von Muggelchen
Nachdem Draco heute am ersten Tag der Ferien sehr früh aufgestanden war und sich ins Wohnzimmer begeben hatte, lehnte sich er auf der Couch sitzend zurück und ließ die Ereignisse vom Vortag Revue passieren, denn das war der erste Tag gewesen, an dem er die Schüler der Nachhilfe kennen gelernt hatte. Er hatte ihnen am Ende die Aufgabe gegeben, über die Weihnachtsferien darüber nachzudenken, was ihnen in Zaubertränken Schwierigkeiten bereiten würde, damit sie das im neuen Jahr in Angriff nehmen könnten, denn heute, nach dem Frühstück, würden fast alle Schüler nachhause fahren.
Er erinnerte sich daran, wie er gestern am liebsten kehrt gemacht hätte, als er in dem für die praktische Übung bereitgestellten Klassenraum in den Kerkern auch Shaun erblickt hatte. Gerade ihm war er in letzter Zeit aus dem Weg gegangen. Shaun war jedoch nicht von seinen Freunden begleitet worden und hatte sich die ganze Zeit über höflich und ruhig verhalten. Draco ahnte, dass McGonagall ihm eindringlich empfohlen haben musste, das Nachhilfeangebot in Zaubertränken anzunehmen. Neben Shaun war eine weitere Siebtklässlerin aus Gryffindor anwesend gewesen. Die anderen vier besuchten ebenfalls die siebte Klasse, nur waren sie aus Hufflepuff: drei Jungen und ein Mädchen.
Erstaunlicherweise hatten die beiden Mädchen das Eis für alle gebrochen, wofür besonders Draco dankbar gewesen war. Mit ihrem Witz und Charme hatten sie unterschwellig dazu aufgefordert, die Häusereinteilung während der Nachhilfe zu vergessen.
Im Gegensatz zu Severus hatte Draco nicht nur in seiner vorbereitenden Rede zur Herstellung eines Trankes erwähnt, was man auf gar keinen Fall tun durfte, sondern er hatte darüber hinaus erklärt, warum man bestimmte Fehler unbedingt vermeiden sollte. Er hatte von den möglichen Nebenwirkungen, die ein nicht korrekt gebrauter Heiltrank mit sich bringen könnte, berichtet – von den verheerenden Folgen für Haut, Innereien oder das Gedächtnis. Seine Mitschüler hatten ihm geradezu an den Lippen gehangen, als er die vielen schlimmen Dingen beschrieb, die geschehen könnten, sollte man sich nicht voll und ganz auf seinen Trank konzentrieren. Niemand hatte gestern Fehler mit solchen bösen Auswirkungen machen wollen, was dazu geführt hatte, dass die sechs Schüler den schnell herzustellenden Heiltrank, den sie im Unterricht durchgenommen hatten, beim ersten Versuch fehlerfrei gebraut hatten. Die sechs beschrifteten Ampullen mit den Proben aus den Kesseln der Schüler musste Draco, denn das war von McGonagall gefordert worden, Severus zur Kenntnisnahme überreichen, was er gestern noch nicht getan hatte.
Momentan saß er in seinem Wohnzimmer auf der Couch und sträubte sich gegen die Arbeit, die heute auf ihn wartete.
Seine Mutter trat aus ihrem Schlafzimmer heraus, in dem sie gerade in Ruhe einen Brief an Lucius verfasst hatte. Sie lächelte ihm zu und setzte sich neben ihn, bevor sie fragte: „Hast du noch nicht angefangen, die Einladungen zu schreiben?“
„Nein, Mutter“, war die knappe Antwort.
„Ich helfe dir gern“, sagte sie freundlich und berührte mit den Fingerspitzen die Oberfläche der edel aussehenden Karten mit ihrem glänzenden Goldrand und der in den Karton eingestanzten Rosen.
„Nein“, sagte er und seufzte, bevor er sich gerade hinsetzte und die Karten zu sich zog. „Ich mache das schon. Gibst du mir bitte die Liste?“
Die Gästeliste war nicht lang. Susan hatte wahrscheinlich in Rücksichtnahme auf Draco davon abgesehen, zur Hochzeit zu viele ihrer Freunde einzuladen, dabei würde er viel lieber Fremde um sich haben als die Menschen, die auf der Liste standen. Er erkannte die Namen von so manchem ihrer alten Freunde aus der Schulzeit. Einige von denen konnte er mit der DA in Verbindung bringen. Ein Gefühl von Reue ergriff ihn, als er sich ins Gedächtnis zurückrief, dass er früher einmal im Auftrag von Umbridge gegen diese Schüler gearbeitet hatte und er fragte sich, was diese nun erwachsenen Menschen von ihm halten würden.
„Ist etwas, Schatz?“, fragte seine Mutter einfühlsam.
„Nein, ich frage mich nur, wie viele Gäste womöglich absagen werden.“
„Damit müsst ihr leider rechnen“, stimmte seine Mutter zu. „Die Hochzeit kommt für die Gäste sehr überraschend.“
Nickend stimmte er seiner Mutter zu, denn er war derjenige gewesen, der sich so viel Zeit gelassen hatte. Die Feder aus der Halterung nehmend und die Spitze ins Tintenfass tauchend führte er seine Hand über die erste Karte, die er aufklappte. Der Text der Einladung war bereits auf der Karte vorhanden. Er musste nur noch die Namen der Gäste einfügen und die Briefumschläge fertigmachen, bevor er den Schwung Post mit den Eulen abschicken würde.
Nochmals seufzte er, bevor er den ersten Namen von der Liste auf die Einladung schrieb: Hannah Abbott. Gleich darauf begann seine Hand zu zittern, so dass die lange Feder wie ein Lämmerschwanz wackelte. Ihm war noch sehr gut in Erinnerung, dass Hannah Abbott die Schule im sechsten Jahr verlassen hatte, weil man ihre Mutter tot aufgefunden hatte. Sie war das Opfer von Todessern gewesen.
Er atmete stockend, ohne es selbst zu bemerken, aber seine Mutter sprach ihn deswegen an.
„Draco? Fühlst du dich nicht wohl?“
Sie anblickend log er: „Alles bestens!“
Die ganze Zeit über, während er die Einladungen mit den Namen der Gäste versah und sich jeweils an die Person zu erinnern versuchte, da dachte er darüber nach, wie er auf all diese Menschen heute wirken würde. So wie er viele von ihnen nur aus der Schulzeit kannte, so würden diese ehemaligen Schüler ihn ebenfalls nur von früher kennen und dass er damals unausstehlich gewesen war, musste er sich selbst eingestehen. Draco wollte am Tag seiner Hochzeit einen guten und bleibenden Eindruck hinterlassen, aber nicht nur bei denen, die auf der Liste standen. Susan hätte, da war er sich sicher, noch mehr Freunde eingeladen. Diese Erkenntnis führte einen Moment herbei, in welchem er seinem Bauchgefühl nachgeben wollte, nachdem er die letzte Einladung geschrieben hatte.
Seine Mutter las noch einmal die Liste, auf der er die Namen nach und nach säuberlich durchgestrichen hatte, da fragte Draco: „Gibst du sie mir bitte noch einmal? Ich möchte sie ein wenig vervollständigen.“
Er überflog die Liste abermals und ganz unten, unter den bereits durchgestrichenen, setzte er neue Namen. Namen von alten Freunden, von denen Susan oft gesprochen hatte. Namen von Menschen, an die sich Draco noch erinnerte und von einigen, mit denen er gut zurechtgekommen war. Die Liste wuchs und wuchs, so dass er bald die Rückseite nehmen musste. Er schrieb die Weasley-Zwillinge und gleich darauf noch die anderen Mitglieder der rothaarigen Familie auf das Pergament.
Als er sich für eine kurze Pause zurücklehnte, wurden seine Gedanken mit Erinnerungen an die Ordensverleihung überflutet und er fragte sich, warum Susan nicht auch Luna und Neville eingeladen hatte, denn er wusste, dass seine Zukünftige mit den beiden eng befreundet war. Von den Menschen, die während der Verleihung an seinem Tisch gesessen hatten, fehlte nur noch einer und so fand sich auch der Name von Justin Finch-Fletchley auf der Gästeliste wieder. Viele Anwesende der Verleihung hatten schon einen Eindruck von ihm erhalten, aber noch keinen prägenden und das wollte Draco nachholen.
Mittlerweile musste er ein zweites Pergament zur Hand nehmen, damit all die Namen, die ihm im Kopf umherschwirrten, auch zu Papier gebracht werden konnten. Als Letztes fehlte nur noch ein einziger Name und den setzte Draco in Schönschrift unter all die anderen: Albus Dumbledore.
Mit flinken Fingern zählte er die noch übrigen Einladungskarten und kam zu dem Schluss, dass die keinesfalls ausreichen würden.
„Mutter? Kannst du mir vielleicht den Gefallen tun und in dem Geschäft, wo wir die Karten besorgt haben, noch ein paar nachbestellen? Ich brauche sie unbedingt heute noch!“
„Aber sicher, mein Junge. Wie viele benötigst du?“, fragte seine Mutter.
Grob ging Draco die Liste der Gäste durch und sagte: „Zweihundert oder mach besser dreißig mehr!“
Seiner Mutter fielen beinahe die Augen aus dem Kopf, denn zuvor waren es unter vierzig gewesen.
Nur eine Sache musste Draco jetzt noch erledigen, denn er musste Mr. Bones darüber unterrichten, dass kurzfristig einige Gäste mehr zu erwarten wären, weswegen er ihn gleich über den Kamin kontaktierte.
„Mr. Malfoy, einen schönen guten Morgen! Was für eine nette Überraschung. Meine Frau und ich haben gerade über die Hochzeit gesprochen“, sagte Mr. Bones erfreut.
Draco hatte noch immer nicht die Erlaubnis erhalten, den Vater seiner zukünftigen Braut mit Vornamen ansprechen zu dürfen, aber Susan hatte ihn beruhigt und ihm versichert, dass das bestimmt auf der Hochzeitsfeier geschehen würde.
„Mr. Bones, das ist wirklich ein Zufall, denn ich wollte mit Ihnen über kleine Änderungen sprechen. Ich weiß, dass Sie viel Wert darauf legen, das Fest auszurichten und sich um alles zu kümmern.“
„Über was für Änderungen sprechen wir hier?“, fragte Mr. Bones, der ganz Ohr war.
„Die Anzahl der Gäste ist, ähm, unvorhergesehen angestiegen“, gestand Draco.
„Machen Sie sich keine Gedanken, Mr. Malfoy. Die Räumlichkeiten, für die ich noch zusagen muss, haben eine Kapazität von hundert Plätzen“, beruhigte Mr. Bones, der durchaus wusste, dass die Gästeliste seiner Tochter und ihres Verlobten nicht einmal ganze vierzig Geladene zählte und die Örtlichkeit mehr als das Doppelte an Personen vertragen würde.
„Gäbe es auch Platz für ungefähr 250 Gäste?“, fragte Draco scheinheilig. Eine Antwort ließ auf sich warten, weshalb Draco unsicher fragte: „Mr. Bones?“
„Ja ja, ich bin noch da“, sagte er. „250 Gäste also… Das wird schwierig, jedenfalls dort, wo ich… Ich müsste noch woanders nachfragen. Die meisten großen Festsäle für so viele Personen sind bereits wegen verschiedenster Weihnachtsfeiern ausgebucht.“ Mr. Bones begann zu grübeln.
„Wenn ich nur wegen der Örtlichkeit einen Vorschlag machen dürfte, Mr. Bones?“
Erleichtert stimmte sein zukünftiger Schwiegervater zu, denn der wusste, dass er auf die Schnelle keinen Ort finden würde, der groß genug für so viele Gäste sein würde und dazu noch kurz vor Weihnachten frei war.
Tief Luft holend schlug Draco vor: „Wie wäre es mit Malfoy Manor, Sir? Bis zur Hochzeit werde ich es von vorn bis hinten hergerichtet haben!“
Im Hintergrund hörte Draco seine Mutter erschrocken Luft holen.
„Mr. Malfoy, Sie würden mir damit sogar einen großen Gefallen erweisen, denn ich bin mir sicher, außer vielleicht Hogwarts keine passenden Räumlichkeiten für eine dermaßen große Gästeschar zu finden. Dann also Malfoy Manor! Ich werde für die gute Küche Sorgen; Köche, Kellner, Lieferanten und alles, was dazu gehört, habe ich längst unter Dach und Fach. Ich danke Ihnen für die Information, Mr. Malfoy.“
„Ich habe zu danken, Mr. Bones. Einen schönen Gruß an die Frau Gemahlin!“, sagte Draco verabschiedend.
Nachdem er seinen Kopf aus dem Kamin gezogen hatte, blickte er hinter sich und er bemerkte, dass seine Mutter ihre Fingerspitzen federleicht auf ihren Mund gelegt hatte.
„Ich weiß, was du denkst, Mutter, aber vertraue mir! Ich werde mir Hilfe holen und danach wirst du unser Haus nicht wieder erkennen.“ Er lächelte ihr zu, womit sie sich anstecken ließ. Jetzt, dachte er, war erst einmal Zeit fürs Frühstück.
Auf dem Weg in die große Halle traf Hermine auf Draco, der sie fragte: „Kann ich nachher mal mit dir reden? Mit Harry auch.“ Etwas verdattert nickte sie, doch bevor sie fragen konnte, um was es sich handeln würde, war er bereits zum Tisch der Slytherins gegangen.
Während Hermine durch die Reihen bis nach vorn zum Lehrertisch ging, machte sich eine wohlige Stimmung in ihr breit, denn die Schüler waren sehr ausgelassen und fröhlich, weil sie sich auf ihr Zuhause und das Weihnachtsfest freuten und sie steckten Hermine mit ihrer guten Laune an. Als sie vorn angekommen war, hatte sich längst ein freundliches Lächeln in ihrem Gesicht ausgebreitet.
„Morgen Hermine“, sagte Harry grüßend und er war ganz offensichtlich in der gleichen Stimmung wie sie selbst.
„Guten Morgen“, erwiderte sie, bevor sie wie üblich auf ihrem Stuhl Platz nahm, so dass zwischen ihr und Harry eine Lücke klaffte. Severus war noch nicht da und ob er das Frühstück in der großen Halle einnehmen würde, war fraglich.
Eine warme Stimme grüßte fröhlich von hinten in die Runde. Remus war gerade durch den Eingang für die Lehrer gekommen. Er würde solange in Hogwarts bleiben müssen, bis die Schüler behütet in den Zug eingestiegen waren und Hogsmeade von den Auroren wieder freigegeben worden war. Von Albus hatte er daher die Einladung erhalten, am Lehrertisch Platz zu nehmen und ohne zu fragen setzte er sich einfach zwischen Harry und Hermine, bevor die drei nett zu plaudern begannen.
„Und?“, fragte Remus an Hermine gewandt, während er sich eines der warmen Brötchen nahm. „Gestern noch ein kleine Wanderung unternommen?“
Sie verzog das Gesicht und antwortete: „Ich bin nicht weit gekommen, konnte den Schutzzauber nicht aufheben. Was auch immer sich hinter der Tür verbergen mag wird ein Geheimnis bleiben.“ Sie nahm es gelassen.
„Tonks hat erzählt, dass die Experten die Kisten bereits abtransportiert haben. Weniger erfreulich war wohl das Auftauchen der Vergissmich gewesen.“
„Wie bitte?“, fragte Hermine erbost. „Da kommen extra Muggel her, die uns helfen und so danken wir es ihnen? Das ist unerhört! Ich hoffe, Kingsley ist bald mit dem Gesetzt fertig!“
„Ja, das hoffe ich auch“, stimmte Remus betroffen zu.
„Ach Harry“, Hermine lehnte sich nach vorn, „Draco möchte nachher mal mit uns reden. Frag mich nicht, was er möchte, ich habe keine Ahnung.“
„Ich habe heute nichts vor“, versicherte Harry, der sich gerade ein Glas Kürbissaft einschenkte.
Hermine, die sich in aller Ruhe einen Apfel in ihr Müsli schnitt, sagte ein wenig traurig: „Ich find’s schade, dass der Weihnachtsball dieses Jahr wegen der unangenehmen Situation mit den Muggeln ausgefallen ist.“
„Sicherheit geht nun mal vor“, warf Remus ein.
Einen Blick zur Seite werfend fiel Hermine etwas auf.
„Albus sieht heute so ernst aus.“
Sich selbst davon überzeugend blickte Remus zum Direktor hinüber, der wenige Stühle weiter saß, bevor er zustimmte: „Ja, er macht sich große Sorgen um die Schüler. Er wird sie heute zum Bahnhof begleiten; zusammen mit den Auroren, die Kingsley herschicken wird.“
„Ich glaube, heute wird gar nichts passieren.“ Harry klang sehr geruhsam. „Was soll schon geschehen? Die Waffen sind weg, die Auroren haben alles abgeschirmt. Kingsley führt sie an! Da mache ich mir ehrlich gesagt keine Sorgen.“
Remus wollte ihm glauben und er hoffte auf ein erleichterndes Gefühl, aber es blieb aus. Tonks war heute ebenfalls in Hogsmeade und er wollte sich gar nicht ausmalen, was alles Schlimmes geschehen könnte.
„Wie werdet ihr so eure Weihnachtsferien verbringen?“, wollte Remus wissen.
Den Anfang machte Harry, denn er erzählte: „Ginny und ich bleiben die meiste Zeit hier, aber am ersten und zweiten Weihnachtsfeiertag gibt’s ein Familienfest. Wir übernachten dann auch außerhalb bei Molly.“
„Und Heiligabend?“, fragte Hermine.
„Da sind wir hier in Hogwarts.“
„Oh schön“, sagte Hermine, doch es schien, als würde sie mit etwas zurückhalten.
„Warum fragst du?“, stichelte Harry.
„Na ja, könnte ich mich Heiligabend vielleicht euch anschließen? Natürlich nur, wenn ich nicht störe…“
„Hermine, du wirst die Patentante von Nicholas und bist außerdem meine beste Freundin. Natürlich kannst du zu uns kommen. Dass du da überhaupt noch fragst.“ Harry schüttelte den Kopf, lächelte jedoch. „Hast du denn dieses Jahr zu Weihnachten gar nichts vor?“
„Ich hab’s vergessen“, murmelte sie.
Überrascht fragte Remus nach: „Vergessen?“
„Ich wollte eigentlich mit meinen Eltern die Feiertage verbringen, aber weil ich mich nicht gemeldet habe, haben sie sich bei Verwandten eingeladen und zu denen möchte ich nicht“, erklärte Hermine.
„Wieso nicht?“, fragten Remus und Harry zeitgleich.
„Bitte, das möchte ich wirklich nicht erklären. Wir haben da gewisse… Differenzen.“ Von sich ablenken wollend fragte sie Remus: „Was machst du so?“
„Tonks hat über die Feiertage leider Dienst und Ted und Andromeda werden zum Fest wieder einmal vor der Kälte in den Süden fliehen, also werde ich Rosmerta wahrscheinlich anbieten, ihr beim Weihnachtsgeschäft zur Hand zu gehen, obwohl sie meinte, es wäre nicht notwendig.“
„Wenn Hermine schon zu uns kommt, dann komm du doch auch. Tonks kann ja abends nachkommen, wenn sie es schafft“, bot Harry wie selbstverständlich an.
„Nein, ich möchte nicht zur Last fallen.“ Gleich im Anschluss fügte Remus hinzu: „Harry, ich habe gesehen, dass du eben mit den Augen gerollt hast.“
„Und zu Recht! Würde ich das Angebot machen, wenn du nur eine Belastung wärst? Ich bitte dich, Remus“, sagte Harry sehr vorwurfsvoll.
Einen Moment überlegte Remus, während er seinen gesüßten Kaffee mit dem Löffel umrührte. So ein gemütliches Zusammensein an Heiligabend wäre genau das Richtige für ihn.
„Ich könnte“, begann Remus zögernd, „vielleicht etwas Eierpunsch machen.“ Das Mitbringsel war in seinen Augen zu wenig, weswegen er schnell noch anfügte: „Und ein paar Plätzchen backen.“
„Du bist unser Gast, Remus! Du musst gar nichts mitbringen außer dich selbst und gute Laune“, stellte Harry klar.
Nur am Rande hörte Harry, wie Remus zustimmte, denn seine Augen hatte er nun auf die vielen Schüler gerichtet, die in dem festlich geschmückten Saal ausgelassen scherzten und lachten oder Adressen austauschten, damit sie während der Ferien per Eule in Kontakt bleiben konnten.
Ein warmes Gefühl breitete sich in ihm aus, als er sich an seine eigene Schulzeit erinnerte und natürlich auch an die Weihnachtszeit. Ihm war noch gut in Erinnerung, wie Percy einmal sein geliebtes Koboldsteinspiel über Weihnachten seinem Bruder Ron überlassen hatte und natürlich hatten Harry und Ron mehrmals damit gespielt. Es war auch hier in Hogwarts gewesen, wo Harry seine ersten richtigen Weihnachtsgeschenke bekommen hatte. In dem allerersten Päckchen, dessen dickes braunes Papier er noch immer sehr deutlich vor seinem inneren Auge sehen konnte, hatte er eine grob aus Holz geschnitzte Flöte von Hagrid gefunden und die Töne, die sie von sich gab, hatten wie Eulenrufe geklungen. An das zweite Geschenk wollte sich Harry nicht erinnern, denn es war von Onkel Vernon und Tante Petunia gewesen; er hatte es gleich an Ron weitergegeben. Alle weiteren Geschenke waren ausnahmslos wunderschön gewesen. Die Flöte und seinen ersten, selbst gestrickten Pullover von Molly mit einem großen „H“ vorn drauf hatte Harry noch immer in seinem Besitz, selbst wenn der längst viel zu klein war.
Verträumt blickte Harry zum Tisch der Gryffindors hinüber und obwohl er hier oben am Lehrertisch saß, kam es ihm so vor, als würde er dort unten zwischen den ganzen Schülern sitzen und sich auf gemeinsame Feiertage mit seinen Freunden freuen. Seine Augen erhaschten einen Blick auf Ginny, die gerade einer Klassenkameradin um den Hals fiel. Harry begann zu lächeln. Endlich, dachte er erleichtert, wäre Weihnachten für ihn wirklich ein Familienfest, denn er würde die Zeit mit seiner Verlobten verbringen. Im nächsten Jahr wäre sie bereits seine Frau.
Entspannt atmete er tief ein und befreit wieder aus, während er einen Moment lang auf seinen Frühstücksteller schaute und sich ein wenig Rührei auf die Gabel schob; das behagliche Gefühl in seiner Brust war die ganze Zeit über gegenwärtig. Als er wieder aufblickte, schien für ihn die Zeit stehen zu bleiben. Er konnte nicht anders, als wie in Trance auf die vielen Schüler zu starren.
„Harry?“, fragte Remus, doch die Stimme klang weit weg, so dass er sie nur als Echo wahrnahm.
Auch Hermine war aufgefallen, dass Harry abwesend schien, weshalb sie ihn ebenfalls ansprach, doch er antwortete nicht, sondern blickte weiterhin in die Schülermenge vor sich; ließ seinen Blick kurz auf einem der Kinder ruhen, bevor er das nächste anblickte.
An Remus vorbei ergriff Hermine seine Hand, die noch immer die Gabel hielt und sie drückte zu, als sie leise fragte: „Harry, ist alles in Ordnung?“
Seine Augen nicht von den Schülern abwendend sagte er leise, aber unüberhörbar mit Verzückung in der Stimme: „Ich sehe ihre Farben, Hermine!“
Im selbem Moment im Mungos machte Lucius sich gerade am Waschbecken des sehr bescheiden ausgestatteten Badezimmers frisch. Im Spiegel betrachtete er sein Antlitz und stellte für sich selbst fest, dass er sehr abgekämpft wirkte. Vielleicht, dachte er, sollte er mehr Essen, denn sein Verhandlungstermin lag nicht mehr fern. Er wollte einen guten Eindruck hinterlassen, auch äußerlich. Niemals würde er es laut von sich geben, aber ein wenig Angst hatte er vor dem Gerichtstermin schon. Das Veritaserum Plus würde ihm sämtliche Geheimnisse entlocken, doch er selbst hatte es so gewollt. Es lag ihm viel daran, seine Kooperation deutlich zu machen. Sorgen machte er sich nur ein wenig um Zaubergamot-Vorsitzende Rosalind Baltimore. Sie war diejenige, in deren Hände er sein Schicksal gelegt hatte. Ob sie auf ihn und seine Drohung reagieren würde, hatte der frühe Termin am zwölften Januar bestätigt – sie war ihm bereits entgegengekommen und weil der Termin schon festgelegt worden war, durfte er davon ausgehen, dass alle Mitarbeiter, die er auf seiner Liste niedergeschrieben hatte, der Verhandlung beiwohnen würden. Fraglich war, ob die sich alle noch daran erinnern würden, dass Lucius sie in der Hand hatte, doch andererseits hatte er jedem Einzelnen im Laufe der Jahre mehrmals vor Augen gehalten, was er von ihnen wusste und dass er ihre kleinen Geheimnisse auch gegen sie verwenden würde.
Sein Spiegelbild zeigte ihm, dass er überheblich lächelte. Im Moment kam er sich selbst wieder wie der Mann vor, der er vor Jahren gewesen war.
Ein kurzes Klopfen kündigte Schwester Marie an.
Aus dem Bad kommend und seine Lieblingsschwester begutachtend sagte er: „Meine Güte, geht es Ihnen gut?“ Er wollte ihr nicht an den Kopf werfen, dass sie mit den dunklen Augenringen und den müden Lidern grauenvoll anzusehen war.
Sie stöhnte laut, sagte jedoch ehrlich: „Ich habe Ihnen ja von der neuen Patientin erzählt, um die ich mich exklusiv kümmere. Sie…“ Marie druckste herum, entschloss sich jedoch dazu, ihm nicht die ganze Wahrheit zu sagen: „Sie scheint tot zu sein, aber sie lebt. Das ist eine wirklich seltsame Krankheit.“
„Eine Krankheit?“, wiederholte er mit einem komischen Gefühl in der Magengegend. „Erzählen Sie mir davon, Marie.“
Er hatte ungewöhnlich besorgt und gleichzeitig interessiert geklungen, doch Marie machte ihm verständlich: „Ich werde nichts Genaues erzählen dürfen, Mr. Malfoy.“
„Oh, ich verstehe, Marie. Verzeihen Sie, dass ich Sie in eine heikle Lage gebracht haben sollte. Ich dachte nur“, er legte den Kopf schräg, „ich könnte vielleicht sogar helfen.“
Dass Mr. Malfoy das dunkle Mal trug und im Allgemeinen nicht nur wortgewandt, sondern auch sehr link sein konnte, hatte sie sich immer vor Augen gehalten, wenn sie mit ihm gesprochen hatte, weswegen sie jetzt zögerte, ihn ohne Bedenken einzuweihen.
„Vielleicht“, begann er, „könnte die Patientin unter einem Fluch leiden, der in gewissen Kreisen gern angewandt worden war; in Kreisen, zu denen ich mich bedauerlicherweise zählen muss.“
Sie kniff skeptisch die Augen zusammen, doch auf der anderen Seite könnte er womöglich Recht haben, dachte sie.
„Meinen Sie nicht, Mr. Malfoy, dass Mr. Shacklebolt oder Miss Tonks…“
„Miss Tonks?“, unterbracht er, denn natürlich war ihm der Nachname der Schwester seiner Gattin bekannt.
„Ja, Miss Tonks, eine Aurorin! Meinen Sie nicht, einer von beiden wäre auf diese Idee gekommen und hätte sich mit Ihnen darüber unterhalten, wenn man die Möglichkeit in Betracht ziehen würde, es könnte sich bei dem, unter was Miss Parkinson leidet, um einen schwarzmagischen…
„Warten Sie… Miss Parkinson?“ Sie bemerkte, wie der Name etwas in ihm bewegt hatte.
„Wollen Sie mir jetzt vielleicht weismachen“, begann sie vorwurfsvoll, „dass Sie Miss Parkinson kennen? Wahrscheinlich kennen Sie sie genauso gut wie Miss Greengrass. Die Dame hatte mir nämlich kurz vor ihrer Entlassung erzählt, sie wäre mit Ihrem Sohn zwar zur Schule gegangen, hätte Sie aber höchstens ein- oder zweimal gesehen. Sie haben mich angelogen, Mr. Malfoy!“
Natürlich erinnerte sich Lucius daran, wie er am ersten Tag im Mungos das Gespräch des Pflegers und der Schwester belauscht hatte und wie er im Verlauf des Tages die spärlichen Informationen dazu benutzt hatte, um noch mehr aus Schwester Marie herauszubekommen.
„Ich wollte nur sehen…“ Er hatte sehen wollen, ob er noch dazu in der Lage wäre, Sicherheit und Vertrauen vorzugaukeln, um Informationen an sich zu reißen. „Marie, wir kannten und damals doch gar nicht. Es war für mich nur…“ Er schüttelte den Kopf, denn egal, was er sagen würde, sie würde ihm sowieso nicht glauben.
Sich zusammennehmend erklärte er ganz offen und mit sicherer Stimme: „Miss Pansy Parkinson war die Tochter eines meiner Geschäftsfreunde. Sie war mit Draco in der gleichen Klasse gewesen; im gleichen Haus. Beide sind zum Weihnachtsball gegangen, als das Trimagische Turnier stattgefunden hatte. Sie war, wenn ich es so nennen darf, meine bevorzugte zukünftige Schwiegertochter, aber das hat sich offensichtlich längst erledigt. Miss Parkinson war häufig zu Gast in Malfoy Manor, weswegen sie als Freund der Familie freien Zutritt durch die Schutzzauber hatte. Möchten Sie eine Personenbeschreibung?“ Lucius wartete nicht auf eine Antwort. „Sie war, als ich sie das letzte Mal gesehen hatte, etwas über ein Meter und sechzig groß, hatte schwarze Haare und braune Augen. Ihr Gesicht möchte ich, ohne beleidigend zu wirken, als rund bezeichnen.“
„Warum denken Sie, dass Sie womöglich helfen könnten?“, wollte Marie nach einer Weile wissen.
„Weil die Todesser sich viele Qualen für diejenigen ausgedacht haben, die sich dem Dunklen Lord in den Weg gestellt hatten“, antwortete er wie aus der Pistole geschossen.
In der großen Halle war Harry noch immer von dem farbenfrohen Anblick so gefesselt, dass er nichts verpassen wollte, er wollte nicht einmal blinzeln. Sein Mund stand ein wenig offen, doch die Mundwinkel waren zu einem erfreuten Lächeln geformt.
Hermine war völlig handlungsunfähig. Sie wusste nicht, was sie tun sollte und Remus ging es nicht anders. Der Moment, den Harry gerade erlebte, schien sehr überwältigend für ihn zu sein, aber keinesfalls bedrohlich. Es war nicht so, dass er niemanden mehr sehen konnte – im Gegenteil: Er konnte alle Menschen sehen und zusätzlich noch etwas mehr von ihnen.
Sich zusammennehmend fragte Hermine: „Siehst du auch meine Farben?“
Es dauerte einen Augenblick, bis Harry sich vom Anblick der bunt schillernden Schüler lösen konnte, bevor er zu seiner Freundin hinüberblickte. Hermine und Remus benötigten keine Antwort auf ihre Frage. Harry beäugte Remus, als würde er ihn zum ersten Mal in seinem Leben zu Gesicht bekommen und deswegen war es für Hermine eindeutig, dass er dessen Farben wahrnehmen konnte. Von diesem Erlebnis war Harry so ergriffen, dass er keine Worte finden konnte. Er konnte seinen Blick einfach nicht mehr abwenden und betrachtete daher unverhohlen den Freund neben sich, der schon der Freund seines Vaters gewesen war, denn der leuchtete unerwartet in kräftigem Rot und Gelb.
Einzig eine Stelle fiel ihm an Remus besonders auf, denn sie war ergraut und schwamm oben auf wie ein störender Ölfleck, der vom langsamen Strom der Magie mitgetragen wurde. Der dunkle Fleck am Brustbein schien wie eine Last, wie eine Unzufriedenheit, die nicht ausradiert werden konnte. Harry beobachtete diesen auffälligen Klecks, der leidig ins Auge stach und nun dabei war, gemächlich hinauf in Richtung Schulter zu fließen. Als dieser gräuliche Fleck, nicht größer als ein Schnatz, die Schulter erreicht hatte, da packte Harry zu und erst da bemerkte er, dass er auch seine eigene Farbe sehen konnte.
Das Gold seiner Hand schien zu schmelzen und ein paar Tropfen perlten von ihr ab, die sich erst deckend, dann allmählich verblassend mit Remus’ Farben vermengten. Die graue Stelle, die Harry hatte greifen wollen, kroch unter seiner goldenen Hand hervor und schien ein wenig unter der Einwirkung seiner Magie gelitten zu haben, denn sie war – wenn auch nur ein geringfügig – kleiner geworden.
Diese aschfahle Nuance noch mit den Augen verfolgend fühlte Harry plötzlich eine Hand auf seiner, weswegen er aufblickte. Remus lächelte ihn an und tätschelte freundschaftlich seine Hand, die er nach einem Moment von Remus’ Schulter nahm.
„Remus?“, hörte Harry Hermine leise sagen. „Remus, nur als Information: Du sitzt auf dem Platz, auf dem Severus sonst immer sitzt.“
So eine Information würde sie nicht ohne Grund geben und so blickte Harry wieder nach vorn zu den vielen Schülern, deren junge Magie oft noch einfarbig anzusehen war und mitten unter ihnen, in sämtliche Grautöne gehüllt, erkämpfte sich Severus einen Weg durch die unruhige Menge. Der Kontrast, den Severus darstellte, war so erschütternd, dass der Anblick Harry aus dem Gleichgewicht brachte. Obwohl er Severus’ Magiefarben von Hermine bereits erfahren hatte, so war es doch etwas völlig anderes, sie mit eigenen Augen zu sehen. Die graue Erscheinung war trostlos, bedauernswert und elend anzusehen, als sie an den ganzen farbenfrohen Gestalten wie ein düsterer Schatten vorbeihuschte.
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