von Muggelchen
Eins und eins hatte Tonks zusammenzählen können und sie wusste nun, dass die Mutter verstorben sein musste. Das, was das Mädchen erzählte, nämlich dass ihre Mutter sich gestochen hätte und nun wie Dornröschen schlafen würde, konnte als kindliche Erklärung für den Tod gedeutet werden.
Noch immer warteten die Auroren vor Malfoy Manor darauf, den Befehl zum Abzug zu bekommen, aber Tonks wusste, dass niemand gehen durfte, wenn Kingsley es nicht sagte und so hielt sie das Mädchen weiterhin im Arm und wärmte sie mit ihrem Umhang.
Mit milder Stimme fragte Tonks mitfühlend: „Wann hat sie sich gestochen?“ Natürlich ahnte sie, dass dieses Wort nur ein Synonym für den Zeitpunkt sein konnte, als die Mutter verschieden war.
„Bevor ich auf die Welt gekommen bin.“
Die Antwort des Mädchens schockierte Alastor und Tonks im ersten Moment, doch es war unmöglich, dass diese Aussage stimmen konnte. Ihr Vater musste ihr das erzählt haben, denn mit drei oder vier Jahren konnte das Kind logische Zusammenhänge noch nicht klar deuten.
Einige Medi-Magier, gefolgt von Proudfoot, Savage und Nash, verließen Malfoy Manor mit einem in der Luft schwebenden schwarzen Sack, der ihnen folgte. Das Mädchen sah den Sack und fragte neugierig: „Ist da Mama drin?“ Tonks blickte hinüber und erkannte den Leichensack, was ihr eine Gänsehaut über den Rücken laufen ließ, denn viel zu oft hatte sie in Kriegszeiten diesen Anblick ertragen müssen. Viel schockierender war jedoch das, was das Mädchen auf ihrem Arm sagte, denn die äußerte sehr besorgt: „Aber da drin kriegt sie doch keine Luft!“ Das Mädchen mit den schwarzen Locken blickte Tonks in die Augen und wimmerte herzerweichend: „Ich will zu meiner Mama.“ Die großen Kulleraugen füllten sich mit Tränen, bevor das Mädchen diesmal viel energischer forderte: „Lass mich runter! Ich will zu meiner Mama!“
Tonks fragte sich, wie sie einem Kind in diesem Alter verständlich machen konnte, dass ihre Mutter verstorben war und sie nicht mehr zu ihr gehen dürfte, da schlängelte und wandte sich die Kleine unverhofft in ihren Armen und sie trat und schlug, so dass Tonks sie absetzen musste. Sie hielt das Handgelenkt des Mädchens fest, ließ aber los, als sie befürchten musste, sie könnte dem Kind Schmerzen zufügen, denn die drehte sich unermüdlich, um sich aus dem Griff zu befreien und als sie es geschafft hatte, rannte sie zu den Medi-Magiern hinüber, die den Sack auf den Boden abgelegt hatten, weil Kingsley mit ihnen sprechen wollte.
Das Mädchen hatte den Sack in Windeseile geöffnet und war schon dabei, zu ihrer Mutter hineinzukrauchen, da wurde sie von einem der Medi-Magier gepackt und in diesem Moment begann das Kind zu kreischen. Ihre markerschütternden Schreie waren furchtbarer mit anzuhören als jeder Schrei, den man damals auf dem Schlachtfeld von einem Menschen im Todeskampf hatte vernehmen müssen. Tonks drehte sich der Magen um, die meisten Auroren waren schockiert, nur die sechs Medi-Magier und der eine Heiler behielten die Ruhe, während das Kind brüllte und herumtobte. Es hatte seine Hände in die Kleidung der Mutter gekrallt und als der Medi-Magier das Kind wegziehen wollte, hob sich der Oberkörper der Toten, weil das Kind einfach nicht loslassen wollte.
„Helft mir doch mal einer!“, forderte der Medi-Magier entnervt, dem ein Kollege gleich darauf zur Hand ging, indem er die Hände des Mädchens aus dem Hemd der toten Frau befreite und dabei fast sein Gehör einbußen musste, weil das Kind ihm direkt ins Ohr kreischte und immer wieder verzweifelt „Mama“ schrie.
Leise sprach Kingsley zum Heiler: „Bringen Sie die Leiche endlich weg und lassen Sie das Kind und den Gefangenen untersuchen. Vier Auroren werden Sie begleiten.“ Der Heiler gehorchte den Anweisungen der Autorität ohne Widerrede.
Als Kingsley sich umschaute und Tonks erblickte, kam sie flugs auf ihn zu und empfahl mit bewegter Stimme: „Wir können das Drama beenden, wenn wir den Fluch aufheben, der auf ihrem Vater liegt. Dann kann er sie trösten!“
„Es wäre zu gefährlich. Der Mann beherrscht wortlose Zauber! Ich kann das nicht riskieren“, erklärte er und es tat ihm Leid, dass er Tonks diesen Gefallen nicht erweisen konnte. Es war ihr anzusehen, dass die Qual des Kindes ihr mehr zu schaffen machte als die Tatsache, eine Leiche gefunden zu haben.
Nachdem die Medi-Magier gegangen waren und mit ihnen der Gefangene, das Kind, die tote Mutter und vier Auroren, kehrte ein wenig Ruhe ein.
„Tonks?“ Mit trüben Augen blickte sie Kingsley an, so dass er sagte: „Alastor möchte noch einmal mit uns reingehen. Kommst du mit?“
Er wĂĽrde es ihr nicht ĂĽbel nehmen, wenn sie jetzt lieber wie die anderen Auroren ins Ministerium gehen wollte, um ihren Bericht zu verfassen, doch zu seinem Erstaunen nickte sie.
Den Raum, in denen sich der Mann und das Kind verschanzt hatten, wollte besonders Alastor sich ansehen.
„Wer hat den Stab mitgenommen, mit dem er euch angegriffen hat?“, fragte Alastor, der über die Ereignisse in diesem Raum von den anderen Auroren längst informiert war.
„Tracey! Sie wird die verwendeten Zaubersprüche analysieren lassen, die mit ihm ausgeführt worden waren“, erklärte Kingsley, als sie das Zimmer im zweiten Stock betraten.
Mit einem Wink seines Zauberstabes erhellte Alastor den gesamten Raum, so dass man nun alles ganz genau sehen konnte. Im Bett war eine tiefe Kuhle zu erkennen und zwar auf der Seite, auf der die Frau gelegen hatte. Es roch zwar muffig in diesem Zimmer, aber es fehlte der unverkennbare Geruch, den eine verwesende Leiche hinterlassen hätte und das war es, was Kingsley stutzig machte. Mit Hilfe seines Zauberstabes untersuchte er das Bett, aber er fand keine Anzeichen dafür, dass dort ein toter Mensch gelegen hatte: keine Spuren von Urin oder von den Flüssigkeiten eines sich zersetzenden Körpers. Womöglich, dachte Kingsley, hatte der junge Mann in seinem Wahn sehr penibel darauf geachtet, sämtliche Anzeichen für den Tod seiner Geliebten zu beseitigen.
Unter der aufgeschlagenen Bettdecke lugte etwas hervor, was Tonks’ Aufmerksamkeit erregte. Sie griff danach und zog ein Kinderbuch hervor. Kingsley war nicht entgangen, dass Tonks das Buch anstarrte, so dass er ihr nahe legte: „Du kannst dem Mädchen das Buch bringen, damit es wenigstens etwas hat, das ihr vertraut vorkommt.“ Tonks nickte und steckte das Buch in ihre Innentasche.
Allen fiel auf, dass in diesem Zimmer kaum ein Möbelstück vorhanden war, an welchem nicht etwas fehlte. Ein Schrank misste eine Tür, an der Kommode klafften zwei Löcher, weil die Schubladen entnommen worden waren und einem Stuhl hatte man alle vier Beine genommen, doch die fehlenden Gegenstände befanden sich nicht im Raum. Zudem war nichts zu finden, das die Identität des Gefangenen preisgeben konnte.
„Gehen wir und schreiben wir unsere Berichte“, sagte Kingsley gelassen. Alastor und Tonks stimmten ihm wortlos zu.
Zurück im Ministerium steuerte jeder sein eigenes Büro an, während Alastor ungebeten Kingsley folgte, was den nicht zu stören schien. Tonks setzte sich hinter ihren unordentlichen Schreibtisch, zog das Standardformular, mit welchem sie jede Akte beginnen musste, aus einer Schublade und füllte die ersten Felder aus.
„Einsatzleiter: Kingsley Shacklebolt
Einsatzort: Malfoy Manor“
Tonks stöhnte, denn sie war mit den Gedanken immer wieder bei dem kleinen Mädchen, welches ihr nicht einmal seinen Namen verraten hatte. Es klopfte und Tonks nahm die kleine Störung liebend gern in Kauf. Es handelte sich um Tracey.
„Oh, komm rein“, sagte Tonks vertraut. Gleich darauf erkundigte sie sich: „Wie geht es dir? Hast du den Fluch gut überstanden?“
„Nichts passiert, er hatte mich nur für ein paar Minuten gelähmt. Es hat ein wenig wehgetan, als die ganzen Muskeln erschlafften“, sagte Tracey ein wenig geknickt.
„Kevin und du habt prima reagiert“, sagte Tonks aufmunternd, denn sie ahnte, dass die beiden jungen Auroren glauben würden, sie hätten versagt. Tracey seufzte lediglich, so dass Tonks erklärte: „Kingsley geht davon aus, dass der Mann sehr genau auf Geräusche geachtet hat. Deswegen hat er dich als Erste erwischt, weil du so dicht bei ihm gestanden hattest. Munson musste er gehört haben, als der seinen Zauberstab zog und der ist ein äußerst fähiger Auror, Tracey, aber selbst ihn hat es erwischt.“
Tracey lächelte gequält, denn so ganz war sie nicht davon überzeugt, gute Arbeit geleistet zu haben.
„Soll ich dir bei deinem Bericht helfen?“, bot Tonks an, denn sie selbst hatte mehrmals nachfragen müssen, bis sie so einen ausführlichen Einsatzbericht im Schlaf ausfüllen konnte.
„Nein, ich bin hier, weil…“ Tracey seufzte erneut, fragte dann jedoch: „Haben wir schon Bilder von dem Gefangenen gemacht?“ Weil Tonks verneinte und sie fragend anblickte, erklärte Tracey: „Er kam mir bekannt vor, aber ich habe ihn leider nicht deutlich gesehen und dann lag ich auch schon auf dem Boden.“
„Er kam dir bekannt vor?“, wiederholte Tonks erstaunt. „Woher?“
„Ich kann es erst genau sagen, wenn ich ihn nochmal gesehen habe. Kevin geht es übrigens genau wie mir.“
„Kevin kommt der Gefangene auch bekannt vor? Jetzt wird es interessant, Tracey. Wenn ihr den Mann identifizieren könnt, würde uns das eine Menge Arbeit ersparen“, erklärte Tonks freudig, denn dann könnte sie das Feld auslassen, in welchem sie bei nicht identifizierten Personen eine sehr genaue Beschreibung abgeben müsste.
„Ich muss den Mann noch einmal sehen, bevor ich es ganz genau sagen kann, aber ich glaube, ich kenne ihn aus der Schule“, sagte Tracey.
Mit großen Augen fragte Tonks: „Aus Hogwarts?“
Tracey nickte und sagte: „Ich denke, er war in meinem Haus.“
Blitzschnell erhob sich Tonks von ihrem Stuhl, ergriff Tracey am Oberarm und schleifte sie aus dem BĂĽro hinaus.
Mit einer Genehmigung von Kingsley besuchten Tonks und Tracey das Krankenhaus, um mit dem Gefangenen zu sprechen, doch der war gerade noch mitten in einer Untersuchung.
„Guten Abend, Miss Tonks“, sagte ein Herr in weißem Umhang, der ihr die Hand entgegenstreckte. „Ich bin Professor Puddle. Mr. Shacklebolt hatte mir Bescheid gegeben, dass Sie zu dieser späten Stunde den jungen Mann befragen möchten.“
„Woher wissen Sie, dass ich es bin?“, wollte Tonks wissen, woraufhin Professor Puddle lediglich auf ihre lilafarbenen Haare blickte, die selbst in der Zaubererwelt ungewöhnlich waren.
Verlegen spielte Tonks mit einer Strähne und gab zu: „Na ja, eigentlich wollten wir ihn nur kurz sehen“, gab Tonks zu.
„Wenn Sie mir dann bitte folgen würden?“ Professor Puddle ging bereits den Gang hinunter und blickte hinter sich, um sicherzugehen, dass die beiden Damen ihm nachkommen würden. „Ich muss Sie allerdings warnen: Der Mann ist sehr angrifflustig. Er hat eine meiner Schwestern gebissen, aber zum Glück wurde keine Krankheit übertragen und die Wunde ist auch schon fast wieder verheilt, aber dennoch muss ich Sie zur Vorsicht anhalten.“
„Wir sind Auroren, Professor Puddle“, rief Tonks dem Professor ins Gedächtnis zurück. „Wir haben den Mann immerhin festgenommen!“
In einem Krankenzimmer mit nur einem Bett warteten Tonks und Tracey darauf, bis man den Gefangenen hereinbringen würde. Es waren drei Pfleger, die den seltsam ruhigen Mann, der vor wenigen Stunden noch geschrieen und sich mit Händen und Füßen gewehrt hatte, langsam in das Zimmer führten und ihn wie in Zeitlupe auf das Bett setzten. Mit hängendem Kopf und glasigem Blick betrachtete er seine Hände.
„Was haben Sie ihm gegeben?“, fragte Tonks neugierig.
„Natürlich etwas zur Beruhigung“, war die knappe Antwort eines Pflegers, die gleich darauf das Zimmer verließen.
Sich dem Gefangenen nähernd wurde Tracey immer deutlicher, dass sie sich nicht geirrt haben konnte, doch sie wollte sein Gesicht von vorn sehen, so dass sie eine Hand ausstreckte, um sie ihm unters Kinn zu legen. Auch wenn er eine Schwester gebissen haben sollte, so war er jetzt mit einem Trank gezähmt und er konnte sich nicht wehren, selbst wenn er es wollte. Tracey hob den Kopf des Mannes an und Tonks beobachtete alles ganz genau.
„Gott, er ist es!“, sagte Tracey mit einem Ausdruck von Mitleid in den Augen, als sie zu Tonks hinüberblickte. Gleich darauf schaute sie erneut in das schöne, dunkle Gesicht vor sich und sagte leise: „Blaise? Blaise Zabini!“
Der junge Mann regte sich und reagierte trotz seiner beeinflussten Wahrnehmung auf seinen Namen. Er murmelte etwas, was Tonks nicht verstehen konnte.
„Was hat er gesagt?“, wollte Tonks wissen.
Tracey ließ von ihrem ehemaligen Schulkameraden ab und wandte sich ihrer Vorgesetzten zu, bevor sie wiederholte: „Er sagte, sie ist nicht tot.“
Tonks versuchte, Blaise zum Reden zu bewegen, doch er war aufgrund der Mittel, die man ihm eingeflösst hatte, nicht ganz bei sich. Er war voller Sorge um die Frau, die man bei ihm gefunden hatte.
Im Flur vor dem Zimmer von Blaise Zabini stehend sagte Tonks gedankenverloren: „Wir haben Blaise Zabini noch vor dem Sieg über Voldemort für tot erklären lassen. Sein Zauberstab lag neben einem verbrannten Körper. Wir konnten die Leiche nicht identifizieren, aber wegen des Stabes…“
„Liegt ja auch nahe, so zu denken“, gab Tracey zu, auch wenn man auf schlampige Arbeit schließen konnte.
Zu jener Zeit hatte das Ministerium mit ganz anderen Dingen zu kämpfen als sich mit der Identifizierung von Leichnamen zu befassen, denn Voldemorts Angriff stand kurz bevor.
„Dawlish hatte die Verantwortung für den Fall. Wird ihm nicht schmecken, dass er sich geirrt hat“, sagte Tonks mit ein wenig Schadenfreude in der Stimme, denn ihr Kollege benötigte ihrer Meinung nach mal einen kleinen Dämpfer dieser Art, weil er selbst sich für unfehlbar hielt. „Meinst du, wir sollten auch noch einen Blick auf die Leiche werfen?“
Tracey schüttelte sich bei dem Gedanken, sagte jedoch: „Kann nicht schaden. Ich habe die Tote im Haus nicht genau gesehen.“
Der Ansprechpartner fĂĽrs Ministerium, Professor Puddle, schĂĽttelte zwar den Kopf, als er die Bitte vernahm, die Tote betrachten zu dĂĽrfen, beugte sich jedoch dem Gesetz. Er fĂĽhrte die beiden Damen zu einem Fahrstuhl, der hinunter zur Leichenhalle fĂĽhrte.
Schon die Gänge waren gruselig und erinnerten besonders Tracey an die Kerker in Hogwarts, in denen der Zaubertränkeunterricht stattgefunden hatte.
Mitten auf dem Gang hielt Professor Puddle inne und rief: „Stan?“
Der gerufene Name echote einige Male von Wand zu Wand, bis er sich am Ende des Ganges verlor. Dann herrschte Stille.
Einen Moment später quiekte Tonks, weil direkt hinter ihr jemand sagte: „Sie haben gerufen?“
„Stan, tun Sie mir einen Gefallen. Zeigen Sie den jungen Damen die Tote, die heute hereingebracht wurde und warten Sie auf Professor Junot, die sicherlich bald ihren Bericht abliefern wird.“
„Wird gemacht, Sir“, sagte Stan mit einem kurzen Nicken, bevor er sich den beiden Frauen zuwandte. „Folgen Sie mir.“
Der schlaksige junge Mann mit den abstehenden Ohren und dem unrasierten Gesicht führte Tonks und Tracey nur einen Gang weiter, bevor er die schwere Eisentür öffnete.
„Nach Ihnen“, sagte er höflich, doch in diesen Räumlichkeiten wäre es höflicher gewesen, selbst voranzugehen. Nachdem er gefolgt war, ging er in einen weiteren Raum und winkte die Damen heran. „Hier“, er klopfte gegen eine kleine, viereckige Tür in der Wand, „liegt diejenige, die Sie suchen.“
Er öffnete die kleine Tür und zog eine Bahre heraus, auf der ein mit einem weißen Laken zugedeckter Körper lag. Sich kurz vergewissernd, dass kein Professor in der Nähe war, fragte Stan neugierig: „Um was geht es hier, häh?“ Er grinste und erklärte: „Ich habe eine Wette mit meiner Morgenschicht abgeschlossen und er denkt, es wäre ein Todesserangriff gewesen. Ich glaube aber, die Auroren haben einfach nur wieder Mist gebaut.“ Stan kicherte und schüttelte den Kopf.
„Wir beide SIND Auroren“, stellte Tonks klar und das Grinsen im Gesicht des jungen Mannes verstarb auf der Stelle.
Gleich darauf nahm er das Laken am Kopf der bedeckten Person zwischen die Finger und fragte: „Bereit?“
„Meine Güte, nun machen Sie schon endlich“, nörgelte Tonks, die sich noch immer über die Äußerung des Mannes ärgerte.
Stan zog das Laken hinunter und legte den Kopf frei und in diesem Moment zog Tracey erschrocken Luft ein.
„Was?“, fragte Tonks aufgebracht.
Tracey hielt sich eine Hand vor den Mund und erklärte mit bebender Stimme: „Pansy Parkinson!“
„Das heißt…“ Tonks hielt inne und richtete das Wort an Stan: „Wenn Sie uns einen Moment allein lassen würden?“ Stan schaute beleidigt drein, verließ aber die Halle und schloss die Tür hinter sich, damit die beiden genug Privatsphäre hätten.
Nachdem sich Tonks vergewissert hatte, dass niemand zuhören würde, begann sie von vorn: „Das heißt, dass damals bei den Brandopfern nicht nur fälschlicherweise Blaise Zabini, sondern auch Pansy Parkinson allein aufgrund der gefundenen Stäbe für tot erklärt wurden. Da stellen sich jetzt einige Fragen: Wer waren die Toten damals und warum trugen die deren Zauberstäbe?“
„Da wird wohl bald ein alter Fall wiedereröffnet werden müssen“, murmelte Tracey.
Tonks nickte zustimmend, während ihr Blick auf das Gesicht der Toten fiel. Sie hatte schon einige Verstorbene in ihrem Leben sehen müssen, doch an dieser Frau störte sie etwas. Sie hatte jedoch keine Zeit, einen Gedanken daran zu verlieren, denn die Tür wurde erneut geöffnet und eine Frau mittleren Alters trat ein.
„Professor Junot?“, fragte Tonks.
Die Frau lächelte freundlich und begrüßte die beiden per Handschlag, während sie sagte: „Ja, das bin ich. Guten Abend oder soll ich schon ’Gute Nacht’ sagen? Wie kann ich Ihnen weiterhelfen? Der Bericht ist bald fertig, aber nicht vor Morgenmittag, wie Professor Puddle es Ihnen mit seiner verzerrten Wahrnehmung der Realität sicherlich versprochen haben wird.“
„Nein, wir sind nicht wegen des Berichts hier, aber wir möchten wissen, was Sie uns schon über die Leiche erzählen können“, sagte Tonks ganz ehrlich.
„Nun, ein paar Dinge kann ich Ihnen schon sagen. Weder der Magen noch der Darm weist auf eine Nahrungszufuhr hin“, sagte Professor Junot.
Tracey stutzte, bevor sie fragte: „Und was genau heißt das?“
„Ja, wenn ich das wüsste… Sie muss mindestens 24 Stunden vor ihrem Tod nichts gegessen haben, aber das ist gar nicht mal das Seltsamste. Nach meinen Ergebnissen – und die habe ich von einem Kollegen prüfen lassen – ist diese Frau seit ziemlich genau einer Stunde tot“, sagte Professor Junot.
„Das kann nicht sein“, warf Tonks ein. „Vor einer Stunde war sie längst hier im Mungos. Das würde bedeuten, sie wäre hier gestorben, aber wir haben sie vor einigen Stunden schon so aufgefunden.“
„Ja, das habe ich den Akten entnommen, Mrs…“
„Miss Tonks.“
„Miss Tonks“, wiederholte Professor Junot. „Das ist merkwürdig, nicht wahr? Zudem kommt noch hinzu, dass ihr Gefährte, der junge Farbige, Stein und Bein schwört, dass sie nicht tot wäre. Ich für meinen Teil bin das erste Mal in meiner Karriere an meine Grenzen gestoßen. Ich habe Hilfe angefordert. Es gibt da einen ehemaligen Kollegen, der seit geraumer seit im Gunhilda-von-Gorsemoor-Sanatorium arbeitet und der mir sicherlich ein paar Tipps geben kann, aber er kommt erst morgen Früh angereist. Bis dahin…“ Professor Junot hob und senkte die Schultern, um ihre Ahnungslosigkeit zu untermauern.
Mit Panik in der Stimme fragte Tracey: „Oh mein Gott… und wenn sie ein Inferius ist?“
„Blödsinn“, warf Tonks ein.
„Oh nein“, widersprach Professor Junot, „das ist kein Blödsinn, denn das war der erste Gedanke, der mir in den Sinn gekommen war. Ich habe sie auf den schwarzmagischen Fluch prüfen lassen, aber der ist nicht nachgewiesen worden. Für einen Inferius wäre sie auch viel zu träge, meinen Sie nicht?“ Tonks und Tracey warfen sich einen Blick zu, der der Professorin nicht entgangen war, weswegen sie sagte: „Verzeihen Sie bitte, wenn ich ein wenig krude erscheine, aber anders hält man diesen Beruf wohl nicht aus.“
„Warum behauptet der junge Mann wohl, dass sie nicht tot sei?“, stellte Tonks als Frage in den Raum.
Professor Junot zog beide Augenbrauen in die Höhe und spitzte die Lippen, bevor sie laut vermutete: „Er könnte entweder so schwer gestört sein, dass er die Wahrheit nicht erkennt oder…“
„Oder?“, wiederholte Tracey neugierig.
„Oder er hat es selbst erlebt und ist deswegen davon überzeugt.“
Diesmal fragte Tonks: „Was hat er erlebt?“
„Dass diese Frau“, Professor Junot blickte zu der Leiche hinüber, „wieder aufwacht als wäre nichts geschehen.“
„Das ist gruselig“, murmelte Tracey.
„Was ist mit dem Kind?“, fragte Tonks.
„Das Mädchen war auf der Kinderstation und ist vor einer halben Stunde verlegt worden, weil es zu viel Lärm gemacht hat. Es wehrt sich gegen Tränke und Mittel und schreit wie am Spieß nach seinen Eltern“, schilderte Professor Junot. „Möchten Sie sie sehen? Sie schläft bestimmt noch nicht.“ Weil beide nickten, bat die Professorin: „Dann folgen Sie mir, ich werde Sie begleiten.“
Als sie durch die Tür gegangen waren, wurde Stan auf frischer Tat ertappt, wie er gerade einige große Schlucke aus einer Flasche Feuerwhisky nahm. Die Flasche versteckte er so schnell wie möglich hinter seinem Rücken, bevor er den Damen schief zulächelte. Professor Junot schüttelte vorwurfsvoll den Kopf, äußerte sich jedoch nicht, sondern führte die beiden Besucher aus dem Zimmer hinaus, bevor sie mit ihnen einen Stock höher ging und derweil noch hinzufügte: „Ach ja, die einzigen Wunden, die ich an dem Leichnam ausmachen konnte, sind eine Narbe am rechten Knie, die von einem Sturz herzurühren scheint und eine ungefähr fünf Jahre alte Stichverletzung unterhalb des linken Schulterblattes, die jedoch weder tief noch lebensbedrohlich gewesen war.“
Junot sprach kurz mit einer Schwester, bevor sie Tonks und Tracey in das Zimmer führte, in dem das Mädchen allein eingesperrt war, weil sie sonst ständig weglaufen würde. Die Kleine saß auf dem Boden, obwohl ein weiches Kinderbett und auch ein Tisch mit zwei Stühlen vorhanden waren. Sie spielte mit dem seidenen Hemd, welches sie in Malfoy Manor getragen hatte, denn sie selbst trug jetzt ein weißes Krankenhausnachthemd, welches die Schwestern ihr übergezogen hatten. Die großen dunkelbraunen Augen waren glasig und wirkten hoffnungslos, als sie aufblickte und die drei Frauen betrachtete.
„Hallo Kleines, erinnerst du dich an mich?“, fragte Tonks mit warmer Stimme, während sie näher an das Kind herantrat und sich vor ihm auf den Boden setzte.
„Du hast alles schlimm gemacht“, warf das Mädchen ihr vor. „Ich will zu meiner Mama“, wimmerte sie herzzerreißend.
„Deine Mama wirst du nicht mehr sehen können“, sagte Junot. „Sie ist…“
„Lassen Sie uns allein“, schimpfte Tonks, die nicht ertragen konnte, dass man dem Kind die Situation so herzlos beibringen wollte.
Professor Junot schien nicht gekränkt zu sein, als sie das Zimmer verließ. Tracey hingegen blieb an der Tür stehen und beobachtete Tonks, wie diese etwas aus ihrem Umhang zog und es dem Mädchen reichte.
„Ich glaube, das gehört dir“, sagte Tonks lächelnd. Die Augen des Mädchens funkelten fröhlich und sie nahm das Kinderbuch begeistert an sich.
Während sie die erste Seite aufschlug, sagte sie ganz aufgeregt und sich daher selbst überschlagend: „Meine Mama hat’s mir vorgelesen!“
Tonks wurde stutzig und fragte: „Wann hat sie dir daraus vorgelesen?“
„Na, wenn sie mal aufgewacht ist“, erklärte die Kleine.
„Du hattest gesagt, sie schläft sehr lange“, rief Tonks ihr ins Gedächtnis zurück.
Das Mädchen nickte und schaute sich derweil ein Bild an, auf welchem ein großer schwarzer Bär nach einem Bienenstock griff. Sie blätterte eine Seite weiter und tippte auf den Bär, der in einer Höhle in einem kuschelig aussehenden Bett schlief.
„Mama schläft so lange wie er, hat Papa gesagt“, behauptete das Mädchen und drehte das Buch in seinem Schoß. „Lies vor!“
Tonks nahm das Buch an sich, das das Mädchen ihr entgegenhielt und las laut: „Und nachdem Zottel der Schwarzbär sich an dem vielen Honig satt gegessen hatte, legte er sich für viele Monate schlafen.“ Tonks blickte auf und wiederholte: „Für viele Monate? Warum schläft deine Mama so lange?“
„Papa sagt, das ist wie mit Dornröschen. Mama hat sich gestochen“, das Mädchen piekste sich mit einem Zeigefinger in den anderen, „und ist umgefallen.“ Die Kleine ahmte den Inhalt ihrer Erzählung nach und warf sich auf den Boden, um für einen Moment bewegungslos dazuliegen, bevor sie sich wieder aufrappelte.
„Aber Dornröschen ist mit einem Kuss geweckt worden“, erklärte Tonks spielerisch.
„Dornröschen ist ja auch nur ein Märchen!“, konterte die Kleine sehr selbstbewusst.
„Und deine Mama wacht manchmal einfach so auf?“
Das Mädchen nickte heftig und erklärte freudig: „Sie wacht auf und sagt mir, dass sie mich lieb hat! Manchmal liest sie mir auch vor. Aber das hier“, sie tippe auf das Buch in Tonks Händen, „hat sie noch nie zu Ende gelesen. Sie schläft dabei immer ein.“
„Hat dein Papa dir erzählt, dass deine Mama manchmal aufwacht oder hast du das selbst gesehen?“, wollte Tonks wissen.
Das Mädchen runzelte die Stirn und schien sehr erbost, bevor sie sagte: „Du bist doch schon ein großes Mädchen, warum bist du denn nur so dumm? Ich habe dir doch eben alles erzählt!“
Ein Blick zu Tracy verriet Tonks, dass sie genauso dachte wie sie selbst. „Kindermund tut Wahrheit kund“ besagte eine alte Redewendung und Tonks war davon überzeugt, dass das Mädchen die Wahrheit sagte, wenn auch in ihren eigenen Worten und mit kindlicher Wahrnehmung. Letztendlich hieß das, dass die Tote nicht tot war, sondern unter einem Fluch zu leiden schien, der sie scheintot machte.
„Liest du mir vor?“, wollte das Mädchen wissen, während sie auf das Buch deutete.
„Wenn du mir deinen Namen verrätst“, forderte Tonks spielerisch, doch die Kleine erwiderte nichts, nahm Tonks stattdessen das Buch wieder ab und blätterte darin, gab derweil in ihrer kindlichen Art und Weise den Inhalt des Buches wider, so gut sie ihn noch im Kopf hatte. Ihre Namen verriet sie nicht.
„Warum willst du mir deinen Namen nicht sagen?“, wollte Tonks wissen.
„Na, wenn du meinen Namen weißt, kannst du damit schlimme Sachen machen“, erwiderte die Kleine und Tonks wusste, auf was sie anspielte. Ihr Vater musste ihr von bösen Zaubersprüchen erzählt haben, für die man den Namen des Opfers kennen musste.
„Aber ich würde dir doch nichts tun! Glaubst du etwa…“
Tonks wurde unterbrochen, als das Mädchen gelangweilt mit den Schultern zuckte und klarstellte: „Ich kenne dich ja nicht.“
„Aber ich habe dir meinen Namen gesagt.“
„Hat dein Papa dir nie gesagt, dass du vorsichtig sein musst? Du musst immer auf der Hut sein“, zitierte das Mädchen offensichtlich ihren eigenen Vater.
„Ich sage dir was, Kleine, ich kümmere mich um deinen Papa und eine Mama und dann, wenn es beiden besser geht, dann verrätst du mir deinen Namen“, schlug Tonks lächelnd vor.
„Kannst du Mama gesund machen?“, fragte das Mädchen sehr interessiert.
„Vielleicht“, erwiderte Tonks, die nicht einmal eine Ahnung hatte, an was genau die Mutter leiden konnte, wenn sie denn tatsächlich noch am Leben wäre.
„Liest du mir trotzdem vor?“, wollte die Kleine wissen, als Tonks vom Boden aufstand.
„Ich hole eine Schwester und die liest dir vielleicht was vor, aber nur, wenn du artig bist und danach ins Bett gehst“, versprach Tonks.
Das Mädchen strahlte breit und wollte wissen: „Wenn ich morgen aufwache, ist dann wieder alles gut?“
Tonks schluckte, denn in dieser Hinsicht wollte sie keine Lüge erzählen.
„Ich bemühe mich, aber ich weiß nicht, ob…“
„Schon gut, ich bin trotzdem artig“, versicherte das Mädchen, die vom Boden aufstand und sich geziemt auf das Bett setzte, um auf die Schwester zu warten, die Tonks ins Zimmer schicken wollte.
Mit Leichtigkeit hatte Tonks eine der Schwestern dazu bringen können, dem Kind etwas vorzulesen, damit es schlafen würde. Während die Schwarzhaarige der Schwestern ins Zimmer ging, marschierten Tonks und Tracey erneut in die Leichenhalle und sie trafen abermals auf Stan, der wieder dabei erwischt wurde, wie er Alkohol trank.
„Sagen Sie mal“, sagte Tonks und sie erschreckte Stan damit, so dass er sich verschluckte. Sich daran nicht aufhaltend verlangte Tonks: „Bringen Sie uns nochmal rein. Wir möchten nochmal einen Blick auf die Leiche…“
„Meine Güte“, unterbrach Stan, „bekommen Sie denn nie genug?“
„Sie bekommen offenbar auch nicht genug“, sagte Tracey und deutete mit einem Kopfnicken auf die Flasche Feuerwhisky.
Er öffnete daraufhin kommentarlos die Eisentür und die Tür im Zimmer dahinter, bevor er erneut die Bahre aus der Wand zog und das Tuch entfernte, bevor er sich selbst aus dem Raum entfernte.
Tonks ging ganz nahe an den unbeweglichen Frauenkörper heran und roch an ihm, woraufhin Tracey ganz schwummerig wurde und zu schwanken begann.
„Alles in Ordnung?“, fragte Tonks.
Tracey hielt sich eine Hand auf den Bauch und erwiderte: „Ich müsste eigentlich mal etwas essen, aber ich glaube, ich bekomme nichts runter.“
„Hilft es dir, wenn ich dir sage, dass die ’Leiche’ kein bisschen nach Leiche riecht? Man müsste schon längst etwas bemerken, aber ich kann mit Sicherheit sagen, dass der Verwesungsprozess nicht einmal begonnen hat! Wir haben hier einen menschlichen Körper, der keine Lebenszeichen aufweist, aber auch keine klaren Anzeichen des Todes. Miss Parkinson ist weder tot noch lebendig und irgendwie stinkt die Sache!“ Tonks blickte zu Tracey hinüber und verbesserte: „Ich meine, der Fall stinkt und nicht etwa…“ Sie deutete auf den Körper von Pansy Parkinson.
„Wenn sie nicht tot ist, dann hat sie hier nichts zu suchen. Die Leichenhalle ist mit Kältezaubern belegt und könnte alles nur noch schlimmer machen“, sagte Tracey besorgt, die sich in diesen mysteriösen Fall hineinversetzte und sich vorstellte, wie es sein müsste, wäre man in Pansys Lage.
„Wir wissen zwar nicht, was genau es ist, aber die Informationen von Professor Junot reichen mir. Es könnte sich um einen Fluch oder Trank handeln, den wir nicht kennen. Sollte sie leben, müssen wir sie wie eine Lebende behandeln.“ Tonks stöhnte, bevor sie hinzufügte: „Das Gespräch mit Professor Puddle stelle ich mir jetzt schon witzig vor.“
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