von Muggelchen
Am nächsten Morgen erwachte Harry durch die wärmenden Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht und das aufmunternde Gezwitscher der Vögel. Kaum war er wach, machte sein Bauch ein Geräusch, das sehr dem aggressiven Knurren eines Hundes ähnelte. Das wiederum erinnerte ihn auf der Stelle an Sirius. Vor lauter Aufregung hatte Harry gestern, am Tag des Endkampfes, wenig essen können, was der Grund gewesen sein mochte, weshalb sein Kreislauf am Abend nicht mehr stabil gewesen war. Ein Blick zur Seite verriet ihm, dass er sich allein im Zimmer befand. Einzig die leere Flasche mit dem Schlaftrunk war Zeugnis von Dracos nächtlichem Monolog.
Remus hatte einmal davon geschwärmt, dass seine Mutter die Gabe besessen hätte, das Gute in einem Menschen zu sehen, auch wenn derjenige selbst es nicht konnte. Vielleicht hatte Harry nicht nur die grünen Augen von seiner Mutter geerbt. Selbst wenn er Draco nicht als Freund bezeichnen konnte, so war es ihm dennoch möglich, etwas Gutes in seinem ehemaligen Rivalen zu sehen. Nach der schrecklichen Zeit, die Draco erleben musste, konnte sich Harry gut vorstellen, dass sich etwas in dessen Denkweise verändert haben könnte. Vielleicht lag es aber auch daran, dass beide jetzt erwachsen waren. Er wollte alles darüber wissen, was nach der Nacht auf dem Astronomieturm geschehen war, in welcher Snape vermeintlich Dumbledore ermordete. Harry war zuversichtlich genug, um die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, eines Tages ein normales Gespräch mit Draco führen zu können, wenn sie sich einmal allein über den Weg laufen würden. Er kleidete sich an und begab sich in die Große Halle, um seinen knurrenden Magen zu füllen.
So viele Menschen wie gestern Abend waren nicht mehr zugegen. Nur diejenigen, mit denen Harry bereits in den letzten Jahren so viel zu tun hatte und die ihm am Herzen lagen, saßen alle an einem Tisch herum und frühstückten. Professor McGonagall saß neben Professor Dumbledore und die beiden, Harry musste genauer hinsehen, hielten sich an der Hand. Remus und Tonks saßen nebeneinander und ahmten die beiden älteren Professoren nach. Ein großes Pflaster zierte Sirius’ Schläfe. Als er Harry sah, sprang er auf und stürzte auf ihn zu, um ihn zu umarmen.
„Harry! Ich bin ja so froh, dass es dir gut geht. Madam Pomfrey hat gesagt, dass du ohnmächtig warst?“
Sirius machte ein besorgtes Gesicht, woraufhin Harry nur lächelnd versicherte: „War nicht so schlimm, ich war nur müde.“
Ron und Hermine, mit denen er nach der Schule die meiste Zeit zusammen verbrachte, machten sofort Platz für einen weiteren Stuhl, damit Harry sich zwischen Ron und Sirius setzen konnte. Ihm gegenüber saß Hagrid, von dem er gestern Abend vor lauter Freude so sehr in den Arm genommen worden war, dass er das Gefühl gehabt hatte, sein Rückgrat würde nachgeben. Sirius hatte Harry aus Hagrids Bärengriff befreien müssen. Danach hatte er sich einen Spaß daraus gemacht, lauthals vor der belustigten Gästeschar zu behaupten, es wäre wahrscheinlich wesentlich einfacher gewesen, Hagrid auf Voldemort loszulassen, damit er ihn zu Tode quetschen konnte.
Schon gestern hatte man an der ausgelassenen und heiteren Stimmung gemerkt, dass diese innere Ausgeglichenheit, von der Harry eingenommen worden war, sich offensichtlich auch bei anderen ausgebreitet hatte. Jeder am Frühstückstisch lächelte zufrieden. Selbst Filch, der neben McGonagall saß, schien wie ausgewechselt. Er flirtete ungehemmt mit Professor Trelawney, die das zum Schrecken aller Anwesenden offensichtlich auch noch genoss. Professor Flitwick war ebenfalls anwesend und unterhielt sich angeregt mit Hagrid. In dem kleinwüchsigen Zauberer steckten Kräfte, die einige Todesser mit Leichtigkeit außer Gefecht gesetzt hatten.
Den Blick über seine Freunde schweifen lassend erkannte Harry am Ende des Tisches in der Nähe von Professor Dumbledore den alten Mr. Ollivander, der ihm einmal fröhlich zuzwinkerte, bevor er sich wieder zu Dumbledore beugte. Bis auf Percy waren alle Weasleys hier versammelt. Seit Percys Ausbildung unter Fudge konnte er zumindest wieder mit seiner Mutter reden, aber er hatte sich dennoch sehr mit seiner Familie auseinandergelebt.
Harry ahnte, dass man im Vorfeld abgesprochen haben musste, ihn nicht mit Glückwünschen, Dankesreden oder Lobhymnen zu überfallen. Niemand außer Hermine, Ron und Sirius richtete das Wort an ihn. Dafür sahen ihn alle an. Nicht ständig, aber man warf ihm immer wieder einen bewundernden Blick zu, den er mit einem Lächeln und einem leichten Kopfnicken dankend entgegennahm. Er mochte es nicht, im Mittelpunkt zu stehen und war erleichtert, dass jeder das respektierte. Während Ron wie am laufenden Band redete und stolz erklärte, welchen Todesser er mit welchem Zauberspruch überwältigt hatte, überlegte Harry, wo wohl Snape und Draco sein konnten. Die beiden fehlten bedauerlicherweise am Tisch. Hermine, Ron und Harry sowie alle anderen, die in Hörweite saßen, lauschten mit großen Augen, als Sirius über seine Zeit hinter dem Schleier berichtete.
„Manchmal kam es mir vor, als wäre nur ein Tag vergangen.“ Sirius schüttelte gedankenverloren den Kopf. „Im nächsten Moment schien ich mich seit Ewigkeiten in diesem dunklen Raum aufzuhalten. Ich konnte Stimmen hören, ganz leise und abgehackt. Manche in einer fremden Sprache.“ Als er davon sprach, erlebte er alles noch einmal. „Chinesisch, spanisch, russisch.“
Er erzählte, dass die Stimmen immer, wenn er sich mit seinem scheinbar körperlosen Selbst auf sie hinzu bewegt hatte, verschwunden waren. Die ganze Zeit über war er bei vollem Bewusstsein. Er konnte sich nicht daran erinnern, auch nur einmal geschlafen zu haben. Im Vorfeld hatte Albus ihm nahegelegt, sich immerzu an Dinge zu erinnern, die er erlebt hatte; egal ob es glückliche oder traurige Erinnerungen sein würden. Das war für Sirius die einzige Beschäftigung, die ihn nicht wahnsinnig werden ließ. Häufig dachte er an Harry. Harry. Harry. Das erklärte die Begrüßung, als Sirius diesen Namen als Mantra sprach. Die Situation, in der er sich befunden hatte, schien ihm so unwirklich, dass er einmal beinahe in Panik ausgebrochen wäre. Aber dann, ganz plötzlich – und es musste gestern gewesen sein –, hatte er eine vertraute Stimme gehört. Es war die von Albus gewesen, die ihn laut hallend dazu aufgefordert hatte, sich dorthin zu bewegen, wo es kühl war. Erst da wurde er sich darüber bewusst, dass er kaum etwas spürte; keine Temperatur, keinen Windhauch, keine Berührung. Er war so lange in dem Raum umhergewandelt, bis eine kühle Brise durch seine langen Haare wehte und die wegweisenden Rufe lauter wurden. Sirius war der Stimme gefolgt und stolperte abrupt aus dem Verschwindekabinett, welches sich noch immer in Hogwarts befand.
„Das ist unglaublich!“, staunte Ron.
Sirius nickte zustimmend. „Ich dachte, Albus nimmt mich auf den Arm, als er sagte, es wären sechs Jahre vergangen. Aber als er dann auf den Weg zur Große Halle erzählte, dass Harry Voldemort besiegt hat und ich ihn gleich treffen könnte, da war mir völlig egal, wie viel Zeit ich hinter diesem Schleier vergeudet habe.“ Sirius legte einen Arm und Harry und drückte ihn an sich. Die meisten Fragen, die man ihm wegen des Schleiers und dem Raum dahinter stellte, konnte Sirius nicht beantworten. Er sagte lediglich: „Ich weiß nur, dass der Steinbogen im Ministerium kein Verschwindekabinett ist.“ Für die Aussage suchte er eine Bestätigung und blickte zu Albus, der einmal nickte. „Ich weiß nicht, wie ein Ausweg durch eines der vielen Kabinetts möglich war. Ich kann nur ahnen, dass dieser Steinbogen Zeit und Raum beugt. Außerdem glaube ich, dass ich dort als Energie unterwegs gewesen war, ich mich sozusagen ohne meinen Körper dort aufgehalten habe, aber fragt mich ja nicht, wie ich meinen Körper wiederbekommen habe – das weiß ich nämlich selbst nicht.“ Sirius grinste. „Es ist jedenfalls noch alles an mir dran, wie ich es heute Morgen beim Duschen erleichtert festgestellt habe.“
Die Runde lachte vergnügt und beteuerte, wie schön es war, ihn wiederzuhaben. Hermine war die Einzige, die die Informationen von Sirius mit ernster Miene zur Kenntnis nahm. Jeder, der sie kannte, konnte ahnen, dass sie in Gedanken sämtliche Bücher über Verschwindekabinette durchging, um eine Erklärung für die Schilderungen zu finden.
Den Ring an Hermines und Rons Hand bemerkt Sirius. Unverblümt fragte er: „Ihr seid verlobt? Wann wird geheiratet?“
Die beiden sahen sich entgeistert an, bis Mrs. Weasley von gegenüber stichelte: „Das würde ich auch gern mal wissen, ihr zwei. Ich möchte Enkelkinder haben, Ron!“
Sie meinte es nett, aber Ron murmelte grantig zurück: „Ja, Mama …“
Hermine äußerte sich gar nicht, sondern lenkte mit einem anderen Thema ab. Bevor Harry seinen Freund fragen konnte, was los sei, hörte er aus Dumbledores Mund leise den Namen seines ehemaligen Zaubertränkelehrers, während dieser sich mit Mr. Ollivander unterhielt. Harry beugte sich neugierig am Tisch nach vorn und blickte zu Dumbledore hinüber, der nicht allzu weit von ihm entfernt saß. Dumbledores Blick traf den von Harry.
Der ältere Herr lächelte und fragte: „Ja, Harry?“
Alle anderen am Tisch verstummten ebenfalls, als gäbe es nichts Wichtigeres als das, was Harry zu sagen hatte. Er räusperte sich verlegen und fragte leise: „Entschuldigung, Professor Dumbledore, äh … Was ist mit Snape?“ Der vergessene Titel ließ ihn korrigieren: „Ich meine, wo ist Professor Snape?“
Das verächtliche Schnaufen von Sirius überhörte Harry absichtlich. Dumbledore zwinkerte freundlich und erklärte: „Professor Snape ist mit dem jungen Mr. Malfoy im Ministerium, um einige Dinge zu klären. Aber keine Sorge, beide werden spätestens heute Mittag zurück sein.“ Harry atmete erleichtert auf, während Sirius und Ron fast gleichermaßen laut stöhnten.
Nachdem Professor Dumbledore sich wieder Mr. Ollivander zugewandt hatte, fragte Sirius verstimmt: „Warum plötzlich die große Sorge um diesen Kotzbrocken?“
Es war eindeutig, dass Sirius schlecht gelaunt war und daher antwortete Harry ruhig: „Ich will nur mit ihm reden, das ist alles. Ich denke, wir haben uns einiges zu sagen.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Meinst du nicht?“
Mit zusammengepressten Lippen nahm Harry zur Kenntnis, wie Sirius abermals verächtlich schnaubte, bevor er gleichgültig sagte: „Snape kann dir egal sein. Mir ist er doch auch egal! Sicher … Er ist zum richtigen Zeitpunkt wieder aufgetaucht, um seine Hände in Unschuld zu waschen. Ziemlich clever, wenn du mich fragst, so kurz vorm Ausgang die Seite zu wechseln. Mir kann er aber nichts vormachen. Er ist ein …“
Mit einem einzigen Blick machte Harry seinem Paten deutlich, dass er diesen Satz besser nicht beenden sollte.
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