von Muggelchen
Den Abend im Fuchsbau kurz vor Weihnachten hatte Luna so schnell nicht vergessen können. Während alle anderen Harry bemitleidet hatten, weil der zusammengekauert und ängstlich auf dem Boden gesessen hatte, musste sie darüber nachdenken, warum es ihr bekannt vorkam, dass er niemanden hatte sehen können. Das Problem, mit dem ihr Freund Harry zu kämpfen hatte, war ihr nicht fremd. Sie fragte sich, ob sie darüber womöglich gelesen hatte. Hatte sie eventuell über so ein Thema etwas im Klitterer gesehen? Da es ihr bis jetzt keine Ruhe gelassen hatte, wandte sich Luna in dieser Angelegenheit an ihren Vater.
Am Mittag öffnete Harry einen Brief von Luna. Sie bat ihn, heute Abend für ein oder zwei Stündchen bei ihr vorbeizuschauen. Neville wäre auch dabei, schrieb sie. Die Vorbereitungen für die Schule hatte Harry zwar noch nicht beendet, aber durch das Flohnetz oder per Apparation war es zeitsparend, schnell von einem Ort zum anderen zu gelangen.
Die Sonne war noch nicht untergegangen, da stand Harry das erste Mal vor dem Anwesen der Lovegoods, welches gar nicht so weit vom Fuchsbau entfernt lag. Ein Mann mit schrägem Lächeln und Glupschaugen öffnete ihm. Unverkennbar war er Lunas Vater. Äußerst freundlich und überhaupt nicht aufdringlich, wie Harry es von der Presse gewohnt war, bat Mr. Lovegood den prominenten Besuch herein. Luna kam derweil die Treppe hinuntergerannt und begrüßte Harry verträumt mit den Worten: „Manch einer sieht nicht, was sich ihm offenbart, andere hingegen erspähen, was im Verborgenen liegt!“
Von ihrer Andersartigkeit nicht aus dem Konzept gebracht grüßte Harry lächelnd zurück: „Dir auch einen schönen Abend, Luna!“
Neville, Luna und Harry machten es sich am Küchentisch gemütlich. Sie hielt Harry eine fünfzehn Jahre alte Ausgabe vom Klitterer unter die Nase und sagte lächelnd, ohne ihn anzusehen: „Seite drei!“ Harry las die Überschrift auf Seite drei. Es war ein Artikel über Merlin. Teilweise war er historisch gut recherchiert, weswegen die Inhalte, die man unter Spinnerei abhaken konnte, anfangs nicht sofort ins Auge stachen.
„Luna, ich finde das wirklich nett, dass du jetzt auch noch recherchierst, aber ich denke nicht, dass das hier…“, sagte Harry, als er von Luna unterbrochen wurde.
„Der Artikel mag etwas kreativ verfasst worden sein, aber lies den letzten Satz noch einmal“, bat Luna.
Seufzend las Harry den letzten Satz laut vor: „Quelle dieses Artikels sind die zwölf Briefe der Hellseherin Cassandra Trelawney.“
Bevor Harry etwas sagen konnte, erklärte Luna: „Und natürlich hab ich mir die zwölf Briefe besorgt. Die gibt es als Buch, weißt du! Aber man kann es nirgends legal kaufen. Es war nicht leicht, da ranzukommen, denn es steht etwas sehr Ausführliches über Horkruxe drin. Natürlich will das Ministerium nicht, dass über solche Themen berichtet wird. Aber was dort noch alles drin steht… Komm Harry, ich zeig dir das Buch.“
In Lunas Zimmer im ersten Stock angekommen suchte sie das Buch, das sie vor lauter Zerstreutheit verlegt zu haben schien. In der Zwischenzeit unterhielt sich Harry locker mit Neville, während er ihr Zimmer betrachtete. Auf einer Kommode lag Lunas Kette aus Butterbierkronkorken. Rechts von der Kommode, in einer Ecke des Zimmers, stand ein riesiger Käfig, der bis unter die Decke reichte. Neugierig näherte sich Harry dem Käfig und inspizierte das Tier darin. Er hatte so eine Kreatur noch nie gesehen.
Zitternd kauerte eine Art Äffchen in der Ecke des Käfigs, welches Harry verschreckt anblickte. Er kniete sich nieder und betrachtete den Affen. Die langen Haare des Tieres waren bräunlich und silberfarben. Ein kleiner, weißer Streifen zeichnete sich mit kurzen Unterbrechungen auf dem Rücken entlang. Das niedliche Gesicht war mit schwarzen und weißen Linien durchzogen und ähnlich wie bei einem Waschbären waren die Partien um die Knopfaugen schwarz umrandet. Die Augen konnte man unter den seidigen Haaren kaum sehen. Der buschige Schwanz, viel länger als der Affe selbst, zuckte nervös wie der einer Katze, die geduldig einem Vogel auf der Lauer lag.
Das Äffchen gab keinen Mucks von sich, denn es schien sich vor Harry zu fürchten. „Du brauchst doch keine Angst vor mir zu haben!“, sagte Harry mit zarter Stimme. Neville, der neben Harry kniete, blickte seinen Freund für einen Moment mit weit aufgerissenen Augen an.
Luna schaute nur kurz über die Schulter zu Harry hinüber und sah die beiden jungen Männer lediglich am Käfig hocken. Sie erklärte gleich darauf, während sie eine Schublade durchsuchte: „Den hat mir mein Vater geschenkt. Ich habe ihn Racker genannt.“
Harry lachte kurz auf, hielt sich dann aber zurück, weil das Äffchen zusammengezuckt war. Dann fragte er: „Wieso Racker?“
Sie hatte das Buch endlich gefunden und sagte, während sie auf Harry zukam: „Weil der so viel Unsinn anstellt, wenn er aus“, sie erreichte Harry und Neville, blickte einmal in den Käfig und bekam noch größeren Augen, als sie eh schon hatte, bevor sie ihren Satz beendete, „dem Käfig gelassen wird. Hast du so ein Tier schon einmal gesehen, Harry?“
„Nein, was ist das für eins?“, fragte er sofort zurück.
Luna antwortete nicht, sondern sie forderte: „Beschreib mir, wie er aussieht!“
Manchmal war Luna komisch drauf, dachte Harry und deshalb beschrieb er das Aussehen des Äffchens ohne Murren und beendete seine Ausführungen mit den Worten: „…und am Rücken hat er einen dünnen, weißen Streifen, der zwei Mal unterbrochen ist. Aber wieso sollte ich ihn beschreiben?“
Luna lächelte ihn nur verträumt an. Sie griff in eine kleine Kiste, öffnete eine Dose und hielt Harry eine Heuschrecke entgegen. „Gib ihm das, die mag er!“, sagte sie freudestrahlend. Mit etwas Ekel nahm Harry die dicke, zappelnde Heuschrecke und reichte sie durch das Gitter.
„Komm schon, die magst du doch“, sagte Harry mit leiser, ruhiger Stimme. Nach wenigen Minuten griff der Affe scheu zu. Laut schmatzend vertilgte er das Insekt.
Fragend blickte Harry zu Luna auf, die mit gedankenverlorenem Blick in den Käfig starrte und abwesend wirkend erklärte: „Jetzt seh ich ihn auch wieder!“
„Ich schwöre, Harry! Ich hab ihn nicht gesehen. Erst, nachdem er die Heuschrecke gefressen hat!“, versicherte Neville seinem Freund, nachdem sich Harry auf Lunas Bett hatte setzen müssen.
Mit zitternden Händen fasste Harry sich an die Stirn, als er sagte: „Ich glaub es nicht. Ihr beide habt den Affen nicht gesehen, bevor ich ihm… Ich glaub das nicht! Was für ein Tier ist das?“
Luna legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter und erklärte: „Das ist ein Demiguise. Sagt dir das was?“ Harry schüttelte den Kopf, so dass Luna fortfuhr: „Aus den Haaren dieser Affen macht man unter anderem auch Tarnumhänge, Harry. So einen, wie du hast. Die Äffchen sind sehr scheu. Sie machen sich unsichtbar, wenn sie sich bedroht fühlen. Zu meinem Vater, Neville und mir hat er Vertrauen, aber dich kannte er nicht, weswegen er sich getarnt hat.“
Harry schluckte, bevor er wiederholte: „Ich habe also diesen Affen trotz seiner Tarnung gesehen! Ich habe einen Affen gesehen, den niemand sonst sehen konnte? Ich fass es nicht…“
Mit dieser neuen Erkenntnis und dem Buch mit dem Titel „Die zwölf Briefe der Cassandra Trelawney“, in welches er selbst vor lauter Aufregung keinen einzigen Blick geworfen hatte, machte sich Harry auf den Weg nach Hogwarts und er marschierte geradewegs zu Severus. Er erzählte ihm aufgelöst von dem Erlebnis mit dem unsichtbaren Affen, den er sehen konnte.
Severus unterbrach Harry kein einziges Mal, aber als sein Kollege fertig war, presste er wütend die Lippen zusammen, bevor er mit sich selbst schimpfte: „Dann kann ich Miss Granger gleich wieder mit ihrer Recherche zurückpfeifen. Ihr Problem, Harry, scheint sich in einer völlig anderen Dimension zu bewegen. Ich habe noch nie davon gehört, dass jemand einen sich tarnenden Demiguise sehen konnte. Noch nie!“ Severus seufzte.
Er wirkte ein wenig verzweifelt, weswegen Harry besorgt fragte: „Denken Sie, das könnte etwas Schlimmes sein?“ Severus antwortete nicht. „So schlimm also…?“, fragte Harry nach einer Weile verbittert.
„Ach, reden Sie keinen Stuss, Harry. Ich habe nicht geantwortet, weil ich keine Antwort auf Ihre Frage habe!“, gab Severus etwas barsch klingend zu.
„Vielleicht hilft Ihnen ja das Buch, das Luna mir gegeben hat?“, hoffte Harry, der das Buch vor Severus auf den Tisch legte.
Sein älterer Kollege hob die Augenbrauen, als er den Namen der Autorin las und bekannte murmelnd: „Wahrsagen war nie mein Fach.“ Harry grinste, als er dem zustimmte.
„Harry, ich möchte, dass Sie Tagebuch führen!“, sagte Severus völlig überraschend. Harrys fragendem Blick erklärte Severus: „Nicht, weil dieser Heiler das empfohlen hat, sondern weil Ihr Problem, Ihre Fähigkeit oder das Phänomen, wie immer man das nennen mag, ganz offensichtlich mit Emotionen zu tun hat. Sie müssen es nicht ausführlich halten. Nur stichpunktartig und regelmäßig, über den Tag verteilt, selbst wenn Ihnen etwas nicht wichtig vorkommt. Notieren Sie sich, was Ihnen Sorgen bereitet oder worüber Sie sich freuen. Vielleicht könnte man so herausbekommen, ob Sie dieses Phänomen irgendwann bewusst lenken können, verstehen Sie? Vielleicht sind Sie irgendwann in der Lage, diese Sache zu kontrollieren, wenn ich auch nicht sicher bin, warum es nützlich sein sollte, Personen nicht mehr zu sehen.“
„Sie glauben tatsächlich, ich könnte das eines Tages kontrollieren?“, fragte Harry einen Moment später verdattert nach.
Sich ganz offensichtlich einen Scherz draus machend erwiderte Severus: „Möglicherweise schon, aber wenn ich mir Ihre Lernfähigkeit im Bereich der Okklumentik ins Gedächtnis zurückrufe, dann bezweifle ich das eher.“
Sich verteidigend sagte Harry: „Hey, ich hab Okklumentik im Griff! Ich hab’s mir selbst beigebracht, nachdem Sie aufgehört haben…“
Nicht noch einmal wollte Harry an den Tag erinnern, an welchem er in Snapes Denkarium geschaut hatte, weshalb er den Satz nicht beendet hatte.
„Sie beherrschen Okklumentik? Und Sie möchten sich das allein beigebracht haben? Das will ich sehen!“, sagte Severus mit einem aufgeweckten Leuchten in den Augen. In nur wenigen Sekunden hatte er seinen Zauberstab gezogen, ihn auf Harry gerichtet und gesagt: „Legilimens!“
Das Überraschungsmoment lag voll und ganz auf Severus’ Seite. Er hatte Harrys Gedanken betreten und wuselte schnell in dessen Kopf hin und her. Harry war ihm auf der Spur, um ihn hinauszuwerfen. Es war nur ein Spiel, denn Harry bemerkte, dass Severus nie lang genug in einer Erinnerung verweilte, um etwas in Erfahrung zu bringen. Überall und nirgends schaute sein Kollege hinein. Glücklicherweise war keine einzige Erinnerung dabei, die Harry im Nachhinein unangenehm sein könnte.
Einige Momente der Ordensverleihung rückten plötzlich in den Vordergrund, denn dort hielt sich Severus momentan auf. Der Augenblick, indem Harry während seiner Rede betrübt zu Ginny hinunterblickte war der Augenblick, in welchem er Severus erwischte und nach draußen drängte. Ohne es zu bemerken, drängte Harry seinen Kollegen so weit zurück, dass er sich selbst in Severus’ Gedankenwelt wiederfand. Er sah einen weinenden Draco und einen tröstenden Severus, der die Wunde an dessen Hand mit Salbe einrieb. Er erblickte Dracos gequältes, verweintes Gesicht, das so viel Kummer und Hoffnungslosigkeit widerspiegelte. Dann hörte er ihn flüstern: „Mein Blut ist verdorben, Severus… Ich bin überhaupt nichts wert! Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr…“
Dieses Mal war es Harry, der hinausgeworfen wurde und zwar mit solch einer Wucht, dass er rücklings auf den Boden fiel. Severus half ihm etwas zu abrupt auf, denn er schien sehr wütend zu sein. Hastig atmend versicherte Harry ihm, während er seine Hände auf Severus Oberarme legte: „Tut mir Leid. Sie waren so flink…“ Harry wollte es erklären, denn dieser Vorfall sollte nicht zwischen ihm und Severus stehen, deshalb sagte er: „Als ich Sie endlich erwischt habe, habe ich Sie mit solcher Kraft aus meinem Kopf gejagt, dass ich mit in Ihren hineingefallen bin. Ich… Bitte glauben Sie mir, das war keine Absicht. Ich werde das, was ich gesehen habe, natürlich für mich behalten!“ Nach einem kurzen Moment löste Severus seinen Griff an Harrys Umhang und nickte zuversichtlich.
Nachdem Harry gegangen war, setzte sich Severus an seinen Schreibtisch. Auch wenn er wenig mit dem Fach Wahrsagen oder seiner Kollegin Sibyll Trelawney anfangen konnte, so machte ihn der Inhalt des Buches, welches Harry ihm dagelassen hatte, doch neugierig.
Es handelte sich bei den zwölf Briefen nicht um Korrespondenz, sondern um Abhandlungen, die die bekannte Seherin verfasst hatte. Cassandra Trelawney hatte für die Nachwelt über zwölf unterschiedliche, magische Besonderheiten, Gaben oder Fähigkeiten berichtet. Die zwölf Gaben waren von ihr offenbar genau recherchiert worden.
Das erste Kapitel trug die Überschrift „Parselmünder“ und beinhaltete auch Aufzählungen verschiedener Personen, die die Schlangensprache in den letzten Jahrhunderten beherrscht hatten – das waren sehr wenige.
„Horkruxe – Seelenspaltung“ stellte den Titel des zweiten Kapitels dar. Diese Cassandra hatte wirklich Mut gehabt, über so etwas zu schreiben, dachte Severus. Diesen Abschnitt könnte man fast schon als Anleitung für die Herstellung von Horkruxen bezeichnen. Kein Wunder, dass er nie von diesem alten Buch gehört hatte. Es stand aufgrund dieses Inhalts mit Sicherheit auf der schwarzen Liste des Ministeriums.
Die Überschrift des dritten Kapitels lautete „Wissen“. Severus las sich etwas ein und bekam ganz plötzlich eine Assoziation zu Albus. Dinge plötzlich zu wissen, die dazu noch wahr waren… Albus schien, wie die im Buch beschriebenen Personen, ebenfalls einfach Dinge zu wissen, weswegen ihn selten etwas zu überraschen schien. Diese Gabe war nicht mit Hellsehen zu verwechseln, denn man bekam keine Visionen und man verfiel auch nicht in Trance. Man wusste einfach Dinge. Grindelwald war offenbar auch eine jener Personen gewesen, die manchmal über Wissen verfügt hatten. Trelawney schrieb, dass nicht einmal Merlin einen Weg gefunden hätte, diese Fähigkeit zu kontrollieren. Das Wissen würde einfach kommen, wie es wollte.
Das vierte Kapitel war offenbar jenes, welchem Miss Lovegood besonderes Augenmerk geschenkt hatte. Das Wort „Sehen“ stand ganz groß als Überschrift auf der Seite. Gleich darunter las Severus kleingedruckt „nicht zu verwechseln mit hellsehen/wahrsagen“. Während des Sehens verfiel man ebenfalls nicht in Trance, aber die Umgebung oder die Situation veränderte sich, ganz so als würde man sich in einer Parallelwelt bewegen. Die eigene Magie würde die Sichtweise des Zauberers verändern.
In der Erwähnung über Merlin, der des Sehens fähig gewesen sein sollte, nannte Cassandra ein Zitat des großen Magiers, welches offenbar auf diese Gabe zu münzen war. Es lautete: „Manch einer sieht nicht, was sich ihm offenbart, andere hingegen erspähen, was im Verborgenen liegt!“ Der erste Satzteil beschrieb Harrys erstes Problem, nämlich Personen nicht mehr sehen zu können, obwohl sie da waren. Den zweiten Teil des Satzes konnte Severus auf Harrys Erlebnis mit dem Demiguise beziehen, denn Harry hatte ihn sehen können, ohne dass dieser für andere sichtbar gewesen war. Über diese Fähigkeit verfügte laut Cassandra angeblich nicht nur Merlin, sondern auch Dumbledore. „Dieser alte…“, murmelte Severus gnatzig, riss sich jedoch zusammen. Er ahnte, dass Albus wahrscheinlich längst davon Kenntnis hatte, dass er in diesem Buch blätterte und seine Schlüsse über den Direktor zog. Er ging davon aus, dass Albus mit seinem fortgeschrittenen Alter mittlerweile sehr wohl diese Gabe zu lenken vermochte. Allerdings würde der Direktor Harry sicherlich längst helfen, wenn er die Not dazu sehen würde, aber obwohl er von Harrys Problem wusste, hatte er bisher nichts unternommen. Vielleicht konnte er auch gar nicht helfen und überließ die Arbeit daher anderen.
Nur aus Neugierde blätterte Severus weiter. Eine weitere Gabe wäre die, mit Tieren sprechen zu können. Anders als bei Parselmündern würden diejenigen, die über diese Gabe verfügen sollten, mit allen Tieren kommunizieren können. Allerdings schilderte Cassandra hier nur sehr vage historische Begebenheiten und nannte nur zwei Beispiele von Menschen, die dazu in der Lage gewesen sein sollten. Einer war ein für Severus völlig unbekannter Zauberer und der andere soll ein Muggel mit dem Namen Franz von Assisi gewesen sein, der seine Fähigkeit vor seinen Mitmuggeln hatte geheim halten müssen.
Eine andere Gabe, die auch unter Muggeln vorkommen sollte, wenn bei denen auch niemals wissentlich oder gesteuert, sollte das „Doppelgängertum“ darstellen. Man könnte, sollte man über diese seltene Gabe verfügen, Körper und Seele duplizieren, um an zwei Orten gleichzeitig aufzutauchen. Dies gehörte, anders als bei Horkruxen, wo man die Seele nicht reproduzierte, sondern aufspaltete, nicht den schwarzmagischen Machenschaften an. Allerdings schilderte Cassandra im gleichen Absatz von der tragischen Geschichte einer jungen Hexe, die sich mit ihrer eigenen Doppelgängerin nicht mehr hatte vereinen können und fortan mit ihr als Zwillingsschwester gelebt haben sollte, ohne jemals wieder von ihrer Gabe Gebrauch zu machen.
Alles in allem zählte Cassandra Trelawney die zwölf seltensten Besonderheiten auf, die bisher in der Zauberergesellschaft aufgetreten waren und weiterhin auftreten könnten. Besonderheiten, die man nicht erlernen konnte, denn sie fielen einem aus einer Laune der Natur einfach in den Schoß.
Am Frühstückstisch in der großen Halle unterhielten sich Harry und Draco recht ungezwungen miteinander, was Severus still begrüßte. Nachdem Harry seinen Bissen hinuntergeschluckt hatte, fragte er: „Sag mal, machst du eigentlich auch die Aufbauklasse mit?“
Draco sah ihn verachtend an und erklärte hochnäsig: „Ich denke nicht, dass ich das nötig habe!“
Nicht aufgebend fragte Harry: „Aber die Siebte holst du nach oder?“
Genervt warf Draco sein Messer auf den Teller, als er spöttisch entgegnete: „Für die Schule bin ich zu alt! Ich könnte mir eher vorstellen, als Lehrer hier anzufangen.“
Bei diesem Satz horchte Severus auf. Er wandte sich an Draco und sagte, so dass Albus und Minerva, die neben ihm saßen, es ebenfalls hören konnten: „Das, Mr. Malfoy, wäre nur möglich, wenn Sie einen Schulabschluss nachweisen können!“
Minerva spottete: „Selbst Lockhart hatte einen; man mag es kaum glauben.“ Man hatte Draco auf dem falschen Fuß erwischt, denn er schnaufte einmal wütend, warf seine Serviette auf den Teller und verließ stürmisch die große Halle.
Verdutzt schaute Harry ihm nach, bis Draco die Tür hinter sich geschlossen hatte. An Severus und Minerva gewandt sagte Harry vorwurfsvoll: „Oh, vielen Dank auch! Das haben Sie ja prima hinbekommen.“ Minerva war sich keiner Schuld bewusst, doch Severus’ Miene trübte sich, als er Harry hinterherblickte, der nun Draco nachging.
Auf dem Flur sah Harry, wie Draco hinten im Gang mit jemandem zusammengestoßen war. Der ansonsten gleichgültig handelnde Slytherin hob daraufhin etwas vom Boden auf, drückte es der Person, die er angerempelt hatte, recht forsch in die Hand, bevor er sich kopfnickend verabschiedete und um die Ecke bog. Harry kam der Person näher und grüßte, nachdem er sie erkannt hatte: „Ginny? Was machst du denn hier?“
Fassungslos schaute Ginny gerade noch Draco hinterher, bevor sie sich zu Harry umdrehte. Als sie ihm in die Augen blickte, bemerkte er für einen Moment etwas in ihnen, was ihm das Herz ganz schwer machte, doch dann lächelte sie, als sie fröhlich grüßte: „Harry! Ich wollte dich gerade besuchen! Sag mal, war das eben wirklich Malfoy?“ Sie blickte demonstrativ in die Richtung, in die Draco verschwunden war.
Grinsend bestätigte Harry: „Ja, warum?“ Sie erklärte, dass er sie angerempelt hatte und sie daraufhin ihre Unterlagen fallen gelassen hatte. Anstatt, wie sie erwartet hatte, sie zu beschimpfen und einfach zu gehen, hatte er sie knapp gegrüßt, ihre Mappen aufgehoben und sich wortlos verabschiedet.
„Das war etwas befremdlich, ihn mal in gewisser Weise höflich zu erleben!“, sagte Ginny abschließend mit einem Lächeln auf den Lippen.
Wenn der Rest der Weasleys nicht um ihn herum war, schien er mit Ginny weit weniger locker umgehen zu können als sonst. Etwas befangen fragte er formell nach ihrem Wohlergehen. Er kam sich mit seiner Art jedoch reichlich oberflächlich vor, weswegen er etwas lockerer fragte: „Warum bist du eigentlich hier?“
Ginny strahlte über beide Ohren und erklärte: „Ich war vor dem Frühstück bei Dumbledore und wollte ihn danach nochmal was fragen. Du weißt ja, dass ich das siebte Schuljahr nicht zu Ende gemacht habe. Dein Jahrgang war der letzte in Hogwarts gewesen.“
Einerseits war Harry froh zu erfahren, dass Ginny ab September seine Schülerin sein würde und er Zeit mit ihr verbringen könnte. Andererseits ahnte er, dass es ihn viel Kraft kosten würde, sich ihr nicht ganz so zu nähern, wie er es sich eigentlich wünschte. Die beiden hatten sich damals trennen müssen, noch bevor sie wirklich zueinander gefunden hatten. Ginny hatte danach ihre Ziele verfolgt und er die seinen. Während sie Beziehungen eingegangen war, hatte er für die Vernichtung von Voldemort gelernt. Sie führte ihr Leben und er das seine – seit Jahren.
Um die unangenehme Stille zu durchbrechen, fragte Harry neugierig und schmunzelnd: „Die Aufbauklassen fangen doch erst nächste Woche an und nicht jeder Schüler muss persönlich mit Dumbledore reden.“ Ginny nickte, während ihr Lächeln langsam verblasste.
Nachdem es endgültig aus ihrem Gesicht verschwunden war, blickte sie ihn mit trauriger Miene an und erklärte leise und zögernd: „Ich hab mit ihm gesprochen, weil ich“, sie schluckte, „schwanger bin. Ich wollte wissen, ob Madam Pomfrey… Na ja, ob ich es Ende August hier bekommen kann und dann vielleicht mein siebtes Schuljahr über mit dem Kind hier bleiben könnte.“
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