von HannaLuisa
1) Unerwarteter Besuch
„Wenn er sich nicht bis Freitag meldet, gehen wir hin und holen ihn persönlich von diesen Dursleys ab. Da stimmt doch etwas nicht. So wie Ron von ihnen spricht, kann man nicht davon ausgehen, dass es Harry bei diesen Muggeln gut hat.“
„Du kannst nicht einfach bei fremden Leuten reinplatzen und ihnen den Jungen wegnehmen“, hörte Ginny die ruhige Stimme ihres Vaters.
„Und wie ich das kann. Es geht hier schließlich um Harry! Bedenke, was er durchmachen musste. Nicht nur, dass ihm Vater und Mutter genommen wurden, ist er nun auch noch dazu verdammt mit Menschen zusammen zu leben, die...“ Die Toilettenspülung übertönte den restlichen Teil des Satzes und Ginny begann, sich insgeheim über George zu ärgern. Weshalb ausgerechnet jetzt?
Sie drückte sich so fest sie konnte gegen die kalte Wand und George ging so dicht an ihr vorbei, dass eine Strähne seines Haares ihre Nase kitzelte. Schnell hielt sie sich die Hand davor.
„Du hast ja recht, Molly Liebling. Vielleicht meldet er sich ja noch bis Freitag.“ Ginnys Füße waren trotz des warmen Bodens kalt geworden. In Gedanken versunken schlich sie die knarrende Treppe in ihr Zimmer hinauf und zog die Bettdecke bis zur Nasenspitze hoch. Harry hatte Ron während der gesamten Sommerferien nicht geschrieben. In jeder der fünf Wochen hatte Ron seinem besten Freund einen Brief geschickt, doch nicht ein einziges Mal war Errol mit einer Antwort in seinem Schnabel zurück gekehrt. Wie es ihm wohl ging, dem Jungen, den sie so sehr anbetete, dass sich die Zwillinge schon darüber lustig machten.
„Na Ginny“, meinte Fred an diesem Morgen, „hast du Harry auch geschrieben? Vielleicht antwortet er deshalb nicht und tut lieber so, als wäre er auf einer einsamen Insel.“ Und sie war natürlich wieder so rot angelaufen, dass sie den Tomaten auf dem Esstisch Konkurrenz machte.
„Fred, halt den Mund und iss deine Würstchen“, fauchte ihre Mutter und unter breitem, süffisantem Grinsen wandte sich Fred wieder seinem Frühstück zu. Sie selbst hatte nach der Stichelei keinen Bissen mehr heruntergebracht. Das fortwährende Triezen der Brüder war anstrengend und doch tappte sie jedesmal in die Falle, sobald Harrys Name fiel. Es gelang ihr einfach nicht, zu Schweigen.
Würde er sie beachten, wenn sie in wenigen Wochen täglich unter einem Dach lebten?
Ginny starrte mit offenen Augen aus dem Fenster und seufzte. „Harry“, murmelte sie, „ich hoffe, dir geht es gut.“ Sie drehte sich zur Seite und glitt in einen traumlosen Schlaf.
*
„Ihr hättet sterben können, man hätte euch sehen können, euer Vater hätte entlassen werden können...“ Ginny erwachte und fuhr so ruckartig hoch, als hätte ihre Mutter mit einem Amboss auf ihren Kopf geschlagen. Die hysterische Stimme erscholl vom Hof über drei Stockwerke in ihr Schlafzimmer und nur langsam beruhigte sich Ginnys Atmung. Was mochten ihre Brüder nur wieder ausgefressen haben? Müde ließ sie sich wieder auf das Kissen fallen, doch schlafen konnte sie nicht mehr, obgleich die Uhr erst 7 Uhr anzeigte. Nun stieg Neugier in ihr hoch. Zu gerne wüsste sie, was gerade unten in der Küche geschah und so erhob sie sich und sprang leise die Treppen hinunter. Wie erstarrt verharrte sie im Türrahmen. Konnte das…? War das wirklich Harry Potter? Mit einem erstickten Schrei sprang sie zurück und rannte die Stufen zu ihrem Zimmer hinauf. Ihr Gesicht brannte wieder einmal vor Scham. Perfekter erster Eindruck, dachte sie und schlug mit der Faust auf den Tisch.
*
„Er wird schon heil ankommen Molly, mach es nicht kompliziert.“ Gebannt starrte Ginny Harry an, der unsicher den Topf mit dem Flohpulver beäugte. Ginny wollte etwas lustiges sagen, um ihm die Angst zu nehmen, doch kein Ton kam aus ihrer Kehle. So beobachtete sie stumm, wie Harry in den Kamin stieg, irgendetwas unverständliches murmelte und verschwand.
„Was hat er gesagt? Um Himmels Willen...“ In heller Aufregung wandte sich ihre Mutter an ihren Vater. „Wir müssen sofort hinterher.“ Und einer nach dem anderen verschwanden sie. Ginny fiel ihrem Vater um den Hals, als sie die Übelkeit erregende Reise hinter sich hatte. Arthur hielt seine schwankende Tochter, bis Ginny ihr Gleichgewicht wieder gefunden hatte. Sie liefen die Gassen auf und ab, ihre Mutter sah beängstigend blass aus und auch Ginny fühlte sich nicht viel besser.
„Mum, sieh, da ist er“, rief sie plötzlich und deutete auf eine große Gruppe um Hagrid.
„Oh Gott sei Dank, Gott sei Dank“, rief ihre Mutter und Ginny, deren Herz sich um Tonnen erleichtert fühlte, hüpfte vergnügt der Mutter hinterher.
*
Meine ersten Schulbücher, dachte Ginny und fuhr andächtig mit dem Zeigefinger über den Einband des Verwandlungsbuches. Ob die anderen alle neue Bücher haben? Traurig sah sie auf ihre Sachen, die ausnahmslos alle Vorbesitzer hatten. Gebrauchte Bücher, gebrauchte Umhänge, nichts war neu. Ginny biss sich auf die Lippe und setzte sich auf den Stuhl. Ihre Eltern stritten sich in der Küche und Ginny musste trotz ihres Kummers grinsen. Wie sehr sie die Situation am Nachmittag genossen hatte, als ihr Vater sich auf diesen Widerling Malfoy gestürzt hatte und ihm dutzende Bücher auf den Kopf gefallen waren.
„Das ist alles, was dein Vater dir bieten kann.“
Die Worte Malfoys bohrten sich wie giftige Pfeile in Ginnys Herz. Sie ließ den Kopf sinken und grübelte, bis ein klatschendes Geräusch sie aufblicken ließ.
Ein kleines, schwarzes Buch war aus dem Stapel der anderen Bücher gefallen. Für einen Moment musterte sie es verblüfft. Sie ließ sich vom Stuhl auf die Knie sinken und nahm es in die Hand. Nie zuvor hatte sie es hier gesehen. Es wirkte sehr alt und der charakteristische Geruch alten Pergaments stieg ihr in die Nase, als sie das Büchlein durchblätterte. Seine Seiten waren leer, bereit, von ihr mit Worten gefüllt zu werden. Ihr Herz begann zu schlagen. Ein Tagebuch war genau das, was sie brauchen konnte. Dort durfte sie alles schreiben, niemand würde über ihre Gedanken spotten und alles, was sie in Hogwarts erleben würde, könnte sie noch Jahre später nachlesen. Die Traurigkeit war vergessen. Ginny nahm sich eine der Federn und tunkte sie in das Tintenfass.
Liebes Tagebuch, heute war ich mit meiner Familie und Harry in der Winkelgasse um meine Schulbücher zu kaufen. In zwei Wochen geht es endlich los, ich kann es kaum erwarten. Und doch mache ich mir Sorgen, ob ich schnell genug lerne und die anderen mich mögen. Vielleicht lachen sie mich aufgrund der schäbigen Sachen aus. Das wäre schrecklich...
Ginny hielt inne und stellte sich das Schloss vor, in dem sie für die nächsten sieben Jahre leben würde. Erneut tunkte sie die Feder in die Tinte und zuckte so heftig zusammen, dass zwei große Tropfen auf die Seite fielen und einen Augenblick später verschwanden. Ebenso wie ihr begonnener Eintrag. Noch während Ginny in geschockter Starre da saß, erschienen neue Worte auf dem Blatt.
Hallo, wer immer du bist. Schön, dass dir dieses Wunderwerk an Magie in die Hand gefallen ist. Mein Name ist Tom Riddle und vor vielen Jahren habe ich Schloss Hogwarts ebenfalls besuchen dürfen. Du wirst eine wunderbare Zeit dort verbringen. Dass deine Sachen gebraucht gekauft sind, macht doch nichts. Auch ich konnte mir damals keine neuen Bücher kaufen, doch deshalb wirst du nicht ausgeschlossen.
Träume ich?, überlegte Ginny und hielt sich den Kopf. Sie legte die Feder auf den Tisch und kniff sich in den Arm. Es schmerzte, also war sie wohl wach. Sie kniff heftig die Augen zusammen, zählte bis zehn und öffnete sie dann wieder. Die Worte waren noch da. Scheu setzte Ginny erneut die Feder auf das Blatt.
Hallo Tom, ich bin Ginny. Was für eine Art Magie bist du denn?
Gespannt sah sie, wie ihre Worte verschwanden und sich wieder neue bildeten.
Liebe Ginny, ein mächtiger Zauberer, vielleicht der mächtigste seiner Zeit, erschuf mich als Begleiter von jungen Hexen und Zauberern, die sich niemandem anvertrauen können.
Ginny lächelte selig. Die flammend roten Haare fielen ihr in die Stirn, als sie zu schreiben begann.
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