von Muggelchen
Wie die Blüten der Boretsch, die vereinzelt auf der Wiese vor Hogwarts spross, so Lichtblau und klar schien der Himmel, als wolle er den Gleichklang des nach langer Zeit errungenen Friedens widerspiegeln. Beschwingter als zuvor sangen die Vögel ihre Melodien, die bis an die Ohren der Sieger drangen und sie mit sich und ihrer Welt in Einklang brachten.
Mit Erleichterung starrte Harry auf den toten Körper vor sich. Voldemorts Magie war nun vollends vergangen, nachdem sie unaufhaltsam aus dem Körper des dunklen Zauberers hinausgeströmt war. Die dunkelmagische Zauberkraft war dahin und hinterließ den leblosen Körper eines gutaussehenden Mannes mittleren Alters, der frei von schlangenartigen Zügen im Tode wieder einem Menschen glich. Der Anblick von Tom Riddles sterblichen Überresten nahm ihm einen Stein vom Herzen. Der Moment gleich nach dessen Tod ließ Harrys Narbe wohlig kribbeln, als würde sich etwas aus ihr lösen; als würde sich eine Verbindung zu Voldemort endgültig verflüchtigen. Mit einem Male fühlte er sich frei und überglücklich, geradezu euphorisch. Er schloss die Augen und atmete ruhig, um den Moment für sich festzuhalten. Zufriedenheit hatte seinen Geist eingenommen und machte ihn frei von Kummer, Furcht und Hass.
So ausgeglichen hatte er sich noch nie gefühlt. Es schien, als hätte sich seine Gefühlswelt mit einem Male eingependelt, was für Harry ein überwältigendes Erlebnis darstellte. Und als er mit geschlossenen Augen so dastand und voller Hingabe den Liedern von Goldammer und Feldlerche lauschte, hörte er plötzlich einen anderen, viel schöneren und fröhlicheren Gesang. Harry öffnete die Augen und schaute gen Himmel. Dort kreisend erblickten er einen Vogel mit scharlachrotem Gefieder. Es war der Phoenix, den er das allererste Mal in Dumbledores Büro bewundern durfte. Fawkes landete graziös auf den Schultern eines älteren Mannes. Als Harry seinen Blick von dem prachtvollen Vogel lösen konnte, schaute er einem lächelnden Professor Dumbledore direkt ins Gesicht. Das lebendige Zwinkern in dessen Augen ließ Harry vor Freude lachen und weinen. Der Phönix erhob sich wieder von Dumbledores Schultern und flog hinauf zu den hohen Türmen des Schlosses an den Ort, den er wieder sein Zuhause nennen wollte.
Rechts von Harry stand ein ausgemergelter Snape. Seit über fünf Jahren hatte er ihn nicht mehr gesehen. Seinen eigenen Augen nicht trauend starrte der Zaubertränkemeister den tot geglaubten Direktor an. Mit Erleichterung hörte Harry etwas, von dem er nie gedacht hätte, es je vermisst zu haben. Eine ölige Stimme zischte den älteren Mann an. Ein für Snape völlig untypisches Beben in dessen Worten ließ ahnen, wie tief bewegt er war. Stellenweise wurde seine Stimme durch Kontraktionen des Zwerchfells dazu gezwungen, zu unterbrechen und ruckartig Luft zu holen, was dazu führte, dass man Schluchzer wahrzunehmen glaubte. Sehr deutlich war aber zu hören, dass Snape aufgeregt war, denn er tat etwas, was sich niemand zuvor jemals gewagt hatte. Er schrie Dumbledore an. „Sei verdammt, du alter Narr! Du verdammter …“ Snape ging drei Schritte nach rechts, blieb abrupt stehen. „Verflucht seist du, du verflixter, alter Mann. Du verfluchter …“
Für Harry war es einfach unglaublich mitzuerleben, wie sein ehemaliger Lehrer, dessen steinerne Miene niemals irgendwelche Regungen auch nur erahnen ließ, momentan von einer solch starken Gefühlswallung ergriffen war, dass er sogar vor so vielen Menschen seine Beherrschung verlor. Nur schwer konnte Harry sich vorstellen, wie man sich fühlen musste, einem Mann gegenüberzustehen, den man ermordet zu haben glaubte. Erklärungen waren keine nötig. Harry wusste in diesem Moment, dass Snape damals dazu gezwungen gewesen war, das Leben des Schulleiters zu beenden, auch wenn er dies nicht gewollt hatte. Snapes Gefühlsausbruch verdeutlichte ihm, wie froh dieser war, Dumbledore wohlauf zu wissen. Fünf lange Jahre hatte Snape mit dieser schweren Schuld leben müssen. Jetzt war nicht nur erfreut, sondern gleichermaßen erzürnt darüber war, nur eine Marionette in Dumbledores Plänen gewesen zu sein. Am Ende siegte dennoch die Erleichterung darüber, den Schulleiter wieder lebendig zu sehen. In erster Linie mag es Wut gewesen sein, vielleicht aber auch das Gefühl der inneren Befreiung, weshalb Snape unmerklich feuchte Augen, während er Dumbledore weiterhin, mittlerweile nur halbherzig, zornige Beleidigungen an den Kopf warf, die kaum noch verständlich waren. Dumbledore ertrug Snapes Worte gelassen und lächelte sanft wie eh und je.
Seit über zwei Jahrzehnten war Severus nicht mehr so ergriffen gewesen. Es machte ihn stutzig, dass er so häufig blinzeln musste, manchmal nur noch verschwommen sah. Beides brachte ihn beinahe vollkommen aus dem Gleichgewicht. In seinem ganzen Leben war er nur einmal so einem Gefühlsausbruch erlegen. Verwundert nahm er zur Kenntnis, dass er zu solch einer Regung überhaupt noch fähig war. Die feuchten Wangen trocknete er dezent an den Ärmeln seines Umhangs, während er aufgeregt und bebend vor sich her murmelte. Er war nicht mehr dazu in der Lage, einen verständlichen Satz hervorzubringen, weil er sich innerlich zerrissen glaubte. Er war verwirrt, wütend und ergriffen zugleich. Es war zu viel für ihn.
Lächelnd blickte Dumbledore Snape an, bevor er ihn vertraut zu sich heranwinkte. Severus war auf der Stelle bei ihm, ergriff ihn an den Oberarmen und blickte in das vertraute, runzlige Gesicht. Er wollte sich davon überzeugen, dass er sich nicht täuschte. Dumbledore stand tatsächlich hier. Begierig ergriff Snape den lilafarbenen Umhang mit den Fäusten, ohne zu wissen, ob er den alten Mann aus lauter Verdruss in der Luft zerreißen oder aufgrund der im tiefsten Innern gefühlten Entlastung umarmen sollte. Verdient hätte er beides. Vor seiner eigenen Schandtat war Snape mehrmals zurückgeschreckt. Sein gequälter Geist hatte ihm den Mord wieder und wieder vorgespielt, jeden einzelnen Moment, selbst das Flehen Dumbledores, das ihn dazu angehalten hatte, bedingungslos dem Plan zu folgen. Diese allgegenwärtige Last war mit einem Male von ihm gefallen. Nicht nur Poeten verkündeten in ihren Weisheiten, dass Tränen das Resultat einer bewegten Seele wären. Gerade das machte für Snape das Unfassbare aus. Zwischen Dumbledores langem, silbernen Bart und dem üppig wallenden Umhang vergrub er sein Gesicht. Die eigenen Schluchzer, die ihm selbst so fremd waren, versuchte er genauso zu unterdrücken wie die Tränen.
Der Anblick des stets so griesgrämigen und furchteinflößenden Mitglieds des Phönixordens, nun verletzlich und zerbrechlich, der liebevoll von dem wiederauferstandenen Dumbledore wie ein lang verlorener Sohn gedrückt wurde, berührte Harry zutiefst. Dieses Bild sprach mehr als tausend Worte. Nichts und niemand hielt ihn auf, als er zu den beiden hinüberging und seine Arme um sie schlang. Gedankenverloren löste Snape einen Arm und legte ihn auf Harrys Schultern ab. Dass Snape jemals einem anderen als Dumbledore solch eine Vertrautheit entgegenbringen würde, überraschte Harry, aber er nahm die bedeutungsvolle Geste dankend an und erwiderte sie, doch weil Snape viel größer als er war, umfasste Harry nur dessen dürre Taille und nicht die Schultern. Eine Eintracht dieser Art war heute erlaubt. Heute war alles erlaubt, denn Voldemort war gefallen.
Aufgrund von Dumbledores gemurmelten Worten bemerkte Harry, dass der ehemalige Direktor beruhigend auf Snape einredete und ihm Trost spendete, was der Mann bitter nötig hatte. Was Snape in all den Jahren durchmachen musste, konnte Harry nicht einmal erahnen. Er glaubte zu hören, wie Dumbledore den Zaubertränkemeister mit sehr persönlichen Anreden bedachte, wie man sie sonst nur für seine Kinder übrighatte. Mit einer Hand strich er über Snapes schmutziges und in den Jahren lang gewachsenes Haar. Snape hingegen flüsterte wieder und wieder, wie sehr er den Direktor vermisst hatte.
Ein Bild der Einigkeit wie dieses war nicht nur ein seltenes, sondern zudem ein nur schwer vorstellbares, wenn man nicht von sich behaupten konnte, es mit eigenen Augen gesehen zu haben. Das mag der Grund gewesen sein, weshalb sich eine Traube neugieriger Auroren und Mitstreiter um die sich in den Armen liegenden Männer versammelt hatte. Keiner der drei bemerkte, dass sie wie ein seltenes Kunstwerk betrachtet wurden. All die mutigen Zauberer, die an Harrys Seite gekämpft hatten, blickten verdutzt drein, was man niemandem zum Vorwurf machen konnte. Erst nach und nach begriffen sie, dass Albus Dumbledore leibhaftig vor ihnen stand. Bei jedem Einzelnen war die Freude darüber größer als der Drang zu erfahren, wie das möglich sein konnte. Minerva legte eine flache Hand auf ihre Brust, um ihr Herz zu beruhigen. Der Anblick von Severus Snape brachte ebenfalls einige der Kämpfer zum Lächeln, wie Kingsley Shacklebolt. Ein weiterer von ihnen war Remus Lupin, dem gerade vor Augen geführt wurde, dass er nie falsch gelegen hatte, Dumbledores Urteil bis zum Ende zu vertrauen. Der Anblick von Dumbledore, Snape und Potter führte zudem jedermann vor Augen, dass Snape kein Verräter war. Er hatte den Direktor niemals ermordet, obwohl er all die Jahre offensichtlich genau das gedachte hatte. Skeptisch betrachtet wurde Snape lediglich von Moody, aber manche Dinge änderten sich eben nie.
Manchmal benötigte man ein wenig länger, um Situationen begreifen zu können. Obwohl jeder ein Zeuge vom Fall des Dunklen Lords war, kam die Gewissheit darüber, dass nun alles vorbei war und das Leben beginnen durfte, nur nach und nach. Hermine starrte solange auf den toten Körper von Tom Riddle, bis sie den Sieg realisierte und in Tränen ausbrach. Eine Hand an ihrem Rücken, groß wie ein Mülltonnendeckel, spendete ihr Trost. Auch andere weinten ungehemmt, einige lachten erleichtert und manche taten beides gleichzeitig. Letztendlich wandte man sich von dem friedvollen Anblick der drei Männer ab und klatschte ausgelassen; stieß die ersten Jubelschreie aus. Der Triumph des heutigen Tages hatte endlich den Verstand erreicht. Zeit zum Feiern.
Die Auroren behielten auch nach dem Sieg einen kühlen Kopf. Kingsley hatte seine Leute längst zusammengerufen.
„Achtet auf die Schwerverletzten unter den Feinden, besonders die Zersplinterten. Die kommen mit sämtlichen Einzelteilen ins Mungos. Ich will, dass jeder überlebt und seinen Prozess bekommt, verstanden?“ Die Auroren nickten und verstreuten sich in alle Himmelsrichtungen. „Tonks?“ Als sie sich zu ihm umdrehte, sagte er: „Kümmere dich um den jungen Mr. Malfoy. Der ist noch immer dort hinten.“ Er zeigte in die Richtung.
„Ich sehe ihn“, bestätigte Tonks. Sie nickte Kingsley zu und griff sich einen Kollegen, der sie begleiten sollte.
In der Nähe des Hügels fand sie Draco, der kreidebleich und bewegungslos neben Lucius Malfoy saß. Tonks’ Begleiter nahm den teilnahmslosen, jungen Mann auf den Arm. In der gleichen Stunde, in welcher die Welt von Voldemort befreit worden war, wurde Draco mit einem Kreislaufzusammenbruch im St. Mungos aufgenommen.
Die ersten Stunden nach dem Sieg stellten für Harry eine totale Reizüberflutung dar. Ihm wurde gratuliert, auf den Rücken geklopft und man stellte ihm Fragen.
„Wie hast du das geschafft?“, fragte einer der Zauberer, der von Kingsley rekrutiert worden war. Die Frage war an diesem Abend die am häufigsten gestellte. Harry blieb ehrlich.
„Ich weiß es nicht.“ Im Gedränge der Menschenmasse suchte Harry verzweifelt nach einem bekannten Gesicht und fand bald eines. Remus. „Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden?“
Auf seinem Weg zu Remus wurde er mehrmals aufgehalten. Eine Hexe schüttelte ihm die Hand und fragte: „Was für ein Zauber war das?“
Harry hob die Schultern und ließ sie kraftlos wieder sinken. „Wenn ich das nur wüsste“, scherzte er, doch er wusste es tatsächlich nicht. „Ich muss …“ Ungenau deutete er auf die vielen Leute. Er wollte nur seine Ruhe haben.
„Harry!“ Die Stimme war ihm bekannt. Neville. Sein Freund schob sich bis zu ihm hindurch. „Harry, alles klar? Siehst blass aus.“
„Geht schon. Ich suche Dumbledore.“
Verständnisvoll nickte Neville, der selbst etwas blass um die Nasenspitze war. „Jeder will mit ihm sprechen. Er ist dort hinten.“
Mit einem Blick folgte Harry dem Fingerzeig. Wäre Dumbledore nicht so groß, würde man ihn unter den ganzen Menschen nicht ausmachen können. In diese Masse wollte sich Harry nicht stürzen.
„Hast du schon das von Malfoy gehört?“, wollte eine Stimme hinter ihm wissen.
Als Harry sich umdrehte, wurde ihm das erste Mal für einen Augenblick schwindelig. Er lenkte davon ab, als er Ron auf die Schulter schlug, sich in Wirklichkeit nur auf den Beinen hielt.
„Senior oder …?“
Harry wurde unterbrochen. „Draco.“
„Was ist mit ihm? Ich habe gehört, er ist im Mungos.“
Die roten Haare wippten auf und ab, als Ron nickte. „War er. Er ist jetzt hier, in Hogwarts. Kannst du dir das vorstellen?“
Harry war froh, dass Neville das Reden übernahm. „Was hat er hier zu suchen?“
„Man wollte ihn im Mungos lynchen! Ich hab’s von Pomfrey.“
Eine weitere Stimme war zu hören. Seamus schob sich zwischen all den Leuten durch zu seinen Freunden. „Wie sieht’s mit Verlusten auf unserer Seite aus? Schon irgendwelche Berichte?“
Ron verneinte. „Nicht dass ich wüsste. Unser großer Vorteil war Hogwarts und die starken Schutzzauber.“
Neville korrigierte. „Oliver hat eine Kopfverletzung.“ Alle staunten. Bei einem Kampf mit Magie waren Kopfverletzungen selten. Entweder es erwischte einen ganz oder gar nicht. „Doch, wirklich!“, beteuerte Neville. „Hab sogar gesehen, wie es passiert ist.“
„Echt? Erzähl!“, forderte Seamus.
Harry hörte einfach nur zu und war froh, selbst nicht reden zu müssen. Er lauschte Neville, als der schilderte: „Ein Todesser hat ihn mit einem Expelliarmus entwaffnet. Ich konnte ihn entwaffnet, aber er stand zu dicht an Oliver, ich konnte ihn nicht außer Gefecht setzen. Da geht Oliver plötzlich mit den Fäusten auf den Kerl los. Rechts, links, rechts.“ Neville imitierte mit seinen Fäusten Kinnhaken. „Ein bisschen einstecken musste er auch, aber am Ende hatte Oliver einen Treiber-Schläger in der Hand. Damit hat er ihn niedergeschlagen. Fragt mich nicht, woher er den plötzlich hatte.“
„Von Madam Hooch“, hörte man eine verklärte Stimme sagen. Wie einer der Geister Hogwarts’ schwebte Luna auf die Gruppe zu. „Madam Hooch konnte nichts anderes machen, hätte sonst Oliver getroffen. Aus einem Stein in seiner Nähe hat sie den Schläger gezaubert.“
„Ist er im Krankenflügel?“, fragte Ron.
„Nicht mehr.“ Seamus zeigte in eine Richtung.
An Olivers Stirn klebte ein Pflaster. Er unterhielt sich mit Fred und George, die ihm auf die Schulter schlugen. Das alles ging an Harry vorbei. Seine Gedanken spielten gerade Kissenschlacht. Er konnte sich kaum noch auf irgendetwas konzentrieren, auf die Unterhaltung schon gar nicht, doch als er das mit Malfoy nebenher wahrnahm, lief ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Nun war der Krieg endlich entschieden und noch immer die Menschen hatten nichts anderes zu tun, als sich gegenseitig nach dem Leben zu trachten.
Es war Dumbledore, der seine Getreuen damit beauftragt hatte, Draco wieder nach Hogwarts zu holen. Ja, Dumbledore war tatsächlich am Leben. Genaue Erklärungen blieb er den Wissbegierigen, die sich um ihn herum geschart hatten, schuldig. Er war ein großer Redner und wusste um die Kunst, die Neugier der Zuhörer zu befriedigen und gleichzeitig nicht alles preiszugeben. Er hatte sein Ableben ohne einen einzigen Mitwisser geplant, um Voldemort in falscher Sicherheit zu wiegen. Der Dunkle Lord wusste von Potters psychischer Zerstreutheit nach dem Tod des Direktors und glaubte daher, ein leichtes Spiel zu haben.
Nur Harry wusste tatsächlich, was geschehen war. Dumbledores plötzliches Auftauchen auf dem Schlachtfeld reicherte sein Herz mit unerschütterlicher Ruhe, Glück und Stärke an: den Gefühlen, die in den letzten Jahren der Vorbereitung auf den heutigen Tag viel zu kurz kamen. Die Gefühle hatten Harry stark gemacht. Die Freude über Dumbledores Erscheinen und zudem das Wissen, niemals von seinem ehemaligen Lehrer für Zaubertränke verraten und betrogen worden zu sein. Freude, Zuneigung, Erleichterung, Euphorie und Zuversicht brodelten in einem Kessel tief in Harrys Herzen und brauten die Kraft, die er für den letzten Gegenschlag benötigte. Das den Menschen zu erklären, die ihn fragen, mit welchem Zauberspruch er den Dunklen Lord besiegt hatte, war unmöglich.
Das Gewimmel auf dem Gelände von Hogwarts war Harry mittlerweile zu viel geworden. Er fühlte sich, als hätte er sein erstes, außerkörperliches Erlebnis; als würde sein Körper irgendwo in einer Ecke sitzen und schlafen, während sein Geist teilnahmslos den Beobachter mimte. Dumbledore hatte dafür gesorgt, dass jeder in Hogwarts den Sieg über Voldemort feiern durfte oder sich in einem der vielen Betten zur Ruhe legen konnte. Harry war hin und her gerissen, schlafen zu gehen oder mit seinen Freunden zu feiern. Schüler hatte das Schloss seit Jahren nicht mehr gesehen, denn Hogwarts war verwaist, seitdem die meisten von ihnen wegen ihrer übervorsichtigen Eltern ferngeblieben waren. Professor McGonagall war diejenige, die sich seit Dumbledores Tod um Hogwarts kümmerte. Sie überließ es liebend gern ihrem Vorgänger, ganz wie in alten Zeiten als Direktor zu fungieren.
In Hogwarts war Harry seit seinem Schulabschluss nicht mehr gewesen. Als er nach all den Jahren wieder die Eingangshalle betrat, fühlte er sich wie Zuhause. Alles schien perfekt zu sein. Trotz seiner Müdigkeit entschloss er sich dazu, den Festivitäten in der großen Halle beizuwohnen, wo doch selbst Sir Nicholas es sich nicht nehmen lassen wollte, mit dem Blutigen Baron Brüderschaft zu trinken. Harry wollte unbedingt Dumbledore sehen. Und er war genauso erpicht darauf, mit Snape ein Wort zu wechseln – hoffentlich ein freundliches. Er würde gern mit ihm reden. So viel gab es zu klären, so viele offene Fragen, auf die Harry Antworten haben wollte.
Harry hatte kaum die Große Halle betreten, da blockierte Dumbledore ihm die Sicht in den Saal. Der alte Zauberer ergriff sanft seinen Arm und führte ihn vor die Tür. Fröhlich sagte er zu dem verdutzten Harry: „Ich muss dringend mit dir reden, bevor du in die Große Halle gehst. Ich bin sicher, du kannst dich noch an die Zeit erinnern, als Sirius starb. Er …“
Der Name seines Patenonkels war noch heute ein sicheres Mittel, ihm Tränen in den Augen zu treiben. „Professor, bitte! Ich will jetzt wirklich nicht über Sirius reden.“ Innerlich ärgerte Harry sich, nicht doch zu Bett gegangen zu sein. Trotz des Glücks und der Zufriedenheit, die er verspürte, fühlte er sich ausgelaugt.
Dumbledore ließ jedoch nicht locker und sagte unbeschwert: „Harry, es ist sehr wichtig, dass du mir zuhörst.“ Der ältere Mann lächelte aufmunternd. Harry schluckte und nickte resignierend, so dass Professor Dumbledore fortfuhr: „Gut, Harry. Für deine Geduld bin ich dir dankbar. Du weißt, dass Voldemort deine Liebe für Sirius dazu missbrauchte, dich ins Ministerium zu locken.” Harry nickte erneut. Sein Magen drehte sich bei dem Gedanken um, Sirius durch seine eigene Dummheit verloren zu haben. Er fühlte Dumbledores stärkende Hand an seiner Schulter. „Das ist der Grund, warum ich Sirius keine andere Wahl ließ, einem kurzfristig von mir entworfenen Plan zuzustimmen.“
Entgeistert blickte Harry Dumbledore an, die Augen ganz weit aufgerissen. So wie Überraschung meist mit einem leichten Anheben der Augenbrauen signalisiert wurde, stellte sich Verwirrtheit mit dem Runzeln der Stirn dar. Letzteres veranschaulichte Harry gerade bis zur Perfektion. Er konnte sich nicht erklären, warum Dumbledore noch immer lächelte, wo er selbst allein bei der Erwähnung von Sirius ungehemmt in Tränen ausbrechen wollte. Zudem war es ihm ein Rätsel, von welchem Plan Dumbledore sprach.
Mit ruhiger Stimme erklärte der alte Mann: „Ich habe dafür gesorgt, dass Sirius hinter dem Schleier, durch den fiel, leben konnte.“ Jetzt schossen Harry Augenbrauen in die Höhe und küssten den Haaransatz. „Ich konnte doch nicht zulassen, dass die einzige Person, die du so sehr liebst, den Tod finden soll. Auch konnte ich nicht zulassen, dass der einzige Mensch, der dir so viel bedeutet, für den Rest des Krieges Voldemorts vorrangiges Ziel darstellt.“ Harry blinzelte ungläubig, aber davon unbeirrt erklärte Dumbledore: „Es war mir nicht möglich, eine weitere Person in diesen Plan zu involvieren, Harry. Es wäre ein zu großes Risiko gewesen, Remus oder dich darüber zu informieren …“
Harry wiederholte angespannt und verwirrt: „Informieren?“
Dumbledore packte ihn auch mit der anderen Hand an der Schulter und nutzte seine warme, väterliche Stimme für das, was er ihm nun mitteilte. „Ja, Harry, dich darüber zu informieren, dass es Sirius gut geht. Er lebt! Und er erwartete dich dort drinnen.“ Dumbledore zeigte auf den Eingang zur Großen Halle.
Ohne Worte zu verlieren stürmte Harry durch die Flügeltür. Dumbledore würde keine Scherze machen, bestimmt nicht. Nicht über Sirius. Drinnen schien jeder den Atem anzuhalten, nachdem er die Große Halle betreten hatte. Seine Augen huschten über die Menge. Arthur, Fred, Charlie. Alle blickten Harry an, alle lächelten. Neville, Luna. Keiner sagte etwas. Susan, Justin, Remus – und dann ruhte Harrys Blick auf ihm.
„Sirius!“ Harry legte sich eine Hand auf den Mund, die andere auf die Brust. Das Wiedersehen tat weh, weil es die Erinnerung an den Abschied mit sich brachte. Überwältigt von seinen eigenen Gefühlen beobachtete Harry seinen Patenonkel, der gerade eben mit Remus das Wiedersehen gefeiert haben musste und davon noch ganz rosige Wangen hatte.
„Harry …“ Sämtliche Worte erstarben durch die Wiedersehensfreude. Sirius’ Lächeln wurde immer breiter, mit jedem Schritt, dem er seinem Patensohn näher kam. Am Ende fielen sich beide in die Arme. Sie vergaßen alle Menschen um sich herum, die sich einen Applaus nicht nehmen ließen. Sirius lachte fröhlich, drückte ihn und flüsterte den Namen seines Patensohnes immerfort: die Zauberformel, die ihn am Leben erhielt.
Sie waren alle hier. Lehrer, Mitglieder des Phönixordens, beinahe die gesamte DA, ehemalige Mitschüler aus den anderen Häusern, deren Eltern und Geschwister, Auroren, Freiwillige. All die, die an seiner Seite gekämpft hatten. Keiner von Harrys engeren Freunden hatte den Tod gefunden. Trotzdem tat es weh zu hören, dass Blaise Zabini und Pansy Parkinson für tot erklärt wurden, nachdem ihre Eltern sich gegen die stetigen Besuche der Todesser gewehrt hatten. Immerhin waren auch sie seine ehemaligen Schulkameraden gewesen. Zwar hatte er beide nicht gut gekannt, doch jeder, der den Drohungen der Todesser nicht nachgab, hatte Hochachtung verdient.
Den ganzen Abend über blieb Harry an der Seite von Sirius. Er ließ nicht von dessen Arm ab. Keinesfalls wollte Harry ihn in diesem lebhaften Treiben verlieren. Lediglich Remus war es erlaubt, seinen alten Freund ebenso in Beschlag zu nehmen. Snape oder Draco waren nirgends zu sehen. So nutzte er die Zeit, um sich gemeinsam mit Sirius auszumalen, wie es sein würde, miteinander zu leben. Das Haus, das Harry erst vor wenigen Monaten erworben hatte, war kurz nach Abschluss des Kaufvertrags dem Erdboden gleichgemacht worden, was er dem erschrockenen Sirius erzählte.
Nach einigen Stunden, die Harry feiernd und auf die Helden des heutigen Tages anstoßend verbrachte, war er so müde und kraftlos, dass er schlafen musste, obwohl er jetzt gar nicht mehr zu Bett gehen wollte. Dennoch verabschiedete er sich von all seinen Freunden. Harry ließ Sirius erst wieder los, als der versprach, sich gleich zum Frühstück mit ihm hier in der Großen Halle zu treffen. Harry brauchte dringend Erholung. Man sah ihm an, dass es ihn Einiges an Kraft gekostet hatte, einen Zauberer wie Voldemort vernichtet zu haben.
Viele Gäste blieben über Nacht in Hogwarts. Genügend Betten waren frei. Harry freute sich bereits auf sein altes Himmelbett im Gryffindor-Turm, aber bevor er die Große Halle verlassen konnte, fing Dumbledore ihn ab. Er wünschte eine gute Nacht und fügte eher beiläufig hinzu: „Ich frage mich, ob Professor Snape und Mr. Malfoy Gefallen an etwas Kuchen finden würden. Es ist äußerst schade, dass sich beide im Krankenhausflügel aufhalten.“
Harry musste grinsen. Den Hinweis verstand er, so dass er einen Teller mit verschiedenen Sorten Kuchen arrangierte, den er zum Krankenflügel bringen wollte. Dem auferstandenen Dumbledore, der ihm das wertvolle Geschenk namens Sirius gemacht hatte, würde er heute jeden Wunsch erfüllen. Er würde darüber hinaus eine kurze Gelegenheit finden, mit Snape zu sprechen. Gedanken darüber, was er sagen könnte, machte er sich keine. Damit würde er sich befassen, wenn er erst einmal Snape ins Gesicht sehen würde.
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