von Muggelchen
In Dracos Kopf wütete ein beängstigend lautes Stimmenwirrwarr, das nur er hören konnte. Die Träume waren immer ähnlich. Und gerade weil jeder Traum den gleichen Inhalt hatte, war es jeden Abend eine große Überwindung für ihn, sich zu Bett zu begeben. Die Träume handelten von düsteren Gestalten in schwarzen Kutten, die ihn als Verräter beschimpften und umkreisten. Allesamt trugen Gesichtsmasken, eine fratzenhafter als die andere.
„Vater?“
Es war nur ein leises Wimmern gewesen, doch Severus hatte es gehört. Er ließ Draco schlafen und durchstöberte weiterhin bei Kerzenlicht die letzte Ausgabe des Tagespropheten. Ein paar Stunden Schlaf reichten ihm völlig aus.
Am nächsten Morgen erwachte Draco wie üblich mit Tränen in den Augen, die er schnell an der grauen Bettwäsche trocknete. An die Träume selbst konnte er sich nur selten erinnern. Erneut begann er den Tag mit einem beklemmenden Gefühl der Niedergeschlagenheit. Er ahnte, dass er seinen Eltern begegnet sein musste, die er seit fünf Jahren nicht mehr gesehen hatte; nicht mehr, seitdem Severus Snape, ehemaliger Professor für Zaubertränke, mit ihm nach dem Mord an Albus Dumbledore geflohen war.
Unzählige Verstecke, nächtliche Fluchtaktionen und ermüdende Reisen hatte sein Pate auf sich genommen, um Draco in Sicherheit zu wissen. Anfangs hasste Draco ihn dafür, hielt ihn für genau den Verräter, der er in seinen Träumen nun selbst war. Je länger die beiden jedoch zusammenlebten und gemeinsam vor den Todessern und den Auroren flüchteten, desto besser verstand Draco ihn. Die meiste Zeit über war sein Onkel Severus, wie er ihn in früher Kindheit genannt hatte, sehr geduldig und ruhig. Manchmal, so dachte Draco, war Severus sogar des Lebens müde. In solchen betrübten Gemütsstimmungen half Draco ihm, indem sie über alles Mögliche sprachen, sogar über Harry. Keiner von beiden nannte ihn in den letzten Jahren nur Potter.
Eines Abends, als Severus über Dumbledore und die Nacht – diese Nacht – sprach, hatte Draco endlich alle Zusammenhänge begriffen.
„Dann heißt das, Professor Dumbledore hat dich genötigt ihn umzubringen, weil er sowieso an der verfluchten Hand und dem Gift aus der Höhle gestorben wäre?“, fragte Draco nach, um sicherzugehen, kein Detail vermisst zu haben.
„Genau so ist es.“ Ein Seufzer entwich dem ehemaligen Todesser.
„Und das nur wegen mir?“, fragte Draco flüsternd nach.
Einen Moment lang wägte Severus die treffenden Worte ab, bevor er mit gebrochener Stimme erwiderte: „Ihm war deine junge Seele sehr viel wert, Draco.“
„Und deine?“
Eine Antwort gab Severus nicht.
Endlich war Draco klar geworden, dass der von ihm einst so gehasste Schuldirektor ihn davor bewahrt hatte, zum Mörder zu werden. Noch viel wichtiger war, dass der alte Zauberer ein großes Übel von ihm ferngehalten hatte: durch einen Mord die eigene Seele zu spalten. Dafür war Draco ihm aufrichtig dankbar. Trotz der späten Erkenntnis und der großen Dankbarkeit fühlte er sich aber auch schuldig.
Fünf Jahre waren viel Zeit für einen jungen Mann, sich über die eigenen Ansichten und deren Falschheit bewusst zu werden. Damals, mit sechzehn Jahren, sah er die Welt aus der Sichtweise seines Vaters. Es war leicht gewesen, die Meinung der Eltern zu übernehmen, ohne in Erwägung zu ziehen, sich eine eigene zu bilden. Das selbstständige Denken war ihm stets abgenommen worden. Auf diese Weise festigte sich seine politische Überzeugung, gespickt mit unzähligen Vorurteilen, die wie Wertgegenstände und Grundbesitz von Generation zu Generation in der Familie vererbt wurden.
In den Jahren ihrer Flucht lernte Draco alles Erdenkliche von seinem Paten, wenn sie sich beispielsweise für einige Wochen in einem Dorf niedergelassen hatten, um ein wenig zu verschnaufen. Unter anderem war Severus so frei gewesen, ihm bestimmte Zaubersprüche einzubläuen, um sich erfolgreich gegen Todesser und deren hinterlistige Taktiken zur Wehr zu setzen. Geübt wurden der Spruch selbst und unabhängig davon die Zauberstabbewegung, aber nie beides zusammen. Magie mit dem Stab war tabu. Das Ministerium überwachte sämtliche Aktivitäten außerhalb der bekannten Zauberersiedlungen.
Willentlich ließ sich Draco von Severus auf die gute Seite ziehen, ohne es anfangs zu bemerken. Mittlerweile war er mit seinen einundzwanzig Jahren kein verwöhnter Junge mehr, sondern ein vorsichtiger, junger Mann, der wusste, den eigenen Kopf einzusetzen. Um Äußerlichkeiten kümmerte er sich selten. Wollte er etwas haben, musste er dafür arbeiten. Stehlen kam nicht infrage, war manchmal jedoch unumgänglich. Die vielen Galleonen, die in den Verliesen von Gringotts schlummerten, waren für ihn unerreichbar. Keine Spur durfte zu Severus und ihm zurückzuverfolgen sein, also vermehrte sich das Vermögen der Malfoys durch die Zinsen ohne Zutun.
Manchmal, genau wie Severus, fiel Draco in ein tiefes Loch, besonders wenn sie über eine bestimmte Person sprachen: Dracos Vater. In dieser Zeit, Draco hätte es früher nie für möglich gehalten, war Severus für ihn da. Der üblicherweise mürrische Mann besaß die Fähigkeit ihn zu beruhigen, wenn auch nur mit Worten. Trotz des tröstenden Zuspruchs vermisste Draco seinen Vater und seine Mutter so sehr, dass es in der Brust wehtat. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als seinen Vater zu sich zu holen, ihn auf seine Seite zu ziehen. Auf die der Guten. Unmöglich wäre es nicht. Für Draco war es früher ebenso unvorstellbar gewesen, dass jemand wie Severus, der vom Wesen her äußerst grantig und zudem ein Freund der Dunklen Künste war, einen Zauberer verkörperte, der diese lichte Seite bevorzugte. In Gedanken malte Draco sich aus, wo seine Mutter sich befinden könnte. Zumindest sie wähnte er in Sicherheit und weit außerhalb der Reichweite des Dunklen Lords. Wo sie sich aufhielt, war jedoch nicht bekannt.
„Wir brechen heute Nacht auf, Draco. Pack deine Sachen.“ Kein Bitte, keine Erklärung. Draco störte sich nicht daran, dass Severus’ Aufforderungen stets wie Befehle klangen. Ohne Murren packte er seine Sache. Viel war es nicht. Etwas Kleidung, ein paar Wertgegenstände, ganz wenig Geld.
Bei klirrender Kälte verließen sie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion das kleine Muggeldorf, um ein paar Dörfer weiter ihr Glück zu suchen und wenn nicht Glück, dann wenigstens eine warme Unterkunft und etwas Arbeit, um sich ein Essen zu verdienen. Bei den Muggeln war es sicherer als in der Zaubererwelt. Hier mussten sie selten mit rachsüchtigen Todessern rechnen und schon gar nicht mit den gut trainierten Auroren, die ihnen das Britische Ministerium für Zauberei auf den Hals gehetzt hatte. Alle Welt suchte nach ihnen, nur die Muggel ließen sie in Ruhe. Für sie waren sie Vagabunden, die auch schon mal die eine oder andere Nacht wegen Landstreicherei auf einer Polizeizelle übernachten mussten – in einer warmen Zelle mit weichen, sauberen Decken und einer kostenlosen Mahlzeit. Die Zaubererwelt hingegen war eine echte Gefahrenzone für die beiden Gesuchten. Schon lange war Draco nicht mehr unter seinesgleichen gewesen, konnte sich höchstens noch an Zeiten erinnern, in denen man nicht zu Fuß ging, sondern flohte. Das Apparieren hatten sie schon vor langer Zeit aufgegeben. Magische Signaturen jeder Art konnten ungebetene Gäste anlocken, es sei denn, man war übervorsichtig und ging überlegt vor.
Was sie regelmäßig verfolgten waren Tageszeitungen. Die der Muggel klaubten sie aus dem nächsten Papierkorb. Den Tagesprophet mussten sie aus Kiosken stehlen, die von Squibs oder Zauberern geführt wurden. Interessiert verfolgten sie das Geschehen, wie es aus der Sicht der unwissenden Muggel geschildert wurde. Im Vergleich dazu lasen sie zu den gleichen Vorfällen die Betrachtungsweisen der Zaubererwelt. Die magischen Bombenanschläge der Todesser erklärten die Muggel mit Terroranschlägen. Allgemein hatten sich bei den Muggeln besonders im letzten Jahr die Anzahl der Entführungen sowie die Anschläge durch politische Feinde erhöht. Die Muggel waren sich der Gefahr, die von Voldemort und seinen Schergen ausging, gar nicht bewusst. Jeder Tag könnte der letzte sein, den man in Freiheit genoss.
Eines Tages besuchte Draco ein Geschäft, in dem man den Tagesprophet bekommen konnte. Als er sich eine gerollte Ausgabe in den Ärmel seiner Jacke stopfte, betrachtete er gedankenverloren eine junge Frau, die ein paar Meter neben ihm stand und in einer Zeitschrift blätterte. Sie sprach seinen Sinn für Schönheit an. Dieser kleine Lichtblick in seinem Leben ließ ihn unachtsam werden. Jemand hatte ihn beim Diebstahl beobachtet und machte alle Anwesenden auf ihn aufmerksam. Die schöne Frau warf ihm einen angewiderten Blick zu.
Man jagte ihn zu Fuß durch die nicht sehr langen Straßen des kleinen Dorfes, quer über einen Acker und durch einen Kuhstall, wo seine Verfolger ihn endlich verloren.
Mit Mist auf der Hose marschierte er wütend zu dem abgelegenen Häuschen. Severus und er waren dort bei einer alten Dame untergekommen. Kaum hatte er das kleine Zimmer unterm Dach betreten, ließ sein jugendliches Temperament ihn wie ein altes Waschweib fluchen. Dass er einen Fehler machte, fiel ihm erst auf, als die Worte bereits über die Lippen gekommen waren.
„Ich hasse dieses Volk! Verdammte Schlammblüter … So weit das Auge reicht!“
Schnell wie der Blitz erhob sich Severus von seinem Stuhl und stürzte auf Draco zu. Für dieses Wort erntete er eine gepfefferte Ohrfeige. Draco war völlig perplex, obwohl die Ohrfeige gar nicht so schrecklich schmerzte. Er war vielmehr über das Verhalten seines Patenonkels verdutzt. In der Vergangenheit hatte Severus nur ein einziges Mal einem Schüler körperliche Gewalt angetan. Das war an dem Tag, an dem sie geflohen waren. Die Ohrfeige galt Harry, der Severus einen Feigling geschimpft hatte. Niemals zuvor hatte er Draco geschlagen. Severus kochte vor Wut und rügte ihn für den Gebrauch dieses Schimpfwortes.
„Weißt du überhaupt, warum wir dieses Zimmer bekommen haben? Weißt du’s? Weil die Frau uneigennützig eine Sache ausübt, die man in der nicht-magischen Welt Nächstenliebe nennt. Sie gibt uns einen Platz zum Schlafen, gibt uns zu Essen und nimmt dafür nicht einmal Geld. Vielleicht ist es dir entfallen, Draco, aber sie ist ein Muggel. Sie hilft uns und du maßt dir an, durchweg alle Muggel mit herabwürdigenden Ausdrücken zu diffamieren?“
Dieses eine Schimpfwort hatte einen Zorn in Severus ausgelöst, dessen Ursprung viele, viele Jahre zurücklag.
Die Worte der Maßregelung lagen Draco schwer im Magen. Am ganzen Körper bebte er, doch nach außen blieb er so ruhig wie möglich. Reumütig ließ er die Schelte seines Patenonkels über sich ergehen. Nachdem Severus seine Zurechtweisung beendet hatte, atmete Draco zittrig ein und aus.
Severus setzte sich wieder auf seinen Stuhl und gaukelte vor, in einer Zeitung zu lesen, was er gern tat, wenn er Blickkontakt und vor allem Gespräche vermeiden wollte.
Die ganze Ungerechtigkeit des Lebens zerrte an Dracos Nerven. Er hauste hier, in einem kleinen, dunklen Zimmer unter dem Dachgeschoss, anstatt in seinen riesigen Räumen in Malfoy Manor zu leben. Von allen Seiten drohten Gefahren. An Ruhe und Entspannung war seit langer Zeit nicht zu denken. Die Nächte waren kurz, viel zu kurz und zu unruhig. Ausgerechnet heute, nachdem er wieder mit diesem dumpfen Gefühl im Herzen erwacht war, hatte sich sogar Severus gegen ihn gewandt. Dabei wollte er nur seiner Wut über den aufgebrachten Mob freien Lauf lassen, wollte einfach nur schimpfen. Dabei war es völlig egal, auf wen oder was. Sein Unmut musste heraus, sonst würde er eines Tages noch platzen. Am liebsten wollte Draco natürlich nachhause und Vater und Mutter in die Arme schließen, aber genau das war nicht möglich.
Zornestränen liefen an seiner Wange hinunter, als er an sich herabsah. Der Kuhmist an der Hose war bereits angetrocknet. Er wagte nicht zu fluchen, nicht einmal wegen der verdreckten Kleidung und des Gestanks. Sämtliche Ventile mussten geschlossen bleiben, also schluckte Draco all die aufwühlenden Gefühle hinunter und ertrug sein jämmerliches Dasein mit Bauchschmerzen. Mit seinem Patenonkel wollte er wieder ins Reine kommen, auf der Stelle. Severus war der einzige Mensch, mit dem er reden konnte und der Einzige, der ihn verstand. Eine Bestrafung durch Nichtachtung war für Draco schlimmer als Schläge mit einem Rohrstock.
Innerlich noch immer wegen der Erinnerung aufgebracht, die das Schimpfwort in ihm geweckt hatte, ignorierte Severus den Kummer seines jungen Schützlings. Als er ihn die Nase hochziehen hörte, blickte Severus auf. Diesen Moment nutzte Draco, um ein wenig in der Vergangenheit zu schwelgen; in Zeiten, in denen augenscheinlich noch alles in Ordnung war.
„Weißt du noch, wie ich dich als Kind genannt habe?“ Draco wartete, aber es kam keine Reaktion. Aus Angst, er würde Severus’ Sarkasmus ausgesetzt sein oder vielleicht sogar einer weiteren Rüge erhalten, kam die kindliche Anrede nur flüsternd über seine Lippen: „Zottelbär.“
Wegen der aufkommenden Erinnerung musste Severus gequält lächeln. Dracos Kindheit war nicht leicht gewesen. Unter der strengen Aufsicht des eigenen Vaters, Abraxas, hatte Lucius seinen Sohn von Beginn an sehr kühl erzogen. Es war Narzissa gewesen, die dafür sorgen wollte, dass ihr Sohn seinem Alter entsprechend behandelt wurde. Kinderbücher zählten dazu. Sie hatte sie ihm abends welche vorgelesen, auch jenes, das Severus ihm zum vierten Geburtstag schenkte. Er konnte sich sogar noch an den Verkäufer von Flourish und Blotts erinnern, der es ihm für den Jungen empfahl. Das Kinderbuch wäre ein Verkaufsschlager, hatte der Mann gesagt.
Die Herren des Hauses, Abraxas mehr als Lucius, kümmerten sich lieber darum, dass der Nachkomme der Familie sich ein arrogant höfliches Benehmen aneignete. Sie brachten ihm sehr früh den herrschenden Klassenunterschied in der magischen Gesellschaft nahe. Das Buch, das Severus ihm damals zum Geschenk gemacht hatte, handelte von den Abenteuern eines großen, schwarzen Bären. Beim Betrachten der Illustration musste der kleine Draco stets an seinen Patenonkel denken. Bald war die kindliche Assoziation geschaffen und ein vierjähriger Draco nannte seinen Patenonkel fröhlich Zottelbär. Als Lucius diese liebevolle Bezeichnung zu Ohren kam, wurde Severus Zeuge dessen, wie dem Jungen auf verspielte Art beigebracht wurde, dass dieser in seinem Alter nicht mehr solche niedlichen Worte gebrauchen sollte. Blutsverräter und Schlammblüter waren die Ausdrücke, die Lucius dem Jungen ganz im Sinne des Großvaters wie Gift in das unschuldige Gemüt einflößte.
Als hätte Draco den gleichen Gedanken gehabt, sagte er leise und entmutigt: „Das war zu der gleichen Zeit, als Vater mir dieses Wort beigebracht hat. Ich war zwar noch nicht sehr alt, aber ich weiß es noch. Er hat mich seitdem darin unterwiesen, wie man sie gezielt benutzt, um Menschen zu verletzen und …“
Die Sehnsucht nach seinen Eltern und das sichere Leben betrübten Draco. Die Befürchtung, all das würde er nie wieder erleben, drückte auf seine Stimmung. Er war am Ende mit seinen Kräften, körperlich und seelisch völlig ausgelaugt. Der tägliche Kampf ums Überleben schloss nicht nur die Flucht vor Todessern ein, sondern auch eine regelmäßige Mahlzeit. Früher hatte Dobby immer dafür gesorgt, dass er dreimal täglich sein Essen erhielt. Heute wusste er nicht einmal, was für unangenehme Überraschungen ein neuer Tag in sich bergen würde – zudem konnte jeder Tag der letzte sein. Draco konnte und wollte nicht mehr. Für ihn hatte nichts mehr einen Sinn. Der Gestank der eigenen Hose störte ihn nicht, obwohl er damals so penibel gewesen war. Früher musste alles das Beste vom Besten sein. Die gesamte Garderobe war selbstverständlich maßgeschneidert. Heute trug er das am Leib, was die Kleiderspenden der Muggel hergaben. Er war nicht mehr er selbst. Er war irgendjemand in fremder Kleidung – er war jemand Fremdes. Ein unbekannter Jemand ohne Zukunft.
Dracos Atmung war schwer, aber er bemühte sich sehr, die aufkommenden Tränen zurückzuhalten. Keine von ihnen würde seinen Vater oder seine Mutter herbeizaubern. Vor seinem inneren Auge sah er das tiefe, schwarze Loch. Dieses Mal balancierte er nicht vorsichtig am Rand entlang, sondern stürzte sich absichtlich hinein. Resignation. Draco schloss die Augen und starb einen imaginären Tod.
Bevor er zu Draco hinüberblickte, holte Severus tief Luft. Am Ende erhob er sich von seinem Stuhl und ging zu Draco, um ihm Mut machend die Hände auf die Schulter zu legen, so wie Albus es einige Male bei ihm getan hatte, wenn ihm eine Situation über den Kopf gewachsen war. Diese einfache Geste hatte Draco missverstanden. Er umarmte seinen stets distanzierten Patenonkel, der ihn weiterhin nur an den Oberarmen hielt. Überdankbar nahm sich Draco die tröstende Umarmung, die Severus zwar nicht angeboten hatte, nun aber auch nicht verwehren wollte.
Da war jemand – Severus –, dem es genauso schlecht ging wie ihm selbst. Warum allein diese Gewissheit trösten konnte, war Draco ein Rätsel, aber es war gut zu wissen, mit seinem Weltschmerz nicht allein fertigwerden zu müssen.
„Es tut mir leid, es tut mir leid. Ich hab’s nicht sagen wollen. Ich sag’s nie wieder. Es ist nur eine blöde Angewohnheit, eine Erinnerung. Ich werd’s mir abgewöhnen, versprochen.“
Die Nähe war Severus unangenehm, dennoch klopfte er ihm beruhigend auf den Rücken und beteuerte: „Es ist ja alles gut, Draco.“ Eine Entschuldigung wäre angebracht, dachte Severus. „Verzeih mir den Ausrutscher. Wird nicht noch einmal vorkommen.“ Die Umarmung wollte Severus wieder lösen. Körperkontakt solcher Art war er nicht gewohnt, doch im Moment war diese soziale Handlung für Draco der einzige Weg, wieder Kraft zu schöpfen; die Nähe zu jemandem, dem er vertrauen konnte. Noch eine Minute schenkte er Draco, nicht mehr. „Nun ist’s gut.“ Langsam drückte Severus den jungen Mann von sich. „Hör’ auf Trübsal zu blasen.“
Nach einer Weile hatte Draco sich beruhigt, hatte mit Severus’ Hilfe wieder einmal einen Weg aus der Hoffnungslosigkeit gefunden, die ihn immer häufiger übermannte.
In den nächsten Tagen hielt Severus Augen und Ohren offen. Er belauschte die Nachbarschaft und hörte eines Tages zwei Squibs miteinander reden. Sie erzählten von mysteriösen Briefen, die sie bekommen hätten. Diese Briefe beinhalteten angeblich Warnungen über bevorstehende Todesser-Angriffe.
Einen Tag, bevor sich diese Warnungen als wahr erweisen sollten, war Severus mit Draco bereits zurück in die Magische Welt geflohen. In einem unscheinbaren Dorf nahmen sie sich ein Zimmer in einer Gaststätte. Tag für Tag mopste Draco eine Ausgabe des Tagespropheten aus öffentlichen Papierkörben. Für diese Ausflüge nach draußen hatte Severus das Aussehen des jungen Mannes mit einem stablosen Verhüllungszauber belegt, was ihm eine Menge Konzentration abverlangte, doch so war Draco wenigstens nicht mehr zu erkennen. Am Abend lasen sie regelmäßig die Zeitungen, die Draco gesammelt, teilweise auch gestohlen hatte. Auf fast jeder Seite stand natürlich sein Name: Harry Potter. Nach all den Jahren konnte Draco von Harry nicht mehr als seinen Erzfeind sprechen. Ohne Frage war Harry der Retter beider Welten. Jugendliche Feindseligkeiten waren veraltet und siegten nicht über die Erkenntnis, dass nur Harry in der Lage sein würde, den Dunklen Lord zu töten. Das war Draco klar geworden. Zudem war Harry der Grund, warum Severus diese ganzen Strapazen überhaupt auf sich genommen hatte. Draco wollte Voldemort tot sehen, weil er nur so die Hoffnung hegen konnte, eines Tages ein Wiedersehen mit seiner Familie zu feiern. Severus hatte seinen Grund nie verraten.
„Könnte ich nur mit jemandem reden“, murmelte Severus, als er sich die Schlagzeilen des Tagespropheten anschaute. Leider verfügte er nicht mehr über interne Informationen bezüglich der Aktivitäten beider Seiten. Früher, als er einerseits in die Pläne des Dunklen Lords und andererseits in die geplanten Gegenschläge des Phönixordens eingeweiht war, hatte er sich wesentlich sicherer in seiner Haut gefühlt. Nun war er schon lange nicht mehr in irgendwelche Pläne involviert, sondern schmiedete selbst welche. Zudem vermisste er die aufschlussreichen Unterhaltungen mit Albus, seinem Mentor und väterlichem Ideal. Sogar den angebotenen Süßigkeiten hing er wehmütig nach, obwohl er sie damals meistens abgelehnt hatte. Ihm fehlte sogar das lebendige Zwinkern in den leuchtend blauen Augen des Direktors, wenn der ihn wieder einmal dazu bewegen wollte, Frieden mit Harry zu schließen. Undenkbar.
Wenn seine Gedanken nicht mit persönlichen Emotionen verklärt waren, wie damals während des Zwischenfalls mit Sirius Black in der Heulenden Hütte, dann konnte Severus seinen klaren, messerscharfen Verstand erfolgreich einsetzen und durchaus zum richtigen Schluss kommen. Im Zusammenfügen von Fakten war er ungeschlagen. Er sammelte sämtliche Informationen über Todesser-Anschläge. Mit all den Fakten und mit dem, was Severus zwischen den Zeilen der Artikel im Tagesprophet lesen konnte, wurde ihm schnell klar, dass die Zeit gekommen war. Das Brennen an Dracos und seinem linkem Unterarm sprach für sich. Die finale Schlacht stand kurz bevor und Severus war sich sicher zu wissen, wo sie stattfinden würde. Hogwarts! Severus musste sich sofort auf den Weg machen. Er würde sein Wort halten und Harry im letzten Kampf zur Seite stehen. Das hatte es Albus versprochen und zwar wenige Monate vor dessen Tod, an dem Severus selbst die Schuld trug.
Wenn Du Lob, Anmerkungen, Kritik etc. über dieses Kapitel loswerden möchtest, kannst Du einen Kommentar verfassen.
Zurück zur Übersicht - Weiter zum nächsten Kapitel