von HannaLuisa
Der Spiegel zeigte ein blasses, müde aussehendes Mädchen mit roten Haaren. Ginny sah sich an und ein leiser Schreck fuhr ihr in die Glieder. So schlecht habe ich mich noch nie gefühlt, dachte sie und wandte den Blick ab.
Das kalte Wasser im Gesicht weckte ihre Lebensgeister und Ginny fühlte sich etwas besser. Als sie aus dem Badezimmer trat, stieß sie beinahe mit Percy zusammen. Bei ihrem Anblick hielt er inne und musterte sie aufmerksam. „Guten Morgen. Fühlst du dich nicht gut?“ Wie ertappt senkte Ginny den Blick. „Nicht so besonders“, murmelte sie.
„Lass uns erst einmal frühstücken gehen. Ein heißer Tee wird dir gut tun.“ Entschlossen nahm er ihre Hand und zog sie in Richtung der Großen Halle. Ginny brachte ein leichtes Lächeln zustande.
Es fiel ihr wieder schwer, sich auf den Unterricht zu konzentrieren. Zweimal musste sie Colin bitten, das Gesagte von Professor Flitwick zu wiederholen. „Schläfst du noch?“, flüsterte er und stupste sie sacht in die Seite. Ginny zuckte zusammen und nickte. „Ich auch. Mir ist erst abends eingefallen, dass wir heute den Aufsatz abgeben müssen. Da wurde es dann ziemlich spät.“
„Aufsatz?“, echote Ginny. Colin hob die Augenbrauen und deutete auf die Rolle Pergament. „Oh Gott, das habe ich ja total vergessen“, stöhnte sie.
„Aber du hast mich doch erst daran erinnert“, meinte Colin und runzelte die Stirn. „Ich dachte, du hättest es am Samstag schon erledigt. Zumindest hast du das gesagt.“
Sichtlich verwirrt griff er nach Ginnys Unterlagen und zog kurz darauf eine zweite Rolle Pergament hervor, auf der die selbe Überschrift zu lesen war, wie auf dem Aufsatz Colins. Fassungslos starrte Ginny darauf. Sie rieb sich die Stirn und murmelte: „Ich glaube, ich werde wirklich krank.“
„Was hast du denn gestern Abend gemacht? Im Gemeinschaftsraum habe ich dich nicht gesehen.“
„Miss Weasley, Mr Creevey, wärt ihr so freundlich, die Unterhaltung auf die Zeit zwischen den Unterrichtsstunden zu legen?“, rief Professor Flitwick und sah sie tadelnd an. Doch Ginny nahm es kaum wahr. Was hatte sie am vorigen Abend eigentlich getan? Ihre Kopfschmerzen wurden stärker und für einen Moment verbarg sie die Augen hinter den Händen. Wie angenehm die Dunkelheit war!
Vor ihrem inneren Auge erschienen die Bilder einer langen, steinernen Rutsche, die Umrisse einer riesigen, dunklen Kammer und einer Statue. Ein Strom heißer Euphorie fuhr durch ihren Körper. Sie war so glücklich, fast euphorisch. Es konnte nicht besser laufen. Ginny nahm die Hände von den Augen und lachte hinterhältig.
„Was ist denn?“, fragte Colin und sah sie amüsiert an. Das Gefühl ebbte ab und hinterließ nichts als eine bleierne Schwere in Kopf und Magen. Lass ihn bloß nicht merken, wie durcheinander du bist, befahl sie sich und zwang sich zu einem Lächeln.
„Nichts weiter“, erwiderte sie mit erzwungener Lässigkeit. Colin nickte geistesabwesend und begann mit dem Arbeitsauftrag. Auch Ginny griff nach der Feder, zog das Buch zu sich heran und schrieb.
„Und wir vergleichen“, rief Professor Flitwick eine Viertelstunde später. Reihum lasen sie die Antworten vor. Einiges war falsch, doch Ginny bemerkte stolz, dass sie alles richtig hatte. Auch die Antwort Colins war falsch.
Was ist von einem Schlammblut auch anderes zu erwarten. Mit überlegener Miene korrigierte Ginny ihn und erhielt ein Lob des Lehrers. Ginny verschränkte die Arme hinter dem Kopf und begann, mit dem Stuhl zu kippeln, bis ein scharfer Schmerz durch ihr Knie zuckte. Verwundert zog sie den dunkelblauen Rock ein Stück höher. Das linke Knie schillerte in allen Farben. Wann um alles in der Welt habe ich mir dermaßen das Knie gestoßen, überlegte sie. Endlich läutete die Glocke und die Erstklässler strömten in Richtung der Großen Halle. Mrs Norris strich in den Gängen herum und richtete ihre Lampenaugen auf Ginny, die lächelte. Sie liebte Katzen. Automatisch ging sie in die Knie und streckte eine Hand nach dem Tier aus. Das Fell war struppig und zerzaust, doch Mrs Norris schnurrte leise.
Ein keuchendes, asthmatisches Atmen ließ sie aufsehen: Filch, der Hausmeister starrte sie wütend und mit zu Schlitzen verengten Augen an. „Was tust du da?“, fragte er drohend. Erschrocken sprang Ginny auf.
Verdammter, widerlicher Squib! Das wird dir noch Leid tun. Warte es ab. Für einen Moment trat ein leuchtend rotes Glimmen in Ginnys hellbraune Augen. Das wirst du bereuen, ich schwöre es dir. Ginny erfasste ein heftiger Schwindel und sie taumelte.
„Ginny!“ Plötzlich stand Percy neben ihr. Verkrampft hielt Ginny sich an einem Fensterbrett fest und sah ihren Bruder an. „Was ist passiert?“, fragte er eindringlich.
Verwirrt sah Ginny sich um. „Mir war nur...“, setzte sie an, brach jedoch ab.
„Du bist schon wieder so blass. Wir gehen jetzt zu Madame Pomfrey, keine Widerrede.“ Er nahm ihren Arm und stützte sie, während sie durch die menschenleeren Gänge gingen.
„Hast du schon gegessen?“, fragte er.
Hatte sie? „Ich … glaube nicht.“ Ihr Blick traf den seinen. Sorge war darin zu lesen.
„Du glaubst nicht?“, fragte er. „Du machst mir Sorgen, Kleines. Ich fühle mich für dich verantwortlich. Wie war der Unterricht?“
„Gut“, log sie.
„Hat Professor Flitwick der Aufsatz gefallen?“
„Welcher Aufsatz?“ Percy schüttelte resigniert den Kopf.
Madame Pomfrey sah ihre Patientin forschend an. „Schwindel auch?“, fragte sie und spähte mithilfe des leuchtenden Zauberstabes in ihre Augen.
„Nur manchmal“, sagte Ginny.
„Spiel es nicht herunter“, sagte Percy und wandte sich der Krankenschwester zu. „Sie ist ständig blass, hat Probleme mit der Erinnerung. Meine Schwester ist nicht mehr die selbe.“ Unglücklich sah Ginny auf ihre Füße.
Madame Pomfrey erhob sich und zog aus dem Schrank ein Gebräu hervor. „Für die Erkältung kann ich dir das hier geben. Was den Rest angeht“, sie sah Ginny an, „hast du vielleicht Heimweh?“
Kalt erwiderte die Elfjährige den Blick: „Keineswegs“, sagte sie im Ton kühler Überlegenheit. „Schließlich sind all meine Brüder hier. Vor allem Percy ist mir eine große Stütze.“ Amüsiert registrierte sie, wie die Brust des Vertrauensschülers anschwoll. Wie einfach es doch war, Menschen seines Schlages abzulenken. Rauch stob aus ihren Ohren und Ginny grinste. Sie strotzte vor Kraft und Euphorie. „Na dann bis nachher“, rief sie ihrem Bruder munter zu und hüpfte gut gelaunt aus dem Krankenflügel.
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