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Fanfiction

Harry Potter und die Schatten der Vergangenheit - Einsicht ist der erste Weg

von Muggelchen

In der vorletzten Zaubertrankstunde vor den Ferien sagte Severus mit gemächlicher, fast einlullender Stimme zur Klasse, während er seine Augen über Pergamente schweifen ließ: „Am heutigen Tage werden wir den Trank herstellen, den wir in den letzten zwei Wochen bereits in der Theorie durchgenommen haben. Nächste Woche werden wir die letzte Unterrichtsstunde vor den Sommerferien dann dazu nutzen, um die missglückten Tränke, die einige der Anwesenden heute mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zusammenpanschen werden, genauer zu betrachten, um zu analysieren, bei welchem Verarbeitungsprozess das schwerwiegende Malheur stattgefunden hat. Trotz der umfangreichen Vorbereitungen will ich mich nicht der Hoffnung hingeben, dass der heutige Tag ohne einen Zwischenfall verstreichen wird.“

Jetzt erst blickte Severus auf und warf zwei Schülern, deren Fähigkeiten im Zaubertränkebrauen weit unter dem Durchschnitt lagen, je einen warnenden Blick zu, bevor er seinen Zauberstab zur Tafel richtete und die Kreide gleich darauf von allein das gesamte Rezept samt Zutaten für alle Schüler lesbar niederschrieb.

„Bitte holen Sie jetzt die benötigten Zutaten aus den Vorratsschränken!“, wies er an. Gerade als Ginny aufstand, um zu den Vorratsschränken zu gehen, sagte Professor Snape in kühlem Tonfall: „Miss Weasley?“ Als er ihre Aufmerksamkeit erlangt hatte, erklärte er mit ruhiger Stimme: „Sie werden das Klassenzimmer jetzt verlassen und in der Bibliothek die Seiten vierhundertundachtzehn bis vierhundertzweiundzwanzig lesen und mir morgen eine Abhandlung über das Gelesene überreichen. Dreißig Zentimeter Pergament sollten ausreichen.“

Einige Schüler, die seine Worte gehört hatten, hielten staunend inne, doch nach einem auffordernden Blick seinerseits fuhren sie mit ihrem Vorhaben fort. Miss Weasley blickte ihn böse durch zusammengekniffene Augen an und wagte tatsächlich, ein Widerwort zu geben. Sie wollte den heutigen Trank brauen, woraufhin er mit schmieriger Stimme sagte: „Fünf Punkte Abzug für Ihren Ungehorsam, Miss Weasley!“
„Professor Snape, Sie können nicht einfach…“, begann sie, doch er unterbrach sie, indem er mit ausgestrecktem Arm und starrem Zeigefinger zu seinem Büro zeigte. Wortlos ging sie, vom Professor gefolgt, durch die Klasse bis zur Tür seines Büros, die er ihr höflichkeitshalber öffnete.

Drinnen begann sie sofort damit, ihre Entrüstung kundzutun, doch er unterbrach sie erneut und forderte: „Nennen Sie mir alle Nebenwirkungen, die die Dämpfe des Trankes, den wir heute brauen werden, auslösen können!“
Forsch entgegnete sie: „Ich will keine Fragen beantworten, sondern wissen, warum Sie mich so behandeln? Ist es wegen Harry?“
Severus blieb ruhig und erklärte ihr lediglich: „Beantworten Sie meine Frage, Miss Weasley! Ich möchte Sie darüber in Kenntnis setzen, dass ich Ihre Antwort selbstverständlich auch bewerten werde.“

Wütend kniff sie ihre Lippen zusammen. Auch wenn sie erwachsen war, so war sie doch seine Schülerin und musste ihm in diesem Sinne auch gehorchen, um keine weiteren Punkte zu verlieren, denn fünf waren heute schon weg. Sie ging davon aus, dass der Professor Harry eins auswischen wollte, weil er beide neulich wieder auf einen Gang beinahe erwischt hatte. Sie glaubte, dass es ihn ärgerte, sie nicht in flagranti geschnappt zu haben und weil er nichts gegen die beiden unternehmen konnte, wollte Snape ihr jetzt auf diese Art das Leben schwer machen.

So begann sie, sich die von ihm geforderten Nebenwirkungen ins Gedächtnis zurückzurufen, obwohl noch immer die Wut in ihr brodelte und am liebsten aus ihr herausbrechen würde. Sie versuchte ruhig zu bleiben und zählte das auf, was ihr einfiel: „Kopfschmerzen, ähm… Übelkeit, Herzrasen und… ähm…“

Sie überlegte angestrengt, denn es wäre für sie blamabel, wenn sie heute nicht einmal mehr das wiedergeben konnte, was sie in den letzten zwei Wochen gelernt hatte. Da war noch eine Nebenwirkung, aber welche war das nochmal? Der Professor wartete geduldig, bis es ihr wieder einfiel und da wurde ihr plötzlich klar, warum er ihr gegenüber heute so gehandelt hatte. Diese Erkenntnis ließ sie peinlich berührt auf den Boden blicken und ihr entwich lediglich ein gehauchtes: „Oh…“
„Würden Sie das ’Oh’ bitte etwas detaillierter ausführen?“, fragte er spöttisch.
Mit gesenktem Haupt sagte sie leise die letzte der Nebenwirkungen: „Muskelkontraktionen.“

Er ließ ihre Antwort für einen langen Moment im Raum stehen, bevor er seine Arme vor der schmalen Brust verschränkte und mit überlegen klingender Stimme fragte: „Und das könnte was zur Folge haben, Miss Weasley?“
Ihr Antwort war kaum hörbar, als sie leise erwiderte: „Eine Fehlgeburt.“ Gleich darauf schaute sie ihn mit reumütigem Blick an und sagte ehrlich: „Tut mir wirklich Leid, Professor Snape!“ Sie bedauerte tatsächlich, ihm vor der Klasse widersprochen zu haben. Sie hatte ihn völlig falsch eingeschätzt, denn er wollte sie nur nicht im Klassenzimmer haben, weil es für ihr ungeborenes Kind eine Gefahr darstellte.

Er verzog nur einmal kurz den Mund, bevor er sagte: „Fünf Punkte für die korrekte Aufzählung der Nebenwirkungen. Ich möchte, dass Sie, da die Schüler bereits schon mit dem Brauen begonnen haben müssen, durch mein Büro hinaus auf den Gang gehen. Warten Sie an der Tür zum Klassenzimmer, wo Sie gleich Ihre Schulsachen in Empfang nehmen können. Und vergessen Sie nicht: Die Seiten vierhundertundachtzehn bis vierhundertzweiundzwanzig!“

Während Ginny das Büro ihres Professors für Zaubertränke verließ, betrat zur gleichen Zeit im St. Mungos Schwester Marie das Krankenzimmer von Lucius Malfoy.

„Mr. Malfoy, ich muss Ihnen heute noch einmal Blut abnehmen“, sagte Schwester Marie, die endlich wieder so fit war, um ihrem Beruf nachgehen zu dürfen, worüber sich Lucius still freute.
Während sie bereits den Ärmel seines rechten Armes hochkrempelte, fragte er nörgelnd, fast wie ein Kind: „Oh bitte, könnten wir nicht mal den anderen Arm nehmen? Ihre…“, er suchte nach einem Wort, welches seinen Missfallen über die andere Schwester zum Ausdruck bringen sollte. Er entschloss sich jedoch dazu, Schwester Marie zu schmeicheln, weswegen er mit den Worten fortfuhr: „…Kollegin war es nicht würdig, Sie vertreten zu dürfen.“
Schwester Marie lachte herzhaft auf und fragte: „Warum denn das nicht?“
Lucius seufzte theatralisch, bevor er aufzählte: „Sie war grob, unpünktlich und plump!“
„Und ich? Wie bin ich?“, fragte sie neugierig und belustigt.
„Sie sind das genaue Gegenteil Ihrer Kollegin!“, antwortete er galant.
Hier lachte Schwester Marie wieder, bevor sie fragte: „Was ist denn das Gegenteil von ’plump’?“
„Na was wohl: leichtfüßig! Von mir aus auch ’beflügelt’. Sie stoßen jedenfalls nicht ungeschickt an mein Bett, wenn Sie daran vorbeigehen. Und außerdem: Wenn Sie Blut abnehmen, dann merkt man es kaum“, erwiderte er schmeichelhaft.
„Na gut, dann den anderen Arm“, sagte sie nachgebend, während sie seinen linken Unterarm befreite, doch dann hielt sie plötzlich inne, denn ihr Blick fiel auf das dunkle Mal.
Sie sog erschrocken Luft ein, was Lucius dazu nötigte, sie zu fragen: „Was haben Sie denn?“ Dann dämmerte es ihm. Es war sein linker Arm. Der Arm, den der Dunkle Lord damals für sein Zeichen verwendet hatte. Betroffen und etwas peinlich berührt sagte er: „Oh, ich verstehe. Tut mir wirklich Leid. Ich habe nicht mehr dran gedacht, wissen Sie. Dann doch lieber rechts?“
Er zog seinen rechten Ärmel von alleine hinauf, doch auch hier erschrak sie, bevor sie fragte: „Bei Merlin… DAS war meine Kollegin? Da ist ja alles blutunterlaufen. Das tut mir so Leid, Mr. Malfoy. Wir nehmen doch lieber den linken Arm.“

Als sie seinen linken Unterarm festhielt und mit der rechten Hand mittels Zauberstab Blut abnahm, welches sich in der kleinen Glasampulle auf dem Nachttisch materialisierte, bemerkte Lucius, dass Schwester Maries Hände zu zittern schienen.

„Haben Sie Angst vor mir?“, fragte er unverblümt, aber mit ruhiger Stimme.
Er hörte, wie sie zunächst schlucken musste, bevor sie erwiderte: „Gibt es einen Grund für mich, Angst zu haben?“

Sie fürchtete sich vor ihm und das nur, weil sie das Mal auf seinem Arm gesehen hatte, obwohl sie durchaus darüber informiert worden war, dass er ein Todesser aus Askaban war.

Freundlich fragte er: „Würden Sie mir einen Gefallen tun? Sagen Sie mir bitte, wie das Mal aussieht. Ist es noch sehr deutlich? Das letzte Mal hatte ich es betrachtet, als ich nach dem Sturz des Dunklen Lords in Askaban aufgewacht bin. Da war es plötzlich so… so blass, aber die dunklen Konturen waren noch sehr gut zu erkennen.“
Schwester Marie setzte sich neben Lucius aufs Bett und hielt seinen linken Unterarm mit unruhigen Händen, bevor sie sagte: „Ja, es ist sehr blass, aber kaum noch zu erkennen. Im ersten Moment sieht es aus, als wären es Narben von… wie von Schnitten, aber wenn man genauer hinsieht, dann erkennt man es als das, was es ist.“
„Narben von Schnitten?“, zitierte er verdutzt. „Heißt das, dass es nicht mehr dunkler ist als die Haut, sondern tatsächlich hell?“, fragte er gleich darauf neugierig. Sie bejahte und erklärte nochmals, dass die Zeichnung von Totenkopf und Schlange hell wäre. „Oh, wie gern würde ich es sehen…“, schwärmte er. Er wusste, dass das Mal durch den Tod des Lords mit der Zeit nur noch unmerklich sichtbar sein würde, aber dass es sich jetzt bereits nicht mehr dunkel, sondern hell auf dem Arm abzeichnete, ließ ihn erleichtert aufatmen.

„Ab nächster Woche sind wir mit allen Tests durch. Dann wird man anfangen, Ihre Augen zu behandeln. Hat Professor Puddle Ihnen schon erklärt, was man genau machen wird?“ Lucius bemerkte, dass sie etwas distanzierter klang als sonst. Der Anblick des Mals hatte sie ganz offenbar ein wenig aufgewühlt.
„Ja, das hat er, aber ich würde lügen, würde ich behaupten, ich hätte auch nur die Hälfte verstanden“, erwiderte Lucius aufrichtig. Das Einzige, was er verstanden hatte, war, dass seine Blindheit das Resultat einer magischen Mutation darstellen würde. Seine eigene Magie hatte sich nachteilig verändert, doch als der Professor daraufhin noch erläutert hatte, dass die defekten, magischen Teilstücke seiner Magie durch körperuneigene Magie-Signaturen ersetzt werden könnten, da hatte er nicht mehr folgen können.

„Magie, Mr. Malfoy, besteht wie Licht aus Korpuskeln und nicht aus Wellen. Das sind ganz winzige Teilchen, diese Korpuskel. Und die, die bei Ihnen nicht mehr so funktionieren wie sie sollen, die wird man, wenn es möglich ist, austauschen, verstehen Sie?“, erklärte Schwester Marie mit einfachsten Worten und in nur drei Sätzen und endlich verstand Lucius, was Professor Puddle ihm ihn fünfundvierzig Minuten nicht begreiflich machen konnte.

Beide unterhielten sich noch eine Weile, während Schwester Marie sich derweil um seinen wortkargen Zimmergenossen kümmerte und dessen Bett machte. Bevor sie gehen konnte, winkte er sie nochmals zu sich heran und nachdem sie Platz genommen hatte, fragte er mit leiser Stimme: „Sagen Sie mir, Schwester Marie“, er zögert, beendete jedoch die Frage, die ihm schon seit langem auf der Zunge brannte, „sind Sie reinblütig oder halbblütig?“
Sie sprang vom Bett auf, bevor sie recht grantig erwiderte: „Ich glaube nicht, dass Sie das etwas angeht, Mr. Malfoy!“ Lucius blieb trotz ihres harschen Tones sehr ruhig, so dass sie, dieses Mal etwas ruhiger, fragte: „Warum wollen Sie das wissen?“

Ihre Frage wiederholte er für sich selbst in Gedanken. Warum wollte er das wissen? Wollte er bestätigt wissen, dass sie reinblütig war, was seine Vermutung untermauern würde, alle netten, umgänglichen und intelligenten Menschen konnten eben nur reinblütig sein? Oder war es das schockierende Gegenteil, das er sich von ihrer Antwort erhoffte, weil es seine jahrelangen Ansichten mit einem Male zunichte machen würde? Er würde aus allen Wolken fallen, wenn Schwester Marie sich als Halbblüterin zu erkennen geben würde, denn er respektierte sie und genoss ihre Gesellschaft.

Er seufzte einmal, bevor er mit schwacher Stimme erklärte: „Ich möchte wissen, ob sich meine Meinung über Sie ändern würde, würde sich herausstellen, Sie wären…“
Sie unterbracht ihn, legte alle Karten auf den Tisch und sagte monoton und schnell hintereinander: „Ich bin halbblütig! Meine Mum war ein Muggel und mein Vater war Dano Zograf. Haben Sie bestimmt schon einmal gehört: Sein Neffe ist Hüter der bulgarischen Quidditch-Nationalmannschaft.“ Sie atmete aufgeregt, was Lucius nicht entgangen war. Sie schien noch mehr Furcht vor ihm zu haben, nachdem sie ihre Herkunft nun preisgegeben hatte.

Schwester Marie beeilte sich, ihre Aufgaben in Mr. Malfoys Krankenzimmer so schnell wie möglich zu erledigen, denn nachdem sie sich als Halbblut zu erkennen gegeben hatte, sagte weder er noch sie ein einziges Wort, was die Atmosphäre im Raum sehr frostig werden ließ. Zu gern hätte sie gewusst, was nun in seinem Kopf vorging. Sie fragte sich, ob er sie in Zukunft womöglich herablassend behandeln würde, nur weil ihre Mutter ein Muggel war. Mr. Malfoy sagte jedoch gar nichts mehr, sondern saß weiterhin ruhig auf seinem Bett und schien über die Situation nachzudenken.

Die Erkenntnis über Schwester Maries Abstammung beschäftigte ihn. Erst das Geräusch einer sich schließenden Tür riss ihn aus seinen Gedanken. Es war ein seltsames und kaum zu beschreibendes Gefühl zu wissen, dass eine Frau, die er gut leiden konnte, eine Halbblüterin war. Die ganze Zeit über war er davon ausgegangen, dass sie mit ihren guten Manieren, ihrem hellen Köpfchen und ihrer gebildeten Ausdrucksweise aus einer angesehenen reinblütigen Familie stammen musste, weswegen ihn ihre Antwort sprachlos gemacht hatte.

Sein Vater hatte früher immer gesagt, Muggel wären dumm und die Bastarde, die sie mit Blutsverrätern in die Welt setzen würden, hätten noch weniger Verstand als ihre Eltern. Auch die anderen Todesser hatten immer wieder Geschichten von dummen Halbblütern oder von dämlichen Squibs erzählt, die nicht nur ihre Magie, sondern auch ihren Verstand eingebußt hatten. Sein Vater hatte die Reinblütigkeit immer so ausgelegt, als wäre sie das Beste vom Besten, weswegen die höchste Priorität jene war, das Geschenk des puren Blutes unbedingt fortbestehen zu lassen. Alles andere – alles, was nicht rein war – war getrübt, verfälscht, befleckt und somit schon rein magisch gesehen minderwertig und verachtenswert.

Es ging Lucius gegen den Strich, dass Schwester Marie ein Halbblut sein sollte. Er wollte, dass sie reinblütig war, denn dann könnte er zumindest erklären, warum er sie mochte.

Im August sollten die Schüler Ferien bekommen, damit sie am ersten September mit den Erstklässlern ein neues Schuljahr beginnen konnten. Harrys 22. Geburtstag, der 31. Juli, stand vor der Tür, doch ihm war ganz und gar nicht nach feiern. Nicht nur, weil spionierende Hauselfen ihm das Leben erschwerten. Sein Geburtstag brachte ihn immer dazu, über sein eigenes Leben nachzudenken.

Nachdem er siebzehn Jahre alt geworden war, hatte er laut Gesetz der magischen Welt auch die Volljährigkeit erlangt. Er hatte den Dursleys, seinen einzigen Blutsverwandten, und dem Blutzauber, der ihn im Ligusterweg beschützt hatte und der mit seinem 17. Geburtstag seine Wirkung verloren hatte, den Rücken gekehrt. Sein neues Leben startete er damals bei den Weasleys, die ihn so liebevoll wie einen verlorenen Sohn willkommengeheißen hatten. Besonders Ron hatte sich darüber wie ein Wahnsinniger gefreut, mit Harry jetzt unter demselben Dach zu wohnen.

Am Frühstückstisch in der großen Halle sitzend musste Harry schmunzeln, als er sich daran erinnerte, wie Ron damals begeistert vorgeschlagen hatte: „Wir können ja deine Haare rot färben, Harry! Dann nimmt dir jeder ab, dass du einer meiner Brüder bist.“ Sein bester Freund empfand für ihn schon immer wie für einen eigenen Bruder und Ron wollte das am liebsten auch nach außen hin für jedermann sichtbar machen.

Ron war damals neben Ginny der Einzige der Weasleys, der noch bei den Eltern gewohnt hatte und so hatten beide aufgrund der vielen, leer stehenden Zimmer im Fuchsbau genügend Platz, um auch einmal Zeit für sich zu haben, wenn es notwendig war. Molly war für Harry in den ganzen Jahren, in denen er den Fuchsbau sein Zuhause nennen durfte, mehr und mehr wie eine Mutter geworden und Arthur wurde nicht nur ein liebevoller Vaterersatz, sondern auch ein enger Freund.

Sirius hatte ihm einmal erzählt, dass er mit nur sechzehn Jahren von Zuhause ausgerissen war und bei Harrys Vater und dessen Eltern aufgenommen worden war. Irgendwie schien es daher richtig, dass Harry ebenfalls bei seinem besten Freund Unterschlupf gefunden hatte.

Nächste Woche würden die Ferien beginnen – nächste Woche hätte er Geburtstag. Bestimmt würden die Dursleys ihm aus purer Gemeinheit wieder eines ihrer boshaften Geschenke schicken. Letztes Jahr hatte Harry ein unscheinbar wirkendes Päckchen von ihnen ungeöffnet in den Kamin geworfen, weil er die Freude über die Geschenke von den Weasleys, von Sirius, Remus und all den anderen Menschen, die er lieb gewonnen hatte, nicht durch eine Gemeinheit seiner Verwandten wieder zunichte machen wollte.

Harry seufzte, als er sich Honig auf seinen Toast tröpfelte. Egal wo er sich aufhielt: Sein persönlicher Spion war auch bei ihm. Während des Unterrichts, in der großen Halle beim Essen, in Severus’ Räumen, beim Spazierengehen mit dem Hund und sogar nachts in seinem Schlafzimmer, so dass Harry nur noch selten erholsamen Schlaf finden konnte. Niemand konnte die Elfen sehen, bis auf Harry und… Harry. Der Hund war von der Anwesenheit der kleinen Spione schon ganz aufgekratzt.

Mit zittrigen Fingern biss Harry von seinem Toast ab, als „sein Elf“ plötzlich genau vor ihm auf den Tisch sprang, so dass er unmerklich zusammenzuckte, jedoch noch immer offenkundig genug für Severus, der wie üblich neben ihm saß und dem sein Unbehagen nicht entgangen war.

„Alles in Ordnung, Harry?“, fragte Severus, der sich und danach Harry ein wenig Kaffee einschenkte. Harry nickte nur, woraufhin Severus leise fragte: „Sind sie noch da?“ Mit großen Augen blickte Harry seinen Kollegen an, der gleich darauf, damit Albus nicht misstrauisch werden würde, anfügte: „Die Kopfschmerzen meine ich. Sind sie noch da?“
Das Wort „Kopfschmerzen“ war mittlerweile ein Synonym für „spionierende Hauselfen“ geworden, was Harry im ersten Augenblick entfallen war, aber er antwortete letztendlich guten Gewissens: „Tag und Nacht. Ich halte das nicht mehr lange aus, Severus.“

Severus kniff besorgt die Lippen zusammen, denn Harrys Worte klangen so verzweifelt. Sein junger Kollege war mit den Nerven am Ende. Der ständig anwesende Elf machte ihn mürbe und dadurch auch unachtsam. Im Unterricht für Verteidigung hatte es letzte Woche einen Zwischenfall gegeben, denn ein Glumbumble – ein unscheinbares, magisches Insekt mit grau-pelzig behaartem Körper – hatte Meredith Beerbaum gestochen. Das an sich war nicht lebensbedrohlich, doch da Glumbumble ein Schwermut erzeugendes Sekret bei ihrem Stich absonderten und Meredith durch den Verlust ihrer gesamten Familie eh schon wegen einer schweren Depression bei Madam Pomfrey in Behandlung war, hätte dies beinahe zu einem Suizidversuch geführt. Die letzte Woche vor den Ferien würde Meredith im Krankenflügel verbringen müssen. Auf seine Empfehlung hin hatte Poppy der Schülerin ein Euphorie-Elixier gebraut, welches die Auswirkungen des Glumbumble-Stiches neutralisieren sollten. Nach dem Vorfall hatte sein junger Kollege sich große Vorwürfe gemacht und es benötigte eine stundenlange Unterredung, um Harry davon abzubringen, seinen Job an den Nagel zu hängen. Letztendlich konnte Miss Beerbaum ihren Lehrer für Verteidigung davon überzeugen, sich keine Sorgen mehr um sie und keine weiteren Gedanken über den Vorfall zu machen.

„Haben Sie schon gehört, dass Pomona nun ganz offiziell die Erziehungsberechtigte von Miss Beerbaum geworden ist?“, fragte Severus, um Harry mit etwas Konversation abzulenken.
„Tatsächlich? Das ging ja schnell. Bei uns, also bei den Muggeln, braucht so etwas immer ewig. Meistens kommen die Kinder erst in ein Heim oder zu Pflegeeltern oder – noch schlimmer – zu irgendwelchen Verwandten, die man nicht kennt und die man schon gar nicht ausstehen kann“, erklärte Harry mit verzogenem Gesicht, weil er sich erneut an sein Leben mit den Dursleys erinnerte.
„Nun, das finde ich wirklich bedauerlich für die Muggel. In der Zaubererwelt haben Kinder in solchen Situationen mehr zu sagen. Nach einem ausführlichen Gespräch mit einem Jugendvertreter des Ministeriums steht sehr bald fest, wo das Kind bis zum siebzehnten Lebensjahr bleiben darf. Noch etwas Kaffee?“, fragte Severus, der bereits die Kanne hob, doch Harry winkte ab.

Harry versuchte, den aufdringlichen Hauself zu ignorieren, der seine Aufgabe etwas übertrieben erledigte. Es schien, als wäre der Elf nicht wirklich klug und mittlerweile bezweifelte Harry, dass der Spion zu etwas anderem fähig sein würde, als lediglich das an Albus weiterzugeben, das er wirklich gesehen und gehört hatte, was bedeutete, dass der Hauself zum Beispiel ganz offensichtlich bisher nicht dahinter gekommen war, dass mit „Kopfschmerz“ er selbst gemeint war. Wenn man sich schlau anstellen würde und Dinge so umschreiben könnte, dass sie für andere eine normale Unterhaltung darstellten, dann wäre es sehr wahrscheinlich, sich über Codes austauschen zu können, während der Spion von einer normalen Unterhaltung ausging.

„Ich überlege, ob ich mit Ginny in den Ferien auch mal nach Hogsmeade gehe“, träumte Harry laut. Aufgrund der hochgezogenen Augebraue seines Kollegen erklärte Harry: „Sie bleibt hier in Hogwarts. Die Geburt steht Ende August bevor und außerdem wollen die Weasleys nach Rumänien. Molly wollte sie erst mitnehmen, aber als Charlie ihr klarmachte, dass das Baby, sollte es dort zur Welt kommen, automatisch die rumänische Staatsbürgerschaft bekommen würde, wollte sie das dann doch nicht.“

Severus grinste nur kurz in sich hinein, weil er sich Mollys verdutztes Gesicht vorstellen konnte, nachdem Charlie ihr die Situation erklärt hatte. Trotzdem rügte Severus seinen Kollegen und entgegnete mit flüsternder Stimme: „Miss Weasley ist nicht die einzige Schülerin, die über die Ferien in Hogwarts verweilen wird. Und sie ist auch nicht die einzige Schülerin, die Ihrer Aufmerksamkeit bedarf. Miss Beerbaum und Mr. Foster werden auch über die Ferien hier bleiben. Albus hätte sicherlich nichts dagegen, wenn Sie, Harry, mit den verbleibenden Schülern einen kleinen Ausflug machen, um ihnen Abwechslung zu verschaffen.“
Etwas lauter fragte Severus, ohne seinen Blick von seiner Kaffeetasse abzuwenden: „Das ist doch korrekt, Albus?“
Der Direktor, der zwei Plätze weiter neben Severus saß, erklärte unverhofft mit fröhlicher Stimme: „Ja sicher, das wird die Schüler freuen, Harry.“

Ungläubig beugte Harry sich am Tisch nach vorn, um Albus zu betrachten, dem offenbar gerade eben eingeleuchtet war, dass er mit seiner Antwort zu verstehen gegeben hatte, jedem Wort gelauscht zu haben.


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