von Muggelchen
Am nächsten Morgen war Hermine im Lehrerzimmer mit Neville in ein Gespräch vertieft, an welchem sich auch Harry angeregt beteiligte.
„Luna hat endlich mal einen Probeartikel zum Tagespropheten geschickt und wisst ihr was?“, fragte Neville mit breitem Lächeln.
Zappelig und mit Freude in der Stimme vermutete Hermine laut: „Sie haben sie genommen?“
Nevilles Augen funkelten und man konnte ihm den Stolz ansehen, als er bejahte: „Ihr erster Artikel soll nächste Woche gedruckt werden! Das Thema hat sie sich selbst ausgesucht.“
„Über was will sie schreiben?“, fragte Harry fröhlich. Er stutzte einen Augenblick und fragte dann mit runzliger Stirn: „Doch nicht über mich oder?“
„Nein“, winkte Neville ab, „über Rita Kimmkorn!“
„Das gibt’s nicht!“, warf Hermine überwältigt ein. „Das hat die auch verdient, dass Luna über sie schreibt!“
Nach und nach kamen die Lehrer herein und setzten sich, um auf Albus zu warten, damit die Lehrerversammlung beginnen konnte. Minerva trat als Vorletzte in das Zimmer, Albus folgte ihr. Seinen Platz einnehmend erlangte er sofort die Aufmerksamkeit aller Anwesenden und jedem fiel auf, dass er ohne jegliches Zwinkern in den Augen auf den leeren Stuhl zwischen Hermine und Pomona starrte. Erst jetzt bemerkte Harry, dass Severus gar nicht hier war und das sorgte für ein abrupt aufkommendes Unwohlsein, denn Severus hatte sich nie verspätet, hatte nie unentschuldigt gefehlt. Zu Hermine blickend hob und senkte sie nur einmal die Schultern, denn sie hatte keine Erklärung parat.
Über die Störung des gewohnten Alltags schien Albus sehr besorgt zu sein, denn er überreichte Minerva seine Pergamente und bat sie eindringlich: „Wenn du so nett wärst und schon beginnen würdest?“
Sie nahm die Pergamente mit den notierten Tagespunkten entgegen und begann bereits, zu den Kollegen zu sprechen, während Albus noch sehr eilig den Raum verließ. Harry und Hermine schauten ihm beunruhigt nach und Neville tat es seinen Freunden gleich.
Mit wallendem Umhang eilte Albus hinunter in die Kerker und er ignorierte auf seinem Weg den netten Morgengruß von Sir Nicholas und einigen Gemälden, denn in Gedanken war er bei seinem jungen Freund und er hoffte inständig, dass Severus’ Verzweiflung nicht größer gewesen war als er es geahnt hatte.
An den privaten Räumen hielt Salazar ihn auf und sagte grüßend, wenn auch aufgrund der durchschimmernden Aufgelöstheit von Albus leicht verunsichert: „Werter Direktor, ich hoffe, es ist nichts geschehen.“
„Bitte öffne mir, damit ich mich selbst davon überzeugen kann“, bat Albus und Salazar öffnete.
Drinnen traf Albus auf den weißen Hund, der aufgeregt zu hoffen schien, dass sein Auslauf nun beginnen würde, doch der Direktor ging schnurstracks zum Schlafzimmer hinüber und er klopfte nur einmal an die leicht angelehnte Tür, bevor er sie öffnete. Bis auf wenige Strahlen der aufgehenden Sonne, die durch das kleine Oberlicht drangen, war es auch hier sehr dunkel, doch den scheinbar bewegungslosen Körper auf der Matratze konnte er erkennen. Leise schritt er bis ans Bett heran und betrachtete den ruhig atmenden Schlafenden, der auf der Seite lag. Nachdem sich Albus’ Augen an den abgedunkelten Raum gewöhnt hatten, starrte er wie paralysiert auf das Gesicht von Severus, denn die Augen unter den Lidern bewegten sich und manchmal regte sich ein Muskel an den Mundwinkeln. Mit großem Erstaunen stellte Albus fest, dass Severus träumen musste und diese Feststellung ließ ihn erleichtert lächeln.
Eine Weile stand Albus mit leicht schräg gelegtem Kopf an dem Bett, um sich an diesem Fortschritt zu ergötzen, bis er eine kleine Veränderung im Gesicht seines Freundes ausmachte. Severus schien nun einen unerfreulichen Traum zu haben, denn manchmal kniff er die Augen zusammen und seine Augenbrauen wanderten ein wenig in Richtung Nasenwurzel, so dass kleine Sorgenfalten zwischen ihnen entstanden.
Als dem Schlafenden ein fast unhörbarer Schluchzer entwicht, entschloss sich Albus dazu, in das Geschehen einzugreifen, indem er wispernd und mit verständnisvoller Stimme erklärte: „Es sind selten die erfreulichen Träume, die auch Gutes verheißen, Severus. Wachstum kann Leid erzeugen und Schmerz ist oftmals ein vertrauter Gefährte der Genesung.“
Seine Worte wurden anscheinend unterbewusst von Severus verarbeitet, denn es wirkte so, als würde der Träumende sich seiner Welt furchtlos stellen.
Den Hund noch einmal am Kopf tätschelnd verließ Albus die Räume seines Freundes, um an der Lehrerversammlung teilzunehmen.
„Ah“, machte Minerva erleichtert, als sie den Direktor erneut begrüßen durfte. „Du kommst gerade richtig, denn es gibt einige Diskussionspunkte.“
Noch bevor Albus sich setzen konnte, sprach sich Pomona gegen eine der von Minerva vorgelesenen Regeln aus und wetterte: „Du kannst vor Weihnachten kein Hogsmeade-Verbot aussprechen, Albus! Wo sollen die Kinder ihre Geschenke kaufen? Es werden wieder ein paar Schüler in Hogwarts bleiben und es würde trostlos für sie werden.“
„Der Ort ist momentan zu gefährlich, Pomona. Es war das letzte Mal schon brenzlig geworden, denn offensichtlich halten sich dort Muggel auf, die diesen Ort auskundschaften“, antwortete Albus ehrlich und damit brachte er alle Lehrer und Lehrerinnen zum Staunen, denn nur wenige wussten von der Problematik, die Hermine und Harry bereits kannten.
Die Stille unterbrach Valentinus nach einer ganzen Weile, der von seiner eigenen Idee ganz begeistert mit einem selbstgefälligen Singsang in seiner Stimme vorschlug: „Dann sollten wir das Ausflugsziel ändern! Nehmen wir die Winkelgasse, die ist magisch verborgen und nicht für umherlaufende Muggel zu sehen, was man von Hogsmeade leider nicht sagen kann. Außerdem sind die Geschäfte dort von einem ganz anderen Schlag; sie haben ein höheres Prestige.“
Die meisten Lehrer waren ganz perplex und selbst Harry stand der Mund offen, denn Svelte konnte seinen Verstand offensichtlich auch mal klug gebrauchen, zumindest wenn es um Einkaufsfragen ging.
Von dem Vorschlag waren alle ganz angetan, doch Filius gab zu bedenken: „Wir müssen dann aber mehr Aufsichtspersonal einplanen. Die Winkelgasse allein ist schon größer als Hogsmeade! Gerade vor Weihnachten wird die Einkaufsstraße voller Menschen sein und wenn wir dann noch mit den Schülern dort aufschlagen…“
„Es muss gesittet vonstatten gehen“, warf Minerva ein. „Wir müssen den Schülern verständlich machen, dass wir sofort wieder umkehren, sollten sie sich nicht diszipliniert verhalten.“
Harry stimmte Minerva zu, erklärte jedoch: „Wenn wir es den Schülern als Besonderheit verkaufen, dann werden sie sich hüten sich danebenzubenehmen. Ich denke, aber auch wie Filius“, er blickte Albus an, „dass vier Lehrer als Aufsicht nicht reichen werden.“
„Harry und Filius haben Recht“, bestätigte Pomona. „Mindestens sechs Lehrer sollten mitgehen, ich persönlich plädiere sogar für acht und ich melde mich freiwillig, weil Weihnachten vor der Tür steht.“
Nur noch einen Monat und drei Tage.
Albus nahm alle Vorschläge an und erklärte am Ende, dass er etwas ausarbeiten wollte, bevor er sich eine Tasse Tee einschenkte und zum nächsten Punkt überging.
„Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine bestimmte Angelegenheit hat sich meiner Aufmerksamkeit entzogen“, gab Albus mit einem verlegenen Lächeln bekannt. „Es ist mir entfallen, dass unser werter Severus heute einen Urlaubstag genommen hatte. Ich habe es leider versäumt, die Vertretung zu planen.“
Harry blickte sich um. Bis auf Minerva, die Albus einen sehr skeptischen Blick zuwarf und bis auf Hermine, die ihre Stirn in Falten legte, schien sich niemand an der Tatsache zu stören, dass der Direktor etwas „vergessen“ haben könnte.
Die freie Stunde, die Harry heute eigentlich nach dem Mittagessen haben sollte, ging flöten, weil er die Fünftklässler für Severus vertreten sollte. Minerva übernahm freiwillig die siebten Klassen, Filius die zweite und sechste, während man Valentinus die Erstklässler anvertrauen wollte.
Nachdem die Lehrerversammlung beendet wurde, erhoben sich die Kollegen und liefen im Zimmer durcheinander oder bereits zur Tür hinaus, so dass Hermine zwischen den ganzen Menschen Albus erst ausmachen musste, bevor sie an ihn herantrat und fragte: „Sir? Sagen Sie, hat Severus etwas wegen heute gesagt? Ich meine, ob mein Unterricht mit ihm auch ausfällt?“
Während er seine Notizen verstaute, lauschte Harry interessiert, als Albus antwortete: „Nein, hat er nicht, Hermine. Ich nehme also an, dass sich an Ihrer Tätigkeit nichts ändern wird. Womöglich startet sie heute sogar früher?“ Albus lächelte, bevor er noch hinzufügte: „Das können Sie ja selbst erfragen, denn wie es mir vorhin schien, will das liebe Tier nicht mehr länger auf seine Morgentoilette verzichten.“
„Oh“, machte sie erschrocken, denn normalerweise ging sie vor dem Frühstück mit dem Hund raus oder wenn – wie heute – eine Lehrerversammlung stattfand, dann auch vor dieser.
Im Flur fragte Harry seine beste Freundin: „Gehst du jetzt zu ihm?“
„Ja, natürlich! Ich muss doch wissen, ob ich heute auch ’frei’ habe. Ich frage mich sowieso, warum er mir nicht gesagt hat, dass er heute einen ’Urlaubstag’ genommen hat“, antwortete Hermine mit einer Betonung, die deutlich heraushören ließ, dass sie sich veralbert vorkam.
„Du glaubst auch, dass es nur eine Notlüge von Albus gewesen war“, stellte Harry als Tatsache fest, während sie ihren Weg gemeinsam fortsetzten.
Sie blickte ihn an und sagte erleichtert: „Zumindest scheint nichts Schlimmes passiert zu sein. Ich frage mich nur, warum Albus der Meinung ist, Severus würde heute Ruhe benötigen und ihm deswegen auf einen Freitag einfach frei gibt. Ob es damit zu tun hat, dass er gestern wieder so niedergeschlagen war?“
„Vielleicht braucht er einfach nur mal eine Mütze voll Schlaf“, sagte Harry.
Erstaunt fragte Hermine: „Wieso? Bekommt er die sonst nicht?“
Sie befürchtete, dass Severus sich womöglich mit der Aufgabe, sie als Schülerin zu beschäftigen, übernommen haben könnte.
„Ich würde sagen nicht. Er hat mir irgendwann mal nebenbei erzählt, dass er drei oder vier Stunden Schlaf braucht und dann wäre er wieder fit.“ Harry schüttelte den Kopf und erklärte: „Wenn ich jede Nacht nur drei oder vier Stunden schlafen würde, dann würde ich aussehen wie ein Zombie. Ich brauche mindestens sieben Stunden und am Wochenende schon mal acht oder neun.“
Neugierig fragte sie: „Wann hat er das gesagt? Dass er so wenig schläft, meine ich?“
„Ach, das ist schon ewig her und ich bin auch gar nicht drauf eingegangen. Habe es halt nur zur Kenntnis genommen“, erwiderte er ehrlich, denn es war mindestens eineinhalb Jahre her, wenn nicht sogar noch länger.
Nachdenklich blieb Hermine mitten auf dem Gang stehen.
„Kannst du bitte später in deine Grübelstarre verfallen? Geh lieber erst mit dem Hund raus, Mine, sonst gibt’s einen Unfall auf dem Teppich“, empfahl Harry lächelnd, bevor er sich auf zum Frühstück in die große Halle machte.
„Aber verstehst du denn nicht?“, fragte Hermine. Sie wollte gerade ausholen, da kamen bereits die ersten Schüler, die sich wie Harry in die große Halle begeben wollte, so dass sie ihm ihre Überlegungen nicht mehr unter vier Augen mitteilen konnte. „Ich erkläre es dir später.“ Sie winkte ihm verabschiedend zu, bevor sie in die Kerker ging.
Auf ihrem Weg fielen ihr viele Situationen ein, in denen aus Gesprächen klar und deutlich herauszuhören gewesen war, dass Severus wenig schlafen würde; viel zu wenig. Auf dem Ordenstreffen, welches sie mit ihm und Harry besucht hatte, hatte sie selbst sogar eine Anspielung darauf gemacht, indem sie gesagt hatte, um die Zeit zu haben, die Gesetzesänderungen von Kingsley durchzugehen, würde sie es wie er machen: Sie würde einfach weniger schlafen. Sie glaubte sich sogar daran erinnern zu können, wie Severus einmal gesagt hatte, er würde Schlaf für Zeitverschwendung halten. Gedankenverloren setzte sie ihren Weg fort.
„Oh, guten Morgen“, hörte Hermine plötzlich dicht vor sich eine Frauenstimme sagen, weswegen sie zusammenzuckte. Sie blickte auf und sah Mrs. Malfoy, die sie nett anlächelte, bevor diese sagte: „Verzeihen Sie bitte, aber ich wollte Sie wirklich nicht erschrecken.“
„Schon gut, das war meine Schuld“, sagte Hermine ehrlich.
Mrs. Malfoy legte ihren Kopf schräg und fragte gleich darauf: „Miss Granger, nicht wahr? Seine Schülerin.“
„Ja, genau die.“
Einen Augenblick lang, in welchem peinliche Stille herrschte, standen die beiden vor Severus’ Tür und Hermine bemerkte erst jetzt, dass sie ihr Ziel schon längst erreicht hätte.
„Oh“, machte sie erstaunt. „Ich wollte gerade mit dem Hund rausgehen. Wollten Sie Severus besuchen?“, fragte Hermine die Frau, die sie persönlich nicht kannte.
„Ja, das wollte ich, aber Mr. Slytherin hier lässt mich nicht passieren“, erklärte Mrs. Malfoy pikiert.
Perplex fragte Hermine, obwohl die Antwort auf der Hand lag: „Sie haben keine Berechtigung ein- und auszugehen?“ Mrs. Malfoy schüttelte den Kopf. „Na, dann…“ Sie blickte Salazar an, der mit den Augen rollte und die Tür öffnete. „Ich denke nicht“, sagte Hermine, während sie bereits eintrat, „dass er etwas dagegen haben würde, wenn Sie auch eintreten, Mrs. Malfoy.“ Ihre Aufforderung wurde verstanden und Mrs. Malfoy folgte ihr.
Das Wohnzimmer schien verwaist. Der Hundekorb war leer und niemand saß auf der Couch. Nur eine schwarze Weste lag über der Rückenlehne. Doch dann hörte man es rascheln, dann klimpern, bevor ein aufgeregt mit dem Schwanz wedelnder Hund aus dem Schlafzimmer gestürmt kam. In seinem Maul führte er die Leine mit sich, mit der er ein klares Zeichen setzen wollte.
„Es geht gleich raus, Harry“, sagte Hermine mit ruhiger Stimme, bevor sie gleich darauf mit einem leise gesprochenen Befehl unterbinden musste, dass er sie ansprang. Sie blickte zur Schlafzimmertür hinüber, die der Hund ein wenig weiter geöffnet hatte. Dann blickte sie zu Mrs. Malfoy hinüber und erklärte verlegen: „Ich glaube, Severus schläft noch.“
Mrs. Malfoy blickte ebenfalls zur Schlafzimmertür, bevor sie Hermine ansah und fragte: „Ich nehme an, Sie sind so vertraut miteinander, dass Sie ihn vielleicht wecken könnten? Ist er nicht eh schon zu spät dran? Der Unterricht beginnt doch in fünf Minuten.“
„Der Direktor meinte, er hätte heute Urlaub“, erklärte Hermine, die sich noch immer eine Antwort auf die Frage überlegte, wie vertraut sie mit Severus sein würde.
„Würden Sie ihn trotzdem wecken? Ich möchte Hogwarts nicht verlassen, ohne ihm Bescheid zu geben“, bat Mrs. Malfoy.
„Ähm, so vertraut sind wir nicht miteinander. Sollte ich es wagen ihn zu wecken, würde er mich sicherlich dorthin zaubern, wo der Pfeffer wächst“, sagte Hermine unsicher lächelnd.
Mit zwei kleinen roten Flecken auf dem hellen Teint sagte Mrs. Malfoy zu Boden blickend: „Ich bin untröstlich, Miss Granger. Verzeihen Sie bitte, wenn ich fälschlicherweise auf etwas angespielt haben sollte.“ Sie blickte Hermine an und erklärte: „Wissen Sie, ich werde Hogwarts heute verlassen und Malfoy Manor aufsuchen. Ich wollte mich verabschieden, aber es ist ja kein Abschied für immer. Es lag mir nur fern, herzlos zu erscheinen, indem ich einfach wortlos verschwinde.“
Nickend stimmte Hermine zu und sagte: „Das ist nett von Ihnen. Ich werde es ihm gern ausrichten.“
„Vielen Dank, Miss Granger, das wäre zu gütig. Dann möchte ich mich ganz herzlich von Ihnen verabschieden, aber ich bin mir sicher, dass sich unsere Wege hier nicht für immer trennen werden.“
Den Hund hatte sie schon angeleint, bevor sie mit Mrs. Malfoy wieder nach draußen ging. Vor der Tür hielt Mrs. Malfoy ihr die Hand entgegen und die beiden Frauen verabschiedeten sich voneinander.
Nach dem zwanzig Minuten langen Spaziergang hatte sich bei Severus noch immer nichts getan. Der Hund rannte zurück ins Schlafzimmer und stieß die Tür dabei noch weiter auf. Hermine konnte es sich nicht verkneifen, einen Blick hineinzuwerfen. Severus lag auf der Seite, mit dem Rücken zu ihr. Der Hund war auf das Bett gesprungen und mache es sich bereits am Fußende gemütlich, wie er es vorhin schon getan haben musste. Sie haderte mit sich, denn einerseits wollte sie Severus wecken, um zu sehen, ob alles in Ordnung war, aber andererseits befürchtete sie seinen Zorn.
Sie entschloss sich dazu, eine Notiz zu schreiben und diese gut sichtbar auf dem Wohnzimmertisch zu platzieren. Ron hatte sich damals einige Male darüber beschwert, dass Hermine das Prinzip der Kurznachrichten nicht verstanden hätte, denn „Bin einkaufen“ reichte seiner Meinung nach als Nachricht völlig aus, während Hermine immer haarklein notiert hatte, zu welcher Uhrzeit sie in welchem Laden sein würde. Von einem Schrank nahm sie Feder, Tintenfass und Pergament, bevor sie sich auf die Couch setzte und gut durchdacht schrieb:
„Guten Morgen, Severus,
Albus sagte, Sie hätten heute einen freien Tag und deswegen möchte ich Sie nicht stören. Mit Harry war ich schon draußen.
Mrs. Malfoy war kurz hier und wollte sich von Ihnen persönlich verabschieden.
Bitte sagen Sie mir Bescheid, ob wir trotzdem wie üblich mit der Arbeit beginnen, denn ich habe für heute einen Squib eingeladen.
Hermine“
Sie las die Notiz, die sie am liebsten mit viel mehr Worten gespickt hätte, um sie präziser zu machen, noch einmal durch und setzte ganz unten ein P.S., indem sie schrieb:
„Ich hoffe, es geht Ihnen gut.“
Nachdem sie gegangen war, wartete ihre Notiz darauf, gelesen zu werden. Der Empfänger war momentan jedoch mit anderen Dingen beschäftigt, denn er fand sich in allen nur erdenklichen Situationen wieder. Was einst nur Erinnerungen dargestellt hatten, mutierte im Schlaf trotz skurriler Erzählweise und surrealen Erscheinungsbildern zu einem realistischen Erlebnis.
Er sah Pettigrew fies grinsen, gleich darauf wiegte Lucius ein blondes Baby im Arm. Immer wieder flackerte grünes Licht auf.
Voldemorts Stimme war zu hören, die zischend sagte: „Ich weiß, dass du es bist.“
Ein schwaches „Nein“ war Severus’ Antwort; Voldemort konnte gar nicht wissen, dass er der Verräter war.
Nur Harry, am Fußende liegend und selbst schon dem Traumland nahe, bewegte seine Ohren und vernahm die wimmernden Geräusche, die sein Herrchen im Schlaf von sich gab.
Lucius deutete auf einen Kessel, in der eine grüne Flüssigkeit brodelte und er sagte mit angewiderter Stimme: „Nimm es doch selbst! Dann verwest du wenigstens nicht, wo du doch längst tot bist.“
Auf das Gebräu blickend, welches er als das erkannte, welches er im Auftrag von Voldemort hatte herstellen sollen, damit die Inferi langsamer verwesen würde, erwiderte Severus: „Ich habe niemals ernsthaft daran geforscht.“
Bei schönstem Sonnenschein fand sich Severus auf einem Schulhof in Hogwarts wieder. Die Gestalt eines Mädchens mit im Wind wehendem Rock und einer weißen Schleife in ihrem roten Haar kam freudestrahlend auf ihn zu gerannt und verkündete mit einem klimpernden Sack in der Hand: „Wir können wieder ’Murmeln’ spielen!“
„Lily?“, fragte Severus hoffnungsvoll, doch das Bild verblasste und er blickte auf ein Mal Albus in die blauen Augen.
Sein alter Freund sagte: "Was du suchst, mein lieber Freund, findest du nicht in der Vergangenheit."
Hinter sich hörte Severus plötzlich ein Klappern und als er sich umdrehte, befand er sich in einem Zimmer, das ihm noch gut in Erinnerung geblieben war. Er hatte es für sich und Draco damals an einem kalten Winterabend billig gemietet. Es war so kostengünstig gewesen, weil die Heizung nicht funktionierte. Magie hatten sie nicht anwenden dürfen, denn sie hatten sich in einem Muggeldorf aufgehalten; jede Verwendung eines Zauberspruches wäre dem Ministerium aufgefallen.
Die Ursache des Klapperns konnte Severus schnell ausmachen: Es waren Dracos Zähne. Auf einem alten Bett mit angezogenen Beinen sitzend und dazu dick in Decken eingemummelt befand sich sein Patensohn, dessen Atem aufgrund der Kälte mit jedem Zug sichtbar war. Severus erinnerte sich, dass er damals genauso gefroren hatte, doch diesmal fühlte er nichts.
Auf einem Stuhl lag eine weitere Decke, die er sich einst selbst umgeworfen hatte, doch jetzt legte er sie Draco um die Schultern mit den Worten: „Nimm die auch noch.“
„Mir ist kalt“, sagte der Sechzehnjährige bibbernd.
„Nur diese eine Nacht, Draco“, versicherte er dem Jungen.
„Wir werden erfrieren.“ Dracos Stimme war erschreckend schwach.
Den Kopf schüttelnd verneinte Severus: „Werden wir nicht.“
„Ich werde innerlich völlig erkalten.“ Etwas leiser fügte der Junge nach einer kleinen Pause hinzu: „So wie du.“
Hinter sich hörte er eine weibliche Stimme sagen: „Ich vertraue dir!“
Blitzschnell drehte sich Severus um und erkannte Narzissa. Als er sich umschaute, bemerkte er, dass er sich in seinem alten Zuhause aufhielt, in Spinner’s End.
Sie wiederholte milde lächelnd: „Ich vertraue dir!“
Auf einmal hatte Severus das Gefühl zu fallen und als er auf einer Rasenfläche landete, war sein Mund gefüllt mit rosafarbenen Seifenblasen, die zerplatzten und deren Schaum schleimig auf das grüne Gras tropfte. Severus würgte. Ihm war schlecht. Unverhofft hallte Gelächter zu ihm hinüber und als er über seine Schulter blickte, sah er Sirius und James mit ein paar anderen Schülern, die sich die Bäuche vor Lachen halten mussten. Severus wandte sich wieder ab und spuckte den ekelhaften Schaum auf die Erde.
„Feigling!“, hörte er eine ihm bekannte Stimme aufgebracht sagen und sein Magen zog sich vor Wut zusammen. Severus drehte sich erneut um und erblickte Harry, einen erwachsenen Harry, der älter als sein Vater war und der ihn einen Moment lang mit entschuldigender Miene anblickte. Harry wandte sich seinem Vater zu und sagte nochmals, diesmal ganz offensichtlich an James gerichtet: „Feigling! Das macht je zwanzig Punkte Abzug für Mr. Potter und Mr. Black und weitere fünf für jeden, der gelacht hat!“
Ohne darauf vorbereitet zu sein, flog Severus plötzlich gen Himmel und tauchte aus seinem Denkarium auf. Er benötigte einen Moment, um sich zu vergewissern, dass er in seinem privaten Büro gelandet war. Vor ihm stand das Denkarium und – was ihn sehr erschreckte – Hermine, die noch immer ihre Nase in die Flüssigkeit getaucht hatte.
Einen Augenblick später richtete sie sich auf, blickte ihn an und sagte überheblich klingend: „Oh, jetzt weiß ich Bescheid!“
„Sie wissen gar nichts!“, belferte er zurück.
„Ich weiß mehr als Ihnen lieb ist!“
Die Tür zu seinem Büro öffnete sich und er erschrak noch viel mehr, als ein Werwolf hineinkam. Severus wich zurück, stieß jedoch mit dem Rücken an die Wand, während dieses gefährliche Biest weiterhin auf ihn zugeschlendert kam.
Man konnte sehr deutlich hören, dass es sich um Remus’ Stimme handelte, die sagte: „Es ist nicht meine Schuld gewesen.“ Der Wolf klang reumütig und er wusste auch sofort, auf was er angesprochen hatte: Auf den Vorfall, bei welchem Severus sein Leben hätte verlieren können. „Soll ich jede Einzelheit aufzählen und jeweils sagen, wie Leid es mir tut?“, wollte der Werwolf wissen. Starr vor Angst verweilte Severus mit dem Rücken an die Wand gepresst und er fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis die Bestie ihn zerfleischen würde, doch die seufzte nur und winselte: „Ich vermisse sie auch, Severus! Vielleicht können wir irgendwann einmal darüber reden?"
Vor dem Werwolf hatte Severus solche Furcht, dass er gar nicht antworten konnte und so schüttelte er einfach den Kopf, woraufhin die Bestie erneut winselte, bevor sie sein Büro wieder verließ. Schockiert über diese Begegnung wankte er benommen in sein privates Labor hinüber und er erstarrte, als er das Chaos auf dem Tisch erblickte. Viele aufgeschlagene Bücher lagen herum und mittendrin saß Hermine, die ihn nicht zu bemerken schien. Er musste viermal ihren Namen sagen, bis sie endlich aufblickte.
„Sie hätten mich warnen können“, sagte sie vorwurfsvoll.
„Wovor warnen?“, wollte er wissen.
Sie tippte auf das Buch, welches sie las und er erkannte es als eines der Schwarzmagischen.
„Es ist Ihre Schuld!“, sagte sie giftiger und ihre Gesichtszüge verzerrten sich dabei, so dass sie für einen Augenblick eine große Ähnlichkeit mit Bellatrix aufwies.
„Es tut mir so Leid“, sagte er reumütig. „Es war nicht meine Absicht!“
„Es ist eh zu spät, Severus. Jetzt habe ich Blut geleckt!“
Ohne Übergang fand sich Severus in seinem Klassenzimmer wieder, in welchem die Siebentklässler auf den Unterricht warteten, doch völlig unverhofft stand einer nach dem anderen auf und sie bildeten eine Schlange vor ihm. Der erste Schüler legte wortlos eine Spielkarte auf sein Pult und erwartete offensichtlich, dass er sie unterschreiben sollte. Nach und nach betrachtete er die anstehenden Schüler und jeder hielt eine dieser Spielkarten in der Hand. Nur ein Schüler hatte sich nicht in die Schlange eingereiht. Draco saß noch immer auf seinem Platz. Er war in warme Decken eingehüllt und trotzdem fror er bitterlich. Von allen Anwesenden zeichnete sich ausschließlich sein Atem in der Luft ab. Die anderen Schüler nicht beachtend erhob sich Severus, um zu seinem Patensohn zu gehen, der sehr kränklich wirkte.
Schwach und elend sagte Draco flüsternd, während er sich in die Decken kuschelte: „Es wird niemals weggehen. Es wird immer da bleiben, Severus.“
Ein Zupfen an seinem Umhang hinderte ihn daran, mit Draco zu reden. Severus blickte neben sich auf die naseweise neunmalkluge Miss Clavick, die weiterhin an seinem schwarzen Umhang zerrte und mit hoher Stimme fragte: „Wann beginnt der Unterricht, Sir?“
„Was?“, fragte er irritiert.
„Wann beginnt der Unterricht, Sir?“, wiederholte sie monoton.
Sie fragte wieder und wieder und er vernahm ihre Stimme noch immer, während er langsam erwachte und die Augen aufschlug. Ein Traum. Severus schloss die Augen und seufzte. Wie aus heiterem Himmel durchfuhr ihn die Erkenntnis, verschlafen zu haben. Mit einem Male saß er kerzengerade im Bett, so dass der Hund es ihm gleichtat. Er zog seinen Wecker zu Rate, der wie üblich um sechs hätte klingeln müssen. Severus konnte sich nur vage daran erinnern, ihn nach dem Klingeln einfach ausgestellt und weitergeschlafen zu haben.
Sein Herz schlug wie wild, als er die Uhrzeit vom Ziffernblatt ablas. Es war kurz nach elf Uhr und er lag noch im Bett, während die Schüler seit acht Uhr auf ihn warteten. In Windeseile stürzte er aus dem Bett ins Badezimmer, welches er zehn Minuten später noch immer hektisch wieder verließ, bevor er sich schleunigst ankleidete. Während er noch die Knöpfe seines Hemdes mit zittrigen Fingern schloss, eilte er ins Wohnzimmer, wo er gestern Abend seine Weste über der Rückenlehne der Couch abgelegt hatte. Als er zur Weste griff, fiel sein Blick auf ein Stück Pergament, welches auf seinem Couchtisch lag. Hastig ging er um die Couch herum, um die Nachricht vom Tisch zu nehmen.
Nachdem er sie einmal gelesen hatte, setzte er sich entkräftet auf die Couch und schloss erneut seine Augen, während er einmal tief ein- und ausatmete. Er las die Nachricht ein weiteres Mal und dann nochmals und er fragte sich, ob es ihre Handschrift war, die ihn beruhigte oder das, was sie ihm mitgeteilt hatte. Er hätte heute frei, hatte sie geschrieben. Niemand erwartete von ihm, dass er heute unterrichten würde, dachte er aufatmend. Trotzdem war er völlig aufgewühlt. Er hatte nicht nur heftig geträumt, sondern auch noch verschlafen.
Eine zittrige Hand fand ihren Weg zu seinen Augen und er bedeckte sie mit ihr. Severus fühlte sich ausgelaugt, abgezehrt. Auch ohne Traumdeutung wusste er, dass sich Vergangenheit und Zukunft in seinem Traum verarbeitet sehen wollten.
Der schönste Moment war der gewesen, dachte Severus, als Lily ihn zum Spielen aufgefordert hatte. Er schluckte kräftig, um den Kloß im Hals hinunterzuspülen, doch gleich darauf fühlte es sich so an, als wäre sein Herz verknotet.
Es wird immer da bleiben.
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