von HannaLuisa
Die Tage und Nächte glitten dahin. Aus Wochen wurden Monate. Sirius nahm einzig am Wetter wahr, wie der Winter dem Frühling wich und der Sommer herein brach. Er hatte sich in sein Innerstes zurück gezogen, träumend und somit sicher vor den Attacken der Dementoren. In seiner Welt existierten sie nicht, ebenso wenig die Rufe und Schreie seiner Mitgefangenen. Alles um ihn her verschwand in einem Schleier aus Leichtigkeit, während Tag für Tag und Jahr für Jahr verging.
Die vergitterte Tür quietschte leise, als eine große, vermummte Gestalt sie öffnete. Sirius blickte auf, erhob sich und aß mechanisch das Mittagessen. Er nahm von den fremden Stimmen kaum Notiz, bis der Minister vor ihm stand. Einen Moment lang sah Sirius ihn verwundert an. War tatsächlich schon wieder ein ganzes Jahr vergangen?
Die Lippen des Mannes vor ihm bewegten sich, formten Worte, die im ersten Augenblick fremd klangen, bis Sirius seine eigene Welt verließ und sich kurz schüttelte.
„Wie geht es Ihnen?“
Was für eine Frage. Sirius lag es auf der Zunge, den Minister aufzufordern, einen Selbstversuch zu starten. Fünf Jahre Isolationshaft, keine menschlichen Stimmen, bis auf Schreie und den jährlichen Besuch eines Ministers.
„Wie man sich nach fünf Jahren hier so fühlt“, erwiderte er sarkastisch, „ein bisschen Langeweile, der Alltag hier ist ja doch recht monoton.“
Die Beamten warfen sich vielsagende Blicke zu, der Minister räusperte sich verlegen. Sie fühlten sich verunsichert, Sirius spürte es.
„Dürfte ich Ihren Tagespropheten lesen? Ich habe eine Vorliebe für Kreuzworträtsel entwickelt“, setzte er noch eins drauf.
Hektisch griff Fudge in seinen Umhang, legte die Zeitung auf den Tisch, murmelte etwas Unverständliches und drängte hinaus. Freudlos grinsend beobachtete Sirius die Menschentraube, bis sie um die Ecke gegangen waren und das Stimmengewirr leiser wurde.
Das Kreuzworträtsel!
Sirius schnaubte und sah die Zeitung abfällig an, bis sein Blick auf die Datumsanzeige fiel. Seine Augen weiteten sich verblüfft. 1993.
Sein Kopf ratterte: Wann war er eingeliefert worden? Vor zwölf Jahren? Energisch schüttelte er den Kopf und sah noch einmal hin, doch die Zahlen blieben.
Was war in der Zeit geschehen? Sirius überflog die erste Seite und richtete sich plötzlich kerzengerade auf, fassungslos und entsetzt das Bild betrachtend.
Das konnte nicht sein!
Wie konnte das sein?
Zwölf Jahre lang hatte er gedacht, es geschafft zu haben.
Zwölf Jahre lang war sein einziger Trost an diesem Ort des Sterbens gewesen, dass der Verräter keinen Schaden mehr anrichten konnte.
In der Zelle neben ihm lachten der Minister und seine Begleiter auf, Sirius zuckte zusammen. Die alltägliche Stille war ihm so vertraut, dass jedes Geräusch nun zehnmal lauter erschien. Das Foto zeigte eine Großfamilie und getarnt unter ihnen, auf der Schulter eines sommersprossigen Jungen, saß der Totgeglaubte.
Wie konnte dieser elende Verräter überleben? Sirius raufte sich die Haare und schüttelte den Kopf. Wo ich selbst doch mit eigenen Augen sah, wie es den Verräter zerriss. Ich selbst habe doch den Finger...
Doch was ist das? Überrascht beugte sich Sirius näher über den kleinen Tisch, runzelte die Stirn und kniff die Augen zu schmalen Schlitzen. War das denn möglich? Der Ratte fehlte ein Zeh.
Sirius stöhnte laut und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, während er den Artikel überflog. Hogwarts. Der Junge mit der Ratte ging nach Hogwarts. Wie Harry. In seinem Kopf herrschte Chaos und der Schock beeinträchtigte seinen Denkprozess erheblich. Er sprang auf und begann, in seiner Zelle auf und ab zu gehen. Sein Patenkind, der kleine Harry, war in Hogwarts. So wie dieser Junge und mit ihm der Verräter Peter Pettigrew. Sirius hielt inne. Die Erkenntnis, die ihn unvermittelt und glasklar überkam, vertrieb das Chaos.
Peter lebte also bei einer Zaubererfamilie.
Peter hatte überlebt.
Peter wusste, dass der Tag kommen würde, an dem Voldemort zurückkehrte.
Und vor allem wusste Peter, dass seine Anhänger ihm die Schuld am Untergang ihres Herren gegeben hatten.
Wie einen Film, der anlief, sah der Gefangene vor seinem inneren Auge, wie Peter zurückkehren würde. Wie er an die Seite seines Herren treten würde, um ihm den Jungen zu bringen, den Voldemort seit 13 Jahren jagte.
Sirius hatte häufig daran gedacht, dass es Harry nun gut ging und er ungefährdet zur Schule gehen und leben konnte. Doch diese Illusion war nun eingestürzt. Der Mörder schlief unerkannt direkt neben seinem Patenkind, bereit, zuzuschlagen, wenn die dunkle Seite wieder stärker wurde.
Bereit, auch den letzten der Familie Potter an Voldemort auszuliefern, um damit zu höchster Ehre zu gelangen. Sirius wurde schlecht bei dem Gedanken, wie Voldemort diesen schmutzigen, widerlichen Dreckskerl ehrte. Ihn in Gnaden aufnehmen würde.
Und er selbst, Sirius, war der Einzige, der es wusste. Längst war die Hoffnung, doch noch angehört zu werden, erloschen. Ohne Prozess hatte Crouch ihn nach Askaban bringen lassen, wie so viele Andere, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Niemand wusste, dass er mit Peter die Rollen getauscht hatte. Der Plan Voldemort zu täuschen, schien so perfekt.
Sirius Magen krampfte sich vor Wut zusammen, als er sich daran erinnerte, wie sie beide zusammengesessen und er Peter von seinem Misstrauen erzählt hatte. Und der Spion stimmte ihm natürlich in allem zu. Und so hatten sie Remus gegenüber erwähnt, dass Sirius der Geheimniswahrer würde.
Doch diese Geschichte aufzuklären? Es war kaum möglich gewesen, mit irgendjemandem zu sprechen, nachdem er in Askaban angekommen war. Und im Grunde war es Sirius auch egal gewesen. Er saß aufgrund des Mordes an Peter Pettigrew hier und das Motiv spielte keine Rolle. Wer hätte ihm geglaubt?
Nicht einmal Albus Dumbledore war gekommen, um das Gespräch mit ihm zu suchen. Der weise, fast hellsichtige Schulleiter, hatte sich getäuscht.
Ebenso wie er selbst. Nach und nach, angestachelt durch Bemerkungen Peters, kam er zu der Überzeugung, es müsse Lupin sein, der zum Verräter geworden war. Die Einflüsterungen, die gesellschaftlich etablierten Ansichten, Werwölfen könne man nicht trauen, hatten es in dem Moment, als es hart auf hart kam, entschieden.
In diesem Moment war das eingetreten, was der rebellische Sirius, der die Slytherin-Bande so triumphierend und stolz gesprengt hatte, sich nie vorstellen konnte: Die von ihm so verachtete, auf den Reinblutstatus bedachte Zauberergesellschaft hatte es geschafft, seine Sicht zu trüben und ihn jene Vorurteile glauben zu lassen, welche sie so munter seit Jahrhunderten propagierten.
Doch der Schmerz um den Verlust des Freundes drängte die Tatsache, dass auch er hereingefallen war, in den Hintergrund. Nichts würde ihm seinen Freund zurückgeben und den letzten Freundschaftsdienst, den er James erweisen konnte, hatte er ihm erwiesen. Alles andere war nebensächlich.
Er dachte an Remus. Auch der ehemalige Freund musste denken, dass Sirius der Verräter war und das Herz wurde ihm schwer. All die Jahre hatte er nicht an ihn gedacht, doch mit dem Anblick Peters wurde auch die Erinnerung an Remus und James wieder scharf. Er sah vor sich, wie sie auf ihren nächtlichen Streifzügen um Hogwarts herum schlichen. Wie sie glücklich ihre Zukunft planten. Wie James heiratete und er selbst Pate geworden war.
Und dann war es vorbei, war das Leben und ihre Zukunft von ihnen allen durch diesen Verräter zerstört worden. Wie er es genossen hatte, ihn zu ermorden! Sein Schwur gegenüber Lily und James, sein Leben für Harry einzusetzen, fiel ihm ein und er wusste, was ihm nun bevorstand.
In dieser Nacht empfand Sirius die Pritsche als besonders hart und unbequem. Unruhig rollte sich der große Hund von links nach rechts und zurück auf den Bauch. Das dicke Fell verschaffte ihm eine leichte Minderung und einmal mehr empfand er Dankbarkeit seiner animagischen Fähigkeit gegenüber. Der Gefangene war in den vergangenen Wochen noch dünner geworden. Rippen und Beckenknochen schmerzten auf der Unterlage und es wurde beinahe in jeder Nacht schwieriger, Schlaf zu finden. Nun erwies sich dieses körperliche Übel wie gerufen für die Umsetzung seines Plans: Er würde Askaban entfliehen.
Der Blick in die Zeitung und das Foto hatten Sirius aus seiner Lethargie befreit. Nun erhob er sich aus dem Bett und schlich auf die vergitterte Tür zu. Nur einen Moment später befand er sich auf dem Gang. Seine gespitzten Ohren nahmen leises Wimmern wahr, Stöhnen, Schreie und noch etwas anderes: Den rasselnden Atem der Dementoren. Jetzt oder nie!
Mit weiten Sprüngen jagte er auf das Tor zu, vorbei an unzähligen Zellen, in denen schattenhafte Gestalten in ihren Betten versuchten, eine weitere zermürbende Nacht zu überstehen, auch vorbei an den Dementoren selbst, die irritierte Laute von sich gaben, ihn jedoch nicht aufhielten, bis er am Wasser stand. Es gab keinen anderen Weg, als zu schwimmen. So unangenehm die Flucht nun würde, es gab nur diese Möglichkeit: Um Harry zu schützen würde er selbst Peter aufspüren und töten müssen. Wirklich töten, um das zu vollenden, was er geglaubt hatte, vor zwölf Jahren erledigt zu haben.
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Anhören könnt ihr euch das Kapitel hier:
https://www.youtube.com/watch?v=Q6hPPRT7Nuc
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