von Muggelchen
Am Lehrertisch sitzend bemerkte Harry gar nicht, dass er Severus anstarrte, weil er von seiner momentanen Wahrnehmung, den bunten Farben der Kinder und dem spürbar freudlosen Grau seines Kollegen, viel zu eingenommen war. Erst Severus’ Worte rissen ihn aus seiner Observation, als dieser langsam auf den Lehrertisch zukam und leise, aber mit gehässigem Tonfall in der Stimme und einem maliziösen Grinsen auf den Lippen sagte: „Lupin, welch eine ’Freude’, Sie heute hier zu sehen. Gemütlich beim Frühstück und dann auch noch auf meinem Platz.“
Die Unterhaltung der drei verfolgte Harry nicht aufmerksam, denn er blickte niedergeschlagen auf den trĂĽben reizlosen Vorhang grauer Magie, von dem Severus umgeben war. Nur am Rande bemerkte er, dass Remus von ihm wegrutschte und mit einem Male ein Stuhl zwischen ihm und seinem Freund an den Tisch schwebte, doch weder Hermine oder Remus noch Severus hatten ihren Zauberstab gezogen.
Neugierig drehte sich Harry um und erblickte das gütige Lächeln und die fröhlich funkelnden Augen von Albus, der für Severus einen leeren Stuhl per Levitation herbeigerufen hatte. In dem Moment, als Harry den Direktor betrachtete, verspürte er das schon immer da gewesene Gefühl von Verbundenheit noch viel stärker als jemals zuvor – ein Gefühl von Verwandtschaft; Seelenverwandtschaft. Albus war ganz und gar in Gold gehüllt wie er selbst. Harry lächelte seinem Mentor warmherzig zu und der erwiderte die Freundlichkeit.
Neben sich hörte er Severus zu jemanden sagen: „Warum heute so freundlich?“
Harry drehte sich um und bemerkte, dass Hermine die Kaffeekanne gerade wegstellte, nachdem sie Severus offensichtlich eine Tasse eingeschenkt hatte und mit der anderen Hand reichte sie in diesem Moment den Brötchenkorb an ihn weiter, was seinen Kollegen hatte stutzig werden lassen.
„Im Gegenteil zu anderen Personen bin ich von Natur aus freundlich, Severus. Außerdem ist das heute unser letzter gemeinsamer Tag und den sollten wir ganz ungezwungen vorübergehen lassen“, erwiderte Hermine und es war zu gleichen Teilen Provokation und Bedauern aus ihrem Tonfall herauszuhören.
„Wie soll ich das bitte verstehen?“, fragte Severus verunsichert nach.
Remus lehnte sich mit seiner Tasse Tee in der Hand und einem nur spärlich unterdrückten Schmunzeln gemütlich zurück, damit Hermine und Severus sich ins Gesicht sehen konnten, während sie miteinander redeten.
„Wie Sie das verstehen sollen? Ich erkläre es Ihnen: Die Hälfte des Buches habe ich natürlich nicht geschafft und ich werde es bis zum Mittag auch nicht schaffen. Sie waren gestern sehr deutlich gewesen, als Sie mir erläutert hatten, was geschehen würde, sollte ich die Aufgabe nicht erledigen.“
„Wie viel haben Sie denn bereits gelesen?“, wollte er wissen, während er zu seiner Tasse griff.
„Nur die ersten beiden Kapitel, die nebenbei erwähnt immerhin etwas über 200 Seiten ausmachen und nicht gerade zur Kategorie ’Leichte Lektüre’ zählen.“
Mit regungsloser Miene stellte er sehr nüchtern klar: „Dann haben Sie doch die Hälfte des ersten Themas bereits gelesen.“
Sie schaute ihn sehr eindringlich an, so dass er durch ihren bohrenden Blick und dem fehlenden Kommentar ihrerseits zu ihr hinüberschaute. Er bemerkte, dass sie sich ärgerte und er musste sich daher ein Grinsen verkneifen.
Ganz beiläufig klingend klärte er sie auf: „Das Buch ist, wie der Titel ja bereits verrät, in drei Themen aufgeteilt. Sie haben die Hälfte des ersten Themas gelesen. Mehr habe ich nicht verlangt.“
Angriffslustig kniff sie die Augen zusammen. Sie hatte groĂźe MĂĽhe, nach auĂźen hin weiterhin ernst zu wirken, doch innerlich hatte sie gewusst, dass er den Vertrag mit ihr nicht kĂĽndigen wollte, nur hatte sie nicht damit gerechnet, dass er sie jetzt auf den Arm nehmen wĂĽrde.
„Sie haben gesagt und zwar wortgenau ’Die Hälfte des Buches bis Morgenmittag.’ Nicht die Hälfte des ersten Themas“, sagte sie gespielt vorwurfsvoll.
„Sagte ich das tatsächlich?“ An seiner Betonung war zu hören, dass er die Angelegenheit schon lange nicht mehr ernst nahm. „Verzeihen Sie mir das Missverständnis. Ich meinte natürlich die Hälfte des ersten Themas und nicht bis Morgenmittag, sondern bis Montagmittag. Ich war wohl ein wenig fahrig gewesen.“
Das Stück Cheddar, welches er sich von der Käseplatte genommen hatte, legte er nicht wie erwartet auf sein Brötchen, sondern er nahm es in die Finger und biss ungeniert ab, während er sich des bohrendes Blickes seiner Schülerin, der auf ihm lastete, durchaus bewusst war, ihn jedoch absichtlich ignorierte.
„Sie sind gemein“, murmelte Hermine in ihr Müsli, nachdem sie sich wieder ihrem Frühstück gewidmet hatte.
„Ah, es muss ein befriedigendes Erlebnis sein, wenn man so eine Offenbarung erfährt“, konterte er gelassen amüsiert.
„Severus“, sagte Remus schmunzelnd, „wie kommt es, dass du heute so…“
„Wählen Sie Ihre Worte weise, Lupin“, fiel ihm Severus ins Wort.
„Dann hilf mir doch bitte auf die Sprünge. Ich suche ein Synonym für das Wort ’heiter’. Einen Vorschlag?“, fragte Remus mit todernster Miene, doch allein die Fältchen um seine Augen herum verrieten, dass er selbst sehr gut gelaunt war.
Severus blickte nach vorn zu den Kindern und sagte derweil: „Wie könnte ich nicht guter Dinge sein, wo doch heute all die lernunwilligen Sprösse, die arroganten Bälger und tölpelhaften Nichtsnutze die Schule verlassen und mich vor den Katastrophen, die sie trotz aller Warnungen immer wieder in meinen Klassenräumen herbeiführen, für ganze zwei Wochen verschonen? Beim Anblick der Schüler mit ihrer an den Tag gelegten Vorfreude auf das Weihnachtsfest, das sie bei ihren lieben Familien verbringen werden, blüht nicht mein Herz auf, sondern meine Spottlust und um nichts in der Welt wollte ich es verpassen, dem einen oder anderen dreisten Naseweis und respektlosen Lausebengel noch einen verachtenden Blick oder ein paar gut gewählte, hämische Worte mit auf den Weg zu geben.“
„Es freut mich“, begann Remus lächelnd, „dich heute mal so beschwingt erleben zu dürfen.“
Severus blickte neben sich und blinzelte mehrmals, denn so eine Reaktion hatte er nicht erwartet. In der Regel würde Minerva jetzt dagegenhalten und seine Worte verteufeln; sich furchtbar darüber aufregen, was für ein kaltherziger Mensch er wäre, doch er saß nicht neben ihr und er wurde nicht wie erwartet von allen Seiten für seine kleine Rede, die nur halb so ernst gemeint war wie sie geklungen hatte, in die Mangel genommen. Stattdessen hatte Remus es ihm gleichgetan und ironisch geantwortet, während Hermine sich nicht einmal über das extra für sie erwähnte „dreiste Naseweis“ aufzuregen schien.
Sprachlos blickte Severus zu seiner anderen Seite und erst da bemerkte er, wie Harry ihn anstarrte; womöglich schon die ganze Zeit über angeblickt hatte und es war ihm nicht entgangen, dass die grünen Augen hinter der runden Brille voller Kummer waren.
„Ehemalige Lausebengel und Nichtsnutze sind natürlich ausgenommen“, sagte Severus mit einem nur sehr zaghaft angedeuteten Lächeln, welches für Außenstehende schwer als solches zu erkennen war und erst da begann auch Harrys Trübsinn zu verblassen.
Harry hatte weniger auf die Worte geachtet, die Severus an ihn gerichtet hatte. Er war von Severus’ Magie beeindruckt, denn nachdem sich sein Kollege zwischen Remus und ihn gesetzt hatte, waren bereits leichte Veränderungen auszumachen. Die trostlose Farbe war unmerklich heller geworden, nachdem Remus’ und Harrys eigene Magie die Fühler nach dem grauen Tischnachbarn ausgestreckt hatten. Schon während der Unterhaltung mit Hermine war ab und an in der nebligen Masse, die selbst sehr einsiedlerisch wirkte, weil sie nicht mit fädenhaften Tentakeln die Umgebung zu erkunden versuchte, ein leichtes silberfarbenes Glitzern zu sehen gewesen. Nach Remus’ scherzhafter Bemerkung hatte Harry beobachten können, dass die Magie zwar noch immer einfarbig und grau gewesen war, aber nun weniger wie ein Schatten wirkte, sondern eher wie leichte Wolkendecke am Himmel, die jeden Moment aufreißen könnte.
Einen Augenblick später hatte Severus ihm in die Augen gesehen und als sein Kollege die als Scherz versteckte Entschuldigung bezüglich der ehemaligen Lausebengel an ihn gerichtet hatte, da kam es Harry so vor, als würde für einen kurzen Moment ein wenig Sonne durch die Wolken hindurchscheinen. Dieser Augenblick ließ Hoffnung in Harry aufkommen, seinem Kollegen eines Tages zu seiner wahren Magie verhelfen zu können.
Am Tisch der Slytherins war nicht weniger Trubel als an den anderen Tischen, doch Draco ließ sich nicht stören. Mit einer Hand frühstückte er und mit der anderen zeichnete er per Zauberstab etwas auf ein Pergament, das er manchmal kritisch betrachtete, bevor er es umänderte. Manchmal blickte er zum Lehrertisch hinüber, weil der Anblick von seinem Patenonkel neben dem ehemaligen Lehrer für Verteidigung ein seltener war. Er wusste, dass Severus Lupin nicht ausstehen konnte und doch saßen sie hier vor allen Augen zusammen und schienen sich auch noch über etwas zu amüsieren.
„Bleibst du auch über die Ferien hier?“, hörte Draco eine Stimme fragen. Er blickte auf und erkannte seinen Klassenkameraden Gordian.
„Ja, ich bleib auch hier, aber ich werde wegen der Hochzeitsvorbereitungen oft außer Haus sein. Warum?“, fragte Draco zurück.
„Ach, nur so. Es bleiben ja nicht viele in Hogwarts.“ Gordian setzte sich neben Draco, um mit dem Frühstück zu beginnen.
Ein wenig irritiert über den jungen Mitschüler fragte Draco: „Wollest du nicht über Weihnachten zu deinen Eltern?“
„Schon, aber ich hab’s mir anders überlegt.“ Verträumt blickte Gordian zum Tisch der Hufflepuffs hinüber, an welchem Meredith saß.
Dem Blick folgend fand Draco den Grund für Gordians Entschluss, nicht nachhause zu fahren, so dass er schmunzelnd sagte: „Hufflepuff ist eine gute Wahl.“
„Mmmh“, machte Gordian bedrückt. „Viele sehen das anders. Ich musste mir schon einiges anhören.“
„Von wem?“
„Na, von unsern lieben Mitschülern“, sagte Gordian verachtend.
„Etwa aus unserem Haus?“, fragte Draco nach.
„Aus allen Häusern. Viele haben nur blöd gefragt, ’Warum ausgerechnet eine Hufflepuff?’. Was ist denn an dem Haus so schlimm?“
Sich an die eigene Schulzeit erinnernd und an Bemerkungen seiner Eltern und Verwandten versuchte Draco fĂĽr sich selbst eine Antwort zu finden, die nicht von Vorurteilen belastet war.
„Ich glaube“, begann Draco, „dass viele denken, in Hufflepuff würde wirklich jeder Schüler aufgenommen werden, der nicht in einem der anderen Häuser unterkommt, aber das ist meines Erachtens eine Fehleinschätzung. Es ist richtig, dass du für Hufflepuff keine bereits vorhandene Eigenschaft benötigst, aber“, er blickte Gordian an, „du musst bereit sein, fleißig zu lernen und hart zu arbeiten. Sie sind darüber hinaus alle sehr loyal und nicht nur dem eigenen Haus gegenüber.“
„Das denke ich nämlich auch“, sagte Gordian zustimmend.
„Cedric Diggory war in dem Haus gewesen“, begann Draco sehr ernst und er musste nicht erklären, wer der junge Mann gewesen war, denn den Namen kannte jeder aus der Zeitung und man betrachtete ihn als erstes Opfer des damals wiederauferstandenen Voldemort, was dem Verstorbenen einen traurigen Ruhm eingebracht hatte. „Ich habe ihn beim Trimagischen Turnier angefeuert.“
„Wieso Diggory? Warum hast du nicht Potter angefeuert?“, fragte Gordian naiv, denn über die damaligen Rivalitäten zwischen den beiden war er nicht vollständig im Bilde. „Oh, blöde Frage“, entschuldigte sich Gordian. „Du warst ja früher nicht auf seiner Seite… Ich meine, du warst ja ein…“ Gordian seufzte und murmelte: „Verdammt… Fettnapf.“
Draco stieß amüsiert Luft durch die Nase aus, bevor er sagte: „Mit Potter habe ich mich aus genau den Gründen, die du dir denken kannst, früher nicht sehr gut verstanden.“
Kaum hatte man von ihm gesprochen, kam Harry am Tisch der Slytherins vorbei und stoppte bei Draco und Gordian.
Grüßend nannte er die Nachnamen und wünschte einen guten Morgen, bevor er Draco, der die beiden sprechen wollte, darüber in Kenntnis setzte: „Miss Granger ist jetzt bei mir. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Mr. Malfoy, dann können Sie uns nach dem Frühstück aufsuchen.“ Harry hasste es, von Hermine als „Miss Granger“ zu sprechen und er mochte es nicht, in der Öffentlichkeit Draco mit „Mr.“ anzureden, aber das waren die Regeln.
„Ja, Professor Potter, ich werde kommen“, bestätigte Draco dankend.
Mit einem Lächeln auf den Lippen nickte Harry, bevor er die beiden allein ließ, um die große Halle zu verlassen. In wenigem Abstand folgten Hermine und Remus, die sich angeregt unterhielten und direkt hinter ihnen ging Severus, der sich, was man an seinem Gesicht ablesen konnte, darüber zu ärgern schien, dass die beiden beim Gehen so trödelten; er konnte auch nicht einfach an ihnen vorbeigehen, weil dafür kein Platz war.
Schmunzelnd sagte Gordian sehr leise zu Draco: „Na ja, Slytherin ist nicht nur mit Hufflepuff gut bedient.“
„Wie meinst du das?“, wollte Draco wissen.
„Ich meine natürlich Snapes Schülerin!“ Da Draco nicht zu verstehen schien, erklärte Gordian flüsternd: „Sie schleicht mitten in der Nacht aus seinen privaten Räumen und zwar nur im Nachthemd bekleidet!“
Dracos Augenbrauen verschwanden aus seinem Gesicht, weil sie sich in der Nähe des Haaransatzes verstecken wollten.
„Ich dachte, du wusstest das?“, fragte Gordian unsicher, denn es war ihm bekannt, dass sein Schulkamerad das Patenkind des Zaubertränkelehrers war und sie sich privat sehr gut kannten.
„Das müssen Gerüchte sein“, winkte Draco nach dem kleinen Schock ab. „Genau wie das Gerede, dass er ein Vampir wäre.“
„Das ist kein Gerücht!“, versicherte Gordian. „Das mit dem Vampir schon, hoffe ich zumindest, aber sie“, Gordian nickte zu Hermine hinüber, die gerade an der großen Flügeltür stand, welche ihr von Severus geöffnet wurde, „habe ich selbst gesehen! Im Nachthemd, an seiner Tür, direkt neben ihm stehend!“
Sich beruhigend, weil diese Information ihn innerlich tief getroffen hatte, atmete Draco tief ein und aus.
„An deiner Stelle, Gordian, würde ich diese Beobachtung nicht streuen, selbst wenn sie wahr sein sollte!“, gab Draco als gut gemeinten Ratschlag, bevor er sich sein Pergament auf dem Tisch zurechtschob und wieder zu Zeichnen begann.
„Was machst du da?“, fragte Gordian neugierig.
„Das ist ein Raum in meinem Haus. Ich will ihn ändern“, erklärte Draco knapp.
Gedankenverloren blickte Draco auf und zum Eingang hinüber, an welchem Severus stand, der Hermine höflichkeitshalber die Flügeltür offen hielt.
„Danke, Severus“, sagte Hermine, bevor sie nach draußen ging. Remus folgte ihr und bedankte sich ebenfalls bei Severus, was dem zu missfallen schien. Hermine wollte gerade schon Harry nachgehen, da wandte sie sich um und fragte: „Wann soll ich heute bei Ihnen sein?“
„Heute? Gar nicht! Machen Sie sich einen schönen Tag. Ich habe andere Dinge zu erledigen“, antwortete Severus, bevor er mit schnellen lautlosen Bewegungen zur Treppe ging, die in die Kerker führte.
„Das macht der nur, um mich zu ärgern“, murmelte Hermine grantig, woraufhin Remus lachen musste.
„Sei doch froh, dass du heute frei hast. Komm, wir gehen, Harry wartet.“
In seinem Wohnzimmer angekommen lieĂź Harry sich auf die Couch fallen, um entspannt und laut durchzuatmen.
„Jetzt weiß ich, warum die Lehrer am Tag des Ferienbeginns immer so glücklich ausgesehen haben“, sagte er grinsend. „Selbst der lieben Pomona hat man angesehen, dass sie die Ruhe der nächsten Wochen zu schätzen weiß.“
„Sie bleibt auch hier?“, fragte Hermine, als sie sich ihm gegenüber setzte.
„Ja, in erster Linie wegen Meredith, aber sie wollen zusammen ein paar Ausflüge unternehmen. Ginny und ich werden sie auch mal begleiten, das haben wir schon ausgemacht.“ An Remus gewandt fragte Harry: „Was meinst du, wann Hogsmeade wieder freigegeben wird? Ich stelle mir das für die Bewohner sehr stressig vor, so mir nichts, dir nichts die Häuser verlassen zu müssen.“
„Ich habe keine Ahnung, Harry. Die Schüler werden ja gegen Mittag erst zum Bahnhof gebracht und bis der Zug abfährt dauert es auch einen Moment. Man wird anschließend nicht einfach gehen. Wie ich Kingsley kenne, wird er die Gegend selbst danach nochmal sehr gründlich unter die Lupe nehmen“, erwiderte Remus. „Und wenn ich ehrlich bin, dann glaube ich, dass ich diese Nacht auch noch in Hogwarts verbringen werde.“
Es klopfte.
„Oh, das wird Draco sein“, sagte Harry in die Runde, bevor er laut „Herein“ rief.
„Neville?“ Harry schien etwas verdutzt, als sein Freund vorsichtig ins Zimmer lugte.
„Tut mir Leid, falls ich stören sollte.“
„Nein, komm ruhig rein. Wir hatten nur mit jemand anderem gerechnet. Setzt dich doch“, bot Harry freundlich an.
„Nein, ich habe keine Zeit. Ich fahre nachher mit zum Bahnhof und habe deswegen noch einiges zu erledigen. Ich wollte nur kurz mit Hermine sprechen.“ Er blickte sie direkt an und sagte: „Ich komme vor den Feiertagen nochmal wieder, werde aber über Weihnachten weg sein. Ich wollte dir Bescheid geben, dass alles bestens gewachsen ist. Die Pflanzen sind bereit. Kannst jederzeit in Gewächshaus vier gehen und ernten. Ganz hinten links findest du alles.“
„Wieso bleibst du nicht die ganzen Ferien über mit Luna zusammen?“, wollte Harry wissen.
„Luna hat ja keine Ferien, im Gegenteil; sie hat sehr viel zu tun. Gleich morgen früh hat sie ein Gespräch mit einem Herrn von der ’Muggelpost’.“
„Oh ja“, unterbrach Hermine, „eine tolle Zeitung! Arthur hat sie abboniert und ich lese sie auch regelmäßig. Bewirbt sich Luna dort?“
Neville nickte. „Das hat sie schon und morgen ist bereits das Vorstellungsgespräch. Luna möchte, dass ich Zuhause bin, auch wenn sie mit ihren Vorbereitungen beschäftigt sein wird. Sie meinte, allein meine Anwesenheit würde sie beruhigen.“ Er lächelte zufrieden.
„Sag Luna von uns allen, dass wir ihr die Daumen drücken!“, sagte Hermine ehrlich. „Ach Neville, wieso apparierst du nicht einfach?“
„Ich mag den Zug!“, rechtfertigte sich Neville, dem Apparation nicht lag.
„Ich auch“, stimmte Harry zu. „Dann eine gute Fahrt!“
Nachdem Neville das Wohnzimmer verlassen hatte, streckte sich Harry, um seine Muskeln zu lockern. Gleich darauf ließ er seine Hände in den Schoß fallen und blickte zu Hermine und Remus hinüber, bevor er spitzbübisch fragte: „Was war das vorhin mit ’Gestern noch ein kleine Wanderung unternommen?’. Was habt ihr beide ausgeheckt?“ Weil die beiden einen erstaunten Blick austauschten, erklärte Harry: „Ich habe zwei gesunde Ohren. Ich habe das durchaus gehört und auch aufmerksam registriert!“
Amüsiert erklärte Hermine: „Du weißt ja, dass Severus immer wieder auf den Dachboden geht und da war ich mit Remus’ Hilfe mitten in der Nacht einfach mal ein wenig da oben schnüffeln.“
„Was gefunden?“
„Den Raum habe ich gefunden, aber ich konnte ihn nicht öffnen“, gestand Hermine.
„Hör ich recht? Es gibt etwas, das du mal nicht öffnen kannst?“ Er wollte sie liebevoll auf den Arm nehmen, doch sie fühlte sich in ihren Fähigkeiten gekränkt, was er bemerkte. „Ich habe nur Spaß gemacht, Hermine.“
Mit einem Male wurde sich Harry darüber bewusst, dass auch Remus im Raum war, doch der hatte bisher nur still zugehört.
Weil Harry ihn so eindringlich anblickte, erklärte Hermine: „Ich habe ihm ein bisschen was erzählt, Harry, wegen Severus.“
Harry nickte, doch er äußerte sich nicht dazu. In seinen Augen war es nicht schlimm, ihn eingeweiht zu haben. Remus war ein sehr verschlossener Mensch, bei dem Geheimnisse bestens aufbewahrt waren. ’Man hätte ihn zum Geheimniswahrer machen sollen’, dachte Harry betrübt.
„So, Harry“, sagte Hermine, so dass er sie aufmerksam anblickte. „Da du ja nichts von dir aus erzählen willst, frage ich einfach: Was genau hast du vorhin in der großen Halle gesehen? Du sagtest, du hättest die Farben der Schüler sehen können.“
Wieder legte sich ein zufriedenes Lächeln auf sein Gesicht, als er sich an den wunderschönen Anblick erinnerte.
„Ich kann es euch zeigen!“
Begeistert stimmte Hermine zu. Harrys Denkarium hatte sich wirklich als brauchbarer Schatz erwiesen.
Harry gab Wobbel Bescheid, dass der Draco hereinlassen sollte, falls die Erinnerung bis zu dessen Besuch noch nicht vorüber sein sollte. Im Anschluss stellten sich Harry, Hermine und Remus um das Denkarium herum. Während die drei mit ihren Nasenspitzen die Flüssigkeit berührten, tauchte Schwester Marie mit ihrem Gesicht aus dem mit eiskaltem Wasser gefüllten Waschbecken in den Waschräumen der Angestellten des St.-Mungo-Hospitals für Magische Krankheiten und Verletzungen auf und blickte vor sich in den Spiegel. Was Mr. Malfoy ihr eben erzählt hatte, war nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Allein der Gedanke an die Grässlichkeiten, die von einigen seiner Verwandten „zum Spaß“ erdacht worden waren, ließen ihr eine Gänsehaut den Rücken hinunterlaufen. Marie hoffte innig, dass es in der Vergangenheit nicht noch mehr Menschen gegeben hat, die an dem gleichen Krankheitsbild wie Miss Parkinson hatten leiden müssen.
„Warum denken Sie, dass Sie womöglich helfen könnten?“, hatte sie vorhin von ihm wissen wollen.
„Weil die Todesser sich viele Qualen für diejenigen ausgedacht haben, die sich dem Dunklen Lord in den Weg gestellt hatten“, hatte er geantwortet.
Eine Weile lang hatte sie nichts sagen können, denn in diesem Moment war der Mann vor ihr der Todesser Malfoy gewesen und nicht der Patient, den sie bereits seit Monaten kannte.
„Marie“, hatte er mit ruhiger, aber sehr ernster Stimme gesagt. „Meine Schwägerin war sehr hasserfüllt gegenüber Muggeln gewesen. Durch die Dunklen Künste, einem ihrer Steckenpferde, war sie schon sehr früh auf ganz abscheuliche Flüche und Tränke gestoßen, über die sie jedoch nicht nur lesen wollte; sie wollte sie ausprobieren!“
„Sie meinen“, hatte Marie zaghaft begonnen, „dass Miss Parkinson an einem dieser schwarzmagischen Flüche oder Tränke leidet? Aber weder die Station für ’Vergiftungen durch Zaubertränke und magische Pflanzen’ noch die für ’Fluchschäden und Zauberunfälle’ hat bei Miss Parkinson etwas Schwarzmagisches gefunden.“
„Meine Schwägerin hat experimentiert, Marie. Für sie wäre es nur der halbe Spaß gewesen, mit Tränken zu arbeiten, die leicht zu entdecken wären oder für die ein Gegenmittel existieren würde. Ich gebe an dieser Stelle zu, dass mich das Thema nie sehr interessiert hat, weswegen ich auch nicht viel zu den Tränken sagen kann, mit denen meine Schwägerin, ihr Mann und dessen Bruder hantiert haben. Ich kann mich jedoch sehr lebhaft an einen Tag erinnern, an dem sie in einem Buch einen Trank gefunden hatte, von dem sie äußerst begeistert gewesen war. Das, was Sie mir über Miss Parkinson erzählt haben, Marie, hat mich an diesen Tag erinnert. Meine Schwägerin hatte eine bestimmte Passage vorgelesen und die handelte von einem Trank, der einen Körper leblos erscheinen lassen würde. Ihre Vergnügungssucht wurde damit jedoch nicht gestillt. Nur zu wissen, dass ein Lebender wie ein Verstorbener behandelt werden würde, reichte ihr bei Weitem nicht aus. Nein, ihr lag etwas ganz anderes am Herzen und das war die Qual der Opfer. Sie hatte über einen langen Zeitraum hinweg einen Trank nach ihren persönlichen Wünschen modifiziert, damit sie nachts auf den Friedhöfen ihre begrabenen Opfer in deren Särgen schreien hören konnte.“
Während sie vorhin bereits sein Krankenzimmer hatte verlassen müssen, weil sie sich unwohl fühlte, hatte sie Malfoy noch den Namen des Trankes sagen hören.
Nun stand sie hier im Waschraum, blickte in den Spiegel und beobachtete, wie einige Tropfen an ihrem Gesicht hinunterliefen. Malfoys Erzählung hatte sie tief bewegt. Mitgefühl für unbekannte Opfer breitete sich in ihr aus. Das Gefühl der Machtlosigkeit konnte sie kaum ertragen und sie war erschüttert über all die Bösartigkeiten, von denen sie erfahren hatte. Mr. Malfoy selbst hatte auf sie nicht so gewirkt, als hätte er die Vorliebe seiner Schwägerin teilen können. Vielleicht, so dachte Marie, war er auch nur erbost darüber, dass es Miss Parkinson – eine Reinblüterin – getroffen hatte, von der er sehr viel zu halten schien. Marie würde im Laufe des Tages Professor Junot davon berichten, wenn die mit den ganzen Analysen fertig wäre, denn bei so einer schwierigen Arbeit wollte Marie nicht stören.
Von einer Dame aus dem Ministerium hatte Marie heute Morgen über den Kamin im Schwesternzimmer die Information erhalten, dass Mr. Shacklebolt und Miss Tonks noch beschäftigt wären, sich jedoch sofort bei ihr melden würden, wenn sie zurückkommen würden.
Nachdem Marie sich um Miss Parkinson gekümmert hatte, nahm sie den Aufzug in das erste Untergeschoss, denn dort war Professor Junot anzutreffen, der sie von Mr. Malfoys Erzählung berichten wollte. An die Bürotür klopfend wartete Marie, bis die Professorin ihr Einlass gewähren würde, doch als niemand antwortete, öffnete Marie die Tür einen Spalt. Junot lag auf einer schmalen Couch und war offensichtlich genauso erschöpft wie Marie. Was Mr. Malfoy ihr gesagt hatte, dachte Marie, müsste noch warten, bis die Professorin wieder fit war und so wollte sie die Tür wieder schließen. In diesem Moment regte sich Junot.
„Marie?“ Die Professorin setzte sich auf und fragte: „Ist sie wieder wach?“
„Nein, aber ich habe einen Anhaltspunkt. Na ja, möglicherweise könnte es einer sein, das müssen Sie entscheiden“, sagte Marie betrübt.
Junot klopfte zweimal mit der Flachen Hand auf das Polster neben sich auf der Couch und sagte: „Setzen Sie sich und erzählen Sie es mir.“
Zögerlich setzte sich Marie, bevor sie einmal tief Luft holte und sagte: „Hören Sie mich bitte erst an, bevor Sie sich aufregen.“ Erstaunt zog Junot eine Augenbraue in die Höhe, doch sie nickte, so dass Marie erzählte: „Mr. Malfoy hat mir einen Hinweis gegeben, den ich persönlich für glaubhaft…“
„Marie, Sie haben Mr. Malfoy doch nicht etwa über den Zustand von Miss Parkinson unterrichtet? Wenn ja, dann…“
Diesmal unterbrach Marie mit ruhiger Stimme: „Ich habe die Schweigepflicht verletzt, ja. Ich bin während meines Gesprächs mit ihm nicht allzu sehr ins Detail gegangen, aber Sie können mich trotzdem beim Direktor melden, aber erst nachdem Sie mich angehört haben.“
Junot presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen, machte ihr jedoch mit einer Geste deutlich, dass sie fortfahren sollte.
„Mr. Malfoy erzählte mir von seiner Schwägerin, die sich sehr gern und oft mit schwarzmagischen Dingen befasst hat. Sie hätte mit grauenvollen Flüche und Tränken experimentiert. Nicht selten, sagte Mr. Malfoy, hätte seine Schwägerin die Resultate auch an Muggeln getestet. Ich hatte ihm erzählt, dass Miss Parkinson die ganze Zeit über wie tot wäre und sie nur ganz selten aufwachen würde. Mr. Malfoy meinte dazu, seine Schwägerin hätte Freude daran gehabt zuzusehen, wie Muggel ihre Toten betrauert würden, während sie selbst wusste, dass die Person noch am Leben war und man sie…“
„Man sie lebendig begraben hatte“, vervollständigte Junot schockiert.
„Der ursprüngliche Trank ließ die Opfer nicht mehr aufwachen, aber sie konnten noch alles spüren. Mr. Malfoys Schwägerin hat den Trank abgeändert und dafür gesorgt, dass sie dann und wann aus ihrer Totenstarre erwachen und sich ihrer Lage bewusst werden.“ Maries Stimme war zum Ende hin immer leiser geworden.
Professor Junot schluckte laut, denn sie musste daran denken, dass womöglich einige von den vielen Menschen, für die sie während des Krieges einen Totenschein ausgestellt hatte, gar nicht tot gewesen waren und selbst wenn sie es nicht genau wusste, spürte sie bereits einen unangenehmen Druck auf ihrem Herzen.
„Hat Mr. Malfoy auch gesagt, wie der ursprüngliche Trank hieß?“, fragte Junot mit zittriger Stimme.
Marie nickte und antwortete: „Er hieß ’Schlafes Bruder’.“
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