von Muggelchen
Am Abend, nachdem Harry, Ginny und Hermine sich nach dem Treffen des Phönixordens von ihren Freunden verabschiedet hatten, verbrachten sie noch ein wenig Zeit zusammen. Sie waren in Harrys Wohnzimmer angekommen und Ginny kümmerte sich zunächst um Nicholas, während Harry und Hermine bereits das Ordenstreffen auseinander nahmen.
„Ich weiß nicht, Harry. Das Treffen hat zu nichts geführt! Ich frage mich, warum die sich überhaupt noch zusammen raufen“, sagte Hermine, bevor sie sich auf die Couch fallen ließ.
Harry öffnete die Packung eines Schokoladenfrosches, während er sagte: „Was Severus gesagt hat, stimmt schon. Als ich von Remus gehört hatte, dass der Orden wieder aktiv geworden war, da habe ich gleich dran denken müssen, ob das überhaupt möglich wäre, wo Arthur doch jetzt Minister ist. Es leuchtet mir schon ein, dass er dem Phönixorden nicht einfach freie Hand gewähren kann. Es wird nie mehr so sein können wir früher.“
Ginny, die mit dem Stillen fertig war und gerade aus dem Schlafzimmer kam, schlug schelmisch vor: „Dann muss es eben eine andere Vereinigung sein, die gegen Hopkins angeht, wenn dem Phönixorden die Hände gebunden sind!“
„Ich hab dran gedacht“, sagte Hermine, „aber ich wollt es nicht sagen.“
„Was nicht sagen?“, fragte Harry mit großen Augen.
Ginny antwortete an ihrer Statt und sagte: „Eine Gruppe wie ’Dumbledores Armee’ könnte Hopkins überwältigen, ohne dass mein Dad oder Kingsley und Tonks ein schlechtes Gewissen haben müssen.“
„Das meint ihr beide nicht ernst?“
„Doch!“, bestätigte Hermine. „Wir meinen es ernst, Harry. Allerdings sehe ich momentan keine Veranlassung, überschnell handeln zu müssen. Arthur hatte ja gesagt, dass es um Hopkins ruhig geworden zu sein scheint. Es gab keine Anschläge oder Todesfälle in den letzten Monaten. Der letzte verzeichnete Anschlag war der in Spanien; in Schottland war es der, bei dem die Schülerin verletzt worden war. Ich bin trotzdem der Meinung, dass Hopkins für das, was er bereits getan hat, zur Verantwortung gezogen werden muss und wenn weder unser Minister noch der andere etwas gegen Hopkins ausrichten kann, dann müssen andere es versuchen.“
Harry ließ sich alles durch den Kopf gehen, bevor er ihn schüttelte und sagte: „Ich weiß nicht… Ich weiß wirklich nicht. Ich will nicht mehr so viel Aufregung in meinem Leben haben.“
„Hey, du wirst eine Weasley heiraten“, warf Ginny lächelnd ein, „und das bedeutet pure Aufregung, mein Schatz.“
Harry musste kurz auflachen, doch er wurde schnell wieder sehr ernst, bevor er sagte: „Ich will nur nicht, dass irgendjemandem, den ich kenne, etwas Schlimmes passiert. Ich will das nicht mehr.“
Ginny setzte sich neben Harry und ergriff mitfühlend seine Hand, als es plötzlich klopfte. Severus trat ein, nachdem Harry „Herein“ gerufen hatte.
„Ah, das Treffen ist also zu Ende. Ich vermute zwar, dass ich mir umsonst den Weg nach oben gemacht habe, aber ich wollte nachfragen, ob ich womöglich doch etwas Wichtiges verpasst haben könnte“, sagte Severus, der sich derweil den dreien genähert hatte.
Wegen Severus ließ Ginny Harrys Hand los, weil die Anwesenheit ihres Lehrers ihr unangenehm war. Mit einer Handbewegung bot Harry seinem Kollegen einen Platz an und nachdem der sich gesetzt hatte, sagte Harry: „Es gab nichts Interessantes mehr, über das wir gesprochen hatten.“
Severus kniff die Lippen zusammen und fragte gleich darauf leicht erbost: „Warum sollte ich mich dann erst setzen?“
Hermine erklärte: „Wir überlegen, ob wir selbst aktiv werden sollten und…“
„Wie bitte? Den Phönixorden hintergehen und Hopkins selbst in die Schranken weisen? Ich hoffe doch, dass Sie alle nicht unüberlegt handeln werden“, unterbrach Severus.
„Das war nur eine erste Idee“, sagte Harry. „Wir haben überhaupt nichts Konkretes besprochen, aber der Gedanke ist natürlich aufgekommen.“
„Aber was sollte man als Erstes tun?“, fragte Ginny.
„Informationen sammeln“, kam von Severus wie aus der Pistole geschossen.
Ginny stutzte, bevor sie eine Idee preisgab: „Man könnte sich einfach mit einem Tarnzauber belegen und sich in die Höhle des Löwen wagen.“
Von Hermine kam ein Einspruch, denn sie sagte: „Was, wenn diese Leute Wärmesensoren benutzen? Oder womöglich Infrarotkameras? Wie wir ja wissen, rüstet Hopkins auf und so viel Geld, wie der hat, kann der sich die beste Muggeltechnik leisten, die es gibt. Mit Tarnzaubern kommen wir nicht durch, wenn er…“
Severus unterbrach und sagte: „Das meinte ich mit Informationen sammeln. Man muss Wege finden, solche Dinge herauszubekommen. Ich möchte an dieser Stelle nicht suggerieren, dass sich jemand dieser Sekte anschließen sollte, aber man könnte diesen Pub aufsuchen, in welchem Mundungus die Gespräche belauscht hatte. Es scheint ja so, als würden sich Hopkins und seine Männer dort regelmäßig treffen.“
„Wir sollen nur lauschen?“, fragte Ginny.
Severus rollte mit den Augen, bevor er empfahl: „Wie wäre es mit stab- und wortloser Legilimentik? Aber das beherrscht ja keiner von Ihnen. Man könnte es Hopkins natürlich nachmachen und einen seiner Leute entführen, um ihn mit Veritaserum zu füttern. Allein die Drohung damit hatte ja, wie ich gehört habe, bei Mr. Abello wahre Wunder bewirkt!“
„Severus!“, sagte Harry wütend und durch die Zähne zischend, um seinen Kollegen zurechtzuweisen.
Ginny hatte ihren Lehrer jedoch sehr wohl verstanden und fragte verdattert nach: „Pablo Abello? Was ist mit ihm? Wer hat ihm mit Veritaserum gedroht?“
„Ah, man hat Sie darüber offensichtlich nicht in Kenntnis…“
Harry stand auf und mahnte Severus: „Was fällt Ihnen ein?“
An seinem Arm fühlte er plötzlich Ginnys Hand, die ihn wieder auf die Couch zog, bevor sie Severus mit unsicherer Stimme fragte: „Was wissen Sie über Pablo?“
Severus schaute erst Harry an, der ihm seinen bösesten Blick zuwarf, doch daran störte er sich nicht, denn er antwortete: „Er sitzt noch immer im Ministerium in einer Untersuchungszelle und wurde bereits von Kingsley und Ihrem werten Vater verhört, denn es handelt sich bei Mr. Abello um einen treuen Anhänger von Hopkins, der absichtlich auf Sie, Miss Weasley, angesetzt worden war.“
Während Ginny der leisen Stimme ihres Zaubertränkelehrers gelauscht hatte, hatte sich ihre Atmung beschleunigt und ihr Herz schlug wie wild, denn ihre Eltern hatten ihr davon überhaupt nichts erzählt. Harry hatte sie ebenfalls ein wenig enttäuscht, denn wie es aussah, wusste auch er davon und er hatte ihr nichts gesagt, weil er sie in dieser Angelegenheit schonen wollte.
„Auf mich angesetzt?“, fragte sie mit zitterndem Stimmchen nach. Nachdem Severus genickt hatte, fragte sie genauso leise: „Warum?“
„Weil man sich erhofft hatte, dass Mr. Abello aufgrund seiner Ähnlichkeit mit Harry bei Ihnen Anklang finden würde“, antwortete Severus ehrlich.
Vor lauter Scham wurde ihr Gesicht ganz heiß und sie ahnte, dass sie rot glühende Wangen haben musste. Sie blickte in ihren Schoß, fragte jedoch: „Woher wussten die, dass sie damit Erfolg haben könnten?“
Severus erklärte mit plötzlich sehr ruhiger Stimme: „Ich nehme an, sie wussten aus dem Tagespropheten, dass Sie und Harry…“ Er beendete den Satz nicht, denn jeder konnte es sich denken, was gemeint war.
Ginnys Unterlippe begann zu zittern, doch das hinderte sie nicht daran, weitere Fragen zu stellen, denn sie wollte wissen: „Was haben die sich davon versprochen, mir Pablo auf den Hals zu hetzen?“
„Ah, das sind nur Vermutungen, Miss Weasley. Womöglich wollte man einfach nur etwas mehr über unsere Welt erfahren und mit Ihrem Vater als Minister konnte man durch Sie doch wunderbar an ihn heran“, erklärte er. Im Hintergrund begann Nicholas zu weinen, was Severus zum Anlass nahm hinzuzufügen: „Aber der Verlauf Ihrer Beziehung mit Mr. Abello schien Mr. Hopkins gar nicht gefallen zu haben.“ Demonstrativ blickte Severus an Ginny vorbei zur Schlafzimmertür, aus der das Babygeschrei kam.
Ginny schluckte und entschuldigte sich, bevor sie das Wohnzimmer verließ und die Schlafzimmertür hinter sich schloss.
Wütend fragte Harry mit gedämpfter Stimme: „Warum haben Sie das getan? Ginny wusste bisher nichts davon und es hätte auch so bleiben sollen. Warum haben Sie ihr das alles gesagt?“
Mit ruhiger Stimme rechtfertigte sich Severus, indem er sagte: „Wäre ich an Miss Weasleys Stelle, dann hätte ich es wissen wollen!“
Hermine schnaufte aufgebracht und zeterte: „Und da haben Sie gedacht, es wäre allein Ihre Pflicht, ihr davon zu erzählen?“ Sie wurde sarkastisch und sagte: „Immerhin haben Sie eine so äußerst feinfühlige Art an sich, nicht wahr?“
„Ich habe nie eine Notwendigkeit darin gesehen, Wahrheiten behutsam mitzuteilen. Man muss Miss Weasley nicht in Watte packen. Sie mag eine weiche Schale haben, aber ich bin mir sicher, dass sie einen harten Kern besitzt“, antwortete er nüchtern.
„Mag sein, Severus. Bei Ihnen scheint das ja genau umgekehrt zu sein…“
Hermine hielt inne, weil Severus aufgesprungen war und sich bedrohlich über ihr auftürmte. Plötzlich schoss er nach vorn und ergriff mit beiden Händen die Rückenlehne der Couch, auf welcher Hermine saß, so dass er nahe an ihrem Gesicht sagen konnte: „Hüten Sie Ihre Zunge und wagen Sie es nicht noch einmal, mich in der Anwesenheit anderer lächerlich zu machen.“
Hermine blieb, sofern es ging, ruhig und konterte: „Ich mache Sie nicht lächerlich und außerdem ist es ja nur Harry, der noch hier ist.“ Er reagierte nicht, sondern hielt sich weiterhin so dich bei ihr auf und starrte sie an. Weil er sowieso schon wütend war, riss sie sich zusammen und sagte völlig unverhofft mit flüsternder Stimme: „Ihre Augen sind seit mehreren Wochen braun, Severus. Immer, wenn Harry oder ich in Ihrer Nähe sind, verändern sie ihre Farbe!“
Minimal riss Severus wegen dieser Erkenntnis die Augen auf und Hermine bemerkte, dass er verwirrt schien. Bevor sie jedoch irgendetwas fragen konnte, richtete er sich wieder auf, aber er schaute sie weiterhin verdutzt an. Wie er auf diese Information reagieren sollte, war ihm ein Rätsel. Er war gleichermaßen irritiert und entsetzt.
Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete Harry seinen Kollegen, der von Hermines Worten wie vom Blitz getroffen schien. Mutig fragte er: „Severus? Warum ist das so?“
Severus wandte seinen Blick von Hermine ab und schaute zu ihm. Harry war sich sicher, dass er Severus’ jetzige Mimik schon einmal gesehen hatte, nämlich an dem Tag, an dem die Presse Hogwarts besucht hatte; an dem Tag, an dem Severus seine rätselhafte Anspielung gemacht hatte.
Zu Boden blickend verweilte Severus ruhig auf dem Fleck und er schien sehr angestrengt nachzudenken, bevor er mit leiser Stimme sagte: „Ich weiß nicht, was es zu bedeuten hat.“
„Was ist damals passiert?“, wollte Hermine wissen, doch sie hatte wieder einmal den falschen Moment erwischt, denn Severus war nicht bereit zu antworten.
Harry versuchte es noch einmal und sagte, an die Worte seines Kollegen denkend: „Sie sagten einmal, dass jedes Gefühl vor zwanzig Jahren für immer begraben worden war.“ Severus blickte verschreckt auf, denn er war erschrocken darüber, dass Harry sich diese Aussage so gut gemerkt hatte. Trotzdem oder gerade deshalb schien Severus jedoch nicht willig zu antworten, so dass Harry in seinen Erinnerungen wühlte und anfügte: „Und irgendjemand hätte gesagt, dass alles für immer verloren wäre.“ Harry stand von der Couch auf und blickte Severus in die Augen, bevor er wissen wollte: „War es Albus? Hat der das damals gesagt?“
Kaum vernehmlich hörten Harry und Hermine die vertraute Stimme gedankenverloren antworten: „Es gab keinen anderen Weg.“ Es war zu erahnen, dass Severus mit sich selbst gesprochen hatte, denn wieder blickte er zu Boden in schien sich von Erinnerungen einnehmen zu lassen.
Nicht geschmeidig wie sonst, sondern schwunglos, als würde er ein enormes Gewicht hinter sich herziehen, ging Severus zur Tür hinüber, doch Hermine hielt ihn auf, indem sie sagte: „Severus, warten Sie. Ist alles in Ordnung? Soll ich vielleicht mitkommen?“
Severus drehte sich zu den beiden um. Er blickte Hermine und dann Harry an, bevor er mit noch immer unsicherer Stimme sagte: „Nicht notwendig. Wir sehen uns morgen.“
Morgen würde er Harry wie üblich in der großen Halle beim Essen sehen, vielleicht auch mal während der Pausen, wenn sie ein Auge auf die Schüler werfen würden und Hermine würde er antreffen, wenn er nach seinem Unterricht in sein Büro gehen würde. Mit einem leisen „Bis Morgen“ verabschiedete sich Severus, bevor er Harrys Wohnzimmer verließ.
Harry und Hermine blickten sich eine Weile an, bevor sie sich wieder setzten und jeder für sich über Severus nachdachte und über das, was ihm vor zwanzig Jahren widerfahren sein konnte.
„Hermine?“, sagte Harry, damit sie ihn anschauen würde. Sie hob jedoch nicht nur ihren Kopf, sondern veränderte ihre Sitzposition, so dass sie ihm zugewandt neben ihm saß. Harry sagte: „Ich glaube, du könntest mit deiner Theorie Recht haben. Es muss ein Fluch oder ein Trank gewesen sein, der ihn so gemacht hat.“
Sie nickte zaghaft und fügte hinzu: „Ich denke aber auch, ich liege damit richtig, dass Albus davon weiß.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass er davon wusste oder es sogar unterstütz hatte, Hermine. Warum Albus?“, wollte Harry wissen.
„Gerade Albus, Harry!“, antwortete sie ihm. Sie holte einmal tief Luft, bevor sie flüstern anhängte: „Wenn nötig geht Albus über Leichen, auch wenn es nur seine eigene ist.“
Während seines Wegs in die Kerker gewann Severus wieder an Beweglichkeit. Je weiter er sich von Harry und Hermine entfernte, desto klarer wurde sein Kopf. Der Abstand zu beiden ließ ihn wieder zu seinem vertrauten Ich werden und er fragte sich, warum es jetzt nicht mehr nur Harry war, der dafür sorgen konnte, dass es ihm wie aus heiterem Himmel schlecht ging.
In seinem Schlafzimmer angelangt griff er sich zwei Bücher aus einem mit drei Zaubern geschützten Schrank, mit denen er sich in sein Büro begab. Im Büro selbst legte er beide Bücher auf sein Pult und er begann in der neu aufgeflammten Hoffnung in ihnen zu blättern, doch eine Lösung finden zu können oder aber die Bestätigung dafür, dass es keine geben würde.
Es blieb nicht bei den beiden Büchern, denn er musste andere zu Rate ziehen, so dass er sein Pult verließ, um sich des Platzes wegen auf einem der größeren Tische im Labor auszubreiten. Fünf aufgeschlagene Bücher lagen für seine Recherche bereit und immer wieder sprang er zwischen ihnen hin und her, um Verknüpfungen zu finden, wenn es denn welche gegen sollte. Acht Bücher, zwei davon über dunkelmagische Vorgänge, waren es bereits geworden, als ihn um drei Uhr nachts das Verlangen nach einer Tasse Kaffee überkam, die er bei einem müden Hauself bestellte. Um halb fünf in der Früh hatte der gleiche Hauself, nur diesmal mit einem grimmigen Gesichtsausdruck, dem Professor eine Kanne mit eineinhalb Litern frisch gebrühten Kaffees gebracht, während Severus zwischen elf Büchern hin und her wechselte und sich immer wieder Notizen machte.
Morgens um halb acht legte er die Feder beiseite und sagte zu sich selbst mit entmutigter Stimme: „Es ist zwecklos.“ Es war zwecklos, denn den gleichen Eifer hatte er damals schon an den Tag gelegt. Er hatte die gleichen Bücher konsultiert, die gleichen Gedankengänge gehabt, sich die gleichen hoffnungsvollen Notizen gemacht, nur um am Ende festzustellen, dass er so weiterleben musste wie bisher, denn es gab für seine Situation keinen Ausweg.
Durch den nächtlichen Kaffee machte er sich mit genügend Antrieb daran, sein Badezimmer aufzusuchen, um wie üblich zu duschen und sein Haar mit dem schützenden Balsam zu benetzen, denn gleich nach dem Frühstück würde er die Erstklässler unterrichten: Slytherin und Gryffindor. Da benötigte er jeden Schutz, den man sich nur ausdenken konnte.
Die Unordnung in seinem Labor längst vergessen stürzte sich Severus ins Tagesgeschehen, welches mit dem vertrauten Frühstück neben Harry und Hermine in der großen Halle beginnen würde.
Seine letzte Unterrichtsstunde des Tages sollte um 13 Uhr beginnen. Überpünktlich hatte Severus den Klassenraum erreicht und innerlich stöhnte er, denn die jetzigen Schüler bestanden aus den Siebtklässlern; wieder Slytherin und Gryffindor. Alle Schüler hatten sich bereits vor ihm im Klassenraum versammelt, so dass er gleich mit dem Unterricht beginnen konnte, doch bevor er den heutigen Stoff ansprechen konnte, trat Miss Weasley an sein Pult heran. Gerade wollte er seinen Mund öffnen, um Punkte abzuziehen, da hielt sie ihm ein Stück Pergament vor die Nase, welches er entgegennahm, entfaltete und in Gedanken las.
„Lieber Severus,
bitte vergiss nicht unsere Verabredung heute um 15 Uhr in meinem Büro.
Albus“
Diesmal stöhnte Severus hörbar, denn vergessen hatte er den Termin zwar nicht, den Albus ihm nach dem Vorfall an Halloween gegeben hatte, doch er hatte gehofft, dass der alte Mann ihn vergessen hätte.
„Danke, Miss Weasley. Setzen Sie sich“, sagte Severus, bevor er noch vor 13 Uhr mit dem Unterricht begann.
Um Punkt ein Uhr stand Draco ohne Schuluniform bekleidet vor Dumbledores Büro, doch er musste nicht einmal die Hand heben, um zu klopfen, denn der Direktor öffnete ihm bereits.
„Mr. Malfoy, bitte treten Sie doch ein“, grüßte der Direktor freundlich.
Draco trat ein und bevor er sich selbst bremsen konnte, schaffte eine ehrliche Entschuldigen den Weg über seine Lippen, denn er sagte: „Es tut mir Leid, Sir, dass ich für Unruhe auf dem Fest gesorgt habe.“
Albus legte eine Hand auf Dracos Schulter und führte ihn zu einem kleinen Tisch hinüber, auf welchem bereits ein Teeservice und Gebäck zu finden war, während er sagte: „Es war ein Glück, Mr. Malfoy, dass keiner der anwesenden Lehrer überschnell reagiert hat. Das hätte für Sie böse enden können, nicht wahr?“ Draco nickte, doch nachdem ihm ein Platz angeboten worden war, fügte der Direktor amüsiert klingend hinzu: „Doch es ist ja nichts geschehen und die Schüler haben den kleinen Schrecken schnell überwunden. Es war immerhin Halloween und an so einem Tag muss man mit Streichen rechnen.“
Für Draco klang es so, als hätte der Dumbledore ihm diesen üblen Scherz längst vergeben und er wusste nicht, was er noch zu sagen hatte. Schon einmal hatte Draco hier gesessen, weil der Direktor mit ihm hatte reden wollen, doch damals hatte er kein Wort herausbekommen und das Gespräch war vorzeitig beendet worden, weil er ein Einschreibekäuzchen von Susan erhalten hatte. Während er an Susan dachte, formte sich ein zufriedenes Lächeln auf seinen Lippen.
Der Direktor schenkte ihm von einem fruchtig duftenden, bernsteinfarbenen Tee ein, bevor er fragte: „Hätten Sie lieber Schokoladenkuchen oder etwas von der Zitronenschnitte?“
„Zitronenschnitte“, war die knappe Antwort und während der ältere Mann ihm ein Stückchen auftat, griff Draco zu seiner Teetasse und atmete den aromatischen Duft ein. Ganz plötzlich hörte er in seinem inneren Ohr eine der Lektionen seines Patenonkels, der einmal gesagt hatte „Trinke niemals etwas, von dem du nicht hundertprozentig sicher bist, dass es dir keinen Schaden zufügen wird!“.
Da Draco keinen Schluck genommen hatte, versicherte ihm der Direktor: „Dem Tee ist nichts beigemischt, Mr. Malfoy. Kein Veritaserum und auch kein Beruhigungsmittel.“ Der ältere Zauberer blickte Draco an und sagte mit funkelnden Augen: „Es ist nicht einmal Zucker drin!“ Draco musste lächeln und nahm gleich darauf einen Schluck Tee.
Während Draco von seiner Zitronenschnitte naschte, sagte Dumbledore: „Ihre Verkleidung als Todesser haben Sie gewählt, weil Sie der Ansicht sind, jeder Schüler – womöglich sogar einige Angehörige des Lehrpersonals – würde in Ihnen nichts anderes sehen?“
Draco brauchte nicht lange in sich zu gehen, sondern antwortete sofort: „Ja, Sir. Na ja, vielleicht nicht alle Schüler, aber viele.“
Der Direktor blickte ihn an und fragte sehr ernst: „Sehen Sie selbst sich auch so, Mr. Malfoy?“
Tief einatmend dachte Draco nach und kam zu einem Schluss, den er mitteilen wollte: „Wie sonst sollte ich mich sehen, wenn ich jeden Tag daran erinnert werde? Ich verstehe manchmal nicht, wie andere Menschen darüber hinwegsehen können.“
Er dachte in diesem Moment nicht nur an Susan, sondern sogar an Harry und all die Leute, die ihm beispielsweise auf Hermines Geburttagsfeier nicht ablehnend gegenübergetreten waren, obwohl sie von ihm und seinem Vater wussten.
„Das wird damit zu tun haben, Mr. Malfoy, dass die meisten wissen, weil sie es vielleicht sogar selbst einmal erlebt haben, dass Menschen sich ändern können. Jüngeren Menschen hingegen fehlt es in dieser Hinsicht häufig noch an Erfahrungswerten, aber bei Weitem nicht immer. Ich weiß zum Beispiel, dass ein Schüler Ihres Hauses keine Berührungsängste hat, nur weil Sie das dunkle Mal tragen und zwei Schülern aus Hufflepuff ist dies ebenfalls schnurz“, erklärte Albus.
Wegen des benutzten Wortes musste Draco wieder lächeln, denn es erinnerte ihn an die sehr alberne Rede, die der Direktor zu seiner Einschulung gehalten hatte.
„Während einer Lehrerversammlung habe ich von Harry von einem Vorfall während einer Unterrichtsstunde erfahren, in welcher Mr. Smith sie bloßgestellt hatte“, sagte der Direktor und Draco nickte lediglich, während er sich daran erinnerte, wie Shaun gesagt hatte, als Todesser müsste er ja am besten wissen, wie man einen Avada oder Cruciatus anwenden könnte. „Mr. Smith, müssen Sie wissen, hat genauso viel Leid während des Krieges erfahren müssen wie viele andere auch. Jeder Schüler und jeder Lehrer, selbst Hausmeister Filch, hat Verluste erleiden müssen und jeder versucht auf seine eigene Art und Weise mit der Trauer umzugehen. Für Mr. Smith scheint die Bewältigung seines Seelenschmerzes eine unüberwindbare Hürde darzustellen, denn er hatte zuvor in seinem Leben nie einen lieben Menschen verloren.“ Bevor Draco fragen konnte, um wen Shaun trauern würde, stellte Dumbledore klar: „Er war für die Sicherheit seiner beiden jüngeren Schwestern verantwortlich. Die ältere von beiden wäre in diesem Jahr eingeschult worden.“
Draco musste kräftig schlucken und er fragte sich, warum ihn das Schicksal dieses nervigen Gryffindors überhaupt so nahe ging. Vielleicht berührte es ihn, weil Draco sich mittlerweile in andere Menschen hineinversetzen konnte. Er selbst hatte keine Todesfälle zu betrauern, konnte sich aber vorstellen, wie schrecklich dies sein müsste.
„Und Sie, Mr. Malfoy, haben auch mit Verlusten zu kämpfen“, sagte der Direktor, bevor er noch etwas Tee nachschenkte.
Den Kuchenteller auf den Tisch abstellend sagte Draco: „Ich habe niemanden, um den ich trauern muss. Nicht einmal um meine Tante habe ich weinen müssen.“
„Ich sagte ja auch, dass sie mit ’Verlusten’ zu kämpfen haben und nicht, dass Sie jemanden betrauern“, stellte Dumbledore richtig. Da sein Gast nicht zu verstehen schien, erklärte er: „Ihre Verluste bewegen sich in anderen Dimensionen, Mr. Malfoy. Zum einen sind das der Verlust Ihres Familienlebens und der Ihres Ansehens. Möglicherweise auch der Verlust von Freundschaften und der Ihrer Selbstwertschätzung. Severus hatte mir an dem Abend, an welchem Voldemort“, Draco verzog das Gesicht, „besiegt worden war, von sich und Ihnen erzählt. Sie hatten sich aufgegeben, Mr. Malfoy, und ich darf heute beruhigend feststellen, dass Sie zumindest die Freude am Leben wieder gefunden haben.“
Draco war bewegt, weil die ganzen Erinnerungen zurückgekommen waren. Erinnerungen daran, wie er während der Zeit, in welcher er mit Severus vor Todessern und Auroren fliehen musste, ständig weinend aufgewacht war, weil er von seinem Vater oder seiner Mutter geträumt hatte. Erinnerungen an die Angst, jeden Tag um das eigene und das Leben seines Patenonkels fürchten zu müssen, der ihn unter seine Fittiche genommen hatte. Gedankenfetzen an das Verhör im Ministerium drängten sich in den Vordergrund; Bilder von Susan machten sich breit sowie Erinnerungen daran, wie er mit Harrys Hilfe seine Mutter gefunden hatte.
„Sie haben den richtigen Weg eingeschlagen, Mr. Malfoy, und Ihnen bleibt die Möglichkeit, Ihre Verluste zu ersetzen“, sagte der Direktor, bevor er ihm wortlos ein Stück Schokoladenkuchen auf den Teller legte, der ihn plötzlich an den Moment im Krankenflügel erinnerte, als ein unsicherer Harry mit einem Kuchentablett in der Hand eingetreten war, um Kontakt zu knüpfen. Ohne es zu bemerken, hatte sich ein zufriedener Ausdruck auf seinem Gesicht niedergelassen.
„Was ich fragen wollte, Mr. Malfoy: Wie geht es Miss Bones eigentlich?“, wollte der Direktor wissen und da wurde Draco klar, dass er mit Susan bereits einen Verlust wieder hatte ausgleichen können, nämlich das ihm so wichtige und verloren geglaubte Familienleben.
„Es geht ihr gut, Sir, danke der Nachfrage“, antwortete Draco und erst an seiner eigenen Stimme erkannte er, wie sehr ihn dieses Gespräch mit dem Direktor berührte. Er wollte mehr erzählen; sich zumindest einmal öffnen und das verpatzte erste Gespräch, welches er damals schon mit Dumbledore hätte führen sollen, heute nachholen, so dass er sagte: „Mit der Schwangerschaft läuft auch alles bestens. Ich hatte schon befürchtet, dass meine Erbanlagen Ärger machen könnten oder die schlechten Tränke, die sie genommen hatte, aber es läuft alles prima.“
„Das freut mich, Mr. Malfoy. Wie geht es eigentlich mit Ihrer eigenen Behandlung voran?“, fragte der Direktor nebenbei.
Woher Dumbledore es auch wissen mochte, er hatte seine Erbanlagen eben selbst erwähnt, weshalb er antwortete: „Ich muss nur noch zweimal ins Mungos und dann dürfte die Gefahr gebannt sein, später einmal zu erblinden oder eine Sonnenallergie zu bekommen.“ Ohne dass er aufgefordert werden musste, fügte Draco hinzu: „Meine Mutter muss die Behandlung länger über sich ergehen lassen, aber sie muss nur zweimal im Monat ins Krankenhaus.“
„Ja“, sagte Dumbledore, „das hat sie mir selbst erzählt.“ Der Direktor blickte ihn an und sagte: „Ihre Mutter benötigt besonders jetzt viel Unterstützung, aber nicht nur von Ihnen. Ich bin froh, dass Ihre Tante zu den Menschen gehört, die aufgrund ihrer Erfahrungswerte weiß, dass Menschen sich ändern können. Das Geschenk eines Neuanfangs kann leider nicht jedem gemacht werden.“
Dass das fröhliche Zwinkern in den Augen des Direktors während des letzten Satzes plötzlich verschwunden war, ließ Draco stutzig werden, denn er selbst konnte damit nicht gemeint sein. Warum sollte jemandem die Chance auf einen Neuanfang verwährt bleiben? Wie vom Blitz getroffen gab sein Slytherin-Verstand die einzig mögliche Antwort preis, denn es konnte sich nur um Severus handeln.
Wie gebannt starrte Draco dem Direktor in die Augen, doch er wagte nicht zu fragen, was es mit seinem Patenonkel auf sich hatte. Dumbledore hingegen schien seinen brennenden Wissensdurst zu vernehmen, denn er erklärte: „Wenn die innigsten Wünsche und Ziele, die im tiefsten Innern schlummern, für einen selbst keine Bedeutung mehr haben, was hat das Leben dann noch für einen Sinn?“
Wieder war Draco der Meinung, dass Dumbledore über Severus sprechen musste, doch die Worte wollten einfach keinen Sinn ergeben. Aus eigener Erfahrung wusste Draco, dass Melancholie einem die Hoffung rauben konnte und er wusste ebenfalls, dass – wie er selbst – auch Severus zumindest während ihrer Flucht sehr niedergeschlagen gewesen war. Manchmal, so hatte Draco geglaubt, hatte sich an Severus’ Zustand nichts geändert, doch sein Patenonkel war immer schwer zu durchschauen gewesen.
„Mr. Malfoy“, sagte Dumbledore ablenkend. „Es wird Sie nicht überraschen, dass ich Sie heute auch dazu eingeladen habe, um über Ihre Entscheidung zu sprechen, die Schule nicht beenden zu wollen.“
Draco nickte und sagte: „Ja Sir, das habe ich mir gedacht. Ich wollte Sie fragen, ob es eine Möglichkeit geben würde, die Prüfungen außer der Reihe abzulegen, aber andererseits…“
Er hielt inne und dachte daran, wie Susan gesagt hatte, dass alle Schüler ihn in Todesserrobe in Erinnerung behalten würden, sollte er sich am schulischen Alltag nicht mehr beteiligen.
„Andererseits?“, hakte der Direktor nach.
„…andererseits möchte ich nicht, dass mich jeder mit einem Todesser in Verbindung bringt und das werden sie, wenn auch nur unbewusst, weil es das Letzte war, was sie von mir gesehen haben“, antwortete Draco.
„Nun, Mr. Malfoy, es ist Ihre Entscheidung. Ich persönlich würde es sehr begrüßen, Sie weiterhin einen Schüler von Hogwarts nennen zu dürfen“, sagte Dumbledore freundlich. „Wenn Sie sich die Einschulungs-Zeremonie ins Gedächtnis zurückrufen, dann könnten Sie Hinweise darauf erhalten, wie Sie Ihre Zeit mit den Schülern friedvoll gestalten könnten.“
Der Sprechende Hut, der oben auf einem der Schränke lag, fragte enthusiastisch: „Soll ich es noch einmal singen? Nur, falls Sie sich nicht mehr daran erinnern können!“
„Dein Angebot ist sehr freundlich“, sagte der Direktor, „aber es wird nicht notwendig sein.“ Er wandte sich wieder Draco zu und sagte: „Ich denke, Mr. Malfoy weiß genau, was ich damit sagen wollte.“
Nachdem Draco auch den Schokoladenkuchen verputzt hatte und er sich richtig satt fühlte, fragte der Direktor: „Möchten Sie darüber nachdenken oder haben Sie bereits eine Entscheidung getroffen?“
Ermutigt antwortete Draco: „Ja, ich möchte die Schule beenden.“
„Das ist wunderbar, Mr. Malfoy! Wenn Sie Fragen haben sollten oder etwas Sie bedrückt, dann sind Sie jederzeit willkommen“, versprach Albus, bevor er ihm die Hand reichte und ihn zur Tür begleitete. „Für den Unterricht, dem Sie heute ferngeblieben sind, sind Sie natürlich entschuldigt. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag“, sagte Dumbledore, bevor er die Tür zu seinem Büro von innen schloss.
Unten an dem steinernen Wasserspeier verweilte Draco einen Moment, um sich noch ganz frisch die Worte der Unterhaltung ins Gedächtnis zurückzurufen. Natürlich verstand Draco, dass er seine Verluste ersetzen konnte und damit, dass er mit Susan eine Familie gründete, war ein erster Schritt bereits getan. Sein Ansehen könnte er nur ändern, wenn er sich anderen gegenüber freundlich und zuvorkommend verhalten würde, was auch ganz mit dem Inhalt des Liedes zu vereinbaren war, welches der Hut zur Einschulung gesungen hatte. Was ihm jedoch Kopfzerbrechen bereitete, war die Aussage, er hätte Freundschaften verloren, denn Draco war der Meinung, niemals eine echte Freundschaft besessen zu haben. Susan konnte nicht gemeint sein, denn die zählte Draco jetzt bereits zu seiner Familie. Dann erinnerte er sich, wie schon während des Gesprächs mit dem Direktor, an den Abend, an welchem er mit Harry zusammen das unter dem Fidelius-Zauber liegende Versteck gefunden hatte. Seine Mutter hatte Harry als den Freund ihres Sohnes betrachtet und das tat sie auch heute noch.
„Mr. Malfoy, was haben Sie hier zu suchen?“, fragte eine wohlbekannte, schmierige Stimme.
Seit Halloween vor drei Tagen hatte Draco nicht mehr mit seinem Patenonkel gesprochen, doch er wusste, dass er ihn in der Öffentlichkeit nicht persönlich anreden durfte, weswegen er erwiderte: „Guten Tag, Professor Snape. Ich komme gerade von einer Unterhaltung mit dem Direktor.“
„Muss ich Ihrer verwirrten Mimik entnehmen, dass Sie der Unterredung nicht ganz folgen konnten?“, fragte Severus spottend.
Draco hob arrogant eine Augenbraue und erwiderte: „Im Gegenteil, Sir. Das Gespräch war sehr erleuchtend.“
Den Mund angewidert verzerrend fragte Severus: „Sind Sie hier weiterhin Schüler oder darf man damit rechnen, Sie nicht mehr zu Gesicht bekommen zu müssen.“
Die Worte verletzten Draco, doch er kannte seinen Patenonkel so gut, um zu wissen, dass der sich nur Luft machen wollte, weswegen er unberührt erklärte: „Es wird Sie hoffentlich freuen zu hören, dass ich weiterhin ein Schüler Ihres Hauses sein werde.“
Severus machte ein Gesicht, welches zeigen sollte, dass er von dieser Information gar nicht angetan war, doch er sagte lediglich: „Dann gehen Sie schon und suchen Sie Klassenkameraden, die Ihnen den Stoff und die Aufgaben des heutiges Tages näher bringen können. Wir möchten doch nicht, dass Ihnen wegen fehlender Hausaufgaben Punkteabzug droht.“
„Ja, Sir“, sagte Draco bevor er ging und Severus allein vor dem Wasserspeier zurückließ.
Seufzend, weil Severus jetzt überhaupt keine Lust verspürte, mit Albus bei Kaffee und Kuchen zusammen zu sitzen und miteinander zu reden, brummte er genervt das Passwort: „Türkischer Honig.“ Der Wasserspeier ließ ihn gewähren und oben, wie üblich, öffnete Albus die Tür zu seinem Büro, bevor Severus klopfen konnte.
„Tritt ein, mein Freund“, sagte Albus mit fröhlich funkelnden Augen.
„Ich bitte dich, es heute kurz zu machen“, brachte Severus es auf den Punkt.
„Warum das?“, fragte Albus belustigt. „Noch etwas Wichtiges vor?“
„Ich habe immer etwas Wichtiges zu erledigen und besonders an den Tagen, an denen du mit mir reden möchtest“, giftete Severus, doch all seine vorgetäuschte Ablehnung traf bei Albus auf taube Ohren.
„Du siehst müde aus, mein Guter. Wie wäre es mit einer heißen Tasse schwarzen Kaffees?“, fragte Albus und er schenkte bereits eine Tasse ein, die Severus dankend entgegennahm. Die ganze Nacht über hatte er gelesen, nachgedacht und sich Dinge notiert und Kaffee war das Einzige, das ihn jetzt noch wach halten würde. „Du magst doch Nougat?“, suggerierte Albus, während er ihm bereits ein Stück Kuchen auf den Teller gab.
„Albus, warum bin ich heute hier?“, wollte Severus wissen.
Der Direktor setzte sich Severus gegenüber und schenkte sich selbst von dem bernsteinfarbenen Tee ein, während er sagte: „Zu allererst eine Schelte von mir, Severus. Körperliche Züchtigung, auch wenn es sich dabei um so etwas wie das Ziehen am Ohr handelt, dulde ich nicht.“
Severus verzog den Mund, sagte jedoch nichts, denn er war sich seiner Schuld bewusst. Er hatte Draco vor versammelter Schülerschaft am Ohr gepackt und vor die Flügeltür manövriert.
„Bedauerlicherweise nicht“, murmelte Severus.
„Na na, Severus. Kein Schüler hat so eine Behandlung verdient, auch nicht, wenn er so, wie Mr. Malfoy, über die Stränge…“
Severus unterbrach ihn und zeterte: „Mr. Malfoy scheint sich wohl nicht im Klaren darüber gewesen zu sein, dass sein Auftritt als Todesser ihn auch das Leben hätte kosten können!“
„Es ist ja alles noch einmal gut gegangen. Mr. Malfoy bereut seinen Scherz“, sagte Albus beschwichtigend, doch das trieb Severus eher auf die Palme.
„Ah ja, mit Scherzen jedweder Art bist du ja schon immer sehr nachsichtig umgegangen“, warf Severus ihm in kühlem Tonfall vor.
Albus schien daraufhin für einen Moment gekränkt zu sein, doch er schüttelte dieses Gefühl von sich ab und fragte nebenher: „Möchtest du den Kuchen nicht probieren?“
„Ich bin nicht hier, um mich an Nougat-Torten gütlich zu tun. War das alles, was du mir zu sagen hattest? Ich bin nicht begriffsstutzig und habe sehr wohl verstanden, dass ich Mr. Malfoy nicht angemessen behandelt habe und ich verspreche, dass so etwas nicht wieder vorkommen wird! Darf ich gehen?“, fragte Severus schmierig.
„Das Gespräch mit Mr. Malfoy war sehr erleichternd und aufschlussreich“, sagte Albus, ohne auf Severus Wunsch einzugehen, das Gespräch zu beenden.
„Erleichternd und aufschlussreich für dich oder für ihn?“
„Ich denke, für uns beide, aber für ihn hat es wesentlich mehr Bedeutung. Wie geht es dir so, Severus?“, wollte der Direktor wissen.
„Wie soll es mir schon gehen? Tagtäglich unterrichte ich Dummköpfe und bringe ihnen bei, was man zu beachten hat, damit ein Kessel nicht zum Schmelzen gebracht wird, nur um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass mir niemand zugehört zu haben scheint“, zeterte Severus.
Albus seufzte, bevor er sagte: „Ja, ich habe von dem heutigen Vorfall mit der Erstklässerin gehört. Sie ist elf Jahre alt, Severus. Sei ein wenig duldsam.“
„Ich habe mit elf Jahren keine Kessel zum Schmelzen gebracht!“
„Du bist ja auch mit einem äußerst bemerkenswerten Scharfsinn ausgestattet, mein Guter. Ich würde sogar behaupten, dass dir noch nie ein Kessel unter den Händen weggeschmolzen ist“, sagte Albus amüsiert, woraufhin Severus jedoch nichts erwiderte. „Dein Tag besteht ja nicht nur darin, den Kindern etwas beizubringen, Severus. Hast du momentan irgendwelche Projekte? Ich habe erfahren, dass Mr. Worple und Mr. Sanguini neulich…“
Severus hielt eine Hand in die Höhe und forderte den Direktor auf, den Satz nicht zu beenden, so dass er einwerfen konnte: „Das war lediglich ein Besuch rein freundschaftlicher Natur.“
Natürlich hatte Severus die Ahnung, dass Albus von seinen nicht ganz legalen Experimenten wusste, doch man musste es nicht aussprechen, schon gar nicht vor den ganzen Gemälden, die hier hingen.
„’Freundschaftlicher Natur’, so so…“, wiederholte Albus, während seine Augen einmal aufblitzten. „Wie sieht es mit anderen einträchtigen Verbundenheiten aus?“
Severus schwieg.
„Mir ist nicht entgangen, dass Harry und du halbwegs erträglich miteinander auskommt oder irre ich da?“, fragte Albus mit erhobenen Augenbrauen.
„Nein, du irrst nicht! Wie auch? Du hast doch immer Recht! Zumindest sehr häufig, wenn ich an deine Fehleinschätzung bezüglich Harry denke und die fatalen Eigenschaften, die du ihm zusprechen wolltest, aber das hat sich ja glücklicherweise geklärt, nicht wahr?“, sagte Severus mit säuselnder Stimme.
Albus seufzte und versuchte zu erklären: „Ich habe niemals von mir behauptet, die Vollkommenheit innezuhaben, ohne Fehler zu sein, Severus. Das beweist nur, dass ich menschlich bin.“
Severus starrte in die Schwärze seine Kaffeetasse, als er murmelte: „Du hattest auch einmal gesagt, es wäre für immer verloren.“
Genauso leise antwortete Albus: „Ich glaubte das, Severus, denn ich war nie und werde niemals so mächtig sein, Verlorenes zurückbringen zu können.“
Das Geständnis des älteren Zauberers machte Severus einerseits wütend, doch andererseits hatte Albus suggeriert, dass es möglicherweise jemanden geben würde, der mächtiger war und demzufolge dazu imstande sein konnte, etwas zu vollbringen, wozu Albus nicht in der Lage war und das konnte nur einer sein. Severus schloss die Augen und bemerkte erst an einem klingelnden Geräusch des Löffels, dass seine Hände, die sich an die heiße Tasse klammerten, zu zittern begonnen hatten.
Während Albus und Severus noch über alles Mögliche sprachen, wartete Hermine in Severus’ Büro und als es schon Viertel nach drei geworden war, ging sie hinaus vor die Tür und traf zufällig auf Draco. Der Slytherin blieb stehen und grüßte höflich: „Hallo Hermine.“
„Hallo Draco“, erwiderte sie als Gruß. „Du weißt nicht zufällig, wo…“
„Er hat ein Gespräch mit dem Direktor; habe ihn eben dort getroffen. Bei mir hat es knapp zwei Stunden gedauert. Offensichtlich hat er dir nicht Bescheid gegeben“, stellte er fest.
Hermine schüttelte den Kopf und stimmte ihm zu: „Nein, hat er nicht. Ich werde dann einfach mal mit ein paar Kleinigkeiten anfangen.“
„Was…“, sagte er, so dass sie sich ihm nochmals zuwandte. Als sie ihn anblickte, fragte er: „Was genau macht ihr beide eigentlich so? Ich kann mir nichts drunter vorstellen außer dem, was man auch im Zaubertränkeunterricht macht. Habt ihr eine Liste vom Ministerium, die ihr abarbeiten müsst, damit du deinen Meister machen kannst?“
Sie lachte und schüttelte den Kopf, bevor sie erklärte: „Nein, eine Liste gibt es nicht. Ich muss bestimmte Kenntnisse erlangen und mir auch einige Fertigkeiten aneignen. Nach den drei Jahren wird Severus eine Art Bericht über das abgeben, was er mir alles beigebracht hat. Damit sind aber nicht unbedingt Tränke gemeint, sondern besonders die Fähigkeit, alle möglichen Zutaten auf verschiedenste Weisen verarbeitet zu haben.“ Sie lächelte, bevor sie als Beispiel nannte: „Mit Dracheneierschalen gearbeitet zu haben wird richtig Eindruck schinden, meinte er.“
„Forscht ihr auch ein bisschen oder braut ihr nur Altbewährtes?“, wollte Draco noch wissen.
„Oh ja, wir forschen auch!“, sagte sie, doch als Beispiel wollte sie nicht von Severus’ Trank sprechen, also nannte sie ihren. „Ich habe einen Trank entwickelt, der die Magie einer Person sichtbar machen kann!“ Weil Draco ganz große Augen machte, fragte sie scherzend: „Willst du meine Testperson sein?“
Er kniff die Augen zusammen und fragte weniger ernst: „Was springt dabei für mich raus?“
Nur kurz musste Hermine überlegen, bevor sie sagte: „In meiner Abschlussarbeit über den Trank werde ich dich in der Spalte mit der Überschrift ’Testperson 3’ erwähnen, gleich unter Harry.“
Ein Mundwinkel zog sich nach oben, so dass Draco schief grinste, bevor er antwortete: „Gleich unter Harry also?“ Er spitzte seine Lippen, bevor er unverhofft sagte: „Okay, ich bin deine Testperson.“
Jetzt war es Hermine, die beide Augen weit aufriss und sie fragte: „Das meinst du jetzt ernst?“
„Natürlich! Wer kann da schon widerstehen, gleich nach Harry Potter genannt zu werden?“, sagte er grinsend, während er bereits einen Schritt auf sie zuging.
Sie öffnete die Tür zu Severus’ Büro, damit Draco eintreten konnte und sagte, während er hineinging: „Na gut, wenn du möchtest. Du musst nicht viel machen: Nur einen Schluck von dem Trank nehmen und dich von mir beobachten lassen.“
Drinnen blickte er sich um, bevor er Hermine anschaute und sagte: „Ich glaube, ich fühle mich dieser Aufgabe gewachsen.“
Hermine war ganz aufgeregt, tatsächlich und auch noch durch Zufall eine Testperson für ihren Trank gefunden zu haben, so dass sie aufgebracht schilderte: „Also, ein Trank – mein ursprünglicher – der macht die Farben nur für wenige Minuten sichtbar, aber der, den ich mit Severus verbessert habe, der zeigt die Farben ungefähr eine halbe Stunde lang.“
„Und welchen nehmen wir?“, fragte er nach.
„Kommt drauf an, wie viel Zeit du hast. Ich richte mich da völlig nach meiner Testperson“, erwiderte sie lächelnd.
„Nehmen wir den 30-Minuten-Trank. Severus wird sich sowieso nicht viel früher von Dumbledore losreißen können, also nutzen wir die Zeit“, sagte er gelangweilt klingend, doch sie hörte heraus, dass er gespannt auf das kleine Experiment war.
Hermine, dicht gefolgt von Draco, öffnete die Tür zum Labor und machte Licht, doch gleich darauf blieb sie wie angewurzelt stehen.
Das hier herrschende Chaos nahm Draco als selbstverständlich hin, weil er diesen Raum niemals zuvor gesehen hatte, und er sagte erstaunt: „Dass ihr euch hier überhaupt noch zurecht findet... Herrscht hier immer so eine Unordnung?“ Sie schluckte und konnte nichts erwidern, so dass Draco sie anblickte und fragte: „Hast du irgendwas?“
Langsam lief sie um den großen Tisch herum und betrachtete die aufgeschlagenen Bücher im Vorbeigehen und Draco machte es ihr gleich, nur dass er auch den Mut besaß, in einem Buch ab und an zu blättern, ohne jedoch die Stelle zu verlieren, an welcher das Buch aufgeschlagen war.
„Das“, sagte Hermine stutzend, „sah hier noch nie so aus. Das ist ungewöhnlich, Draco. Scheint fast so, als hätte er…“ Sie hielt inne, weil sie seine Notizen gefunden hatte und eines der Pergamente in die Hand nahm. Sie hatte nur einige seiner aus den Büchern abgeschriebenen Sätze gelesen, doch sie verstand, was es bedeutete, so dass sie sagte: „Sieht aus, als würde Severus etwas suchen.“
„Ja, sieht mir auch so aus“, sagte er, während er in die Nähe eines bestimmten Buches kam, welches ihn auf magische Weise anzuziehen schien, so dass er es in die Hand nehmen musste, um darin zu lesen. Hermine blickte auf, als sie ihn erschreckt einatmen hörte und sie sah noch, wie Draco das Buch auf den Tisch warf und sich die Hände am Umhang abwischte, als wären sie schmutzig.
„Das ist schwarze Magie!“, stellte er entsetzt fest. „Das ist…“, er wollte sich nicht wiederholen und außerdem war seine Kehle wie zugeschnürt, so dass der Rest des Satzes ihm nicht noch einmal über die Lippen kam. „Ich bin weg!“, sagte der Blonde plötzlich entschlossen und stürmte zur Tür hinaus.
„Draco warte, was ist aus unserem Experi…“
Er fuhr ihr über den Mund und sagte mit blassem Gesicht und bebender Stimme: „Die Bücher dort sind schwarzmagisch! Damit will ich nichts zu tun haben. Ich bin weg hier!“ Schon war er aus dem Labor direkt auf den Flur gegangen und ließ Hermine mit den vielen aufgeschlagenen Büchern allein.
Noch immer hielt sie eines der Pergamente in der Hand, auf welchem Severus Notizen gemacht hatte. Ihr Weg führte sie zurück an die Stelle des Tisches, an der Severus sich Tintenfass, Feder und Pergamente zurechtgelegt hatte, um die Dinge, die er für wichtig erachtet hatte, festhalten zu können. Sie setzte sich auf seinen Platz und ging die Notizen von vorn durch. Seine winzige Handschrift ließ die übliche Ruhe vermissen, die sie von seinen sonstigen Arbeiten kannte, denn er hatte offensichtlich sehr zügig geschrieben oder er war sehr aufgewühlt gewesen – womöglich beides. Bestimmte Worte oder Satzteile waren umrandet oder unterstrichen. Die Nummerierungen der einzelnen Textstellen, die er abgeschrieben hatte, fanden sich manchmal an anderer Stelle wieder, so dass sie ahnte, er hätte mit den Markierungen womöglich seine Vermutung über eine mögliche Verbindung zueinander kennzeichnen wollen.
Von den zwölf Seiten Pergament wollte sie sich nicht verwirren lassen und so nahm sie das oberste in die Hand und widmete sich dem ersten Punkt. Buchtitel und Seitenzahl war notiert, so dass sie aus den ganzen aufgeschlagenen Büchern das entsprechende Buch heraussuchte, die Seiten aufschlug und nachlas. Er hatte Wort für Wort aus dem Buch kopiert. Es handelte sich um einen änderbaren Zauber, um verlorene Dinge wieder zu finden. Hinter seinem ersten Punkt stand in einem kleinen Kreis eine „32“ und so blätterte sie in den Pergamenten, bis sie den Punkt 32 fand, der wieder aus einem anderen Buch stammte.
Sie las laut: „Verloren Geglaubtes muss existent sein, um es mit einem der folgenden Zauberspruchkombinationen finden zu können.“ Sie blätterte zurück zu Punkt 1 und las: „Einen abhanden gekommenen Gegenstand kann man wieder erlangen, selbst wenn nur noch Überreste von ihm vorhanden sind.“ Hermine erkannte die Zusammenhänge und um alles besser verstehen zu können, wollte sie seine Notizen quer lesen, also sofort die Verweise berücksichtigen und nicht erst die Punkte chronologisch abarbeiten.
Was ihr während des Lesens auffiel, war, dass Severus Bücher aus verschiedensten Sparten zu Rate gezogen hatte. Zauberkunst, Kräuterkunde, Tränkebücher, historische Abhandlungen und, da hatte Draco Recht gehabt, schwarzmagische Bücher; zwei, um genau zu sein. Über einige lateinische Texte war sie weniger erfreut, doch auch diese las sie und übersetzte sie zeitgleich im Kopf, denn hätte sie erst einmal seine Notizen bis zum Ende durchgearbeitet, dann würde sie sicherlich wissen, nach was er so verzweifelt suchte, denn nur dann würde sie ihm helfen können.
Die beiden schwarzmagischen Bücher mied sie und sie las stattdessen nur die äußerst interessanten Auszüge aus ihnen, die Severus niedergeschrieben hatte. Laut seinen Notizen kam sie zu dem Schluss, dass er nicht nur etwas suchte, das er verloren glaubte, sondern es auch wieder zusammenfügen wollte, sobald er es gefunden haben sollte, doch was könnte das sein?
Die Ausmaße des Wissens, welches sich ihr hier offenbarte, waren kaum zu messen. Die Bibliothek von Hogwarts war zwar gut ausgestattet, doch Hermine bezweifelte, dass diese Art von Büchern in ihr zu finden wäre. Ihres Erachtens bewegten sich die meisten Bücher am Rande der dunklen Magie, wie jenes, welches Severus ihr einmal zu lesen gegeben hatte. „Nicht ganz so schwarzmagische Elixiere und Tinkturen – Zaubertränke im Zwielicht“ war der Titel des Buches gewesen, welches sie in einem unglaublichen Tempo verschlungen hatte. Manchmal vergaß sie seine Notizen und blätterte einfach in einem Buch, um sich einen Überblick über magische Möglichkeiten zu verschaffen, von denen sie bisher keinen blassen Schimmer gehabt hatte.
Mit einigen der Sprüche, über die sie gestoßen war, sollte es ihr sogar möglich sein, die Überreste von Severus’ altem Zauberstab herbeizuschaffen, selbst wenn es sich dabei nur noch um Asche handeln sollte, aber wer könnte mit Asche schon etwas anfangen? Buch für Buch nahm sie in die Hand, um Severus’ notierten Auszüge selbst nachzulesen und darüber hinaus noch etwas weiterzublättern.
Einige Sprüche konzentrierten sich darauf, verschollene Menschen aufspüren zu können, selbst wenn diese bereits das Zeitliche gesegnet haben sollten. Hermine fand im gleichen Zusammenhang auch tatsächlich einen Zauberspruch, der erklären würde, wie die Karte der Rumtreiber funktionieren könnte, die jede Person anzeigen konnte, die sich in Hogwarts aufhielt.
Die Stellen, die sich mit dem Wiederherstellen von zerstörten Gegenständen beschäftigten, schilderten alles andere als den bekannten „Reparo“, mit dem Hermine mehrmals schon Harrys Brille hatte reparieren können. Gegenstände, die zum Beispiel einem Feuer zum Opfer gefallen waren, konnten mit manchen Sprüchen in ihren tadellosen Zustand zurückversetzt werden und so etwas war mit einem Reparo nicht zu schaffen.
Die magischen Mittel und Wege, die sich ihr mit dem Lesen der Notizen und dem Studieren der Bücher auftaten, ließen ihr manchmal einen Schauer über den Rücken laufen und dann, ohne es bemerkt zu haben, hatte sie nach einem der schwarzmagischen Bücher gegriffen und sie versank in den finsteren, befremdlichen Worten einer längst erloschenen Philosophie, die ihren gescheiten Geist mit einem unsäglichen Feuer zu entzünden hofften. Hermines Gelehrsamkeit machte keinen Halt vor den dunklen Schriften, die an ihren Wissensdurst appellierten und aus diesem Grunde wurde sie erfolgreich und von ihr unerkannt in deren Bann gezogen. Die unheilvollen Buchseiten gewährten ihr Einblick in unergründliche Zaubersprüche und unirdische Künste und sie bemerkte nicht einmal, wie sich ein dunkler Schatten auf ihre Seele legen wollte, um ihr die Sicht auf jedweden hellen Schimmer zu versperren.
Hermine war sich nicht darüber bewusst, ob ihre Stimme die schwarzen Texte laut wiedergab oder sie diese nur in ihrem vernebelten Geiste vernehmen konnte, aber sie las nichtsdestotrotz aus dem Buch vor: „Wie ’Schlafes Bruder’ ist auch jener Verwandter von ’Felix Felicis’ nicht den Glücksbringern zuzuordnen. Mit einem Trank wie auch mit einem Fluch lassen sich gelenkte Schicksalsschläge für verhasste Mitmenschen gezielt herbeirufen. Während bei einem Trank die eingenommene Menge ausschlaggebend für entweder kleine Missgeschicke oder große Unglücke ist, kann ein Zauberspruch das angewandte Pech auch aus der Ferne bis ins Unerträgliche steigern und auf Wunsch sogar mit dem Tode enden lassen.“
Von der Wirkung, die das Buch auf sie ausübte, war Hermine völlig ahnungslos und so blätterte sie weiter und las noch einige der unseligen handschriftlichen Überlieferungen wahllos und verklärt vor: „An unerwiderter Liebe muss man nicht vergehen. Der ’Amortentia’ mag allgemein als stärkster Liebenstrank gelten, doch er ist nur eine Erfrischung im Vergleich zum ’Cogamor’ (’cogere’, ’amor’), dessen Wirkung ein Leben lang anhalten wird. Unbemerkt von ihren Mitmenschen wird die auserwählte Person allein dem Hersteller des Trankes verfallen und die Loyalität dem Brauer gegenüber wird nach einmaliger Einnahe so sehr gewachsen sein, dass die Person ihm auch bedingungslos in den Tod folgen wird. Das Geheimnis dieses Trankes ist nämlich seine Kombination mit dem unten aufgeführten Zauberspruch, der ähnlich wirkt, wie eine gekonnte Mischung aus Legilimentik und dem Imperius. Liebe und Treue wird ihnen bis ans Ende ihres Lebens gewiss sein.“
Eine unerwartete Verzückung breitete sich in Hermine aus, denn allein das Wissen darüber, dass solche Dinge machbar waren, ließ ihr Herz höher schlagen. Hinweg waren all ihre rechtschaffenen Gedanken und sogar die Furcht vor üblen Nebenwirkungen der abscheulichen Wege dunkler Magie war verflogen. Sie wollte nur noch lesen und lernen; Abarten der Magie erkunden und vielleicht sogar die ihrer eigenen Seele.
Plötzlich spürte Hermine eine Hand an ihrer Schulter, die sie fest am Umhang packte und vom Stuhl riss. Ihr Rücken kollidierte mit der Wand und nun waren es zwei Hände, in ihrem Umhang zu Fäusten geballt, die sie gegen die Wand drückten.
Severus war von seinem Gespräch mit Albus zurückgekommen und er hatte Hermine in seinem Labor vorgefunden; auf seinem Stuhl. Doch er war es gewesen, der die Bücher nicht weggeräumt hatte und so war er nicht zornig, dass sie hier saß und wahrscheinlich wahllos eines der Bücher gegriffen hatte, um bis zu seiner Rückkehr zu lesen. Weil sie ihn jedoch nicht zu hören schien, als er mit ihr sprach, da trat er an sie heran. Erst in diesem Moment fiel sein Blick auf das Buch, in welchem sie versunken war und es war eines der beiden schwarzmagischen. Wut war in ihm aufgestiegen, jedoch nicht, weil sie ungefragt in seinen Büchern las, sondern weil er allein die Schuld daran trug, dass sie sich eine Lektüre zu Gemüte führte, die mit Leichtigkeit selbiges zerstören könnte.
Während er sie gegen die Wand presste und er ihre von der kalten Sprache der Dunkelmagie ganz lüstern glitzernden Augen betrachtete, schimpfte er: „Sind Sie wahnsinnig geworden? Wie kommen Sie dazu, so ein Buch auch nur anzurühren?“
Fiebrig schaute sie an ihm vorbei auf den Tisch und ihr Verlangen, nur noch ein paar Seiten lesen zu dürfen, war so groß geworden, dass sie sich unter seinem eisernen Griff ganz unruhig wie ein Aal zu winden begann.
Spöttisch fragte er: „Was haben Sie? Sind Sie von ein paar Seiten schon ganz fickerig geworden, dass Sie an nichts anderes mehr denken können als daran, die nächste Seite aufzuschlagen?“ Noch immer reagierte sie nicht auf ihn und da festigte er seinen Griff an ihrem Umhang, damit er sie einmal erneut in der Hoffnung gegen die Wand drücken konnte, sie aus ihrer Bewusstseinstrübung zu befreien.
Nachdem ihr Rücken auf die Wand geprallt war und ein hervorstehender Stein sich schmerzhaft in ihre Schulter gedrückt hatte, erwachte sie halbwegs aus ihrem verklärten Zustand und sie blickte ihn mit noch immer hitzigen und gleichzeitig getrübten Augen an.
„Ich habe nur gelesen“, verteidigte sie sich mit einer erschreckend schwacher Stimme, so dass Severus seine grobe Behandlung im ersten Moment bereute, doch ohne sie hätte er Hermine vielleicht gar nicht mehr zurückholen können.
„’Nur gelesen’ in einem Buch, welches für Ihre Augen niemals bestimmt war!“, zeterte er mit aufgebrachter Stimme.
Sich rechtfertigend sagte sie, im Geiste noch immer von dem Hauch dunkler Magie eingenommen: „Es ist doch nur ein Buch, warum also die Aufregung?“
Mit zusammengekniffenen Augen und bedrohlich leiser Stimme spottete er: „Nur ein Buch, ja? Sie sind sich der Gefahren doch überhaupt nicht bewusst, was allein schon das Aufklappen des Buchdeckels für Auswirkungen haben kann, meine Gute.“ Seine Stimme wurde noch viel leiser und es war ihr nur schwer möglich, das Pochen ihres eigenen Herzens zu ignorieren, um ihn verstehen zu können, als er erklärte: „Sie befällt einen unbemerkt, diese Begierde; sie kraucht eiskalt bis in Ihr tiefstes Innere und heuchelt derweil lodernde Flammen vor, die das Blut in Wallung geraten lassen.“ Er zog sie an ihrem Umhang zu sich und flüsterte nahe an ihrem Mund, während er ihr weiterhin in die Augen blickte: „Die Tücke der dunklen Magie besteht darin, Sie in Sicherheit zu wiegen; Sie innig wie ein Kind zu herzen und Sie an ihrer Brust zu nähren, um Sie Schluck für Schluck mit dem Abschaum menschlichen Gedankenguts zu vergiften, welches Sie in Ihrer Naivität arglos als ’Wissen’ bezeichnen. Sie sitzen nur da und lesen, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass jedes einzelne Wort Sie in ein verderbliches Labyrinth zu zerren versucht, aus welchem Sie nicht mehr herausfinden werden. Nun aber haben Sie bereits gekostet, Hermine, und es wird ein immerwährender Eindruck zurückbleiben, doch es liegt an Ihnen zu beurteilen, wie es Ihnen geschmeckt hat.“
Er hatte wieder ein wenig Abstand zwischen ihre Gesichter gebracht, so dass sie ihn betrachten konnte. Sein Blick war trotz der braunen Augen finster und sein Gesicht war von kleinen Fältchen übersät, die Hermine nur selten hatte erspähen dürfen, denn es handelte sich um Sorgenfalten und nicht um die des Zornes. Seine Worte hatten ihre Überzeugungskraft nicht verfehlt und in ihrem Herzen wusste sie, dass er mit alledem Recht hatte, doch gegen den Drang, nur noch ein einziges Kapitel lesen zu wollen, hatten sie noch nicht ankommen können. Weiterhin hielt er sie am Umhang fest als wollte er ihr Halt geben und selbst, als sie seine Fäuste mit ihren zittrigen Händen berührte, ließ er nicht von ihr ab.
Sie schluckte und versicherte mit festerer Stimme: „Ich weiß, wie weit ich gehen kann und dass ich es nicht auf die leichte Schulter…“
Er unterbrach und zischte bedrohlich leise: „Nichts wissen Sie! Sie trachten danach, die dunkle Magie mit offenen Armen zu empfangen, weil Sie sich der Gefahr, die von ihr ausgeht, einfach nicht bewusst sind. Oder wollen Sie sich ihr nicht bewusst sein? Sich von etwas Dunklem verführen zu lassen, indem man die Unschuld vom Lande spielt, würde Sie natürlich zu einem bemitleidenswerten Opfer werden lassen, aber mit meinem Mitleid brauchen Sie nicht zu rechnen. Ich weiß, dass ein scharfer Verstand in Ihrem Dickschädel wohnt. Ich befürchte nur, dass Ihr Kopf durch Ihren Hochmut so sehr angeschwollen sein wird, dass Sie nachher womöglich nicht einmal mehr durch die Tür passen werden, selbst wenn ich Sie hinausschmeißen wollte.“
Erleichtert bemerkte er eine Träne, die sich in einem ihrer hübschen Augen bildete und da wusste er, dass er zu ihr durchdringen könnte, wenn er ihr die drohende Gefahr nur verständlich machen konnte.
Ernsthaft fragte er: „Was fasziniert Sie daran? Was hat so sehr Ihr Interesse geweckt, dass Sie Ihren Verstand blindlings ausschalten und Sie sich unüberlegt dem Verwerflichen hingeben wollen?“ Er blickte sie von oben herab an und fragte im Anschluss gehässig: „Für ein wenig belangloses Wissen lassen Sie einfach Ihren Geist verderben? Ich bin erstaunt, Hermine.“
Eines seiner Augen zuckte nervös. Obwohl er seine fiese Maske aufrecht erhalten konnte, so fühlte er doch mit ihr und er hoffte er innig, sie erfolgreich vor dem bewahren zu können, was einst beinahe ihn selbst mit Haut und Haaren verschlungen hätte. Es hatte nicht mehr viel gefehlt und er hätte sich damals um Haaresbreite seiner Leidenschaft für die dunklen Künste hingegeben, denn er hatte niemanden gehabt, der ihn aus diesem Verderben bringenden Strudel hatte reißen können. Wie die dunklen Künste auf den menschlichen Verstand einwirkten und mit welcher List sie sich in den eigenen Geist einfraßen, um sich wie schmarotzendes Ungeziefer an den magischen Kräften zu nähren, hatte er selbst am eigenen Leib erfahren und erlernen müssen. Er musste Hermine vor Augen halten, wie sie enden würde, würde sie jetzt nicht den richtigen Weg einschlagen.
„Sie kannten doch Bellatrix Lestrange, wenn auch nicht sehr gut, aber Sie wissen, wie diese Frau gewesen war, richtig?“, wollte er wissen. Hermine nickte. Ihre Unterlippe begann zu zittern und in ihrem anderen Auge bildete sich nun auch eine Träne, während sich in ihren Gedanken Szenen abspielten, in denen ihre Freunde und sie dieser wahnsinnigen Frau hatten gegenüberstehen müssen. Severus grinste fies, nachdem er ihre zitternden Lippen bemerkt hatte, bevor er übertrieben freundlich fragte: „Konnten Sie Mrs. Lestrange gut leiden?“ Hermine schüttelte den Kopf und nur durch die Bewegung hatten sich die Tränen aus ihren Augen gelöst und sie bahnten sich nun einen Weg über ihre rosigen Wangen.
Endlich ließ Severus von ihrem Umhang ab, doch seine linke Faust vergrub sich in den dichten, lockigen Haaren an ihrem Nacken, während er seine rechte hob, um mit Daumen und Zeigefinger einen kleinen Abstand von nicht mehr als zwei Zentimetern zu zeigen. Während Hermine seine rechte Hand beobachtete, sagte Severus: „Es ist bedauerlich, dass Sie Mrs. Lestrange nicht leiden konnten, wo sie doch nur noch so weit“, er blickte auf seine rechte Hand, „davon entfernt sind, genauso zu werden wie sie!“
Hermines Gesicht verzog sich vor Furcht und Zorn und sie schlug die Hand ihres Professors weg, bevor sie losrannte und dabei einige Haare lassen musste, da Severus sie noch immer am Schopfe gepackt hatte. Doch sie hatte sich befreien können und sie lief und lief; die Treppe hinauf und einen Gang entlang. Sie rannte vorbei an Lehrern und Schülern, die für sie momentan nur gesichtslose Menschen waren. Einzig die Erkenntnis darüber, beinahe den dunklen Künsten verfallen zu sein, hätte Severus ihr nicht einen Spiegel vor Augen gehalten, gab ihr den Antrieb zu fliehen; vor der Dunkelheit und ihrer eigenen Schwäche.
Erst an einer Brücke stoppte sie, weil sie Seitenstechen bekommen hatte. Es musste bereits sehr spät am Nachmittag sein, denn es war nicht mehr besonders hell. Trotzdem wollte Hermine noch ein Stück laufen; einfach etwas Zeit draußen an der frischen Luft verbringen. Ihr Weg führte sie über die Brücke hinüber und nach einigen Minuten konnte sie Hagrids Hütte sehen. Die Option auf eine heiße Tasse Tee und eine warme Umarmung schien angenehm, doch Hagrid würde viel zu viele Fragen stellen und so spazierte sie ziellos umher. Sie bedauerte es, den Hund nicht bei sich zu haben, denn der würde sie ablenken können. Er würde heute sowieso noch einmal Auslauf benötigen und sie hoffte, dass Harry es übernehmen würde, denn heute wollte sie niemanden mehr sehen und damit meinte sie wirklich niemanden, nicht einmal ihre beste Freundin Ginny. Was würden ihre Freunde wohl von ihr denken, würde sie erzählen, dass sie sich auf die dunklen Künste eingelassen hatte? Schon während des Buches über nicht ganz so schwarzmagische Elixiere war ihr aufgefallen, dass ihr Interesse geweckt worden war und sie sich Fragen dazu gestellt hatte, wozu die tatsächlich schwarze Magie wohl fähig sein könnte.
Sie verstand jetzt auch, warum Draco vorhin so stark reagiert hatte, nachdem er das Buch, das er gehalten hatte, als eines der schwarzmagischen erkannt hatte. Es war das wahrnehmbare Gefühl, etwas Böses berührt zu haben, weswegen er seine Hände an seinem Umhang abgewischt hatte. Ihr selbst ging es jetzt nicht anders, denn sie fühlte sich beschmutz. Nicht nur ihre Hände, sondern auch ihr Verstand waren beschmutzt worden und ob dieses Gefühl der Unreinheit jemals wieder vergehen würde, stand in den Sternen. Severus hatte vorhin gesagt, dass ein immerwährender Eindruck zurückbleiben würde und wahrscheinlich meinte er genau dieses Gefühl der Verunreinigung des Geistes.
Sie war in den Verbotenen Wald hineingegangen, doch nicht sehr weit und sie setzte sich an einen Baum, um einen Moment nachdenken zu können.
Nachdem Hermine sein Labor verlassen hatte, hatte Severus sich gleich auf den Weg zu Harry gemacht und er war ohne zu klopfen bei seinem Kollegen eingetreten, nur um gleich darauf peinlich berührt eine Entschuldigung hervorzukrächzen, bevor er sich schon wieder aus dem Wohnzimmer entfernen wollte, doch Harry hielt ihn auf.
„Schon gut, kommen Sie rein, Severus“, sagte Harry, der sich gerade von der Couch und auch von Ginny erhob, die unter ihm auf der Couch lag.
„Es tut mir… Ich dachte…“
Severus stotternd zu erleben war etwas Einzigartiges, weswegen Harry lächeln musste, bevor er sagte: „Ich schlage vor, dass wir in Zukunft wieder auf das Anklopfen zurückkommen sollten.“
Severus nickte beschämt, bevor er fragte: „Wenn ich einen Moment mit Ihnen reden dürfte, Harry?“
Harry blickte zu Ginny, die noch immer auf der Couch lag und sich durch den plötzlichen Gast gestört zu fühlen schien. Er erhoffte sich von ihr eine wortlose Zustimmung, doch den Gefallen tat sie ihm nicht, denn sie sagte gelangweilt: „Sofern mir kein Punkteabzug droht, kann er ruhig bleiben.“
Severus kniff den Mund zusammen, schluckte jedoch jeden bösen Kommentar hinunter, so dass er zu Harry sagte: „Ich weiß, dass Sie sie haben und ich bitte Sie, einen Blick auf die Karte werfen zu dürfen.“ Harry stutzte, so dass Severus deutlicher wurde: „Die Karte der Taugenichtse meine ich.“
Harry verbesserte: „Die Karte der Rumtreiber.“
„Ist doch das Gleiche! Ich brauche die Karte sofort“, sagte Severus mit Nachdruck.
„Kann aber einen Moment dauern“, erklärte Harry.
„Was ist aus dem guten altbewährten Aufrufezauber geworden?“, stichelte Severus.
„Aufrufezauber funktionieren aber nicht, wenn der aufzurufenden Gegenstand in einer verschlossenen Kiste liegt“, sagte Harry langsam und lehrerhaft. „Ich weiß nicht, in welcher Kiste die Karte ist, also bitte ich um ein wenig Geduld.“
Nachdem Harry im Schlafzimmer verschwunden war, stand Severus im Wohnzimmer und es störte ihn nicht im Geringsten, dass Harrys Verlobte ihn zu ignorieren versuchte.
Während Harry seine Kisten nach der Karte der Rumtreiber durchsuchte, saß Hermine weiterhin an dem Baum und hoffte innig, dass sie nicht noch einmal von den dunklen Künsten verführt werden würde, denn sie bezweifelte, das nächste Mal ungeschoren davonzukommen. Einen Vorgeschmack hatte sie bereits erhalten und hätte Severus sie nicht mit Bellatrix Lestrange verglichen, dann wäre sie wohl schon jetzt verloren gewesen. Morgen würde sie Severus alles erklären wollen; ihm schildern, wie es überhaupt dazu gekommen war, dass ihr dieses Buch in die Hände gefallen war. Und sie wollte ihn natürlich auch fragen, nach was er suchen würde, denn während sie seine Notizen gelesen hatte, waren ihr natürlich einige Gedanken und Theorien durch den Kopf gegangen, doch sie musste wissen, was es war, das er verloren hatte, damit sie in der richtigen Richtung weiterdenken konnte. Würde Severus sie jetzt überhaupt noch als Schülerin haben wollen? Es war gut möglich, dass ihr heutiges Verhalten dazu führen könnte, dass er seinen Vertrag mit ihr kündigen würde. Hermine versuchte, sich an den einen Passus zu erinnern, der Severus ermöglichen würde, ihr Ausbildungsverhältnis vorzeitig zu beenden, doch sie kam einfach nicht drauf. Ihre Gedanken waren noch zu sehr von dem eben geschehenen Ereignis vereinnahmt. Sie legte entmutigt und vor lauter Scham ihren Kopf in die Hände, um still zu weinen.
Hermine hatte sich gerade dazu entschlossen, sich ihrem Selbstmitleid voll und ganz hinzugeben, da hörte sie es knacken und sofort war sie auf der Hut. Dieser Wald beherbergte viele Gefahren und sie kannte einige: Acromantulas, Zentauren, Trolle und Werwölfe. Um letztere brauchte sie sich keine Sorgen zu machen, denn weder war es Nacht noch schien der Vollmond; der würde erst in einigen Tagen, am neunten November, am Nachthimmel erscheinen. Was aber verursachte das Geräusch?
Sie wagte es nicht, sich vom Boden zu erheben, weil sie sicherlich Äste zum Knacken bringen würde, also verweilte sie weiterhin mit einer Hand an ihrem Zauberstab an dem Baum und lauschte dem Rascheln, welches langsam näher zu kommen schien. Auf einmal sah sie das Wesen, welches das Geräusch verursachte und Hermines Augen füllten sich erneut mit Tränen.
Ein Fohlen mit goldenem Fell trottete unbefangen auf sie zu und als es genau vor ihr stand und sie neugierig beäugte, da streckte Hermine ganz vorsichtig eine Hand aus. Das Tier kam tatsächlich näher und stupste sie mit der Nase. Die Nüstern flatterten aufgeregt, als das junge Einhorn Hermines Hand beschnupperte, doch mit der Hand wollte es sich nicht zufrieden geben, so dass Hermine sich einen Moment später Wange an Wange mit dem Fohlen wiederfand, welches seine Nase in ihrem Haar vergraben hatte. Hermine lachte auf und weinte gleichzeitig, bevor sie sagte: „Nicht meine Haare fressen. Das bekommt dir nicht.“
Sie streichelte das Fohlen und fuhr ihm durch die widerspenstige Mähne und mit jeder Berührung fiel Hermine ein weiterer Stein vom Herzen, denn das Gefühl der Unreinheit verging und darüber hinaus war sie sich sicher, dass das junge Tier sich nicht von ihr berühren lassen würde, wären ihre Hände durch dunkle Magie besudelt. Das Fohlen steckte seinen kleinen Kopf neugierig in Hermines Umhang, fand aber nichts Interessantes, so dass es noch einmal aufblickte und sich am Kopf kraulen ließ.
„Danke“, hauchte Hermine erleichtert. Sie war unendlich dankbar dafür, dass sie ihre Hände am goldenen Fell des jungen Einhorns wieder hatte reinwaschen können, auch wenn es sich womöglich nur um das Gefühl gehandelt hatte, schmutzig zu sein. Nachdem das Fohlen fröhlich umherhüpfend seinen gleichen Weg zurückging, verließ Hermine erleichtert und gestärkt den Wald, um sich doch noch ein wenig Trost von Harry zu holen und um ihm von ihrer Schwäche zu berichten.
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