von HannaLuisa
Der kalte Wind raubte Ginny fast den Atem, die Stimmen ihrer Mitschüler und der Madame Hoochs drangen durch das Brausen kaum zu ihr durch. Breit grinsend schoss sie mit dem Besen das Feld auf und ab. Als die schrille Pfeife erklang, fühlte Ginny, dass sie die Landeaufforderung nicht länger ignorieren konnte. Leicht beugte sie sich vor und kurze Zeit später berührten ihre Füße wieder festen Boden.
„Mädchen, du fliegst ja wie der Teufel!“ Trotz aller Bemühungen, streng zu klingen, vernahm Ginny den anerkennenden Tonfall der Lehrerin. Sofort fühlte sie sich mindestens eine Handbreit größer werden.
„Gehe ich richtig in der Annahme, dass dies nicht erst dein zweiter Flug auf einem Besen war?“ Ginny spürte sich erröten und nickte.
„Wenn du so weiter machst, kommst du mit Sicherheit eines Tages in die Mannschaft.“ Mit einem letzten dünnen Lächeln beendete die Lehrerin ihre zweite Flugstunde.
„Wirklich unglaublich!“ Colin rannte zu ihr und sah sie beinahe ehrfürchtig an. „Wie machst du das nur?“
„Na ja“, Ginny lachte verlegen, „ich fliege zuhause oft auf den Besen meiner Brüder. Aber“, fügte sie eindringlich hinzu und hob die Hand, „kein Wort zu niemandem!“ Colin hob drei Finger zum Schwur und nickte feierlich.
„Stell dir vor, du fliegst irgendwann mit Harry Potter in einer Mannschaft.“ Schon die Vorstellung schien Colin mit Neid zu erfüllen. Ginnys Glücksgefühl versickerte so schnell, wie sie nur wenige Minuten zuvor gelandet war. Heftig und abrupt. Ohne Erwiderung wandte sie sich ab und beschleunigte ihre Schritte. Colin schien nichts davon zu bemerken, er redete ohne Unterlass vom morgigen Spiel, davon, dass er Harry bereits in jeder erdenklichen Situation vor seine Linse bekommen hatte und welch spektakuläre Flugmanöver er von seinem Idol erwartete. Als Ginny in der Ferne die Umrisse Hagrids sah, unterbrach sie Colin erleichtert und lief zu dem Wildhüter. Kopfschüttelnd stand dieser vor dem Hühnerauslauf.
„Hi Hagrid“, rief Ginny und trat an seine Seite.
Hagrid nickte ihr mit gequälter Miene zu und starrte düster zu den Hennen, die in aller Eile Körner auf pickten. Ginny ging in die Knie, griff sich ein Huhn und drückte es an sich.
„Die sind so weich“, seufzte sie, während ihre Finger sacht über das Federkleid strichen.
„Wo ist denn der Hahn?“
„Tot“, brummte Hagrid. Überrascht hob Ginny den Kopf.
„War er schon so alt?“, fragte sie.
„Nee! Der war nich alt. Und s is der Zweite, der nu seit September tot is und ich weiß nich, warum.“ Ginny erschrak so sehr, dass sie das Huhn fallen ließ. Empört gackernd stakste es zu den anderen.
„Du meinst, jemand hat ihn umgebracht?“
Hagrid wiegte unschlüssig den Kopf. „So weit würd ich nich ma gehen, s is was Komisches hier in letzter Zeit.“ Beunruhigt sah er sich um.
„Vielleicht eine Krankheit“, schlug Ginny vor. „Bei uns zu Hause sind in einer Woche mal drei Hühner an einem Infekt gestorben.“
Hagrid zuckte die Achseln. „Kann sein, dass es vom neuen Schneckenschutz is, aber dann dürften nich nur die Hähne drunter leiden.“
Ginny spürte, wie das vertraute Pochen in ihrem Kopf begann und die Glieder schwer wurden.
Diesem Dummkopf fällt nicht einmal auf, dass der Erbe Slytherins erneut am Werk ist. Ginny brach in heiseres Kichern aus. Hagrid, vollkommen in sich gekehrt, schien es nicht zu bemerken.
Hagrid.
Die Hähne.
Weshalb lachte sie? Ginny spürte den Boden unter sich schwanken und umklammerte mit aller Kraft den Zaun. Tränen rollten ihr über die Wangen.
„Is ja schon gut.“ Hagrid versuchte, ihr die Schultern zu tätscheln, doch Ginny wich aus. Den Bärenkräften war sie heute nicht gewachsen.
„Es is sicher nur der Schneckenschutz, ich werd ihn nich mehr benutzen. Nu geh ma Mittagessen.“
Auf dem Weg zum Schloss setzte leichter Regen ein. Ginny blieb stehen, reckte ihr Gesicht dem Himmel entgegen und schloss die Augen. Die Tropfen linderten das Pochen, doch die Gedanken blieben unruhig. Etwas stimmte nicht und zwar ganz gewaltig, doch was war es?
Ginny fühlte sich wie in einer Kapsel, Geräusche und Bilder verschwammen. Das Abendessen, die Feier im Turm, das aufgeschlagene Tagebuch auf den Knien… Worte bildeten sich.
Wer ist Harry Potter?
Mit höhnischem Grinsen lief Ginny geschmeidig durch den Turm. Die Mitschüler drängten sich um einen Tisch mit Süßigkeiten, Butterbier und Nüssen, die Zwillinge standen tanzend auf dem Tisch und feierten den Sieg.
Harry Potter ist dir zweimal in deiner Zukunft in die Quere gekommen und liegt nun verletzt im Krankenflügel. Eine bessere Gelegenheit wird wohl nicht kommen.
Aufregung überfiel das Kind: Wie mochte er wohl sein, dieser Junge, der aus unerklärlichen Gründen eine Gefahr für sie würde? Ein Hüne wie Hagrid? Ein kleiner, flinker?
Gemessenen Schrittes näherte sich Ginny dem Krankensaal, als eine Bewegung sie innehalten ließ. Colin, das wertlose, kleine Schlammblut lief hastig die Stufen der Treppe, die zum Krankenflügel führte, nach oben. Ginny spürte die Anwesenheit des Basilisken, der nur wenige Meter in einem Kanal ruhte und auf ihren Befehl wartete.
„Töte“, zischte Ginny. Der Junge schien das Zischen vernommen zu haben, er drehte sich um, riss die Kamera mit einem Ausdruck des Staunens vor die Augen und kippte reglos, mit einem lauten Schlag, auf den Boden. Die Schlange kroch vollständig in das Rohr zurück und war nicht mehr zu sehen.
Und jetzt werde ich mich um Harry Potter kümmern. Achtlos stieg Ginny über den Körper, die Lippen verzogen sich zu einem schadenfrohen Grinsen.
Keine Trauben heute Nacht, Potter. Dein Tod naht. Ginny pflückte ein paar der grünen Beeren, erstarrte jedoch kurz darauf in der Bewegung, die Haare auf ihren Armen richteten sich auf. Minerva McGonagall näherte sich von der einen Seite und, noch schlimmer, die Gestalt Albus Dumbledores schritt eilig den Korridor entlang, die Hand um eine Tasse geklammert, den Blick auf die wie tot da liegende Gestalt Colins gerichtet.
Ginny spürte Ärger aufkommen, doch sie wusste, dass die Chance vertan war. Diese Nacht wirst du überleben, Potter, doch aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben…
Mit einem letzten amüsierten Blick auf den Schlammblüter kehrte Ginny zurück in den Turm.
„Erst die Katze und jetzt Colin.“
„Wie kann sowas nur passieren? Weshalb ausgerechnet er?“
„Ich habe solche Angst.“
Verstört klingendes Stimmengewirr empfing Ginny im Gemeinschaftsraum. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, doch trotz der späten Stunde schien die Mehrheit der Gryffindors noch nicht gefrühstückt zu haben. Percy saß niedergeschlagen in einem der Sessel, die Bücher aufgeschlagen, doch den Blick aus dem Turmfenster gerichtet.
„Was ist denn hier los?“ Percy zuckte leicht zusammen, nahm einen Stapel Pergament von der Lehne und klopfte darauf. Ginny setzte sich und erwiderte unruhig den nervösen Blick des Bruders.
„Colin… Du weißt schon...“
„Colin Creevey?“, rief Ginny erschrocken. Percy nickte.
„Es ist wie an Halloween, mit Mrs Norris. Er ist versteinert worden. Diese Nacht.“
„Diese...“ Ginny musste schlucken. „Diese Nacht?“
„Wir glauben, dass er nach dem Spiel zu Harry in den Krankenflügel gehen wollte. Er hatte ein Bündel Trauben dabei.“
Das Spiel. Harry. Krankenflügel. Ginny war so entsetzt, dass ihr die Sinne schwanden. Das Spiel war doch heute! War es nicht gestern gewesen, dass Madame Hooch sie vor aller Augen gelobt hatte, dass Colin mit Spannung den Samstag erwartete, an dem die Slytherins gegen Gryffindor das erste Match der Saison einleiten würden?
„Heute ist Sonntag, nicht wahr?“ Ginny wunderte sich selbst, wie ruhig ihre Stimme trotz des inneren Aufruhrs klang. Percy fuhr sich geistesabwesend mit der Hand durch das Haar und brummte zustimmend. Ginny hielt es nicht länger aus, sie erhob sich und lief in den Schlafsaal zurück. Der Blick fiel auf ihren Nachttisch und Ginny meinte, ihr Herz müsse ausgesetzt haben.
Eine Traube lag darauf.
_______
Anhören könnt ihr euch das Kapitel hier:
https://youtu.be/uMPtYE-D4xI
Wenn Du Lob, Anmerkungen, Kritik etc. über dieses Kapitel loswerden möchtest, kannst Du einen Kommentar verfassen.
Zurück zur Übersicht - Weiter zum nächsten Kapitel