und es wirkte so, als hätte jemand mit einer dünnen Nadel Löcher in das Blatt gepiekt, aber es handelte sich dabei nur um die Öldrüsen der Pflanze; Öl, welches Hermine mit ein paar Zaubersprüchen aus den Blättern schnell zu lösen vermochte. Die anderen handelsüblichen Zutaten, die sie noch benötigte, würde sie mit Sicherheit in Severus’ privaten Vorräten finden. In Windeseile hatte sie Liebstöckel und Johanniskraut geerntet, während Fellini es sich auf der Decke auf dem Tisch gemütlich gemacht hatte.
Mit dem Sack volle kleiner Früchte und den Blättern des Echten Johanniskrauts hatte sich Hermine auf ins Labor gemacht und während in der großen Halle alle frühstückten, köchelte und brodelte es bereits in den Kerkern.
Den ganzen Tag über bis zum späten Nachmittag war Severus nicht ein einziges Mal in sein Labor gekommen. Er hatte es zwar nicht deutlich gesagt, aber Hermine war sich sicher, dass sie ebenfalls über die Feiertage frei hatte, weswegen auch er anderen Dingen nachging. Innerlich hatte sie befürchtet, sie könnten sich in die Quere kommen, weil er an seinem Trank für Vampire weiterforschen wollte, doch sie blieb allein.
Die Zubereitung der Pastillen würde auf Muggelart wesentlich länger dauern, doch dank ihrer Zaubersprüche konnte sie bestimmte Vorgänge beschleunigen wie beispielsweise das „Nachdicken“ des Suds. Den zähen und etwas klebrigen Inhalt des Kessels füllte sie in eine flache Form mit vielen Vertiefungen, aus denen sie später die gehärteten Pastillen herausklopfen würde. Sie sprach einen Zauber, damit die Masse schneller erstarren würde. In der Zwischenzeit brachte sie wieder Ordnung ins Labor, bevor sie die fertigen Pastillen – die Form ergab 200 Stück – in ein Glas füllte und es in ihre Tasche steckte.
Nichts im Labor wies darauf hin, dass sie sich hier aufgehalten hatte, bis auf den sanften Duft, der an Sellerie erinnerte und vom Liebstöckel herrührte.
Am frĂĽhen Abend fand sie sich bei Harry und Ginny ein.
„Was denn, bin ich die Erste?“, fragte Hermine erstaunt.
„Es kommt doch nur noch Remus“, erwiderte Harry, der ihr einen Platz anbot.
„Nicht ganz“, warf Ginny ein. „Ron wird nachher auch noch kommen.“
Harry verzog mitleidig das Gesicht. „War der Streit mit Angelina so schlimm?“
„Nein, sie feiern morgen mit ihrer Familie und übermorgen mit unserer und weil sie für heute nichts geplant hatten, geht sie zu Freundinnen ein wenig feiern und Ron kommt zu uns.“ Vom Thema ablenkend erzählte Ginny: „Tonks hat gestern gesagt, sie kommt auf jeden Fall abends noch vorbei, wenn es nicht allzu spät wird. Sie haben einen Sondereinsatz, aber sie ist ja sowieso in der Nähe.“
„In Hogsmeade?“, fragte Harry und Ginny nickte.
Sich umblickend fragte Hermine: „Wo ist euer Elf?“
„Der hat es sich heute in der Küche gemütlich gemacht.“ Harry schmunzelte und ließ seine Augenbrauen auf und ab tanzen.
Nachdem Remus und auch Ron gekommen waren, war die Stimmung sehr ausgelassen. Sie unterhielten sich unter anderem ĂĽber den Einsatz in Hogsmeade.
„Tonks hat mir erzählt“, begann Remus, „dass der letzte Einsatzleiter der Muggel nicht mehr im Dienst wäre.“
„Wieso denn das nicht?“, fragte Hermine verdutzt.
„Nachdem die Vergissmich ihm die meisten Erinnerungen an den Einsatz genommen hatten, ist er wohl mehr als nur ein wenig verwirrt. Er hat Angstzustände bekommen und ist seit seinem Besuch in Hogsmeade krankgeschrieben.“
Mitfühlend schüttelte Hermine den Kopf. „Ich verstehe nicht, wieso man erst Muggel um Hilfe bittet und sie danach einfach mit einem Obliviate belegt. Zum Glück löschen sie gezielt bestimmte Erinnerungen, sonst würde jeder bei Lockhart im Mungos landen.“
Remus nickte zustimmend. „Kingsley war wohl gar nicht davon angetan. Er ist mit diesem Mann ganz gut ausgekommen. Tonks meinte, dass dieser Geoffreys sehr aufgeschlossen gewesen wäre und bestimmt keine Gefahr für uns dargestellt hätte.“
Nachdem Harry einen Schluck Eierpunsch getrunken hatte, fragte er: „Und was machen die Auroren jetzt noch in Hogsmeade?“
„Arthur versucht mit dem anderen Minister eine Lösung zu finden, denn der möchte keine Sprengstoffexperten mehr zur Verfügung stellen, nachdem man einem seiner besten Männer das angetan hat.“
„Das ist verständlich“, meinte Ron. „Aber man muss meinen Dad auch verstehen. Die Gesetze zum Schutz der Zaubererwelt hat nicht er gemacht, aber muss sich an sie halten, wie jeder andere Minister auch.“
„Ja“, wetterte Hermine, „aber man muss den Leuten nicht gleich so zusetzen, dass sie psychische Schäden davontragen. Ich kann mich noch gut an den Herrn von dem Campingplatz erinnern. Ihr wisst schon, bei der Quidditchweltmeisterschaft. Der hat jedem nach dem Spiel ’Frohe Weinachten’ gewünscht, dabei hatten wir August!“
„Kingsley will da etwas aushandeln“, sagte Remus. „Er möchte einen festen Ansprechpartner, der auch für zukünftige Fälle sein Muggelpartner sein soll. Am liebsten möchte er mit Geoffreys arbeiten, aber ob der seinen alten Job wieder aufnehmen können wird, ist fraglich. Ihr wisst ja, dass jede Abteilung im Ministerium einen Arbeitsbereich eingerichtet hat, der für die gute Beziehung zu Muggeln gedacht ist.“
„Die Jobs sind aber schlecht bezahlt“, warf Ron ein.
„Und nicht gerade sehr angesehen“, fügte Hermine hinzu. „Man müsste diese Aufgabenbereiche mit wirklich vertrauenswürdigen Personen besetzen UND sie zudem gut bezahlen!“
„Arthur arbeitet daran. Er wurde früher ja selbst für Muggelbelange herangezogen und er weiß, wie wenig Achtung die Mitarbeiter bekommen, die sich dafür bereiterklärt haben.“ Remus seufzte, bevor er anfügte: „Manchmal ist es sehr deutlich, dass die Zaubererwelt gar nicht so fortschrittlich ist wie sie es vorgibt.“
Ginny, die gerade Nicholas aus dem Schlafzimmer geholt hatte, sagte zum letzten Thema, das sie verfolgt hatte: „Man kann aber Hogsmeade nicht einfach weiterhin dicht machen, nur weil in der Höhle eventuell noch gefährliche Gegenstände lagern.“
Den Jungen reichte sie unerwartet an Remus, obwohl Ron und Hermine gleichermaĂźen ihre Arme in stummer Bitte ausgestreckt hatten. Remus platzierte Nicholas vorsichtig auf seinem Arm und es war zu sehen, dass er nicht zum ersten Mal ein Baby hielt.
„Das letzte Kind, dass ich gehalten habe“, Remus blickte Harry an, „warst du gewesen.“ Mit einem seligen Lächeln betrachtete er Harry, bevor sich seine Lippen zusammenpressten und er den Augenkontakt nicht mehr halten konnte, weil – wie Harry vermutete – Erinnerungen an Lily natürlich nicht weit waren.
Nicholas war schon viel aufmerksamer. Er blickte sich interessiert um und griff nach Dingen, die ihm nahe waren. Im Augenblick war es Remus’ kleiner Finger, den er an seinen Mund führte, um daran zu nuckeln.
„Er hat vor ein paar Tagen damit angefangen“, erzählte Ginny. „Als ich ihn neulich gewickelt habe, da hat er sich die frische Windel geschnappt und daran gesaugt. Und vorgestern erst, da wundere ich mich, warum er so still ist, da sehe ich, wie er mit seinen Füßen spielt. Er war hellauf begeistert von seinen Zehen!“
Stolz erzählte Harry: „Er reagiert jetzt auch mehr, wenn man mit ihm spricht; blickt einen ganz gebannt an und versucht alles nachzubrabbeln.“
„Ist das so?“, fragte Remus den Jungen auf seinem Arm. „Sprichst du alles nach?“
Der Kleine ruderte plötzlich mit seinen Armen und sagte völlig selbstvergnügt so etwas wie „Baba“, weswegen alle lachen mussten.
Während die fünf sich die Zeit mit dem Kind, jeder Menge guter Speisen und netten Gesprächen vertrieben, schlich ein lautloser Schatten durch die totenstillen Gänge Hogwarts, der den Weg zum Dachboden einschlagen hatte. Die Abdeckung des Spiegels hatte er – wie schon etliche Male zuvor – mit einem Wink seines Zauberstabes abgenommen.
Mit gramerfüllten Augen blickte Severus auf das Abbild, das Nerhegeb ihm aufs Neue vorführte als wäre es eine Lektion, die sein Betrachter nicht zu begreifen imstande war. ’Es gibt nichts anderes’, schien der Spiegel sagen zu wollen und Severus stimmte ihm innerlich zu. Das Kreuz, dass er zu tragen hatte, krümmte sein eigenes. Severus wirkte mit den hängenden Schultern und der leicht nach vorn gebeugten Haltung wie ein alter Mann, der sein Leben gelebt hatte. Gesprochen hatte er mit Lily seit dem ersten Tag nicht mehr, denn zu unerträglich war es gewesen, keine Antwort zu erhalten. So blickte er sie einfach an und sehnte sich; sehnte sich so sehr, dass die unsichtbare Hand, die sich um sein Herz gelegt hatte und diese Quälerei hervorrief, nur die ihre sein konnte.
In ihrem letzten Brief hatte sie geschrieben, dass Harry die Decke lieben würde. Er würde ständig nach ihr greifen und sich in sie einwickeln. Ob er es gewesen wäre, der die vielen Schutzzauber über das Geschenk gelegt hatte, war eine ihrer Fragen gewesen. Wenn er Lust hätte, könnte er am St. Andrews Day am 30. November zum Essen kommen, hatte sie zögernd vorgefühlt. Im gleichen Atemzug hatte sie wissen wollen, ob das Gerücht wahr sein würde, dass er Todesser geworden wäre.
Es war nie zu einem Treffen gekommen.
So tief in Gedanken versunken erschrak Severus nicht einmal, als er einen leichten Druck an seinem Schienbein verspürte, dann ein Schnurren vernahm. Langsam nach unten schauend erblickte er den schwarzen Halbkniesel. Erschrocken über dessen unerwartete Anwesenheit, denn er ahnte, dass sein Frauchen nicht weit sein konnte, blickte Severus wieder auf und sah im Spiegelbild weit hinter Lily Hermine, die gerade den Raum betreten hatte und sich ihm näherte.
„Was tun Sie hier?“, giftete er sie an, ohne sich umzublicken. Er fühlte sich arg in seiner Privatsphäre gestört. Sie blieb stehen und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, da fuhr er ihr über denselben und schimpfte mit erhobener Stimme und einem Tonfall, der keine Widerrede zulassen wollte: „Sie haben hier oben nichts verloren. Verschwinden Sie auf der Stelle und nehmen Sie Ihr Vieh mit!“ Erneut wollte sie etwas sagen, da verlor er all seine Selbstbeherrschung und schrie: „RAUS!“ Es war nicht zu übersehen, dass sie verwirrt und erschrocken über seine Reaktion war, doch am Ende kam sie seiner Aufforderung nach und ging folgsam durch die Tür nach draußen.
Nachdem er im Spiegel beobachtet hatte, wie die Tür ins Schloss gefallen war, zauberte er, während er ihr in Abwesenheit einige Bösartigkeiten an den Kopf warf, den schweren Stoff wieder über Nerhegeb, um ihn zu verhüllen, als er plötzlich ein lautes Kreischen hörte. Er war Fellini versehentlich auf die Pfote getreten, doch zum Glück nicht mit seinem gesamten Körpergewicht und auch nur kurz. Der Schreck war für das Tier größer gewesen als der Schmerz und wenn Severus ehrlich zu sich selbst war, dann musste er zugeben, wegen des ungewöhnlichen Katzenlauts selbst zusammengefahren zu sein.
„Dummes Tier“, sagte er zornig, bevor er den Kater entgegen seinen harschen Worten behutsam auf den Arm nahm, für einen Moment die Pfote beäugte und anschließend mit ihm den Dachboden verließ.
Bei Harry und Ginny im Erdgeschoss war seit einer Stunde ein besonderes Kartenspiel in Gebrauch, das fĂĽr Stimmung sorgte.
Die Stirn runzelnd fragte Harry: „Wie war nochmal die Aufgabe?“
„Du sollst eine Pflanze vom Grund des Sees holen und sie zum Ausgangspunkt zurückbringen, um die neue Aufgabe zu erhalten“, erklärte Hermine.
„Und der Ausgangspunkt war die Kirche?“
Die Augen rollend antwortete Hermine lachend: „Wir haben gar keine Kirche im Spiel. Gemeint ist das Gasthaus.“
„Oh“, machte Harry, bevor er in seine Karten blickte. „Eine Wasserpflanze, ja? Dann bin ich ja froh, dass ich Neville in den Händen halte. Der packt das bestimmt.“
„Sei dir da mal nicht so sicher“, warf Remus schmunzelnd ein. „Ich habe Pomona!“
Den Kopf schüttelnd sagte Hermine: „Jetzt hört doch mal auf, eure Karten preiszugeben!“ Sie musste breit grinsen, bevor sie absichtlich überheblich klingend sagte: „Ich habe übrigens mich selbst und ich denke, die Pflanze könnt ihr euch somit aus dem Kopf schlagen.“
„Nur“, sagte Ron mit hochgehobenem Zeigefinger, „wenn du als nächste dran bist. Wen ich habe, verrate ich nicht, aber wie es aussieht, hat jeder von uns eine reelle Chance. Dann ’würfel’ mal, Harry.“
Gerade wollte Harry mit seinem Finger die Glaskugel berühren, die anzeigen würde, wer als nächster am Zug wäre, da pochte es laut und aufgebracht an seiner Tür.
„Das ist bestimmt Tonks!“ Remus warf seine Karten auf den Tisch und ging zur Tür, um sie mit einem freudigen Lächeln auf dem Gesicht zu öffnen, da blickte er in das deutlich wütende Gesicht von Severus, der Hermines Kater auf dem Arm trug. „Hermine? Kommst du mal zur Tür?“, bat Remus.
Während sich Remus wieder setzte, ging Hermine zu Severus hinüber. Sie wollte gerade freundlich grüßen, ihn sogar hineinbeten, da warf er ihr mit bedrohlich zischender Stimme vor: „Ich wiederhole mich sehr ungern, aber wie gerade eben bereits erwähnt haben Sie an gewissen Orten absolut nichts zu suchen, genauso wenig wie Ihr Haustier, dass sich ganz offenbar Ihre schlechten Manieren angenommen hat. Achten Sie gefälligst darauf, dass das Tier in Zukunft nicht mehr überall dort herumstreunt, wo es ihm beliebt, sonst könnte es womöglich sein, dass ich es eines Tages ’versehentlich’ einsperre!“ Er war ihm völlig entgangen, dass seine Aussprache vor lauter Zorn feucht geworden war.
Mit diesen Worten drĂĽckte er ihr den schwarzen Kniesel lieblos an die Brust, so dass sie zwei Schritte zurĂĽckstolperte, sie das Tier jedoch zu fassen bekommen hatte. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren zog Severus die TĂĽr mit solcher Wucht ins Schloss, dass es laut knallte.
Völlig perplex starrte Hermine auf die geschlossene Tür vor sich, während ihr Kniesel sich in ihrem festen Griff wandte, um hinuntergelassen zu werden. Ihr Herz raste wie wild. Severus’ Auftritt hatte sie sehr erschrocken. So zornig hatte sie ihn letzter Zeit nicht mehr erlebt. Ron hingegen nahm es gelassener, denn er winkte Severus durch die geschlossene Tür hinterher.
„Warum winkst du ihm nach?“, fragte Harry irritiert.
„Ich winke nicht ihm nach, sondern seinem Verstand. Die beiden gehen jetzt offensichtlich getrennte Wege“, erwiderte Ron todernst.
Noch immer völlig verdattert drehte sich Hermine zu den anderen um und stotterte: „Was… Was sollte das? Wieso ’gerade eben’? Ich war doch die ganze Zeit hier!“
Remus und Ginny waren genauso ratlos wie Harry, Ron und Hermine.
„Oh mein…“ Hermine hielt sich eine Hand vor den Mund. „Was, wenn jemand Vielsafttrank genommen hat und nun als ich hier im Schloss herumläuft?“
„Wer sollte so einen Blödsinn verzapfen?“, fragte Ron abwinkend.
Harry legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte: „Jemand wie wir oder schon vergessen, was wir als Schüler so angestellt haben?“
Ginny verneinte. „Es sind nur Meredith und Gordian hier und die werden so einen Unsinn nicht verzapfen, allein deswegen schon nicht, weil Gordian in Slytherin ist.“
„Und einer von den anderen?“, fragte Remus.
Harry schüttelte den Kopf. „Filch macht so etwas nicht, außerdem kann er den Trank gar nicht brauen. Svelte hat seit Ferienbeginn sein Kabuff nicht verlassen, weil er sein Buch überarbeitet und Pomona, Minerva, Albus… Keiner von denen würde solche Späßchen treiben.“
„Vielleicht hat er sich das nur eingebildet?“ Ron machte mit einem Zeigefinder kreisende Bewegungen um seine Schläfe herum.
„Es kann ja auch sein“, beschwichtigte Remus, „dass er nur etwas getrunken hat und nicht mehr ganz…“
„Nein“, unterbrach Hermine, die von allen die Einzige war, die noch immer sehr aufgebracht über die Situation war. „Das hätte ich gerochen, wenn er was getrunken hätte.“
„Wie kannst du dir da so sicher sein?“, fragte Ron.
„Er war so dicht bei mir, dass er mir versehentlich auf die Wange…“
Unterbrechend sagte Ron mit verzogenem Gesicht: „Er hat dich angespuckt? Wäh… Hermine, wasch dir das Gesicht!“
Von seinem Kommentar völlig unbeeindruckt sagte Hermine: „Ich werde mit ihm reden.“
„Aber nicht jetzt!“ Von der Idee war Ron gar nicht begeistert. „Das wird sich nur um ein Missverständnis handeln.“
Harry stimmte ihm auch noch zu. „Hermine, warte bitte, bis er sich beruhigt hat. Rede morgen mit ihm.“
Sie wollte die Angelegenheit sofort geklärt wissen, spielte sogar mit dem Gedanken, Albus einzuweihen, dass es jemanden im Schloss geben würde, der sich als Hermine Granger ausgab.
Nur widerwillig blieb Hermine noch bei Harry. Als Tonks abends um halb zehn gekommen war, verteilte Hermine schon einmal ihre Geschenke, weil sie morgen zu Weihnachten keinen ihrer Freunde sehen würde. Jeder hatte sich tatsächlich über die Gutscheine gefreut, obwohl es Hermine unangenehm war, sich nicht um Geschenke gekümmert zu haben. Natürlich waren nicht alle Gutscheine für das gleiche Geschäft. Ron hatte einen für ein Sportgeschäft bekommen, Remus einen für Bücher, weil er ihre Liebe dafür teilte. Für Harry, Tonks und Ginny… Hermine wusste gar nicht mal mehr, von welchen Läden diese Gutscheine stammten, denn mit ihren Gedanken war sie bei ihrer möglichen Doppelgängerin, die hier in Hogwarts ihr Unwesen zu treiben schien. Als sie den Gutschein für Severus in ihrer Tasche sah, da stand ihr Entschluss fest.
„Ich gehe, seid mir nicht böse.“ Sie ließ sich von Harry zur Tür begleiten. Es war mittlerweile kurz nach elf. „Sag mal, Harry, braucht ihr die eine Flasche Feuerwhisky noch?“ Sie deutete auf eine von dreien, die sie heute bestimmt nicht mehr alle trinken würden.
„Nein, willst du sie haben?“ Er griff nach dem Whisky, hielt aber die Flasche fest, als Hermine danach griff und fragte: „Willst du dir Mut antrinken oder einen mit ihm heben?“
„Beides?“ Sie lächelte gequält. „Ich muss mir keinen Mut antrinken. Ich habe schon genügend von Remus’ Eierpunsch intus. Ein Schluck hiervon“, sie rüttelte an der Flasche, so dass Harry losließ, „und ich bin voll wie eine Haubitze.“
„Sei vorsichtig, ja! Und wenn er noch zu wütend ist, dann komm lieber wieder zu uns.“
„Warum soll er denn auf mich wütend sein? Ich habe doch überhaupt nichts getan und das werde ich ihm klarmachen!“
„Ich sage nur ’Samthandschuhe’, Hermine. Reiz ihn nicht, dann ist mir wohler bei dem Gedanken, dass du ihn jetzt noch besuchst.“
In die Runde winkend wünschte Hermine weiterhin einen schönen Abend, bevor sie die Flasche einpackte und ging.
Die Kerker waren nachts noch viel unheimlicher als am Tage. Ab und an pfiff ein Wind durch die Gänge, der ihr eine Gänsehaut über den Rücken laufen ließ. Beim Gemälde von Salazar angelangt stutzte Hermine, denn der Rahmen war leer und sie fragte sich, ob Salazar womöglich wie viele andere am Heiligabend eine kleine Party besuchen würde. Vorsichtig klopfte sie neben dem Bild an die Holztür und wartete, damit man sie hereinbeten könnte, doch nichts tat sich. Sie klopfte erneut und wieder kam keine Antwort.
Vorsichtig probierte sie, ob die Tür offen war und tatsächlich, nachdem sie die Klinge betätigte hatte, konnte sie eintreten. Drinnen war es stockdunkel. Etwas Weiches stupste sie am Oberschenkel und kurz darauf fiepte es; der Hund.
„Severus?“, fragte sie zaghaft in die Dunkelheit. Den Hund wieder nach drinnen schiebend schloss sie die Tür hinter sich, bevor sie nochmals, diesmal ein wenig lauter, seinen Namen rief. Mit Hilfe ihres Stabes und eines „Incendio“ entfachte sie sämtliche Fackeln und Lampen und sie erschrak, als sie Severus auf der Couch sitzen sah.
Er stöhnte, bevor er matt fragte: „Was wollen Sie?“ Es schien, als hätte er keinerlei Energie mehr in seinem Körper, um auch nur ansatzweise bösartig zu sein.
„Ich dachte, wir könnten zusammen…“ Sie fischte die Flasche aus ihrer Tasche und zeigte sie ihm. Im gleichen Moment fiel ihr die fast leere Flasche auf seinem Couchtisch auf. „Aber wie ich sehe, haben Sie schon ohne mich angefangen.“
„Bitte gehen Sie.“ Er machte sich nicht einmal die Mühe sie anzusehen.
Resignierend nickte sie. „Ich bin gleich wieder weg. Bevor ich zu Albus gehe, möchte ich von Ihnen wissen, wo Sie mich gesehen haben wollen, denn ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, dass ich den ganzen Abend bei Harry und Ginny gewesen bin! Wenn hier im Schloss jemand in meiner Gestalt herumläuft, dann sollte der Direktor davon erfahren, meinen Sie nicht?“
Jetzt blickte Severus auf und seine Augen waren – was sie zum ersten Mal in ihrem Leben sehen konnte – vor Entsetzen ganz weit aufgerissen, was er durch den Alkohol nicht sofort überspielen konnte. Er wandte schnell seinen Blick von ihr ab, griff zur Flasche und schenkte sich den Rest ein, der sich kaum zu trinken lohnte.
„Vielleicht möchten Sie den probieren?“ Hermine kam einige Schritte auf ihn zu und hielt ihm die Flasche mit dem Etikett unter die Nase, das er kurz betrachtete.
„Haben Sie die Putzvorräte von Filch geplündert?“ Grinsend nahm Hermine zur Kenntnis, dass sie offenbar einen Whisky der Sorte erwischt hatte, den Severus höchstens zum Desinfizieren von Toiletten empfehlen würde.
„Tut mir Leid, was anderes habe ich nicht bei mir.“ An jedem anderen Abend hätte Hermine sich ohne vorher zu fragen neben ihn gesetzt, doch heute nicht. Die verschmähte Flasche verstaute sie, bevor sie erneut fragte: „Wo haben Sie mich gesehen? Oder haben Sie es sich womöglich…“ Er warf ihr einen strengen Blick zu und verbat es sich, nicht für voll genommen zu werden. „Wenn Sie vorher schon etwas getrunken haben sollten, könnten Ihre Sinne Ihnen womöglich…“
„Ich wandere nicht alkoholisiert durch die Schule!“
„Das wollte ich damit doch gar nicht zum Ausdruck bringen“, verteidigte sie sich.
„Haben Sie aber.“ Er stöhnte. „Vergessen Sie es!“
„Wo…?“
„Ich sagte“, er stand auf und blickte sie streng an, „dass Sie es vergessen sollen.“
Er ging hinüber zu einem Schrank, um eine neue Flasche Whisky zu holen und zu Hermines Erstaunen auch ein zweites Glas. Er schenkte sich und ihr etwas ein und reichte ihr das Getränk, das sie, noch immer stehend, entgegennahm.
Severus nahm wieder Platz und blickte fragend zu ihr auf. „Warum sitzen Sie nicht längst?“
„Ich wollte nicht aufdringlich sein und daher warten, bis Sie mir einen Platz anbieten.“
Er schnaufte amüsiert, bevor er sagte: „Da können Sie lange warten.“ Mit zusammengepressten Lippen nahm Hermine einfach Platz, so dass er es sich nicht verkneifen konnte, ihr vor Augen zu halten: „Sehen Sie? Sie tun ja doch immer was Sie möchten.“
„Es ist unhöflich, einer Dame keinen Platz anzubieten.“ Er öffnete bereits den Mund, um ihr eine seiner Bemerkungen entgegenzuschleudern, da verbesserte sie schnell: „Einer Frau!“
„Ah, noch schnell selbst vor meinen Worten gerettet.“ Fies grinsend, aber mit einem Schalk im Nacken warf er ihr vor: „Sie benehmen sich in der Regel nicht gerade sehr damenhaft.“
Er hörte ein Geräusch, dass er bei ihr noch nie wahrgenommen hatte. Sie hatte Luft zwischen den Lippen hervorgepresst, was sich wie ein „Pft“ angehört hatte, bevor sie einen Schluck Whisky nahm.
„Wortgewandt wie immer“, scherzte er. „Das war ein eindeutiges Totschlagargument, ich ergebe mich.“
„Ja ja“, begann sie beschwingt, „ich kann Leute in Grund und Boden reden, wenn ich möchte.“
„Das glaube ich ungesehen!“, bestätigte Severus mit gespielt ernster Miene. „Ich nehme an, es muss jedes Mal ein Bergungskommando gerufen werden, um die Leute, die es gewagt haben, mit Ihnen eine Diskussion zu beginnen, wieder aus dem Erdreich zu befreien.“
„Und genau das ist der Grund“, feuerte sie gleich zurück, „warum ich im Mungos unbedingt die Bergungszauber lernen wollte!“
Sie blickte auf und hielt angestrengt jegliches Lächeln aus ihrem Gesicht fern und auch er schien echte Mühe dabei zu haben.
„Ich habe ein Weihnachtsgeschenk für Sie, Severus. Ich weiß ja nicht, ob ich Sie morgen sehen werde.“
Sie kramte in ihrer Tasche, während er sagte: „Das trifft sich gut, ich habe nämlich auch für Sie eins. Ich hoffe, Sie haben mein Geschmack getroffen und es sich nicht leicht gemacht, indem Sie einfach einen Gutschein…“ Sie hielt inne und stopfte das, was sie gerade aus ihrer Tasche ziehen wollte, wieder zurück. „Was denn?“, spottete er. „Tatsächlich ein Gutschein? Wenn ich ehrlich bin, dann habe ich von Ihnen mit einem Buch gerechnet. Ein Gutschein also… Geben Sie schon her.“ Sie zog den Umschlag hinaus und überreichte ihn. Den Gutschein entnehmend blickte er auf das schwarze Stück festen Papiers mit seiner gelben Schrift, bevor er erstaunt von sich gab: „Von ’Borgin & Burke's’? Ich bin fassungslos. Haben Sie den Laden selbst betreten oder mussten Sie einen Freund vorschicken?“
„Ich war selber drin. So schlimm ist das Geschäft gar nicht mehr. Ich dachte mir, als Sie neulich so ein großes Interesse an der malfoyschen Sammlung schwarzer Relikte gezeigt haben, dass ein Gutschein von Borgin & Burke's die beste Lösung wäre. Ich wollte nicht einfach etwas kaufen, ich kenne mich auf diesem Gebiet zu wenig aus.“ Mit einem entzückten Funkeln in den Augen fragte sie neugierig: „Was haben Sie für mich?“
Severus ging kurz in sein Schlafzimmer und kam mit einigen Papieren in der Hand zurück. Er fragte sich, ob er vorher erklärende Worte fallen lassen sollte, doch er entschied sich dagegen. Er sagte nur, als er die Unterlagen überreichte: „Das eine hängt vom anderen ab.“
Verdutzt, aber dennoch nicht weniger neugierig nahm sie die Papiere entgegen. Das Erste war ein Formular vom Ministerium, welches bereits auf ihren Namen ausgestellt war. Es handelte sich dabei um die Anmeldung zur Zaubertränkemeisterprüfung, mit der sie ihren Titel erlangen würde. Den Rest las sie nicht, sondern sie holte das zweite Papier in den Vordergrund. Ihre Hände begannen zu zittern, als sich ihr offenbarte, dass er sie loswerden wollte und nicht nur das – er wollte sie weit weg schicken. Das zweite Papier war ein Ausbildungsvertrag bei einem selbst ihr namentlich bekannten und in Fachkreisen sehr angesehenen Professor in Japan, der ihres Wissens noch nie eine Auszubildende angenommen hatte. Das stellte also sein Geschenk an sie dar, dachte sie verbittert. Erst die Prüfung und dann eine Ausbildung in einem fernen Land. Sie schaute nochmals auf das Formular des Ministeriums. Der Prüfungstermin war für Freitag, den 16.01. festgelegt. Severus’ Unterschrift fand sich bereits unten rechts wieder; nur sie müsste noch die ihre setzen.
Die Stille, die von ihr ausging, fand Severus beängstigend, doch dann hatte sie sich gefasst. Sie erhob sich von der Couch und sagte sehr ernüchtert, während sie offenbar ihre Lautstärke unter Kontrolle halten musste: „Eines kann ich Ihnen sagen, Severus. Ihr Geschenk macht mich auch fassungslos.“
„Dann“, er klang unsicher, „gefällt es Ihnen?“
„Ich möchte ganz ehrlich sein.“ Sie musste tief ein- und ausatmen, um ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. „Ich finde es armselig, dass Sie nicht einmal dazu imstande sind mir ins Gesicht zu sagen“, ihre Stimme wurde stetig laute, „dass Sie mich nicht ausstehen können und Sie mich nicht weiter unterrichten möchten.“ Sie atmete aufgebracht. „Stattdessen sagen Sie es mir auf diese Weise“, sie hielt ihm die beiden Papiere hin, die sie mit ihrer vor Wut geballten Faust ganz zerknautscht hatte, „und dann auch noch an so einem Tag wie heute!“
Von ihrer Reaktion völlig aus der Bahn geworfen sagte er nur: „Sie überreagieren.“
„Ich über…“ Sie begann zu lachen, bevor sie ihn nachäffen konnte. „Ich überreagiere?“ Sie nahm ihr Glas vom Tisch und leerte den Doppelten auf Ex, bevor sie das Glas fest in die Hand nahm und es gegen die nächste Wand schleuderte, an der es laut zerschellte, so dass der Hund zweimal aufgeregt bellte.
Mit dem Finger auf das entzwei gegangene Glas zeigend sagte sie mit erhobener Stimme: „Jetzt habe ich überreagiert! Möchten Sie mal erleben wie es aussieht, wenn ich so richtig aus der Haut fahre?“
„Ich denke, mit dieser kleinen Demonstration kann ich mir bereits ein gutes Bild davon machen“, erwiderte er so ruhig wie möglich.
„Verdammt nochmal, Sie hätten mir sagen können, dass Sie meiner überdrüssig sind. Und ich meine nicht während solcher Momente, in denen Sie mich nur davon abhalten wollen, mich irgendeiner Gefahr auszusetzen oder auf dem Dachboden herumzustöbern. Seien Sie doch einfach ehrlich und sagen Sie es mir ins Gesicht, dass Sie den Ausbildungsvertrag mit mir beenden möchten, aber tun Sie das in Gottes Namen nicht in Form eines ’Weihnachtsgeschenks’!“
Sie warf ihm die zerknĂĽllten Papiere ins Gesicht, die er erzĂĽrnt fing, als sie zu Boden schweben wollten.
„Wenn Sie die Güte hätten und mir die Gelegenheit geben…“
Sie unterbrach harsch: „Die Gelegenheit geben, mich runterzuputzen?“
„Halten Sie Ihren Mund!“ Jetzt war er lauter geworden und ebenfalls aufgestanden. „Entweder Sie nehmen Platz und hören mir zu oder Sie verlassen auf der Stelle meine Räumlichkeiten. Ich habe es nicht nötig, um Ihre Aufmerksamkeit zu betteln!“
Sie hielt ihren Mund, aber sie setzte sich nicht, sondern stemmte demonstrativ ihre Hände in die Hüfte.
„Wie Sie womöglich gelesen haben – was ich allerdings bezweifeln möchte – ist keiner dieser Verträge verbindlich.“ Er zeigte das zusammengeknüllte Papier, bevor er zwei Schritte in Richtung Kamin machte, um sie ins Feuer zu werfen. In dem Moment, als Hermine die Unterlagen in Flammen aufgehen sah, war sie sehr viel ruhiger geworden. Sie wandte ihren Kopf, als Severus erneut zu sprechen begann. „Sie haben so viel von Japan geschwärmt, dass ich dachte…“ Den Satz hatte er nicht beendet.
„Auch wenn ich noch so viel von einem Land schwärme, dann heißt das noch lange nicht, dass ich dort drei Jahre leben möchte!“ Noch immer war ihre Stimme zittrig, doch nicht mehr so laut wie zuvor.
„Ich hielt es für eine gute Idee“, rechtfertigte sich Severus. „Ich hätte so eine Gelegenheit sofort ergriffen, hätte Professor Slughorn mir so ein Angebot unterbreiten können.“ Er blickte zu Boden und wirkte nervös. „Ich hätte gern das Land verlassen. Dann wäre mir und anderen einiges erspart geblieben.“
„Ich möchte in Schottland bleiben“, sagte Hermine kleinlaut.
Beide Augenbrauen in die Höhe ziehend antwortete er: „Niemand zwingt Sie zu gehen.“
„Dann möchten Sie mich nicht loswerden?“
„Nach dem heutigen Erlebnis mit Ihnen…“ Er ging um sie herum und schaute zu den Scherben auf den Boden. Als sie sich ihm zuwandte, sagte er: „Wenn Sie das beseitigen, dürfen Sie bleiben.“
Mit einem Wutsch ihres Zauberstabes waren nicht nur die Scherben, sondern auch die paar Tropfen Whisky auf dem Steinboden verschwunden.
„Für die Zukunft“, begann Severus, als er an ein Schränkchen ging, „möchte ich Sie bitten, ein Geschenk bei Nichtgefallen einfach zurückzugeben.“ Er öffnete eine Schublade und zog einen Gegenstand mit einer Schleife heraus. „Ich hatte im Laufe des Tages eine Elfe gebeten, dies hier“, der Gegenstand entpuppte sich als ein Geschenk, das für ein Buch viel zu länglich war, „unter Ihren Baum zu legen.“ Mit dem Geschenk in der Hand kam er auf Hermine zu und erklärte: „Die Elfe teilte mir jedoch mit, dass der einzige Baum in Ihren Räumlichkeiten ein…“ Er überlegte kurz. „Wie nannte sie es noch? Dass es bei Ihnen nur einen ’Zwergenbaum’ gäbe, unter dem kein Platz wäre.“
„Mein Bonsai-Bäumchen“, erklärte Hermine besänftigt, als sie das Geschenk entgegennahm.
„Die Unterlagen, das Feuer hab sie selig, sollten nur eine Aufmerksamkeit darstellen. Um das wiedergutzumachen und da bereits der neue Tag begonnen hat, fände ich es angebracht, wenn Sie das eigentliche Geschenk gleich öffnen würden“, sagte er höflich.
Sie setzte sich wieder auf die Couch und betrachtete das hellblaue Papier mit seiner dunkelblauen Schleife. Langsam löste sie die Schlaufe, während sie in Gedanken zugeben musste, die Situation falsch verstanden zu haben. Andererseits – und so abwegig war der Gedanke nicht – könnte es aber auch sein, dass er nur die Notbremse gezogen und von seinem eigentlichen Vorhaben abgelassen hatte. Vielleicht hatte er sie wirklich loswerden wollen und es sich im letzten Moment anders überlegt, dachte sie.
Er wartete geduldig, bis sie auch das Papier entfernt hatte, um nun eine dunkelbraune, hölzerne Box im Schoss liegen zu haben. Sie suchte an der länglichen Seite den Verschluss.
„Hier“, sagte er, als er sich nach vorn beugte, nach der Box griff und sie in ihrem Schoss drehte, um eine kleine, versteckte Abriegelung zu offenbaren.
Den Riegel betätigend öffnete sie gleich im Anschluss die kleine Box, bevor ihr Blick auf ein edles Schreibfederset fiel. Die drei weißen Gänsefedern waren von bester Qualität. Ein kleines Tintenfässchen befand sich ebenfalls darin sowie ein Schreibblock.
„Das sind magische Schreibfedern, die Ihre Diktate aufzeichnen können“, erklärte er mit ruhiger Stimme. „Aber nicht nur das…“ Er griff nach dem Schreibblock, öffnete ihn und schilderte: „Wenn Sie die Sätze, die hier stehen, einmalig mit einer der Feder geschrieben haben, dann werden auch die anderen beiden in Zukunft Ihre Handschrift aufweisen. Ich denke, es wäre von Nutzen, wenn Sie während der Arbeit die Hände freihaben möchten.“
Sie seufzte. „Und ich schenke Ihnen nur einen blöden Gutschein.“
„Den ich gut gebrauchen kann“, versicherte er.
„Danke“, hauchte sie gerührt.
Sie wollte sofort ausprobieren, wie die magische Feder in ihrer Handschrift schreiben wĂĽrde, doch er hielt sie auf, weil er ihre unruhige Hand bemerkte.
„Vielleicht sollten Sie das lieber morgen erledigen. Sie möchten doch nicht, dass die Federn durchweg eine zitternde Handschrift aufweisen, denn das würde geschehen, sollten Sie sie jetzt prägen.“ Er nahm ihr die Feder aus der Hand und packte alles wieder zurück in die Box. Seufzend griff Hermine in ihre Tasche und fischte das Glas mit ihren Pastillen heraus. Sie schraubte den Deckel ab und entnahm zwei, die sie sich sofort in den Mund steckte, so dass Severus verdutzt und ein wenig besorgt über die Menge in dem Glas fragte: „Um Himmels Willen, was nehmen Sie da?“
Den Deckel wieder zuschraubend antwortete sie: „Das sind Stimmungsaufheller. Möchten Sie auch einen?“
„Sie können so etwas nicht wie ein paar Zitronenbonbons anbieten.“
„Die sind eh für Sie, Severus. Ich habe Sie gemacht, erst heute.“ Mit ein wenig Beklommenheit sagte sie: „Hätte ich die Ihnen zu Weihnachten geschenkt, dann wären Sie sicherlich sehr erbost gewesen. So wie ich heute.“ Sie drückte ihm das Glas in die Hand, welches er ohne zu Murren entgegennahm. „Nehmen Sie sie, sie werden helfen. Die haben bisher bei jedem geholfen, auch bei Harry.“ Wortlos starrte er das Glas an. „Eine am Tag reicht. Es sind zwar Pastillen, aber Sie müssen sie nicht lutschen. Sie wirken genauso gut, wenn sie sich im Magen auflösen. Das Lutschen hat aber den Vorteil, dass der Appetit angeregt wird.“
„Dann bitte ich Sie, die Pastillen zu schlucken, Hermine, denn ich habe nichts hier, was ich Ihnen anbieten könnte, ohne die Hauselfen bemühen zu müssen“, erwiderte er trocken, bevor er das Glas auf den Tisch stellte.
„Möchten Sie noch einen Schluck?“ Er nahm die Flasche in die Hand.
„Aber nur einen kleinen“, bejahte sie. „Ich habe tatsächlich überreagiert oder?“
Er winkte ab und spielte die Situation herunter. „Vielleicht ein kleines bisschen.“
„Darf ich es auf den Alkohol schieben?“ Weil er sie fragend anblickte, schilderte sie: „Ich hatte schon Eierpunsch getrunken, in etwa sechs Gläser, und Remus war mit dem Rum nicht gerade sparsam umgegangen.“
Ein Mundwinkel wanderte in die Höhe, doch Hermine konnte das nicht sehen. „Es war zum Teil meine Schuld. Ich hätte zuvor doch einige Worte verlieren sollen.“
„Ich dachte wirklich“, begann Hermine, „dass Sie mich vor die Tür setzen wollen.“
„Sie sind bereit, Hermine. Mit Ihrem Wissen und Ihren Fähigkeiten schaffen Sie Ihren Meister mit Links.“
„Aber ich möchte noch ein paar Projekte ins Leben rufen und mit Ihnen zusammen arbeiten. Ich hab nur einmal in meinem Leben mit seltenen Wasserpflanzen gearbeitet; das wäre etwas, das mich interessieren würde.“ Sie blickte ihn an und fragte unsicher: „Oder ist es das Geld? Bin ich Ihnen zu teuer?“
„Unfug! Außer dem Gehalt kosten Sie mich rein gar nichts. Dank Albus genießen Sie Unterkunft und Verpflegung, die nicht von mir finanziert werden.“
„600 Galleonen sind trotzdem sehr viel“, hielt sie ihm vor Augen. Gleich darauf wollte sie wissen: „Was bekommen Sie eigentlich so als Lehrer?“
„Etwas über 1.300 Galleonen, darüber hinaus sämtliche Arbeitsmittel extra.“
„Und das Drachenei? War das in den Arbeitmitteln mit drin?“
„Nein, für solche ausgefallenen Zutaten muss ich schon selbst aufkommen, aber ich kann Sie beruhigen. Mr. Weasley – Charlie – war mit dem Preis überaus entgegenkommend, nachdem ich ihm erzählt habe, wer meine Schülerin sei.“ Hermine lächelte.
Nach einer ganzen Weile, die sie friedlich beieinander saßen, fragte sie nochmals: „Wo haben Sie mich heute gesehen?“
Severus blickte sie an, als würde er erst nachdenken müssen, während seine Augen ihr Gesicht musterten. „Ich habe Sie nicht gesehen“, sagte er mit müder Stimme, bevor er seinen Blick von ihr abwandte. „Ich hatte Sie nur in der Nähe vermutet, weil Ihr Kniesel mir gefolgt war.“
Hermine glaubte ihm nicht.
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