von Muggelchen
Nachdem das Gewitter abgeklungen war, bedankte sich Anne bei Madame Rosmerta für die Wegbeschreibung zum Schloss. Die nette Eigentümerin der Gaststätte hatte die Ruine ständig Hogwarts genannt und von diesem Ort gesprochen, als wäre es eine Schule.
Jeder ihrer Schritte erzeugte ein schmatzendes Geräusch unter den Sohlen, als sie über den durchnässten Sandweg lief. Neben einer dunklen, pilzähnlichen Wolke erkannte Anne in der Ferne die gesuchte Ruine. Kurz danach versicherte ihr ein hölzerner Wegweiser, dass sie sich nicht verlaufen hatte. Hogsmeade stand auf dem Schild, das in die Richtung zeigte, aus der sie kam und so machte sie sich auf nach Hogwarts.
Als sie den Überresten des einst imposanten Schlosses näher kam, flackerten kleine Lichtblitze auf, die an den porösen Wänden emporstiegen. Verwundert blieb Anne stehen. Die Lichtfäden breiteten sich immer mehr aus. Sie krochen an den Mauern der Ruine hinauf, glitten durch die Ritzen der Steine, umkreisten die Bögen ehemaliger Fenster und schlängelten sich spiralförmig an den Türmen hinauf. Langsam ging Anne einige Schritte näher. Bald musste sie sich die Augen bedecken, denn das Licht wurde unerträglich hell.
Nach wenigen Minuten blinzelte sie unter ihrem Arm hervor. Vor lauter Staunen riss sie ihre Augen weit auf. Sie blickte nicht mehr auf die Überreste eines Schlosses, denn das Lichtermeer hatte aus der Ruine ein märchenhaftes Gebäude gezaubert. Durch die Schönheit der Verzierungen paralysiert führte Anne bedächtig ihren Weg durch einen gestelzten Rundbogen fort.
Harry und Severus waren gerade wieder zurück von ihrem Spaziergang, da meldete sich Professor Dumbledore per Flohnetz bei Severus. Ein Eindringling wäre in Hogwarts, erklärte er gelassen, fast schon amüsiert. Harry hatte das Gespräch stillschweigend verfolgt. Er bemerkte, wie Severus mit einem Male wie ausgewechselt schien. Aufgeweckt fragte er Dumbledore, wo der Eindringling sich befinden würde und ob man ihn dingfest machen wollte. Harry grinste bei dem Gedanken, eben Zeuge dessen gewesen zu sein, wie Severus in seinen Spion-Modus gewechselt hatte. Der Direktor versicherte, dass es keinen Grund zur Sorge gäbe, aber dass man den Eindringling empfangen sollte, damit dieser sich nicht im Schloss verlaufen würde.
Nach einer kurzen Anweisung zog Severus seinen Stab und sagte forsch: „Kommen Sie, Potter!“ Er hatte arge Probleme, mit Severus Schritt zu halten. Nachdem sie einige Gänge und Kurven hinter sich gelassen hatten, bemerkten sie eine junge Frau in der Eingangshalle, die sich sorglos die Decke anzusehen schien, während sie sich wie in Zeitlupe drehte. Als Harry sie sah, dachte er an eine Touristin, die ihre Gruppe verloren hatte. Harry wollte Severus gerade mitteilen, dass er die Frau für harmlos hielt, da stürmte der bereits mit erhobenem Zauberstab auf sie zu. Mit knurrender Stimme sagte er so beängstigend laut, dass ein Echo in der Halle zurückgeworfen wurde: „Stehen bleiben und keine Bewegung! Wer sind Sie und was machen Sie hier?“
Die hohe Decke und die endlosen Verzierungen an den Wänden hatten Anne den Atem geraubt. Als sie eine laute Stimme hörte, zuckte sie zusammen. Sie ließ ihre Reisetasche fallen und wich einen Schritt zurück. Nochmals wurde ihr zugerufen: „Stehen bleiben!“ Anne erstarrte zur Salzsäule.
Ein groĂźer, ganz in schwarz gekleideter Mann mit eindrucksvoll wehendem Umhang stĂĽrmte auf sie zu und presste ihr einen Stab an die Kehle. Um Schlimmeres zu verhindern, folgte Harry ihm. Er betrachtete ihre Tasche und erkannte darauf das Logo einer Markenfirma aus der Muggelwelt. Dadurch war er nur noch mehr davon ĂĽberzeugt, dass von ihr keine Gefahr ausging.
„Ähm, Professor Snape? Ich denke, das ist nicht notwendig, die Frau zu bedrohen. Professor Dumbledore sagte, wir sollten sie empfangen.“
Mit zittriger Stimme schilderte Anne: „Also, ich bin in meinem Leben ja schon mal in eine Situation geraten, in der man mich bedroht hat und ich hatte sogar mal einmal ein Messer an der Kehle. Aber nie – wirklich noch niemals – hat mich jemand mit einem Holzstab bedroht.“
Severus stutzte und überlegte, wer zu einem kunstvoll hergestellten Zauberstab so plump Holzstab sagen würde, da fiel sein Blick auf ihre Kleidung. „Ein Muggel?“, murmelte Severus entgeistert zu sich selbst.
Die junge Frau antwortete: „Das Wort hab ich heute schon einmal gehört. Wenn Sie mir erklären, was genau ein Muggel ist, dann kann ich Ihnen auch sagen, ob ich einer bin.“
Langsam ließ Severus seinen Zauberstab sinken. Harry schaltete sich ein und fragte freundlich: „Können Sie zaubern?“
„Ich hab ein paar Kartentricks drauf, aber ich glaube, das zählt nicht“, erwiderte sie unsicher.
Lächelnd klärte Harry die Frau auf: „Dann sind Sie ein Muggel. Muggel sind Menschen, die nicht zaubern können.“
Bevor er ausholen konnte, gesellten sich Sirius und Dumbledore zu den dreien. Mit einem Glitzern in den Augen stellte Professor Dumbledore sich namentlich vor und begrüßte seinen Gast mit den Worten: „Willkommen in Hogwarts, Miss …?“
„Adair, Anne Adair.“ Nach kurzer Bekanntmachung erklärte Anne: „Ich bin hier, weil ich einen Zauberstab dabei habe.“ Sie zeigte auf ihre Tasche, traute sich aber nicht, sie zu berühren. „Er gehört einem jungen Mann namens Draco.“ Sie wartete die Reaktionen ab und bemerkte, dass jeder den jungen Mann zu kennen schien. „Er sagte, er würde hier wohnen.“
Erstaunt blickte Severus drein: „Sie haben seinen …? Wie sind Sie in den Besitz des Zauberstabes gelangt?“
Sie erklärte kurz, wie sie Draco kennen gelernt hatte, ließ aber vorsichtshalber die Details bezüglich seiner Trunkenheit aus, die ihn in ein schlechtes Licht rücken könnten. Für die Zuhörer klang es so, als wäre Draco überfallen worden. Sie hätte einen Tag später seinen Zauberstab gefunden, den sie jetzt zurückbringen wollte, sagte Anne ehrlich. Severus war enttäuscht, dass Draco ihm von diesem Zwischenfall nichts erzählt hatte.
„Mein Auto steckt fest, etwa eine Dreiviertelstunde Fußweg von hier.“
Dumbledore beruhigte die junge Frau. „Ich werde dafür sorgen, dass man es herbringt. Für die Nacht möchte ich Ihnen ein Zimmer in unserem Schloss anbieten, Miss Adair. Sie haben sicher nicht vor, sofort den Heimweg anzutreten.“
„Ach, das ist aber nett.“ Verlegen spielte sie mit ihrer Halskette. „Wirklich sehr freundlich von Ihnen, Mr. Dumbledore.“
„Nichts zu danken, gute Frau.“ Er wandte sich an Sirius. „Würdest du mir den Gefallen erweisen, Miss Adair das Zimmer neben dem eurem zu zeigen? Vielleicht bittest du einen Elf um ein Abendessen.“ Dumbledore schaute Anne an. „Haben Sie schon etwas zu Abend gegessen?“
„Nein, die Küche bei Madam Rosmerta war leider schon geschlossen, aber ich habe Butterbier getrunken!“
Hier staunte Sirius. „Sie waren in den Drei Besen?“
„Ja, genau so heißt die Gaststätte. Sehr gemütlich und die Wirtin ist wahnsinnig nett. Sie hat mir meine Hosen getrocknet!“
Sirius musste lächeln, als die junge Frau von ihrer Begegnung Rosmerta schwärmte. Ihre Begeisterung für die gerade entdeckte Magie machte sie so lebendig.
„Das Schloss ist ein Traum“, schmeichelte sie. „Überall waren Blitze und die Ruine hat sich vor meinen Augen verwandelt.“ Skeptisch kniff Severus die Augen und blickte hinüber zu Albus, doch der schien sich nicht zu sorgen. „Sagen Sie, die Eulen … Kann es sein, dass die Vögel sowas wie Postboten sind.“
„Das wird Mr. Black Ihnen alles sicher gern erklären“, versicherte Dumbledore.
„Ja, sicher.“ Im Nu war Sirius bei ihr und nahm ihre Tasche. „Wenn Sie mir folgen möchten? Ich kann Sie nachher gern noch im Schloss herumführen. Oder morgen, falls Sie nach dem Abendessen zu müde sind.“ Die beiden entfernten sich langsam von den dreien, aber noch immer hörte man Sirius völlig entflammt reden. „Mögen Sie Eulen?“ Sie nickte. „Dann müssen Sie unbedingt die Eulerei sehen. Die Tierchen lassen sich auch streicheln und ...“
Jetzt hörte man Sirius nicht mehr. In Harrys Augen schien sein Patenonkel auf Anhieb von dem Gast sehr angetan. Das konnte jeder sehen. Kurz nach dem Vorfall mit Anne schlug Severus genervt den Weg in die Kerker ein. Als er Schritte hinter sich hörte, drehte er sich im Gehen um. Harry holte auf.
„Warum folgen Sie mir? Der Hund war heute schon dreimal draußen“, fragte Severus, als Harry vor dem Gemälde von Salazar Slytherin stand.
„Ähm …“ Harry war um eine Antwort verlegen. Er hatte den ganzen Weg über von der jungen Frau gesprochen, weil er es seltsam fand, dass ein Muggel Hogwarts sehen konnte. „Na ja, ich dachte, ich bekomme einen Tee. Sie haben mir vorhin einen angeboten.“
Schnippisch erwiderte Snape: „Das war vor über zwei Stunden, Potter!“
Harry zuckte mit den Schultern. „Na und? Wir müssen morgen ja nicht früh raus, oder? Was spricht gegen eine Tasse Tee am Abend?“
Seufzend ließ Severus Harry in sein Wohnzimmer. „Normalerweise genehmige ich mir um diese Uhrzeit einen Feuerwhisky oder einen Schluck Elfenwein, keinen Tee.“
„Dann nehme ich einen Feuerwhisky. Danke!“, sagte Harry lächelnd, weil er den Zaubertränkelehrer somit nötigte, ihm ein Gastgeber zu sein. Severus rollte seine Augen, schenkte jedoch zwei Gläser Whisky ein.
Nach dem ersten Feuerwhisky, der ihm in der Kehle brannte, fragte Harry bereits leicht angeheitert, weil er Alkohol überhaupt nicht gewohnt war: „Wäre Miss Adair nicht jemand für Sie?“
Die Augenbrauen zusammenziehend fragte Severus: „Was meinen Sie?“
Ungefragt schenkte Harry sich nach und erklärte nebensächlich klingend: „Na ja, ich meine, wäre sie als Frau nicht jemand für Sie? Sie könnten sich doch näher mit ihr bekanntmachen.“
„Und warum sollte ich das bitte wollen?“ Severus war grantig. Er ahnte, auf welche Art Gespräch Harry aus war und das gefiel ihm ganz und gar nicht.
„Ach, Sie wissen doch, was ich meine“, sagte Harry gespielt vorwurfsvoll. So oft wie an diesem Abend hatte Severus noch nie mit den Augen gerollt.
„Ich hatte eher den Eindruck, als wäre der Rüde, der in Ihrem Haushalt lebt, gerade läufig.“
Harry stürzte die erste Hälfte des zweiten Whiskys hinunter und schenkte sich einen dritten ein. „Machen Sie sich doch nicht immer über ihn lustig“, sagte er gelangweilt, keinesfalls verärgert und nippte an dem kostbaren Nass.
Eine Moment lang saĂźen beide nebeneinander, ohne sich zu unterhalten. Stattdessen sorgte der Hund fĂĽr Abwechslung. Er hatte es auf Harrys SchnĂĽrsenkel abgesehen. Immer wieder trank Harry zwischenzeitlich seinen Whisky, der ihm langsam zu Kopf stieg. In Rekordzeit war das dritte Glas geleert.
Mit schwerer Zunge sagte Harry: „Ich hab mich neulich mit Sirius über Sie unterhalten. Über Sie und Frauen. Wir denken, nein, ich denke, dass eine Frau Ihnen gut …“
Abrupt war Severus aufgestanden und blickte Harry durch vor Zorn verengte Augenlider an, als er bedrohlich leise befahl: „Verlassen Sie auf der Stelle meine Räumlichkeiten!“
Es war der Fakt, dass Harry sich ausgerechnet mit Black ĂĽber ihn unterhalten hatte, was ihn zur WeiĂźglut brachte. Wenn dieser Mann ĂĽber ihn sprach, dann fiel mit Sicherheit kein einziges, nettes Wort. Der Gedanke daran, dass Harry sich zusammen mit dessen Patenonkel ĂĽber ihn das Maul zerriss, verletzte ihn, dabei konnte Severus den kĂĽnftigen Kollegen von Tag zu Tag besser leiden.
„Haben Sie nicht gehört, Potter?“, zischelte Severus. Harry blickte ihn entsetzt an, bevor er auf den Boden starrte und die Schultern hängen ließ.
Etwas irritiert über Harrys ruhige Reaktion wollte er gerade seine Aufforderung wiederholen, da sagte Harry kleinlaut und auch hörbar alkoholisiert: „Ich überlege gerade, mit was ich Sie so verärgert habe. Das wollte ich bestimmt nicht, Professor Snape. Es war doch bisher ein netter Abend. ’s lag mir fern, dass der so endet.“
Harry seufzte. Das leere Glas stellte er auf den Tisch, bevor er aufstand und sich leicht torkelnd zur Tür begab. Er hatte schon ewig nichts Alkoholisches mehr getrunken und war von den beiden Gläsern des kräftigen Whiskys ordentlich beschwipst. Severus folgte ihm und öffnete die Tür kommentarlos. Als Harry über die Schwelle getreten war, drehte er sich hoffnungsvollen Blickes um.
„Wir sehen uns aber morgen, ja? Wie immer?“ Der Ärger schien verflogen, als Severus in die großen, grünen Augen hinter der verhassten, runden Brille blickte, die erwartungsvoll auf ihn gerichtet waren. Severus brachte plötzlich kein Wort mehr heraus. Er schluckte mehrmals, aber auch das half nicht. So konnte er Harry nur mit einem Nicken bedeuten, dass sie sich morgen vor dem Frühstück sehen würden. Harry lächelte erleichtert, bevor er eine gute Nacht wünschte und sich auf den Weg ins Erdgeschoss machte.
Einen Whisky genehmigte sich Severus noch. Als er daran nippte, versuchte er zu ergründen, warum es ihn sprachlos gemacht hatte, in Harrys Augen zu blicken. Von wem er diese Augen hatte, war kein Geheimnis. Aber was Severus in ihnen erkennen konnte, das war ungewöhnlich. Da war Angst zu sehen, nicht mehr täglich vorbeikommen zu dürfen, zudem Bedauern darüber, Severus unbeabsichtigt gekränkt zu haben. Als Severus sich darüber klar geworden war, dass es Gefühle waren, die sich in Harrys Augen offenbarten, befürchtete er, man könne Ähnliches womöglich auch aus seinen ablesen.
Auf der Treppe, die ins Erdgeschoss führte, traf ein schwankender Harry auf Draco. Schmunzelnd beobachtete Draco, wie Harry sich am Geländer nach oben zog. Harry bemerkte ihn erst, als er ihn versehentlich angestoßen hatte.
„Na, wie viele Gläschen haben dazu geführt, dass du nicht mehr aufrecht gehen kannst, Potter?“
„Zwei, nein drei“, verbesserte Harry.
Draco lachte herzhaft auf und murmelte: „Weichei…“ Kurz darauf brabbelte Harry etwas vor sich hin.
Um ihm zu lauschen, beugte sich Draco nach vorn, als Harry sagte: „Er ist sauer auf mich.“
„Wer? Snape?“, fragte Draco amüsiert. Harry nickte heftig.
„Er wollte nischts von ihr wissen. Ich hab nur gefragt, ob sie nich’ was für ihn wär“, lallte Harry.
„Wer?“
„Was?
„Wer wäre was für ihn?“
Dem Gespräch zu folgen fand Harry gar nicht so einfach, aber bald hatte er den Faden wiedergefunden: „Na, Anne! Anne Adair.“ Harry legte eine Hand auf Dracos Schulter. „Sie hat …“, Harry stieß auf. „Hoppla!“ Harry grinste schief. Um die Unterhaltung nicht zu unterbrechen, packte Draco den Betrunkenen am Arm, um ihn nach oben zu begleiten. „’s Mädel hat deinen Zauberstab gebracht. Issdis nich’ nett von ihr?“ Ihm entwich ein hicksendes Geräusch, das durch die hohe Decke im Eingangsbereich nachhallte. Beeindruckt blieb Harry stehen und blickte zur Decke. „War ich das?“
„Sie hat meinen Stab gebracht und du …?“ Er kombinierte das bisher Gehörte. „Du hast versucht, sie mit Snape zu verkuppeln?“
„Nur drüber geredet. Über ’ne Frau, meinich“, nuschelte Harry.
„Vielleicht solltest du es einfach unterlassen. Jemanden wie Snape verkuppelt man nicht. Das geht nach hinten los“, gab Draco als gut gemeinten Ratschlag.
Mit brummendem Schädel erwachte Harry auf seinem Bett. Er war noch angekleidet, aber die Schuhe und seinen Umhang hatte ihm jemand ausgezogen. Angestrengt überlegte Harry, was gestern geschehen war. An den Whisky bei Severus konnte er sich noch erinnern. Er rief sich ins Gedächtnis zurück, dass es insgesamt sogar zwei waren. Nein, drei. Er hätte das Abendessen doch nicht ausfallen lassen sollen, denn dann hätte der Whisky ihn nicht so umgehauen. Ganz neblig konnte er sich an einen Zwischenfall erinnern, aber nicht an den Auslöser. Er entsann sich zweier dunkler Augen, in denen er erst Wut und Enttäuschung, dann Verwirrung erkannt hatte. Harry schnellte hoch, als ihm bewusst geworden war, dass er irgendetwas gesagt haben musste, was Severus verletzte. Gerade jetzt, wo er die Rivalität ihrer Vergangenheit gemeinsam zu bewältigen hoffte, war er mal wieder mal in einen Fettnapf getreten. Zudem fragte er sich, wem die Stimme gehört hatte, die ihm davon abriet, Snape zu verkuppeln, obwohl das keineswegs seine Absicht gewesen war. Harry grübelte und kam schließlich darauf, dass es sich um Draco gehandelt hatte.
Nach einer erfrischenden Dusche durchsuchte Harry seine Schränke. Irgendwo lag eine Flasche Nesselwein, die er kurz nach dem Zwischenfall mit Snapes Denkarium gekauft hatte, um sich bei seinem Zaubertränkelehrer zu entschuldigen. Er hatte nie den Mut gehabt, ihm das Geschenk zu überreichen. Snape hatte es ihm nach diesem Vorfall nicht gerade erleichtert, sich ihm aus freien Stücken nähern zu wollen.
Zur gleichen Zeit in Severus’ Gemächern grübelte der Ex-Todesser über das nach, was man beinahe einen Traum nennen konnte. Er hatte vor dem Einschlafen immer wieder diese grünen Augen vor sich gehabt, die ihn an eine bestimmte Person erinnerten, somit auch an eine tiefe Schuld. Verärgert darüber, im Dämmerzugstand an die Augen eines ehemaligen Schülers gedacht zu haben, bereitete er sich innerlich darauf vor, Harry vor dem Frühstück anzutreffen. Er wollte unbedingt vermeiden, dem jungen Mann in die Augen zu sehen, nachdem ihm gestern Abend klar geworden war, dass man über sie tatsächlich Gefühle vermitteln konnte. Viel mehr noch beschäftigte ihn die Frage, ob man aus seinen Augen überhaupt etwas herauslesen könnte. Das sollte nach dem, was vor rund zwanzig Jahren geschehen war, völlig ausgeschlossen sein und doch war sich Severus selbst nicht mehr sicher.
Mit eingewickelter Flasche betrat Harry das Wohnzimmer seines kĂĽnftigen Kollegen und grĂĽĂźte zuerst Severus, danach den Hund, der bereits freudig mit dem Schwanz wedelte.
„Professor Snape, ich …“ Harry hielt inne, denn er hatte plötzlich Schwierigkeiten, seine heute früh vorgefertigte Entschuldigung auszusprechen. Er begann erneut, aber stockend: „Ich … Ich wollte …“
Von seinem ständigen Augenrollen schien er bereits Kopfschmerzen zu bekommen, weswegen Severus genervt befahl: „Bei Merlin, spucken Sie es endlich aus!“ Völlig aus der Bahn geworfen und unfähig, etwas sagen zu können, reichte Harry ihm die in Geschenkpapier eingewickelte Flasche. Verdutzt nahm Severus sie entgegen. „Was ist das?“
Gequält lächelte Harry. „Das ist ein Geschenk. Als Entschuldigung! Für was auch immer ich gesagt …“
„Nehmen Sie es zurück. Das ist nicht notwendig“, schlug Severus das Geschenk aus, aber sein Gast machte keine Anstalten, nach dem Präsent zu greifen. Demonstrativ hielt Harry seine Hände hinter dem Rücken.
Stattdessen entgegnete er: „Nein, die Flasche war schon seit Jahren für Sie bestimmt.“
Eine Augenbraue wanderte in die Höhe, bevor Severus skeptisch nachfragte: „Seit Jahren?“
Zustimmend nickend Harry. „In meinem fünften Schuljahr, als ich … Professor Snape, ich möchte wirklich keine alten Geschichten aufwärmen. Nehmen Sie das Geschenk einfach an, bitte.“
Severus spürte, dass er am längeren Hebel saß und wurde übermütig. „Ich werde kein Geschenk unter falschen Voraussetzungen annehmen. Wenn Sie mir diese Aufmerksamkeit einst zu einem völlig anderen Anlass überreichen wollten, dann möchte ich erfahren zu welchem.“
Resignierend ließ Harry sich auf der Couch nieder und sammelte sich. „Damals, als ich in Ihr Denkarium … Sie wollten, dass ich das erzähle, also hören Sie auf, mich mit Ihrem Todesblick zu bombardieren.“ Severus wandte den Blick von Harry ab und setzte sich ihm gegenüber. Harry riss sich zusammen und holte Luft. „Ich habe in Ihr Denkarium gesehen.“ Eine Tatsache. „Sie waren sauer …“ Weil sein Gegenüber den Mund öffnen wollte, stoppte Harry ihn mit hochgehaltener Hand. „Zu Recht! Ja, ich sehe ich es ein. Habe ich damals schon. Es tat mir im Nachhinein leid, dass ich Sie verdächtigt habe, wo immer ich die Gelegenheit dazu hatte.“ Harry schüttelte den Kopf. „Wenn mir aber auch niemand etwas sagt?“ Der Vorwurf galt eigentlich Dumbledore. „Es tut mir immer noch leid, dass ich Ihre Privatsphäre auf diese Weise verletzt habe. Andererseits war ich dankbar, weil die Erinnerung mir … Sie hat mir irgendwie die Augen geöffnet. Ich habe schon damals das Geschenk besorgt. Na ja, eher von Fred und George besorgen lassen, weil ich noch minderjährig war und man es mir nicht verkaufen wollte. Aber ich hab’s immerhin entdeckt! Nur hatte ich nie“, Harry spielte nervös mit seinem Ärmel, „die Gelegenheit, es Ihnen zu überreichen.“
Ungläubig schnaufte Severus. Aus seinem Spott machte er keinen Hehl, als er entgegnete: „Sie haben nie die Gelegenheit gehabt? Sie hatten fast ein Jahr Zeit, mir eine Entschuldigung entgegenzubringen und jetzt sagen Sie einfach, Sie hätten keine Gelegenheit gefunden? Wie überaus bedauerlich, Potter!“
Die Fäuste ballend sagte Harry: „Okay, ich hatte Angst! Ich hatte Angst, dass Sie mir den Kopf abreißen, wenn ich mich außerhalb des Unterrichts auch nur in die Nähe der Kerker wagen würde. Sie hatten die blöde Angewohnheit, die Zeit für mein Quidditchtraining eliminieren.“
Severus blieb ruhig. Er wägte die Situation einen Moment lang ab und entschloss sich dazu, die überfällige Entschuldigung anzunehmen. Wortlos entfernte er sehr zu Harrys Zufriedenheit das Geschenkpapier und blickte auf das Etikett der Flasche Nesselwein.
Nach einem kurzen Augenblick sagte Severus gedämpft: „Ich bedaure, aber ich kann das nicht annehmen, Mr. Potter.“
Erbost über die abgelehnte Entschuldigung fuhr in Harry an: „Warum sind Sie so? Warum können Sie nicht ein einziges Mal in Ihrem Leben jemandem verzeihen? Was muss ich denn tun, um das wiedergutmachen zu können?“
Harry wollte nochmals loslegen, als Severus ruhig entgegnete: „Die Flasche ist viel zu kostbar, worüber Sie sich offenbar nicht im Klaren sind. Sie stammt aus einem Jahr, in welchem einige Nesselzüchter ihre Ländereien mit Einhornmist gedüngt haben. Diese Flasche Wein entspringt einer Sonderabfüllung, die auf nur 300 Stück limitierte ist.“
Verblüfft riss Harry die Augen auf. Ihm entwich lediglich ein gehauchtes: „Echt?“
Über Harrys mangelhafte Konversation etwas ungehalten antwortete Severus: „Warum sonst, Mr. Potter, ist auf dem Etikett wohl ein Einhornkopf abgebildet? Und warum steht darunter handschriftlich 182 von 300?“
Es klopfte. Nachdem Severus die Tür geöffnet hatte, platzte die junge Frau von gestern Abend herein, die in Hogwarts nächtigen durfte. Sie fragte begeistert: „Hab ich eben was von Einhörnern gehört? Gibt es die tatsächlich?“ Harry nickte lächelnd. Bevor Severus zu Wort kam, sagte Anne: „Und ich dachte, er hätte nur geflunkert. Oh, ich würde so gern mal eines sehen! Er hat mir erzählt, dass es welche in eurem Wald gibt? Ich würde da so gern mal hin und erleben, wie es dort aussieht oder wie es dort riecht …“
Severus war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. Erst waren ihm gestern Abend zu seinem Entsetzen Harrys Augen nicht aus dem Kopf gegangen, dann wurde der peinliche Vorfall mit dem Denkarium angesprochen, was die Erinnerung an früher nur noch verstärkte und nun musste er auch noch das euphorische Geschwätz einer fremden Frau ertragen, die ungebeten in sein Wohnzimmer getreten war.
Wütend höhnte Severus: „Wie soll es da schon aussehen? Überall liegt Einhornmist herum und es riecht entsprechend danach.“
Abrupt verblasste Annes Begeisterung. Sie wandte sich mit ernster Miene an Harry und sagte wegen des zänkischen Kommentars des anderen Herren betrübt: „Sirius meinte, du würdest uns vielleicht bei einem Spaziergang in den Wald begleiten?“
Harry nickte und wollte gerade antworten, als Severus vor Wut geladen belferte: „Ach, sind Sie bereits per du mit Black? Er schickt Sie wohl, um Potter zu holen, weil er sich selbst nicht zu mir traut. Sieht ihm ähnlich. Hat er Sie denn auch schon mit seinem Urteil über mich vergiftet und …?“
Gereizt fiel Anne ihm ins Wort. „Er hat mir nicht seine Meinung aufgedrängt. Keine Sorge, das braucht er auch gar nicht. Ich finde, Sie haben das ganz gut selbst im Griff sich so zu präsentieren, dass man gleich ein richtiges Bild von Ihnen bekommt.“ Einen kurzen Augenblick traute sie sich, ihn wütend anzusehen, bevor sie sich an Harry wandte. Noch immer klang sie kühl. „Wir warten am Brunnen. Er meinte, du wüsstest schon.“
„Oh nein, Sie brauchen nicht auf Potter zu warten. Er wollte gerade gehen, nicht wahr?“ Severus drückte ihm die Leine und auch den Nesselwein in die Hand und schob ihn samt Hund zur Tür hinaus.
Das Verhalten des zornigen Mannes missbilligte Anne. „Ihnen noch einen guten Morgen“, sagte sie übertrieben höflich.
Es hallte durch den ganzen Gang, gar durch den gesamten Kerker, als Severus hinterherrief: „Wenn es diesem Tag an einer Sache mangelt, dann ist das ein guter Morgen!“ Gleich daraufhin hörte man, wie die Tür zugeschlagen wurde.
Anne legte eine Hand auf die Brust. Sie mochte Auseinandersetzungen dieser Art überhaupt nicht. Als sie Harry anschaute, stellte sie verwundert fest: „Sag mal, der hat dich eben rausgeschmissen, oder?“
„Ach, das ist …“ Er winkte ab. „Ich war schon überfällig. Ich glaube, ich ging ihm ziemlich auf den Geist.“
„Mhhm“, summte sie verunsichert.
Zitternd ließ Severus sich auf seiner Couch nieder. Er konnte sich seine Ausbrüche nicht erklären. Früher war er ein Experte darin gewesen, sich zu beherrschen. Es war völlig egal gewesen, wie aufreibend eine Situation war. Sein Zorn brach jetzt, nach dem Krieg, immer häufiger ungebremst hervor. Fernab jedweder Vernunft ergab er sich seiner Entrüstung in schwindelerregender Übertreibung, beinahe so, als würde er es auskosten, nicht mehr alles wortlos hinnehmen zu müssen. Nichtsdestotrotz überraschten ihn sein eigenes Wesen und die Fähigkeit dazu, sich mit belanglosen Kleinigkeiten abzugeben und sich über sie zu empören. Möglicherweise stellte dies ein erstes Zeichen seines neuen Selbst dar, das die neue Freiheit auskosten konnte. Einmal nicht den Mund halten und alles stillschweigend dulden, sondern auf der Stelle zu sagen, was ihm missfiel. Wenn Severus seine damaligen Reaktionen überdachte, waren die ähnlich gewesen. Potter und anderen gegenüber hatte er seine Abneigung nie verheimlicht, doch damals – und das war der große Unterschied –, haben ihn die Dinge nicht berührt. Wut und Hass. Das waren die wenigen der Gefühle, die er all die Jahre über gewohnt war, zu denen er uneingeschränkt fähig war. Sie hatten sein Innerstes beherrscht. Mit dem Gefühl der Unsicherheit, das ihn mittlerweile überkam, wenn beispielsweise Harry mit ihm sprach, als wäre er ein alter Vertrauter, konnte er nicht umgehen. Früher hätte ihn eine Entschuldigung unbeeindruckt gelassen, doch heute war das anders. Severus verstand die Welt nicht mehr. Irgendetwas ging in ihm vor. Er musste sich stark darauf konzentrieren, wieder der disziplinierte, unerschütterliche Snape zu werden, der er früher einmal war.
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