von Muggelchen
Wertgegenstände und Geld ließen Severus und Draco bei der alten Dame zurück, bei der sie gelebt hatten, bevor sie sich nach Hogwarts aufmachten. Wenn sie ehrlich zu sich selbst waren, rechneten beide nicht damit, bis zum Sonnenuntergang zu überleben. Der rote Feuerball, der am Horizont versinken würde, wäre womöglich das Letzte, das sie sehen würde. Den Tod fürchteten sie nicht. Draco vermutete beinahe, Severus würde es begrüßen, sollte er am heutigen Tage heldenhaft sein Leben verlieren.
Sie gingen ein Stück, bevor sie, was sie wegen der Überwachungen des Ministeriums seit langer Zeit nicht mehr getan hatten, apparierten. An der Grenze zu den Ländereien von Hogwarts kamen sie an – mitten im Verbotenen Wald. Nach fünf Jahren Abstinenz von dieser beengenden Art zu reisen musste sich Draco übergeben. Von den ekelerregenden Geräuschen ließ sich Severus nicht irritieren. Er war längst dabei, die Umgebung mit seinem scharfen Blick auszukundschaften. Bald war die Grenze nach Hogwarts überwunden. Kein magischer Schutzwall hatte ihnen den Weg versperrt. Womöglich eine Vorsorge von Albus, vermutete Severus. In sicherem Abstand erspähte er jede Menge Auroren und mutige Zauberer, die sich vor der Schule postiert hatten. In der schmalen Person zwischen den vielen anderen glaubte er, Harry zu erkennen. Als es Draco wieder besser ging, schlichen sie gemeinsam, belegt mit einem Beachte-mich-nicht-Zauber, zu einem Hügel. Hinter einem Felsen, der klobig aus der Wiese herausragte, fanden sie Schutz. Unbemerkt konnten sie von ihrer Position aus beide Seiten beobachten.
Die Todesser warteten hinter dem Hügel, außer Sichtweite der Auroren. Severus kniff die Augen zusammen, um Details erkennen zu können. Zwischen den vielen maskierten Männern und Frauen stand er, der Dunkle Lord. Ein Schauer lief Severus über den Rücken, als er Voldemort nach all den Jahren wieder begegnete.
„Was ist da drüben?“, flüsterte Draco.
„Er“, war die knappe und gleichzeitig allessagende Antwort, die seinen jungen Begleiter auf der Stelle mundtot machte.
Ängstlich drückte sich Draco gegen den Felsen. Sein Herz begann zu rasen und er hoffte innig, dass niemand es hören könnte. Für ihn selbst war es so laut wie der Trommelwirbel einer schottischen Militärparade. Nichts in der Welt würde er tun, um die Aufmerksamkeit des Dunklen Lords auf sich zu ziehen. Verräter mussten große Qualen erleiden. Die Geschichten, die er über die brutale Ermordung Karkaroffs gehört hatte, wurden damals den neuen Todessern gern als Warnung erzählt. Mit weit aufgerissenen Augen blickte er zu seinem Patenonkel hinüber.
Voldemort nie wieder sehen zu müssen war ein unerfüllbarer Wunsch. Allein das Versprechen, das er Albus gegeben hatte, zwang Severus, sich diesem dunklen Zauberer zu stellen. Die Anhänger lauschten gerade den letzten Anweisungen ihres Gebieters, bevor sie zum ersten Schlag ausholen wollten. Vier Todesser instruierten nach Voldemorts Rede die unzähligen Männer und Frauen, die durch ihre schwarzen Roben geschlechtslos schienen und wie Puppen wirkten, denen man durchweg das Gleiche angezogen hatte. Sie schienen nicht sofort angreifen zu wollen, denn einige setzten sich auf den Boden, um ihre Kräfte zu sammeln oder einfach nur, um auf den nächsten Befehl zu warten.
Mit einem Male wurde es entsetzlich kalt. Man konnte den eigenen Atem sehen. Draco verschränkte seine Arme vor der Brust und begann zu zittern. Er beobachtete Severus dabei, wie der den Himmel absuchte.
„Da“, hauchte er fast unhörbar, so dass Draco ebenfalls aufblickte.
Der erste Plan des Feindes bestand darin, die Dementoren als Vorboten des Krieges nach Hogwarts zu senden. Sie sollten zu Beginn des Kampfes die meisten Gegner dahinraffen, bevor die Todesser auch nur einen Finger krümmen müssten. Draco und Severus betrachteten die finsteren Kreaturen, die unheilvoll über ihnen schwebten und den Tag verdunkelten. Der Tau auf umliegenden Blumen und Gräsern gefror aufgrund des Frostes, der die finsteren Geschöpfe umgab. Die Seelenräuber waren gierig nach Küssen.
Vor Dementoren hatte Draco keine Angst. Über die Jahre hinweg hatte Severus ihm den Patronuszauber beigebracht. So war Draco der Erste, der selbstsicher seinen Zauberstab auf die Dementoren richtete. Ein Gedanke an Vater und Mutter bescherte ihm das benötigte Hochgefühl, bevor er leise den Zauberspruch sagte.
„Expecto Patronum!“ Seinem Stab entsprang ein gleißend silberner Schweif, der sich alsbald zu einem riesigen Bären formte – drei Mal größer als ein Schwarzbär.
Den silbernen Schutzherrn konnten auch andere sehen.
Vor Hogwarts hatten Harry und sein Gefolge sich hinter fast durchsichtigen, magischen Schutzwänden aufgehalten, die gegen die ersten Attacken Deckung bieten sollten. Trotz der Anspannung, die in der Luft lag, wagten die Vögel wie üblich, dem Sonnenlicht fröhlich entgegenzuzwitschern, als wäre es ein normaler Tag. In der Ferne machte Harry die ersten Dementoren aus, die dunkle Gewitterwolken hinter sich herzogen. Gleichzeitig bemerkte er den bärengleichen Patronus, der so gewaltig war, dass niemand diesen beeindruckenden Zauber übersehen konnte. Die silbernen Strahlen eines zweiten Patronus formten sich bereits über dem entfernt gelegenen Hügel. Er kniff die Augen zusammen und suchte angestrengt den Hügel ab, aber er konnte niemanden ausmachen. Harry fragte sich, wer sich dort hinten wohl aufhalten würde. Es war ihm ein Rätsel, wer die Dementoren abwehrte, noch bevor sie sich Hogwarts nähern konnten. Dort hinten hatte er niemanden aus seinem Trupp postiert. Eine vage Vermutung machte sich in ihm breit, aber bevor er handelte, wollte er sie bestätigt wissen.
„Moody, komm mal her!“, rief Harry wie einen Befehl. Der alte Auror lauschte aufmerksam, als Harry fragte: „Kannst du vielleicht jemanden dort hinter dem Hügel sehen? Etwa 150 Meter von hier. Der Patronus kam aus der Richtung.“
Mit seinem hellblauen, magischen Auge folgte Moody Harrys Zeigefinger. Nach einigen Augenblicken sagte er mit grantiger Stimme: „Ja, da hinten … Sieht aus wie dieser Malfoy … und … Ist nicht wahr! Sollte das etwa Snape sein? Der ist überfällig!“ Alastor wollte seinen Stab heben, doch mit festem Griff hielt Harry ihn am Unterarm fest.
„Niemand wird den beiden etwas tun.“
Alastor blickte Harry in die Augen, aber nicht, weil er an ihm zweifelte, sondern weil er hoffte, eine Erklärung für diese Entscheidung zu finden. Offenbar fand er eine, denn Alastor schlug ihm einmal auf die Schulter und ging wieder zu seinen Posten.
Der Patronus von Severus hatte sich komplett manifestiert und sich in die Lüfte erhoben. Severus’ gigantischer Vogel, der eine sehr große Ähnlichkeit mit dem Phönix Fawkes aufwies, leistete Dracos stattlichem Bären Gesellschaft. Er wehrte die Dementoren ab, die sich auf Draco und ihn stürzen wollten. Erst jetzt stand Draco Angst ins Gesicht geschrieben, aber nichtsdestotrotz feuerte er murmelnd, fast betend, seinen Patronus an und lenkte dessen Richtung. Severus blickte stolz gen Himmel, als er seinen silbernen Schutzherrn dabei beobachtete, wie der die Dementoren mit der riesigen Spannweite seiner Flügel in die Flucht schlug. Beide Patronuszauber zusammen waren fast genauso stark wie Harrys Hirsch. Als besagter Zwölfender durch die Luft preschte, zogen die Dementoren sich vollends zurück. In sicherer Entfernung erkannte Draco seinen Ex-Erzfeind und er wusste, dass Harry ihn auch gesehen haben musste.
Ohne es zu wissen, dachte Harry ganz ähnlich wie Draco. Unterbelichtet, wie es ihm früher viele Leute, besonders seine Verwandten, ständig einreden wollten, war Harry keineswegs. Er wusste genau, dass Malfoy und Snape sich dort hinten aufhielten, auch wenn es ihn irritierte, dass sie offenbar auf seiner Seite waren und für das Gute kämpften. Er wandte seinen Blick von dem Hügel ab und bestaunte den silbernen Phönix, der mit Leichtigkeit die Dementoren mit seinen Schwingen vom Himmel fegte. Der Vogel ließ Erinnerungen in ihm aufkommen. Mit einem Male klangen ihm Dumbledores Worte im Ohr. Sein ehemaliger Schuldirektor hatte nie an Snape gezweifelt. Stets hatte er beteuert, dass er gute Gründe haben würde, Snape sein vollstes Vertrauen zu schenken und zwar ohne jede Einschränkung. Aus einem Gefühl heraus wusste Harry, dass er ihm heute ebenfalls trauen sollte.
„Sie ziehen sich zurück.“ Remus hatte es richtig erkannt. Die letzten Dementoren traten den Rückweg an.
„Von wem stammen die beiden Patronusgestalten?“, fragte Hermine, die zwischen Remus und Tonks stand, den Stab fest mit der Faust umklammert und bereit zum Kampf.
„Malfoy und Snape.“
Nicht nur Hermine, sondern alle, die um Harry herumstanden und ihn gehört hatten, blickten ihn erstaunt an. Die größten Augen hatte Susan Bones gemacht. Es war nicht bekannt, dass Todesser zu einem Patronus imstande waren. Entweder waren Severus und Draco die einzigen Ausnahmen oder sie waren keine überzeugten Anhänger Voldemorts.
Bedächtig trat Kingsley an Harry heran und flüsterte ihm ins Ohr: „Soll ich ein Auge auf die beiden werfen?“
„Nein“, winkte Harry ab, „die haben ihren Plan, wir haben unseren. Wir brauchen jede helfende Hand. Sie kommen uns bestimmt nicht in die Quere.“ Kingsley nickte.
„Aber Harry …“
„Ron“, unterbrach er seinen Freund, „bitte nicht.“ An Kingsley gewandt bat er: „Sag den anderen Bescheid, dass den beiden kein Haar gekrümmt werden soll, es sei denn, sie greifen uns an.“ Harry blickte zu dem Hügel hinüber, hinter dem sich die beiden in Sicherheit gebracht hatten. „Aber das wird nicht passieren“, fügte Harry leise hinzu.
Kingsley nickte und begann damit, diese Information an den Mann zu bringen. Die Nachricht über die Anwesenheit von Snape und dem jungen Malfoy verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Einige Mitglieder des Ordens und ehemalige Schulkameraden aus Dumbledores Armee standen dieser Information ein wenig skeptisch gegenüber, aber niemand bezweifelte Harrys Anweisung. Es gab heute Wichtigeres zu erledigen, als zwei vergangenen Feinden nachzujagen, die sich jetzt wieder lieb Kind machen wollten oder tatsächlich aus Überzeugung gegen Voldemort antraten. Das alles könnte man später klären, wenn es überhaupt ein Später geben würde.
Harry hörte, wie sein bester Freund mit zusammengebissenen Zähnen sagte: „Malfoy und Snape!“ Ron konnte nicht verstehen, warum Harry bei diesen beiden so gelassen bleiben konnte.
Zum Glück übernahm Hermine es, ihren Freund auf andere Gedanken zu bringen, indem sie ihm etwas anders vor Augen hielt. „Da hinten, Ron“, sie zeigte geradeaus, „läuft irgendwo dein ehemaliges Haustier herum.“ Vor Wut verzog Ron das Gesicht. „Konzentriere dich auf den.“
„Die Ratte mach ich fertig!“, versprach Ron angriffslustig.
Vielleicht war es ein Fehler, Malfoy und Snape so wenig Aufmerksamkeit zu schenken. Harry war sich nicht sicher. Andererseits wusste er von seinen Kontaktmännern, dass die beiden bei Voldemort in Ungnade gefallen waren. Es war der Schutzzauber von Snape gewesen, der ihm das Gefühl vermittelte, in den beiden Verbündete sehen zu dürfen. Für einen Patronus dieses Ausmaßes, das wusste Harry aus eigener Erfahrung, benötigte man starke, sehr glückliche Erinnerungen. In dem silbernen Vogel hatte Harry Dumbledores Phoenix wiedererkannt. Daraus schlussfolgerte er, dass Snape an einer glücklichen Erinnerung mit Albus festhielt, um so einen gigantischen Patronus erschaffen zu können. Die Patronusgestalten von Snape und Malfoy hatten die letzten Dementoren erfolgreich abgewehrt und somit Voldemorts ersten Plan vereitelt.
„Gut gemacht!“, sagte Harry triumphierend zu sich selbst. Ein Lächeln formte sich auf seinen Lippen. Die Todesser müssten sich selbst bemühen, wenn es zu einer Auseinandersetzung kommen sollte. Zuversichtlich blickte er hinter sich und betrachtete die Gesichter seiner Mitstreiter. Hier waren alle zusammen. Neben seinen engsten Freunden, die auch seine Familie darstellte, befanden sich Auroren unter ihnen und alte Klassenkameraden. Nach dem Tod von Albus hatten sich die DA und der Orden des Phönix zusammengeschlossen. Als er Minervas Gesichtsausdruck bemerkte, glaubte er, dass auch sie an den Tod des Direktors zu denken schien, denn er sah die gleiche Trauer in ihren Augen, die er damals bei der Beerdigung schon gesehen hatte. Vor ein paar Stunden, als sich alle hier eingefunden hatte, um die Schutzwälle zu errichten, war Harry allein zum weißen Marmorgrab am See gegangen. Er hatte Albus erzählt, dass heute der große Tag wäre – der Tag, an dem sich endgültig entscheiden sollte, ob künftig Licht oder Dunkelheit, Freiheit oder Knechtschaft herrschen würde. Von diesem Gespräch auf wundersame Weise im Herzen gestärkt war er zurück zum Schloss gegangen, wo er bis jetzt auf Voldemort wartete.
Bei seinen Freunden fühlte sich Harry sicher. Es war ihm gleich, ob er heute sterben müsste. Wichtig war nur, Voldemort mit in den Tod zu reißen. Kein einziges Horkrux war mehr übrig. Voldemorts Seele war mittlerweile so mickrig, dass er daran gescheitert war, sie noch ein weiteres Mal zu spalten. Diese Information hatte er von dem gleichen Kontaktmann, der auch den Tag des Angriffs genannt hatte. Nacheinander waren alle Seelenteile des Dunklen Lords gefunden und zerstört worden. Einige aus der DA hatte dabei geholfen, wie Neville, Luna, Ron, Hermine, Susan und Ginny. Bei dem Gedanken blickte sich Harry um, doch auf die Schnelle fand er Ginny nicht. Seufzend richtete er seinen Blick wieder nach vorn. Wenn er das den Tag überstehen sollte, würde ihn sein erster Impuls zu Ginny treiben, um sie zurückzugewinnen. Ohne sie war er ein unvollständiges Lebewesen, denn sein Herz gehörte ihr. Schon seit langem.
Der Sieg lag allein in Harrys Händen. Niemand würde es wagen, eine Entscheidung von ihm anzuzweifeln. Zwar ging ein Raunen durch die Menge, aber jeder hatte versichert, Snape und Malfoy – zumindest heute – in Ruhe zu lassen.
Aus seinem linken Augenwinkel bemerkte Harry, dass Snape und Draco sich dem Schloss näherten. Nach einem Moment wurde ihm bewusst, warum das so war. Die ersten Todesser verließen den Schutz des Hügels und stürmten frontal auf Harry und seine Mitstreiter zu.
„Es geht los!“, rief er warnend an seine Leute.
Es waren viel mehr Todesser, als man im Vorfeld befürchtet hatte. Schätzungen lagen bei etwa 150, doch hier stürmte mindestens die doppele Anzahl vermummter Gestalten auf Hogwarts zu. Es waren viel mehr, als Moody durch den Hügel hindurch hatte erspähen können.
Die Schlacht begann …
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