von Muggelchen
Als würde er nicht hierher gehören zappelte Harry unruhig auf seinem Stuhl im Lehrerzimmer herum. Severus saß ihm gegenüber und blätterte gelangweilt im Tagespropheten, während altbekannte Gesichter und neue Lehrer nach und nach den Raum betraten und sich in kleinen Grüppchen zu Gesprächen hinreißen ließen. Interessiert las er einen Artikel, der unbebildert auf der vorletzten Seite unter einer großen Anzeige von „Weasley’s zauberhafte Zauberscherze“ zu finden war:
„In den Morgenstunden des gestrigen Tages wurde ein junger Mann mit unbekannter Identität ins ’St.-Mungo-Hospital für Magische Krankheiten und Verletzungen’ eingeliefert. Zunächst schien es sich bei dem Opfer einer magischen Auseinandersetzung um einen Muggel zu handeln, doch eine Blutuntersuchung brachte zum Vorschein, dass es sich um einen reinblütigen Zauberer handelt. Die Magische Strafverfolgungspatrouille steht vor einem Rätsel, denn der Patient ist stark unterernährt, weist am ganzen Körper Spuren von körperlichen und magischen Misshandlungen auf und ist, obwohl ein Vergissmich-Zauber ausgeschlossen werden darf, nicht ansprechbar.“
Als Severus den Tagespropheten beiseite legte, blickte er zu Harry hinüber und fragte belustigt: „Hummeln im Hintern, Harry?“ Harry verzog das Gesicht, aber Severus lächelte nur, bevor er ermutigend, aber leise zum Besten gab: „Keine Sorge! Ich bin mir sicher, nachdem Sie dazu fähig waren, die Welt vom Dunklen Lord zu befreien, dass Sie auch dazu in der Lage sein werden, eine Klasse voller lernunwilliger Dummköpfe zu meistern!“ Mit einem gekünstelten Lächeln versuchte Harry, seine Aufregung unter Kontrolle zu bekommen.
Nachdem Albus – Harry durfte jetzt alle Kollegen beim Vornamen nennen – das Lehrerzimmer als Letzter betreten hatte, bat dieser um Aufmerksamkeit. Alle Lehrer, von denen Harry fünf noch nie gesehen hatte, setzten sich um den runden Tisch herum. Jetzt wurde es Ernst, dachte Harry, weswegen er gebannt auf die Worte des Direktors wartete, um ja nichts zu verpassen.
„Jetzt erst einmal, das wird mir niemand verübeln, für jeden eine Tasse Tee und etwas Gebäck“, sagte der alte Zauberer und klatschte in die Hände.
Hauselfen deckten den Tisch in einer so hohen Geschwindigkeit, die Harry schwindlig werden ließ. Nur für einen kurzen Moment entdeckte er Dobby, der ihm fröhlich zuwinkte, bevor er den Raum wieder verließ. Vermutlich waren jetzt alle Hauselfen wieder zurück in Hogwarts. Immer wieder blickte Harry gespannt zu Albus hinüber, während alle anderen über die Kekse und Cremetörtchen herfielen und sich ihren Tee schmecken ließen. In seiner Schulzeit hatte Harry immer gedacht, die Lehrer würden hier bitterernst über wirklich wichtige Themen sprechen, aber offenbar ging man alles sehr gelassen an.
Durch die Tasse Tee nun nicht mehr so aufgeregt lauschte Harry den Worten des Direktors, der sich räusperte und sagte: „So, meine lieben Kolleginnen und Kollegen. Der Minister hat empfohlen, und da bin ich voll und ganz seiner Meinung, dass Hogwarts nicht erst im September öffnen sollte. Viele der damaligen Schüler sind von ihren besorgten Eltern noch vor den UTZ-Prüfungen von der Schule genommen worden. Unser Harry hier“, Albus winkte mit einer Hand in Harrys Richtung, „war einer der wenigen gewesen, die die Schule und die UTZ-Prüfung zu Ende bringen konnten, bevor Hogwarts letztendlich aufgrund des Krieges geschlossen werden musste.“
Albus ließ gelassen fünf Stückchen Zucker in seine Tasse fallen und erläuterte kurz darauf: „Das Problem, das ich sehe, ist, dass nicht nur Hogwarts, sondern auch alle anderen Schulen über viele Jahre geschlossen waren. Während der letzten Jahre des Krieges hatte es keine Einschulungen gegeben; keine Erstklässler. Hogwarts selbst war über knapp vier Jahre von keinem einzigen Schüler besucht worden. Das bedeutet, dass wir mit vielen Kindern und Jugendlichen zu rechnen haben, für deren schulische Ausbildung wir verantwortlich sein werden. Sie alle werden jedoch bereits über einen unterschiedlichen Bildungsstand verfügen, denn einige der Jungen und Mädchen, da bin ich mir sicher, wurden aller Voraussicht jahrelang Zuhause von ihren Eltern unterrichtet, während andere sich ihr Wissen durch Selbstunterrichtung angeeignet haben werden. Das sind Fakten, die wir bedenken müssen. Es wäre nicht klug, Schüler aus verlorenen Jahrgängen einfach in die erste Klasse zu stecken, ohne auf ihren Kenntnisstand Rücksicht zu nehmen, denn unterforderte Schüler können sich oftmals zu Unruhestiftern entwickeln.“
Die Situation schrie gerade danach, dass Severus aufgrund dieser Bemerkung schmierig grinsend zu Harry hinüberblickte und Harry grinste frech zurück.
Albus erklärte weiter: „Der Anfang des neuen Schuljahres wird für uns alle etwas schwierig werden, denn ich möchte, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Schülerinnen und Schüler individuell und sehr genau auf ihren Wissensstand prüfen. Ohne Rücksichtnahme auf ihr Alter sollen sie nur aufgrund ihres Kenntnisstandes später einer Klasse zugeordnet werden, die dann wieder nach den alten Regeln unterrichtet werden kann. Hat jemand Fragen?“
Harry hob zögerlich die Hand, aber Albus lächelte und sagte vertraut: „Du brauchst dich hier nicht zu melden, Harry.“
Verschämt lächelnd sagte Harry: „Entschuldigen Sie, ist nur eine Angewohnheit.“ Harry holte einmal tief Luft, bevor er fragte: „Ist das jetzt so gemeint, dass alle Schüler ohne Vorsortierung in drei, vier Klassen gesteckt werden und wir Lehrer gehen mit ihnen zunächst den Grundstoff der ersten Klasse durch.“ Er nannte Beispiele: „Wir schreiben Tests, machen mündliche und praktische Prüfungen und entscheiden dann aufgrund der Resultate, ob sie bereits für die zweite Klasse in Frage kämen? Und dann geht’s mit der zweiten Klasse genauso von vorn los… bis zur dritten?“ Alle starrten ihn an und Harry kam ins Stocken, als er fragte: „So… meinen Sie… oder… wie genau denn sonst…?“
Unsicher verstummte Harry, weil alle Augen auf ihn gerichtet waren. Mit zwinkernden Augen sagte Albus enthusiastisch: „Harry, ich muss dir danken! Minister Weasley und ich hatten zwar einen anderen Unterrichtsplan entworfen, aber deiner scheint mir einleuchtender zu sein. Vor allem einfacher…“ Albus blickte auf eine faustdicke Akte vor ihm, die er mit seinem Zauberstab antippte und damit einfach verschwinden ließ. Harry fiel ein Stein vom Herzen. Er war dankbar, dass er sich beim ersten Lehrertreffen nicht zum Volltrottel gemacht hatte.
„Die Elf- und Zwölfjährigen, die sowieso das erste Mal zur Schule gehen würden, würden wie üblich im September eingeschult werden. Diejenigen, die Schuljahre missen mussten, werden wir solange prüfen, bis für sie eine Klasse mit dem entsprechenden Bildungsstand gefunden worden ist. Das möchten wir bis September erreichen! Hat sonst noch jemand Fragen?“ Albus blickte seine Lehrkörper an und sagte dann: „Gut, dann werde ich Ihnen spätestens übermorgen einige Informationen zukommen lassen. Ich möchte Sie bitten, schon jetzt Test- und Prüfungsaufgaben vorzubereiten, mit denen Sie den Kenntnisstand Ihrer Schüler überprüfen können. Ach, eine Sache noch, Severus?“ Alle blickten zu Severus hinüber, bevor Albus fragte: „Wärst du bereit, wieder Hauslehrer von Slytherin zu sein? Das hatte ich noch nicht gefragt, wenn ich mich recht entsinne!“
Severus überlegte nicht lang und antwortete sofort: „Natürlich, Albus!“
Das Abendessen ließ Harry ausfallen, denn er grübelte bereits über seinen ersten Testbogen, den er den Schülern geben wollte. Er erinnerte sich an eine Zeit in seiner Muggelschule, als ein Lehrer für einen anderen eingesprungen war, der wegen einer Operation die nächsten Monate ausfallen würde. Die Vertretung des Lehrers hatte auch einen Bogen verteilt, um zu sehen, was die Schüler bereits wussten und was nicht. In dieser Art gestaltete Harry seinen Test mit Fragen wie:
Hast du schon einmal von Rotkappen, Hinkepanks, Kappas, Kelpies oder Grindelohs gehört? (kurze Erläuterung anfügen)
Weiß du, wie man einen Werwolf erkennt?
Wie viele Unverzeihliche gibt es? (nenne sie)
Nenne drei Flüche (und ggf. einen passenden Abwehrzauber), die einen Zauberer außer Gefecht setzen!
Bist du mit zauberstab- oder wortloser Magie vertraut? (nenne Beispiele)
Nachdem das Abendessen in der großen Halle offiziell vorbei sein musste, hörte Harry ein lautes Plop. „Harry Potter, Sir! Dobby ist so froh, Harry Potter wiederzusehen! So froh!!“
Harry grinste den Hauselfen an und grüßte: „Dobby! Schön dich zu sehen. Wo warst du die ganze Zeit, wenn nicht in Hogwarts?“
Dobby hüpfte aufgeregt und vor Freude strahlend herum, als er antwortete: „Professor McGonagall hat Dobby und all die anderen Hauselfen in Sicherheit gebracht, bevor die Schule schließen musste. Nur zwei Hauselfen sind hier geblieben. Dobby war traurig darüber, dass er nicht einer von den beiden sein durfte.“ Der Elf ließ die Ohren hängen, aber von einer Sekunde zur anderen war er wieder fröhlich, als er sagte: „Dobby ist ja so glücklich, dass Harry Potter wieder in Hogwarts ist!“
Die beiden unterhielten sich eine Zeit lang. Der Hauself schien vor Freude fast ein wenig überdreht, aber vielleicht war Harry seinen kleinen Freund nur nicht mehr gewohnt.
Nach einer Weile erklärte Dobby: „Dobby hat etwas gefunden, das er Harry Potter geben möchte!“ Mit großen Augen beobachtete Harry, wie Dobby unter einer seinen vielen Strickmützen ein gefaltetes Stück Papier herauszog. Er reichte es Harry und sagte: „Dobby glaubt, dass das hier für Harry Potter sein muss!“ Eine Augenbraue in die Höhe ziehend entfaltete Harry das schmutzige, an den Ecken ausgefranste Stückchen Pergament. In ihm befand sich ein großer, grauer Schlüssel.
„Warum glaubst du, dass das für mich ist?“, fragte Harry erstaunt.
Dobby erklärte mit flüsternder Stimme: „Dobby hat es erst jetzt gefunden. Es hat Kreacher gehört!“
Ungläubig schüttelte Harry den Kopf und erklärte: „Nein, das kann nicht sein. Hauselfen haben keinen Besitz!“ Dobby kniff die Augen zusammen und stellte ein Bein vor, damit Harry die rosafarbenen Socken mit den gelben Sonnen darauf sehen konnte. Lächelnd verbesserte sich Harry: „Gut, außer Winky und dir hat kein Hauself einen eigenen Besitz. Das kann nicht von Kreacher sein! Außerdem ist der schon lange tot.“
Dobby nickte und erklärte: „Dobby hat Kreacher nicht gut leiden können, aber Dobby hat Kreacher nie gewünscht, draußen einfach tot umzufallen.“
Es war Dobby gewesen, der den betagten Hauself der Familie Black auf dem Hogwarts-Gelände mitten auf dem Rasen gefunden hatte. Warum Kreacher dort gewesen war, hatte er mit ins Grab genommen.
Der Hauself gestand mit hoher Stimme: „Dobby hat Kreacher lange Zeit beobachtet. Dobby hat gesehen, wie Kreacher manchmal Dinge unter einer losen Diele in der Küche versteckt hat! Erst heute Abend, als wir Hauselfen zurück nach Hogwarts gerufen wurden, da hat Dobby unter die Diele geschaut. Harry Potter war Kreachers letzter Meister. Deswegen weiß Dobby, dass alles Harry Potter gehören muss, was Kreacher gehört hat.“
Nachdem Dobby ihn alleingelassen hatte, starrte Harry auf den schweren, eisernen Schlüssel und fragte sich selbst, wozu der gut sein sollte. Ein Schlüssel wofür? Und warum hat Kreacher ihn versteckt? Harry wickelte den Schlüssel wieder in das Pergament ein und legte ihn in die Schublade seines Nachttisches.
Die Briefe an die Schüler hatte man noch am Abend abgeschickt. Sogar denen, die längst erwachsen waren, wollte Professor Dumbledore die Möglichkeit geben, ihren Schulabschluss nachholen zu können. So staunte Draco nicht schlecht, als er am nächsten Morgen einen Brief erhielt.
„Sehr geehrter Mr. Malfoy,
aufgrund der Umstände der letzten Jahre konnten viele Schüler, darunter auch Sie, ihren Schulabschluss und die UTZ-Prüfung nicht absolvieren. Trotzdem Sie bereits mit beiden Beinen im Leben stehen, biete ich Ihnen die Möglichkeit, Hogwarts für das siebte Schuljahr besuchen und die notwendigen Prüfungen ablegen zu können. Sie können entweder Anfang März mit einer ins Leben gerufenen Aufbauklasse beginnen, um Ihre Kenntnisse aufzufrischen, oder ab September die siebte Klasse besuchen.
Die Entscheidung, ob Sie von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, liegt ganz bei Ihnen.
Mit freundlichen Grüßen,
Professor Albus Dumbledore
Schulleiter von Hogwarts“
Draco rollte mit den Augen. Die letzte Klasse nachholen? Das auch noch mit Schülern, die sechzehn oder siebzehn Jahre alt sein würden und er als Erwachsener mittendrin? Mit Sicherheit würde dies eine interessante Erfahrung werden. Neue Schüler, neue Lehrer; in einer Zeit des Friedens. „Vielleicht…?“, dachte Draco laut. Abrupt schüttelte er den Kopf und warf den Brief achtlos auf seinen Tisch.
Mit grollendem Magen marschierte Draco in die große Halle. Erst in zwei Wochen würde die Schule mit den Aufbauklassen beginnen, weswegen zum Frühstück nur der Lehrertisch gedeckt war, an dem auch Draco gelegentlich speiste, wenn ihm die Stille in seinen Räumlichkeiten aufs Gemüt schlug. Wortlos grüßte Draco die Lehrer, von denen er nicht alle kannte, während er auf einen freien Platz zusteuerte. Erst nachdem er sich gesetzt hatte, bemerkte er links neben sich einen aufgewühlten, in Pergament blätternden und in Büchern nachschlagenden Harry.
„Meine Güte, Harry. Hast du kein Büro für so was?“, fragte Draco genervt, als er ein aufgeschlagenes Buch zur Seite schob, welches definitiv zu dicht an seinem Teller lag.
„Oh, tut mir Leid“, antwortete Harry, der seine ausgebreiteten Unterrichtsstoffe auf dem Tisch zwischen Brötchenkörben und Marmeladengläsern umherschob, damit Draco sich davon nicht belästigt fühlen würde.
„Um Himmels Willen, Potter! Passen Sie doch auf!“, grollte die Stimme links von Harrys. Versehentlich hatte er mit einem Buch die Kaffeetasse von Severus erwischt, deren Inhalt sich über dessen Teller ergossen hatte. Ungläubig starrte Harry auf die Toastkrümel, die in dem Teller schwammen. Er nahm seinen Zauberstab und machte das Missgeschick rückgängig. Gleich darauf zückte Severus seinen Zauberstab, woraufhin Harrys Bücher und Pergamentrollen auf der Stelle verschwanden.
„Wo sind sie hin? Wo haben Sie meine Bücher hingezaubert?“, fragte Harry panisch.
Severus erwiderte mit ruhiger Stimme: „Da, wo sie hingehören: in Ihr Büro. Jetzt erweisen Sie uns allen die Höflichkeit, in Ruhe frühstücken zu können. Und tun Sie sich selbst auch den Gefallen, Harry. Sie machen sich noch verrückt!“
Draco hatte bemerkt, dass Harrys Teller unbenutzt war und fragte nebenbei: „Hast du noch nichts gegessen?“ Harry schüttelte den Kopf, machte aber keine Anstalten, beim Buffet zuzugreifen.
„Ich werde in mein Büro gehen!“, sagte Harry nervös.
Severus rollte mit den Augen und befahl mit bedrohlich leiser Stimme: „Sie bleiben hier sitzen und frühstücken!“ Als ob es abgesprochen war legte Draco zwei Scheiben Toast auf Harrys Teller und rückte danach die Butter in Reichweite.
Severus konnte sehr gut nachvollziehen, wie es Harry ergehen musste. Er selbst war in fast dem gleichen Alter, als er in Hogwarts zu lehren begonnen hatte. Allerdings hatte er nach außen hin nie gezeigt, wie aufgeregt er gewesen war oder wie ihn die Arbeit zu Beginn zu überfordern schien. Harry machte genau das Gegenteil. Neben ihm zu sitzen war genauso nervenaufreibend als würde man neben einem Bienenstock frühstücken.
Ermutigend sagte Severus, wenngleich seine Stimme gewohnt emotionslos klang: „Sie werden schnell Routine gewinnen. Machen Sie sich keinen Kopf über Ihre Arbeit. Die Schüler merken sowieso nicht, ob Sie einen Fehler machen oder nicht.“
Resignierend antwortete Harry: „Wenn ich eine kleine Hermine in meiner Klasse haben sollte, würde das sehr wohl rauskommen.“ Um Harry nicht zu beunruhigen, stimmte er dessen Aussage nur innerlich mit einem Schmunzeln zu.
Den zweiten Toast zu essen war bereits eine Qual. Draco hingegen ließ es sich schmecken. Er hatte so häufig zugegriffen und sein Essen in hoher Geschwindigkeit verputzt, dass Harry erstaunt fragte: „Hast du schon immer so viel essen können?“ Draco öffnete nicht sofort den Mund. Dieses Mal machte er etwas, was er selten tat, denn er dachte nach, bevor er antwortete.
Letztendlich erwiderte Draco: „Vielleicht hab ich nur Langeweile?“
Nachdenklich blickte Harry auf seine angebissene Scheibe Toast. Er versetzte sich in Draco hinein und kam zu der Erkenntnis, dass dessen Leben tatsächlich langweilig sein musste. Draco hatte keinen Job, keine Freundin, obwohl Harry hier grinsen musste, und offenbar hatte er keine ausfüllenden Hobbys. Er wohnte, wie er selbst, in Hogwarts und hatte nichts zu tun. Harry blinzelte, denn es kam ihm eine Idee.
Mutig fragte er: „Wenn du Langeweile hast, vielleicht kannst du mir helfen, meine Erinnerungen an den Unterricht etwas aufzufrischen?“ Fragend blickte ihn Draco an, während er von einem Toast mit Rührei abbiss. Harry wurde genauer und erklärte: „In Verteidigung meine ich. Ich versuche, mir den Unterricht ins Gedächtnis zurückzurufen, um Fragebögen für die Schüler zu erstellen. Ich hab immer das Gefühl, dass ich wichtige Dinge vergessen habe.“
Draco stöhnte auf und empfahl: „Frag Severus…“
Severus hatte das Gespräch der beiden verfolgt und erwiderte gelassen: „Kommt nicht in Frage! Ich bin mit meinen eigenen Fragebögen beschäftigt.“
Harry wandte sich erneut an Draco und fragte hoffnungsvoll: „Und?“
„Warum fragst du gerade mich?“, wollte Draco wissen.
Harry zuckte mit den Schultern und erwiderte: „Wenn ich so nachdenke: dein ’Serpensortia’ hatte schon was; den haben wir nicht gelernt. Das Duell zwischen uns war unentschieden…“
Draco unterbrach und konterte lachend: „Ja, weil du unbedingt ein kleines Schwätzchen mit meiner Kobra halten musstest!“ Etwas ernster fügte er hinzu: „Wie kann ich dir schon helfen? Mit deinem Sectumsempra hast du ja wohl gezeigt, was du vollbringen kannst!“
Mit einem Male wurde Harry ganz bleich, als er sich an die Situation erinnerte, in welcher er diesen Fluch ausprobiert hatte. In der sechsten Klasse war er in dem Lehrbuch des Halbblutprinzen auf diesen „Fluch gegen Feinde“ gestoßen, aber er hatte nicht gewusst, was er bewirken würde. Auf der Mädchentoilette von Myrthe hatte er ihn unüberlegt im Kampf gegen Draco angewandt und war über das Ergebnis entsetzt gewesen. Es waren klaffende, stark blutende Wunden gewesen, die der Fluch auf Dracos Rumpf hinterlassen hatten. Wäre Severus nicht zufällig hinzugestoßen, dann wäre Draco wahrscheinlich aufgrund der vielen, tiefen Schnitte verblutet, die der Sectumsempra verursacht hatte.
Als Harry den blutenden Draco vor dem inneren Auge sah, drehte sich ihm der Magen um und er ließ seinen angebissenen Toast langsam auf den Teller zurückgleiten. Harry wollte sich nicht rechtfertigen, aber entschuldigen, als er kleinlaut erklärte: „Der Spruch war nicht von mir und ich wusste nicht, was er bewirkt… Hätte ich’s gewusst, dann hätte ich ihn niemals angewandt.“
Draco schnaufte kurz und erwiderte scheinbar zusammenhanglos: „Schon mal aufgefallen, dass wir uns in den ganzen Monaten, die wir schon hier in Hogwarts verbracht haben, nicht ein einziges Mal gegenseitig verhext haben?“
Harry antwortete schnell: „Und es wäre schön, wenn das so bleibt!“
Bevor er einen Schluck Kaffee zu sich nahm, sagte Draco gequält lächelnd in seine Tasse hinein: „Die wilden Jahre sind offensichtlich vorbei.“
Erneut blickte Harry dem Blonden in die Augen und fragte nochmals: „Und? Würdest du mir trotzdem helfen?“
Wieder stöhnte Draco, aber er antwortete letztendlich gelangweilt klingend: „Ja, warum nicht? Ich hab eh nichts anderes vor.“
In diesem Moment kamen die Eulen durchs Dach geflogen. Severus erhielt einen Brief von Hermine, während Draco einen Brief von Susan in der Hand hielt. Harry ging leer aus, was Draco sehr verwunderte und ihn amüsiert fragen ließ: „Warum bekommt ’der Retter der Welt’ keine Eule?“
Harry winkte ab und erklärte: „Ich bekomme so viel Post, dass sich die Hauselfen darum kümmern müssen. Die sortieren erst aus, bevor sie die Briefe in mein Zimmer bringen.“
Amüsiert zog Draco eine Augenbraue hoch, als er spöttisch fragte: „Ah, ’Sankt Potter’ bekommt also unzählige Fanpost von Verehrerinnen?“
Harry konterte mit gelassener Miene: „Ja auch, aber die Hauselfen kümmern sich erst um meine Post, nachdem man mir letzte Woche eine Briefbombe geschickt hatte.“
Draco entglitten sämtliche Gesichtszüge. Schnell fing er sich wieder, bevor er leise und berührt sagte: „Tut mir Leid, das wusste ich nicht.“
In Harrys Büro fiel Draco zunächst der Berg an Post auf, der sich auf dem Schreibtisch stapelte. „Dafür brauchst du doch eine Ewigkeit, wenn jeden Tag so viele Briefe für dich kommen!“, sagte Draco mit großen Augen.
„Ach, das ist gar nicht so schlimm. Mittlerweile habe ich einen Blick dafür, was ein Brief beinhaltet. Ich lese selten einen komplett. Der Absender verrät schon das meiste. Der erste Absatz ist oft ausschlaggebend“, erklärte Harry, aber Draco schien nicht zu verstehen.
„Warte, ich zeig dir, was ich meine“, sagte Harry, als er willkürlich einen Brief vom Stapel nahm. Er las vor: „’Lieber Harry, ich möchte dir danken, dass du uns befreit hast von all dem Bösen…’
Ich brauch gar nicht weiterzulesen. Das ist ein normales Dankschreiben; der Schrift zufolge von einem Kind.“ Harry überflog den Brief und seine eigene Vermutung hatte sich bestätigt, woraufhin er nickte.
Er nahm einen weiteren Brief und zitierte: „’Sehr geehrter Mr. Potter, aufgrund Ihrer Verdienste möchte wir Sie einladen zu einem…’
Die wollen irgendwas Öffentliches mit mir machen, eine Veranstaltung oder Eröffnung oder so. Auf jeden Fall wollen sie ihre Sache mit meinem Namen etwas aufpeppen. Mal sehen, was der nächste Brief sagt: ’Sehr geehrter Mr. Potter, als Leiter der Initiative für die Forderung eines Anti-Diskriminierungsgesetzes für magische und nichtmagische Halbwesen…’
Die wollen Geld und wenn möglich noch meinen Namen für ihre Initiative gewinnen. Hört sich aber interessant an. Werde ich später zu Ende lesen.“
Draco war völlig perplex und forderte Harry auf, ein oder zwei weitere Briefe zu öffnen. Noch bevor Harry laut vorlas, verzog er sein Gesicht.
„Was ist? Was steht da?“, fragte Draco neugierig.
Harry warf den Brief in den Papierkorb und antwortete: „Da will jemand ein Kind von mir. Kommt auch vor. Versteh ich echt nicht. Die kennen mich doch nicht einmal.“
Bei einem Hauselfen bestellte Harry zunächst noch etwas Süßes, was sofort geliefert wurde.
„Also, was willst du von mir?“, fragte Draco, der sich im Nachhinein wünschte, er hätte sich nicht so genervt klingend ausgedrückt.
Harry machte das nichts aus und erklärte ohne Umschweife: „Na ja, erzählt mir einfach, was dir von dem Fach Verteidigung noch so im Kopf geblieben ist oder was du sonst noch in dem Bereich interessant findest.“ Draco ließ sich auf dem Sofa nieder und überlegte.
Als Erstes fielen ihm die fünf Jahre Flucht ein, in denen er tagtäglich von Severus unterrichtet worden war. An die vergangenen Schuljahre konnte er sich jedoch nicht sofort erinnern.
Wenn Du Lob, Anmerkungen, Kritik etc. über dieses Kapitel loswerden möchtest, kannst Du einen Kommentar verfassen.
Zurück zur Übersicht - Weiter zum nächsten Kapitel