von Muggelchen
Es war fast schon zu einer Obsession für Hermine geworden, das Geheimnis um Harrys Gabe endgültig zu knacken. Sie hatte mit ihrem ehemaligen Lehrer für Zaubertränke einige Theorien aufgestellt, die es jetzt zu überprüfen galt. Soeben hatte sie Tüten von einem asiatischen Muggelrestaurant auf einem Tisch gelehrt, um etwas zu essen, bevor sie gemeinsam mit der Arbeit beginnen würden, da unterbrach plötzlich eine tiefe, ruhige Stimme Hermines oberflächliches Gefasel über ihre letzte Reise nach Japan.
„Miss Granger, es bedeutet mir viel, was Sie für mich tun!“, sagte Severus mit einem eindringlichen Unterton. Snape würde sich mit Sicherheit nicht für das mitgebrachte Essen bedanken, dachte sich Hermine. Das passte auch gar nicht zu seinem ernsten Tonfall.
„Was meinen Sie, Professor Snape?“, fragte sie interessiert. Die vorherige Konversation über den Urlaub mit ihren Eltern war völlig vergessen.
Severus räusperte sich und starrte auf die vielen Schachteln vor sich, aus denen bereits ein würziger Duft emporstieg. Der heutige Tag war nach dem üblichen Unterrichten der Dummköpfe für ihn sehr befremdlich geworden. Hermine war, wie jeden Tag, nach ihrer Ausbildung zur Heilerin zu ihm in die Kerker gekommen, um mit ihm an Harrys Gabe weiterzuforschen. Heute war sie freudestrahlend in sein Labor gekommen und hatte verkündete, dass sie die angebotene Stelle als Zaubertränkeschülerin bei ihm annehmen wollen würde. Gleich darauf, als wäre nichts Besonderes geschehen, war sie ausgelassen und lächelnd an einen Tisch hinübergegangen und hatte ihn mit Schälchen aus einer Tüte voll gestellt. Währenddessen, wie üblich, hatte sie mit ihren Geschichten über ferne Länder und seltene Zutaten, die man dort finden würde, begonnen.
Er lauschte gern ihrer Stimme, die so frei von Sorge schien. Und er mochte ihre Geschichten. Sie war ein Mensch, der eine Reise nicht zum Faullenzen nutzte, sondern so viel wie möglich in Erfahrung bringen wollte. Während andere Muscheln am Strand sammelten, um sie als Souvenir mit nachhause zu nehmen, eignete sie sich Wissen an, welches sie für immer behalten würde. Er bewunderte ihre Art. Sie war immer bestrebt, alles zu ergründen. Ihre Geschichten waren auch der Grund, warum sie heute eine Auswahl asiatischer Gerichte mitgebracht hatte. Gestern erst hatte sie davon erzählt; von den kulinarischen Köstlichkeiten aus China und Thailand. Sie hatte gesagt, er müsste das unbedingt einmal probieren. Während Severus seit ihrer Ankunft wie versteinert auf dem Sofa gesessen hatte, hatte er die redende und dabei immerwährend lächelnde Hermine betrachtet, die die Plastikdeckel der Schälchen nacheinander entfernt und in die leere Tüte entsorgt hatte.
Sie schien sich nicht im Klaren darüber zu sein, was sie mit ihrer Zusage bei ihm angerichtet hatte. Während sie sich so unbekümmert und lebhaft mitgeteilt hatte, hatte ihm ihre Zusage noch immer die Sprache verschlagen. Sie hatte die von ihm angebotene Stelle tatsächlich angenommen! Severus war unfähig gewesen, einen klaren Gedanken fassen zu können, geschweige denn, weiterhin ihrer Erzählung aufmerksam zu folgen. Dieses Angebot hatte er ihr vor zwei Monaten in einem Anfall der Schwäche unterbreitet. Er hatte gar nicht mehr damit gerechnet, dass sie das Thema überhaupt noch einmal erwähnen würde.
Erst nach Harrys Rede bei der Ordensverleihung hatte Severus sehr deutlich bemerkt, dass in ihm drinnen irgendetwas anders war und das fand er erschreckend. Es ging eine Veränderung in ihm vor, die er sich nicht erklären konnte. Eine Veränderung, die ihn Dinge sagen ließ, die er niemals sonst von sich geben würde. Und diese Schwäche, die ihn damals dazu veranlasst hatte, ihr das Angebot zu unterbreiten, die war nun auch wieder da und der Auslöser war ihre Zusage gewesen.
Er wusste, dass er ihr damals in der Schule das Leben erschwert hatte und deswegen hatte es ihn ein wenig stutzig gemacht, dass sie heute so fröhlich die angebotene Stelle angenommen hatte und sie sich offenbar nicht mehr an frühere Zeiten erinnern wollte. Sie kannte ihn, denn sie hatte ihn lange genug ertragen müssen. Sie wusste genau, wie griesgrämig und schlechtgelaunt er war; was für einen schwierigen Menschen er darstellte und doch schien sie sich sogar darauf zu freuen, bei im anfangen zu können. Sie musste sich bewusst darüber sein, dass sie beide jeden Tag sehr lange und hart zusammenarbeiten würden, wenn sie ihren Meister bei ihm machen würde, aber taten sie das nicht jetzt schon? Severus fragte sich, warum er überhaupt noch Bedenken hatte, sie als Schülerin aufzunehmen. Beide arbeiteten doch jetzt schon so lange zusammen und zwar auf freiwilliger Basis. Der einzige Unterschied mit ihr als private Schülerin wäre, dass sie bei ihm offiziell, also mit Vertrag, ihren Meister machen würde und trotzdem hatte ihre Zusage etwas in ihm ausgelöst, das er nicht erklären konnte. Severus spürte erneut dieses abrupt in ihm aufgekommene Gefühl. Kein besonderes Gefühl; nur überhaupt mal eines.
Da er noch immer nicht geantwortet hatte, fragte Hermine mit einem besorgten Flüstern: „Professor?“ Langsam drehte Severus seinen Kopf, um sie anzusehen. Hermine bemerkte auf der Stelle, dass Snapes Maske gefallen war; dass er von etwas überwältigt worden war, das ihn aus der Bahn geworfen hatte. Seine Mimik vermittelte Dankbarkeit, aber auch Kummer. Ihren stets steinernen Professor hatte sie niemals zuvor so ergriffen gesehen. Seine Gefühle spiegelten sich unverhofft auf seinem Gesicht wieder und in seinen Augen, die zwar noch immer fast schwarz schimmerten, ihn jetzt jedoch so tief bewegt erscheinen ließen.
Er hoffte innig, dass diese Gefühlsregung schnell wieder verschwinden würde. All die anderen Male, wenn jemand nett zu ihm gewesen war, war ebenfalls diese überwältigende Gemütsbewegung in ihm aufgekommen und die hatte sogar seinen Schwermut verdrängen können. Meist hatte er dieses undefinierbare Gefühl sofort unterdrücken können und wenn nicht sofort, dann war es zumindest schnell genug wieder verschwunden, bevor er Gefahr gelaufen war, sich jemandem zu öffnen und dem seltsamen Drang nachzugegeben, seine tiefsten Gedanken preiszugeben.
An dem Tag vor Schulbeginn war es jedoch nicht verschwunden, so dass er Dinge zu Harry gesagt hatte, die er unter normalen Umständen niemals erwähnt hätte. Und auch dieses Mal im Beisein seiner ehemaligen Schülerin wollte dieses Gefühl einfach nicht von allein fortgehen. Im Gegenteil, denn es war so stark geworden, dass es ihn übermannt hatte. Ihre Zusage, seine Meisterschülerin werden zu wollen, hatte ihm zudem auch klargemacht, dass sie über den mürrischen Mann, der er war, hinwegsehen und sie sich dem talentierten Zaubertränkelehrer anvertrauen wollte. Niemals zuvor hatte er eine Meisterschülerin aufgenommen und daher würde sich auch sein Leben erheblich verändern, würde er diesen Schritt wagen. Jeden Tag würde er sie sehen, mit ihr arbeiten, mit ihr reden. Auch an den Wochenenden würden sie Zeit zusammen verbringen, um zu forschen und zu lernen. Mit einer Zaubertränkeschülerin an seiner Seite wäre er nicht mehr allein.
Aus heiterem Himmel war diese Erkenntnis über ihn gekommen und er konnte ihre Entscheidung verstehen; konnte ihre Zusage für sich selbst begründen, denn sie war jetzt erwachsen und musste ihn mit anderen Augen sehen.
Mit zittriger Stimme erklärte Severus sehr langsam gesprochen, den Blick von Hermine nun abwendend: „Ich bin Ihnen für Ihre Geduld dankbar! Wissen Sie, Miss Granger, es gibt nicht viele Menschen, die sich die Zeit nehmen, meine Freundschaft erringen zu wollen. Bisher hatten nur zwei diese Muße. Der eine vor Jahren war Albus. Der andere ist jetzt Harry. Und Sie“, er schluckte, „Sie sind genauso hartnäckig. Sie haben nicht aufgegeben.“
Zum Ende war seine Stimme zu einem Wispern geworden, aber nichtsdestotrotz hatte Hermine seinen Worten sehr aufmerksam gelauscht und sie hatte die Bedeutung hinter seinen Worten erkannt. Ihrer Meinung nach war eben etwas geschehen, was eigentlich undenkbar schien. Er hatte ihr mit wenigen Worten nicht nur seinen Dank entgegengebracht, sondern ihr auch verdeutlicht, was er von ihr hielt. Sie glaubte ihn zu verstehen.
Dieses Mal ein wenig Angst davor, doch falsch liegen zu können, erwiderte sie genauso leise: „Es ist schön, dass Sie mich als Ihren Freund sehen.“ Und sie hatte nicht gelogen. Die ganze Forschung über Harrys Gabe hatte die beiden verbunden. Seit zwei Monaten war sie jeden Tag bei ihm gewesen und sie hatten sich in dieser Zeit ein wenig besser kennen lernen können. Trotz allem war es immer Hermine gewesen, die ihm eine Unterhaltung aufgedrängt hatte und die ständig erzählte und erzählte, denn das war ihre Taktik. Sie bombardierte Severus regelrecht mit ihren Erlebnissen und mit ihren Fragen. Bei der Menge an Gesprächsstoff fand sich nämlich immer wieder ein Thema, zu dem selbst der wortkarge Zaubertränkemeister begeistert etwas beitragen konnte und vor allem wollte.
Heute Abend würde sie unbedingt mit den beiden anderen reden müssen, dachte Hermine. Was sich heute ereignet hatte, war mit dem gleichzusetzen, was Harry vor zwei Monaten mit Snape erlebt hatte. Es war ein erster, echter Hinweis darauf, dass mit Snape etwas vonstattenging, mit dem er selbst überfordert zu sein schien. Seine Maske bröckelte, wurde von ihm selbst aber immer wieder beharrlich zusammengefügt.
Sie sandte Ron während einer Toilettenpause ihren Patronus mit einer Einladung für heute Abend bei Harry. Nachdem sie bei Snape fertig war, überrannte sie Harry mit dem Fakt, dass Ron heute noch vorbeikommen würde. Sie hatte völlig vergessen, Harry zuvor zu fragen, ob er überhaupt Zeit für sie haben würde, aber er nickte lediglich, denn für seine Freundin nahm er sich die Zeit.
„Tu mir einen Gefallen, Mine. Warte drinnen bei mir und lass Ron rein, wenn er kommt. Ich möchte nur kurz spazieren gehen, ja?“, sagte Harry mit abgeschlagener Stimme, die ihr zu verstehen gab, dass er einen Moment für sich selbst benötigte.
Vielleicht war es der Stress, nun als Lehrer zu arbeiten. Möglicherweise nahm ihn aber auch die bevorstehende Trennung von Ron und Hermine mehr mit als er zugeben wollte, denn er wusste, dass diese Trennung bevorstehen würde. Die beiden hatten offenbar noch nicht miteinander geredet, aber sie stritten auch nicht mehr, weil Hermine so lange bei Severus arbeitete. Harry ging davon aus, dass sie alle danach noch Freunde sein würden wie früher, aber was, wenn doch nicht? Die Zweifel nagten an ihm. Sich nur noch mit einem von beiden treffen zu können, weil Ron und Hermine sich gegenseitig meiden würden, war für ihn eine schreckliche Vorstellung. Und er machte sich Vorwürfe, Ron und Hermine durch seine Unterhaltungen beeinflusst zu haben. Vielleicht war es auch ein Fehler gewesen, beiden vor Augen zu führen, dass sie offensichtlich nicht füreinander bestimmt waren und er ihnen deshalb nahe gelegt hatte, miteinander über ihre Beziehung zu reden. Konnte so ein simpler Ratschlag schlecht gewesen sein?
Gedankenverloren schlenderte er zu Severus und betrat dessen Wohnzimmer. Der Hund freute sich über seinen Besuch, auch wenn er nicht ein viertes Mal an diesem Tag nach draußen gehen würde, denn Harry war nicht wegen dem Hund gekommen. Eigentlich hatte er nicht einmal Lust, im Moment mit jemandem zu reden und trotzdem hatte sein Weg ihn zu seinem Kollegen geführt. Sein Blick fiel auf Severus, denn der saß mit hängenden Schultern und Kopf in sich zusammengesunken auf der Couch und blickte auf seine langen Finger. Er hatte Harry bisher nicht einmal bemerkt und da überkam ihn plötzlich der Drang, doch einige Worte verlieren zu wollen.
Nachdem Severus nicht auf seinen Namen reagierte hatte, weil er in Gedanken versunken schien, schlenderte Harry auf seinen Kollegen zu und ließ sich neben ihn auf die Couch fallen. Im gleichen Moment schreckte Severus auf. Der Ausdruck von Angst und Verzweiflung verschwand sofort wieder, nachdem er sich in Harrys Gegenwart wusste. Er schluckte einmal und fragte ungewohnt zaghaft: „Harry, kann ich etwas für Sie tun?“
An Ron und Hermine denkend philosophierte Harry mit Trübsinn in der Stimme: „Es gibt Dinge im Leben, die man nicht ändern sollte, nicht wahr?“ Ohne auf eine Antwort zu warten vertiefte er seinen Standpunkt, indem er sagte: „Besonders, wenn es nicht um einen selbst geht. Man muss Dinge um sich herum manchmal einfach geschehen lassen. Es wäre eigennützig, sich in das Leben anderer einzumischen, meinen Sie nicht?“
Mit konfusem Gesichtsausdruck starrte Severus seinen jungen Kollegen an. Worte verließen seinen Mund erst, nachdem er ein paar Mal geschluckt hatte, bevor er mit Bedacht sagte: „Vielleicht, Harry, ist es manchmal von Vorteil zu intervenieren, besonders dann, wenn nicht mit aller Deutlichkeit verneint werden kann, dass dies nicht erwünscht sei.“ Als Harry zuhörte, machte er es Severus gleich und betrachtete seine eigenen Hände, an denen zwischendurch der Hund begrüßend leckte.
Nach einem kurzen Augenblick stutzte Harry über die Worte. Severus wusste doch gar nicht, dass er von Ron und Hermine gesprochen hatte. Zu Severus blickend bemerkte er, wie dieser eine Hand gegen die Stirn presste.
„Geht es Ihnen nicht gut, Severus?“, fragte Harry besorgt.
Mit verzerrtem Gesicht und geschlossenen Augen zischelte Severus angestrengt, gleich so als würde er unter Schmerzen leiden: „Es geht schon. Ich brauche nur etwas Ruhe.“
Den Wink verstand Harry und obwohl er Severus in diesem Zustand nicht alleinlassen wollte, rief er sich ins Gedächtnis zurück, dass Ron und Mine auf ihn warteten. Mit flüsternder Stimme machte Severus auf eine Tatsache aufmerksam, denn er sagte: „Sie waren heute schon dreimal mit dem Hund draußen.“
Offenbar war ihm wirklich nicht nach Gesellschaft zumute, weswegen Harry lediglich nickte und sich mit den besorgt klingenden Worten verabschiedete: „Dann bis morgen.“
„Ach Harry“, sagte Severus noch schnell, bevor er zur Tür rausgehen konnte. Mit hochgezogenen Augenbrauen zeigte Harry seine Aufmerksamkeit, bevor Severus erklärte: „Die Stelle, die Sie mir beschrieben hatten. Ich meine die Stelle, wo die Hunde den einen Abend so gebellt hatten.“
Harry schloss die Tür wieder, wandte sich Severus zu und fragte neugierig: „Ja?“
Er konnte sehen, wie Severus innerlich etwas von sich abzuschütteln schien, damit er wieder der Alte sein konnte, bevor er aufstand und mit plötzlich wieder sehr kräftiger Stimme erklärte: „Es ist möglich, dass dies die Stelle gewesen war, an der man Kreachers Leiche gefunden hatte. Es war zumindest ganz in der Nähe, wie Filch mir neulich erzählte.“ Harry schenkte ihm ein Lächeln, bedankte sich bei Severus für die Information und verabschiedete sich ein zweites Mal von ihm.
Ob Severus diese Information nur durch Zufall erhalten hatte oder ob er Harry zuliebe gezielt deswegen nachgefragt hatte, war ihm nicht klar, aber es war schön zu wissen, dass Severus ihn und diesen seltsamen Abend nicht vergessen hatte.
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