von Muggelchen
Wieder einmal führte ihn sein Weg in die Kerker zu Professor Snapes Gemächern. Es ließ Harry keine Ruhe. Er wollte mit Snape sprechen. Ob der das zulassen würde, stand auf einem anderen Blatt, aber Harry wollte es zumindest versucht haben.
Gedankenverloren schlenderte er versehentlich einige Schritte an Snapes persönlichen Räumen vorbei, bevor er Halt machte und zurückging. Er klopfte. Als Antwort hörte er von drinnen ein hohes Fiepen, was ihn im stutzig machte. Es folgte der harsch klingende Befehl: „Herein!“ Harry öffnete die Tür. Sein Blick fiel als Erstes auf den Boden, denn dort kauerte ein flauschig weißer Welpe im Kampf mit einem schwarzen Schuh, der zweifelsohne Snape gehörte. Die Schlappohren fielen ihm über die Augen, was den Hund Harrys Meinung nach noch einen Tick niedlicher machte. Der Welpe blickte auf und starrte Harry an. Ein aufgeregtes „Wuff“ ausstoßend tapste der junge Hund tollpatschig auf Harry zu. Von dem Verlangen übermannt, den kleinen Hund streicheln zu wollen, ging Harry in die Knie. Sein Vorhaben, Professor Snape einen Besuch abzustatten, schien völlig vergessen, als er dem Hund den Kopf tätschelte.
Eine barsche Stimme brachte ihn schnell wieder in die Realität zurück, als Professor Snape sagte: „Haben Sie Ihre Manieren vergessen oder sollte sich meine Vermutung hier und heute bestätigen, dass Sie nie welche besessen haben?“
Harry blickte entschuldigend auf und sagte: „Guten Morgen, Professor Snape. Verzeihen Sie, aber der Hund hat mich völlig abgelenkt. Er ist wirklich niedlich.“
Snape schnaufte hörbar bei dem Wort niedlich und entgegnete kühl: „Der Hund macht alles kaputt, ist unartig und hört auf keinen einzigen meiner Befehle.“
Harry war so frei von Sorge, dass er den boshaften Tonfall ignorierte und stattdessen mit netter Stimme fragte: „Wie heißt er denn?“
Ein freches Schmunzeln breitete sich über Snapes Lippen aus. „Ich habe ihn Harry getauft.“
Eigentlich hätte Harry sauer sein müssen, aber das war er nicht. Ein Hund, der nach ihm benannt worden war, aus welchen Gründen auch immer, war ihm noch nie unter die Augen gekommen. Die schwarzen Knopfaugen schauten ihn neugierig an, während der kleine Schwanz in einem so hohen Tempo wedelte, dass man ihn nur verschwommen wahrnahm.
„Na, Harry?“ Harry kniete sich nieder und nahm dem Hund spielerisch den Schuh weg. Der Hund knurrte und zerrte an dem Leder, um sein Eigentum zu verteidigen.
Harry lachte kurz auf und blickte Snape an, der daraufhin genervt mit den Augen rollte und gelangweilt fragte: „Was verschafft mir die …?“ Snape stöhnte, als ihm klar wurde, dass Harry ihm nicht zuhörte. Er war zu sehr mit dem Welpen beschäftigt. „Potter!“, belferte Snape. Beide Harrys blickten ihn mit großen Augen an. Snape verkniff es sich nicht zu sagen: „Es wäre eine Überlegung wert, den Hund in Potter umzubenennen. Offenbar hört er auf den Namen wesentlich besser.“
Harry stand auf und konterte schelmisch: „Oh nein, Sir. Ich denke, der kleine Harry hat nur aufgehorcht, weil er für einen Moment dachte, Sie sprechen seine Sprache. Hörte sich auch für mich wie ein Bellen …“
„Potter!“ Wieder schaute der Welpe seinen Besitzer mit großen Augen an. Harry hatte arge Mühe, nicht in Gelächter auszubrechen. „Was wollen Sie?“, fragte Snape griesgrämig.
Wenn es sein musste, konnte Harry ernst bleiben. Mit einem Male konnte Snape all die Lebenserfahrung des jungen Mannes herauszulesen. Andere Herren Anfang zwanzig spiegelten bei Weitem nicht so eine vernünftige Reife wider wie Harry. Kaum einer war von Kind an mit einem so gewichtigen Schicksal wie dem seinem gebeutelt.
„Ich wollte nur mit Ihnen reden, Professor Snape. Über alles. Über alles, was so …“ Harry begann zu stottern. „Was so geschehen ist … in den letzten Jahren.“
Snape blockte ab: „Verzeihen Sie, Mr. Potter, aber ich verspüre nicht das Verlangen, mich gerade mit Ihnen über meine Vergangenheit zu unterhalten. Zudem geht es Sie überhaupt nichts an.“
„Ich weiß, dass es mich nichts angeht. Ich dachte nur, wir könnten trotzdem …“
Snape fuhr ihm über den Mund. „Was könnten wir trotzdem? So tun, als …?“
„Nein, eben gerade das nicht! Nicht nur so tun. Ich will nicht heucheln. Niemand hat etwas davon, irgendwas vorzugaukeln.“ Es hatte Harry Mut gekostet, den Mann ebenfalls zu unterbrechen.
Snape schenkte ihm seinen verachtungsvollsten Blick und vermutete: „Ah, Sie möchten also die Wahrheit. Ist es das? Ein kleines Kaffeekränzchen, bei dem man sich gegenseitig das Herz ausschüttet. Eine überaus“, Snape rümpfte die Nase, „schaurige Vorstellung, wenn Sie mir diese Beschreibung erlauben.“
Dass eine Begegnung zwischen den beiden nicht leicht ablaufen würde, überraschte nicht. Harry seufzte enttäuscht, bevor er die Situation schilderte, die ihm auf dem Herzen lag: „Ich dachte, wir könnten über dem stehen, was einmal war, könnten das alles hinter uns lassen. Wir sind bald Kollegen und da wäre es schön, wenn wir, na ja, auch wie Kollegen miteinander umgehen können.“ Harry verstummte, als er Snapes überraschten Gesichtsausdruck bemerkte. Mit unsicherer Stimme fragte Harry nach: „Hat Professor Dumbledore Ihnen nicht … nicht gesagt …?“
Snape ging einen Schritt auf Harry zu und verschränkte seine Arme vor seiner schmalen Brust. „Nein, das ist Professor Dumbledore wohl entfallen. Und in welchem Fach, wenn ich fragen darf, dürfen die Schüler von Ihrer Gelehrtheit wohl profitieren?“
Mit solchen spitzen Bemerkungen konnte der Mann ihn noch immer einschüchtern. Nur ungenau rückte Harry mit der Antwort heraus: „Nun ja, Sie haben es abgelehnt. Die Stelle war frei und“, er kratzte sich verlegen am Nacken und fuhr leise fort, „da hab ich eben zugeschlagen.“
Nachdem Snape sich von dem kleinen Schock erholt hatte, stichelte er: „Hatten Sie nicht einmal in Erwägung gezogen, Auror zu werden, Mr. Potter?“
Harry hob einmal die Schultern und ließ sie gleich wieder schlapp nach unten fallen. „Ich glaube, Professor Snape, ich habe genug davon, mein Leben aufs Spiel zu setzen. Als Auror bin ich doch nur auf der Jagd nach übrig gebliebenen Todessern. Ich meine, wie viele von denen gibt es denn noch? Die sind nicht organisiert.“
Snape ging einen weiteren Schritt auf Harry zu und sagte nicht sehr ernst und dabei hämisch grinsend: „Es gibt genug Menschen, die Sie gern tot sehen würden.“
Mutig grinste Harry zurück. „Ja, das weiß ich! Wenn ich mich nicht allzu sehr irre, steht einer von ihnen gerade vor mir. Und deswegen bleibe ich lieber hier in Hogwarts als Lehrer. Da bin ich mir zumindest über die Gefahren bewusst, die mir bevorstehen.“ Snape schnaufte, als würde er ein Lachen unterdrücken.
Weit entfernt von Hogwarts erwachte Draco in einem warmen, weichen Bett. In seinem Kopf brummte es, als würde sein Patronus sich über die nächtliche Sauftour beschweren. Als er sich umdrehte, stöhnte er und hielt sich die Stirn mit beiden Händen.
„Geht’s Ihnen gut?“, hörte er eine Frauenstimme fragen. Einige Male blinzelte Draco, bevor er endlich die Augen öffnete. An der Tür zum Schlafzimmer, in dem er sich befand, stand eine mittelgroße Frau Mitte dreißig. Zögerlich kam sie ins Zimmer und reichte ihm ein Glas mit einer klaren, sprudelnden Flüssigkeit, in der sich ganz offensichtlich noch etwas Weißes auflöste, das sie hineingetan hatte. Sie lächelte. „Gegen den Kater.“ Draco schüttelte argwöhnisch den Kopf und lehnte ab, was die Frau zwar erstaunte, aber nicht kommentierte. Das Glas stellte sie auf dem Nachttisch ab, bevor sie sich ans Fußende setzte und die Hände im Schoß faltete. „Ich bin Anne. Sie lagen bewusstlos in der Gasse. Jemand hat gerade Ihre Taschen durchwühlt … Da hab ich Sie mitgenommen.“
Bildfetzen drängten sich in den Vordergrund. Erinnerungen daran, wie ein übel riechender Mann seinen Brustkorb abtastete und wie eine Hand in die Innentasche seiner Weste glitt, um die fühlbaren paar Galleonen zu stehlen. Jemand hatte den Dieb verscheucht, fragte ihn dann nach dem Wohlbefinden. Vor seinem inneren Auge sah er, wie er torkelnd mit ihrer Hilfe einige Schritte ging und er dabei eine Mülltonne umstieß. Da war ein Gehweg. Und eine Laterne, an der er sich übergab. Steinstufen, die zu einer Haustür führten. Wie er jedoch im Bett gelandet war, fiel ihm nicht ein.
„Ich muss Sie jetzt allerdings bitten zu gehen. In einer halben Stunde muss ich weg und …“ Mit ihren Händen machte sie eine hilflose Geste. „Das verstehen Sie sicher, dass ich Sie nicht einfach allein in meiner Wohnung lassen kann.“ Sie lächelte. „Ich kenn Sie ja nicht.“
Mit ernster Miene nickte Draco, schlug die Bettdecke auf und gleich darauf mit erschrockenem Gesichtsausdruck wieder zurück.
„Oh, ich hatte Ihre Sachen …“ In Windeseile stand sie auf. „Moment!“ Die Frau huschte aus dem Zimmer und kam kurz darauf mit einem Bündel in der Hand zurück ins Schlafzimmer. Sie händigte ihm seine Kleidung mit den Worten aus: „Die waren völlig schmutzig.“ Mit Schrecken erinnerte er sich daran, in die Hose uriniert zu haben. Sie sprach die Unannehmlichkeit nicht an. „Ich hab sie gewaschen und getrocknet.“ Draco entknüllte sein teures, weißes Hemd und verzog beim Anblick der unansehnlichen Knitterfalten sein Gesicht. Die Frau sagte peinlich berührt: „Tut mir wirklich leid. Ich kann es ja noch schnell bügeln, wenn Sie möchten. Nirgends habe ich eine Waschanleitung gefunden. Sie schneiden die Schilder immer raus, nicht wahr?“ Die Frau lächelte. „Das mache ich auch manchmal. Die können ganz schön kratzen.“
Von ihrem Gerede bekam er nur die Hälfte mit. Sein Schädel brummte. Gelassen winkte er ab und sagte am heutigen Tag seine ersten Worte: „Schon gut.“ Seine Stimme war rau und die Kehle brannte. Seine Oberarme schmerzten, als hätte er einen Muskelkater. Ein Zeichen der Vergiftung, denn Alkohol wirkte sich negativ auf die Nerven aus. „Ich mach das schon.“ Draco musste sich räuspern. Das Glas Wasser auf dem Nachttisch sah plötzlich verführerisch aus. „Wo ist mein Zauberstab?“ Die Frau starrte ihn verdutzt an.
Nach einem Augenblick schüttelte sie ihren Kopf und fragte: „Ihr … was bitte?“
Aufgrund ihrer Gegenfrage rollte Draco genervt die Augen, bevor er langsam wiederholte, als hätte er einen dummen Menschen vor sich: „Wo - ist - mein - Zau-ber-stab?“
Vorsichtig erhob sich die Frau vom Bett. Etwas befangen strich sie sich ihre braunen Haare nach hinten und vermutete laut: „Ich befürchte, die letzte Nacht hat Sie etwas verwirrt. Möchten Sie, dass ich Sie ins Krankenhaus …?“
„Nein, danke. Wenn Sie mich kurz alleinlassen würden?“
Als er allein im Schlafzimmer war, zog er sich so schnell an, wie sein schmerzender Kopf und die hecktischen Bewegungen es zuließen. Verzweifelt versuchte er, mit den flachen Händen die schwarze Hose an seinen Oberschenkeln glattzustreichen, aber es misslang ihm. Sie hatte überall Falten, nur nicht dort, wo sie welche von Hause aus haben sollte. Die Kleidung war ruiniert. Von den hundert Galleonen, die das Ministerium ihm als Soforthilfe für Kriegsopfer bar ausgezahlt hatte, war nichts mehr übrig. Alles war bei Besenknechts Sonntagsstaat geblieben, dem Bekleidungsgeschäft in Hogsmeade. Als er noch weniger Geld zur Verfügung hatte, war er viel besser damit ausgekommen.
Nachdem er sich angekleidet hatte, fragte Draco harsch durch die Tür hindurch: „Wo bin ich hier?“ Er marschierte zum Fenster und blickte hinaus. Ein grüner Innenhof. „Ich habe keine Ahnung, wo ich bin“, sagte er leise. Die Frau, die sich als Anne vorgestellt hatte, trat herein und nahm sich noch etwas Zeit mit dem jungen Mann, der verwirrt schien. So konnte sie ihn nicht auf die Straße schicken.
„Möchten Sie etwas trinken? Einen Orangensaft oder einen Kaffee?“, fragte sie zuvorkommend. „Kaffee“, erwiderte er.
Im Flur betrachtete er die robuste Einrichtung. Die Behausung war besser ausgestattet als so manches Zimmer, in welchem er mit Severus übernachten musste. Die junge Frau führte ihn in ins Wohnzimmer. Auf der Couch nahm er Platz und blickte sich neugierig um. In diesem Zimmer befanden sich Gegenstände, die Draco nie in seinem Leben gesehen hatte. Er befürchtete, es könnte sich dabei möglicherweise um dunkelmagische Artefakte handeln. Ein großer, schwarzer Kasten mit reflektierender Fläche stand wie ein Heiligtum auf einer Art Podest. An den Wänden hingegen hingen große Bilder von ihm unbekannten Leuten. Eines zeigte sogar einen Wolf. Dracos Kehle schnürte sich bei dem Gedanken zusammen, in den Fängen eines von Voldemorts Werwölfen gelandet zu sein. Gedanken an den Heiler im St. Mungos kamen zurück. Draco bekam es mit der Angst zu tun. Er war durch seinen Vater eine bekannte Persönlichkeit. Jeder hasste die Malfoys. Jeder hasste ihn.
Als Anne mit zwei Tassen dampfenden Kaffees aus der Küche auftauchte, sprang Draco erschrocken von der Couch auf und fragte aggressiv: „Was wollen Sie von mir? Warum bin ich hier?“
Seine seltsame Reaktion ließ sie einen Moment innehalten, bevor sie bedächtig zum Tisch ging und die Tassen abstellte. Skeptisch beäugte Draco die Tasse vor sich, als würde sie Gift enthalten. Anne bemerkte die Anspannung des jungen Mannes. Sie seufzte einmal, bevor sie resignierend vorschlug: „Es wäre vielleicht doch besser, wenn Sie jetzt gehen. Ich möchte wirklich nicht, dass Sie hier“, sie wurde leiser, „ausrasten oder so.“ Dracos atmete aufgeregt. Er starrte abwechselnd zu Anne, dann zum Kaffee und wieder zu Anne, die daraufhin etwas gereizt sagte: „Hören Sie, Sie müssen den Kaffee ja nicht trinken, Herrgott! Sie scheinen etwas verwirrt zu sein. Vielleicht hat man Ihnen auf den Kopf geschlagen? Soll ich nicht doch besser einen Arzt holen? Oder ist da jemand, den ich für Sie anrufen kann?“
Draco wusste, dass das Wort anrufen überwiegend für Beschwörungen von Dämonen benutzt wurde. Er wurde kreidebleich und ließ sich auf die Couch fallen, bevor er womöglich noch ohnmächtig werden würde. Unter seinen wachen Augen war Anne aufgestanden. Sie wühlte in einer Schublade, bevor sie einige gefaltete Pergamente herausholte. Nein, keine Pergamente. Es handelte sich um Land- und Stadtkarten. Eine von ihnen entfaltete sie auf dem Couchtisch.
„Schauen Sie.“ Mit einem Wink ihrer Hand lud sie ihn ein, sich zu ihr zu beugen. „Sie befinden sich gerade hier.“ Der Punkt, auf den sie deutete, befand sich ganz in der Nähe der Winkelgasse. „Kann ich Ihnen vielleicht ein Taxi rufen?“, fragte Anne freundlich. „Wenn Sie kein Geld haben, leihe ich Ihnen was. Das soll kein Problem sein.“ Draco hatte gesehen, dass die Rückseite ebenfalls bedruckt war. Er wendete die Karte und beugte sich über sie. Anne bemerkte, dass der junge Mann Schottland näher betrachtete. Freiheraus fragte sie: „Kommen Sie aus Schottland?“
Vom Alkoholkonsum noch immer etwas umnebelt vergaß Draco alle Vorsicht und antwortete: „Ich wohne zur Zeit dort.“ Sein Finger tippte auf einen Fleck auf der Landkarte, den sie sich näher ansah. „Genau hier!“ Im gleichen Moment bereute er, einem möglichen Feind seinen Wohnort preisgegeben zu haben.
Anne nahm die Karte in die Hand. Genau dort, wo Dracos Finger sich befunden hatte, war das Symbol für eine Schlossruine zu sehen, die sich in der Nähe eines Gewässers befand. In der Umgebung war keine Stadt eingezeichnet, nicht einmal ein Dorf oder ein Naturschutzgebiet. Nichts war zu sehen, nur die Wildnis.
Ungläubig fragte sie nach, falls sie sich verguckt haben sollte: „Wo? Hier?“ Sie tippte auf das Ruinen-Symbol. Draco nickte.
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